C.H.Beck
Hitlers „Drittes Reich“ war die populärste Diktatur des 20. Jahrhunderts. Millionen Deutsche jubelten, während Zehntausende, dann Millionen und schließlich die ganze Welt litt. Das Regime war gerissen genug, die Menschen mit Versprechungen und Schmeicheleien für sich einzunehmen, und brutal genug, sie mit Terror, Folter und Morden das Fürchten zu lehren. Einem solchen Regime Widerstand zu leisten war selten, und es war gefährlich. Zwei höchst außergewöhnliche Männer, Hans von Dohnanyi und sein Schwager Dietrich Bonhoeffer, haben es dennoch getan.
Was sie dazu bewogen hat, warum sie von Anbeginn genau wußten, mit wem sie es zu tun hatten, wie sie den Weg zum Handeln fanden und am Ende für ihre Überzeugungen ihr Leben ließen – dem gehen Elisabeth Sifton und Fritz Stern in diesem tief bewegenden, meisterhaft geschriebenen Doppelportrait nach. Sie setzen zwei Helden gleichermaßen ins Recht, von denen der eine weltberühmt ist, während der andere zu unrecht in seinem Schatten steht. Und sie zeigen, was außergewöhnliche Menschen von gewöhnlichen – damals und immer – unterscheidet.
Elisabeth Sifton war viele Jahre Lektorin im Verlag Farrar, Straus & Giroux. Sie ist die Tochter von Reinhold Niebuhr und die Frau von Fritz Stern.
Fritz Stern, geb. 1926, ist em. Professor für Geschichte an der Columbia University und Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels. Er gehört zu den bedeutendsten Historikern unserer Zeit. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen Fünf Deutschland und ein Leben (92009), Unser Jahrhundert (zusammen mit Helmut Schmidt, 62011) sowie zuletzt (zusammen mit Joschka Fischer) Gegen den Strom (2013).
Vorwort
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Anhang
Anmerkungen
Bildnachweis
Bibliographie
Dem Andenken unserer Eltern gewidmet
Hitlers «Drittes Reich» war die populärste Diktatur des 20. Jahrhunderts: Millionen begeisterter Deutsche jubelten, während Zehntausende, dann Millionen, und schließlich viele Völker dieser Welt litten. Sein Regime konnte sich eines rasch erzielten wirtschaftlichen Erfolgs rühmen, einer wiedererlangten deutschen Macht und eines wiederhergestellten deutschen Prestiges – die dann mit teuflischer Barbarei wieder verspielt wurden. Hinter dem prunkvollen öffentlichen Auftreten der Nazis lauerte schon immer der Terror, und wir müssen uns des hinterhältigen Scharfsinns bewußt sein, mit dem sie die Menschen dazu verlockten, ihre Untaten zu unterstützen, während sie sie zugleich durch Terror, Folter und Mord verängstigten; es ist ein Lehrbeispiel in der Ausübung von Macht für das Böse.
Sich einem solchen System zu widersetzen, kam selten vor und barg große Gefahren. Noch seltener geschah es mit dem Ziel, die Unantastbarkeit von Recht und Glauben zu schützen. Uns geht es mit diesem Buch um das Leben und Handeln zweier bewundernswerter Männer, die sich im «Dritten Reich» von Anfang an, jeder auf seine Weise, nach Kräften bemühten, den Greueln der Nazis entgegenzutreten, und die sich dann verschworen, den Tyrannen zu stürzen. Der eine war Hans von Dohnanyi, ein Jurist, der andere sein Schwager Dietrich Bonhoeffer, ein Pfarrer, der sehr berühmt wurde; nicht zu vergessen ist an ihrer Seite Christine von Dohnanyi, geborene Bonhoeffer – die Frau des einen und die Schwester des anderen.
Am 5. April 1943 wurden alle drei von der Gestapo verhaftet: der tapfere und begabte Jurist, der in der Spionageabwehr der Wehrmacht zu einer Schlüsselfigur des zivilen Arms der Verschwörung gegen Hitler wurde; der energische und engagierte junge Pastor, der zehn Jahre lang gegen die Rassenideologie und das rassistische Handeln innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands gekämpft hatte, in denen prinzipienfeste Gegner der gottlosen Tyrannei Hitlers die große Ausnahme waren; und die Frau, die ihren Mann und ihren Bruder während dieser ganzen Zeit stets unterstützt hatte. Vereint waren die drei durch ein Band von Anstand und Mut, das dem Widerstand gegen die Tyrannei Festigkeit verlieh. Christine wurde innerhalb eines Monats wieder entlassen, die Männer aber sollten nicht mehr freikommen. Nach zwei Jahren einer Gefangenschaft, die sie entsetzlichen Bedingungen und demütigenden Verhören aussetzte, wurden Bonhoeffer und Dohnanyi auf Hitlers ausdrücklichen Befehl im April 1945 ermordet, wenige Wochen vor seinem Selbstmord und der deutschen Kapitulation.
Nach dem Krieg veröffentlichte Eberhard Bethge, ein Freund und Schüler Dietrich Bonhoeffers, der dessen literarischen Nachlaß verwaltete, einige der hauptsächlich an Bethge gerichteten Briefe, die Bonhoeffer im Gefängnis geschrieben hatte und die seine theologischen und ethischen Überlegungen während der Zeit im Gefängnis enthielten. Als 1951 Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft erschien, weckte das Buch großes Interesse, und Bethge begann mit der Arbeit an einer Biographie, die 1967 veröffentlicht wurde. Seither ist der Strom von Kommentaren, Analysen, Theaterstücken, Filmen und neuem Material von und über Bonhoeffer nicht mehr versiegt. Wie auch andere Familienmitglieder taucht Dohnanyi in einigen dieser Quellen auf, doch steht in ihnen natürlich Bonhoeffer im Vordergrund.[∗]
Zur gleichen Zeit haben Wissenschaftler und Schriftsteller das historische Material der Nazizeit eingehend untersucht: Die vielen Studien zum Holocaust behandeln dieses Thema bis ins letzte mörderische Detail, wohingegen eine kleine und weniger beachtete Menge solider Veröffentlichungen den deutschen Widerstand behandelt – ein Gegenstand, der bis zu dem Zeitpunkt, als Widerstand und Ergebung erstmals erschien, kaum für existent gehalten wurde. Zutage treten zwei fast völlig voneinander getrennte Welten, zwischen denen aber wichtige Verbindungen bestehen, die größtenteils unbeachtet geblieben sind, und diese zeigen sich besonders eindrucksvoll in der Geschichte von Dohnanyi, Bonhoeffer und ihren Verbündeten. Denn unter jenen, die sich von Anfang an gegen Hitlers Herrschaft stellten – die über die Verstöße gegen das Recht, die Tradition und den Anstand entsetzt waren –, wuchs auch die Entrüstung über die Greuel gegen Juden und wurde zu einem wichtigen Motiv für den Entschluß, gegen Hitler Widerstand zu leisten und ihn schließlich beseitigen zu wollen. Die Verschwörer kannten die Wahrheit über die unaussprechlichen Vorgänge in ihrem Land, von denen viele Deutsche, aber auch viele Menschen im Ausland, nichts wußten und nichts wissen wollten. Und sie waren bereit und willens, gegen das Regime tätig zu werden.
Diese Widerständler waren nicht notwendigerweise Freunde der Juden. Es ist zu bezweifeln, daß viele von ihnen es waren. Bei einigen mögen Überbleibsel christlicher Vorurteile wirksam gewesen sein oder Gefühle, die in einer heftigen Abneigung gegen Juden im allgemeinen oder gegen Deutschlands aufstrebende und oft ehrgeizige Juden im besonderen bestanden; derlei Ressentiments waren sogar unter manchen Juden und unter vielen Nichtjuden in anderen westlichen Ländern stark verbreitet. Aber zu erleben, wie der Staat Juden diskriminierte, zu erleben, wie erzwungene Ausgrenzung und Schlimmeres ihren Anfang nahmen – all das löste bei vielen Mitgliedern des Kreises um Bonhoeffer eine Solidarität und Sympathie für die Juden aus. Sie begriffen instinktiv, daß man Juden erst ihrer Würde, dann auf barbarische, verbrecherische Weise ihrer bloßen Existenz beraubte und daß alles in einer Katastrophe endete, wie sie Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr gesehen hatte. Für viele bedeutete die organisierte Bestialität auch einen Frevel an Gott, einen, der ihre Landsleute für immer mit Schuld belasten würde.
Bei allen Berichten über Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi sollten wir stets zwei Dinge im Gedächtnis behalten. Alle Mitglieder der Famile Bonhoeffer – Dietrichs Vater, Dr. Karl Bonhoeffer, Deutschlands herausragender Psychiater, und seine Mutter Paula, eine geborene von Hase, Tochter und Enkelin von Aristokraten und namhaften Geistlichen, Dietrich selbst und seine Geschwister – waren eindrucksvolle Beispiele für wechselseitige Zuwendung und Nähe zueinander; sie verkörperten bestimmte Tugenden, die sie selten thematisierten, aber unerschütterlich bewiesen: Anstand und unermüdlichen Fleiß, Selbstlosigkeit in den Grenzen der Vernunft, Verantwortungsbewußtsein für andere und unübertroffenen Mut. Und ferner reagierten die Bonhoeffers während all der Umwälzungen zwischen 1914 und 1945 auf die Schrecken, die Deutschland und Europa erschütterten, in einer Weise, die sich radikal und rühmlich von dem Weg abhob, für den sich die große Mehrheit der Deutschen entschieden hatte. Die meisten Mitglieder der bildungsbürgerlichen Elite, der sie angehörten, erlagen entweder den Verlockungen des Nationalsozialismus – möglicherweise mit Bedauern über einige «Exzesse», möglicherweise unter dem Einfluß der pseudo-religiösen Rhetorik der Nazis – oder sie klammerten sich an die Illusion, man könne im «Dritten Reich» durch Wegducken oder in «innerer Emigration» «unpolitisch» bleiben.
Im Verlauf unserer Erkundung des Lebens und Werks dieser beiden Persönlichkeiten wurde uns klar, wie zentral die Rolle Dohnanyis in ihren gemeinsamen Bemühungen war, und wie außergewöhnlich nah er und sein Schwager einander standen. Der Widerstand in Deutschlands finsterster Zeit war weitreichender, tiefgreifender und komplizierter, als es üblicherweise dargestellt wird, und wir haben auf den folgenden Seiten versucht, zumindest etwas davon zu rekonstruieren.
Im Interesse einer vollständigen Offenlegung sei an dieser Stelle gesagt: Elisabeth Siftons Vater, Reinhold Niebuhr, unterrichtete Dietrich Bonhoeffer zwischen 1930 und 1931 und wurde für ihn fortan so etwas wie ein Mentor in Übersee; er unterrichtete auch Bonhoeffers Cousin Hans Christoph von Hase, und er und seine Frau (ebenfalls eine Theologin) blieben über Jahrzehnte mit vielen Familienmitgliedern in Kontakt. Wie Bonhoeffer wußte, engagierte sich Niebuhr aktiv in der internationalen ökumenischen Bewegung und nahm besonderen Anteil an den mühseligen Auseinandersetzungen des deutschen Protestantismus. Die Eltern und Großeltern von Fritz Stern waren Freunde und Kollegen von Dr. Karl Bonhoeffer und mit einigen Familienmitgliedern der jüngeren Generation befreundet, vor allem mit Karl-Friedrich. Fritz Stern ist seit den sechziger Jahren Freund und Kollege des Historikers Karl-Dietrich Bracher, dessen Frau Dorothee eine Tochter von Dietrich Bonhoeffers Schwester Ursula und ihrem ermordeten Mann Rüdiger Schleicher ist. Beide Autoren sind mit Klaus von Dohnanyi befreundet, dem Sohn von Hans.
Die Arbeit an diesem Buch wurde durch einen Auftrag von Robert Silvers ausgelöst, einige Neuerscheinungen über Dietrich Bonhoeffer für die New York Review of Books zu besprechen. Bald stießen wir jedoch auf ein Geschehen, das mehr umfaßt als die Lebensgeschichte von Bonhoeffer allein, und dessen Darstellung wir hiermit vorlegen – im Wissen, damit nur einen kleinen Beitrag zur Erhellung einer viel umfangreicheren Geschichte zu geben.
Dietrich Bonhoeffers Eltern, Dr. Karl Bonhoeffer und Paula von Hase Bonhoeffer
Hans von Dohnanyis Eltern, Ernst von Dohnanyi und Elisabeth Kunwald von Dohnanyi
Familie Bonhoeffer 1907 auf einer Urlaubspostkarte an Freunde, die den Großeltern von Fritz Stern geschickt wurde.
Hans von Dohnanyi und Christine Bonhoeffer zur Zeit ihrer Verlobung 1927
Dietrich Bonhoeffer während einer ökumenischen Tagung 1932 in Gland, Schweiz
Franz Gürtner, Reichsjustizminister 1932–1941
Brigadegeneral Hans Oster, Stellvertreter von Admiral Wilhelm Canaris, dem Chef der Abwehr 1933–1943
Ludwig Beck, Generalstabschef des Heeres 1935–1938
George Bell, Bischof von Chichester 1929–1958 (links), mit Pastor Franz Hildebrandt (Mitte), einem engen Freund Bonhoeffers, auf den Stufen von St. Martin’s in the Field, London, Juli 1941
Pastor Martin Niemöller, etwa zur Zeit seiner ersten Verhaftung 1937
Dietrich Bonhoeffer im Hof des Wehrmachtsgefängnisses in Berlin-Tegel, Juli 1944
Hans von Dohnanyi zeichnete die folgenden Blätter während seiner Gefangenschaft 1943 und 1944.
seinen sadistischen Vernehmungsbeamten Manfred Roeder
ein Selbstporträt
seine Tochter Bärbel, ein Geschenk für Christine zu ihrem Geburtstag 1943
eine Skizze von Christine beim Mittagsschlaf
noch ein Geburtstagsgeschenk für Christine, ein Blumensträußchen 1944
Karl und Paula Bonhoeffer nach dem Zweiten Weltkrieg
∗ Weitere Arbeiten Bethges führt der Anhang auf.
1912 trafen Karl und Paula Bonhoeffer in Berlin ein. Sie kamen aus Breslau (dem heutigen Wroclaw in Polen), wo Karls große Karriere an der weithin gerühmten Medizinischen Fakultät der Universität ihren Anfang genommen hatte und sie aufgewachsen war. (Karl entstammte einer alten großbürgerlichen württembergischen Familie, seine Vorfahren waren Ärzte und Juristen; seine Mutter, Julie Tafel Bonhoeffer, war eine tatkräftige frühe Feministin aus einer Familie, die für ihre undogmatischen liberalen, ja revolutionären Ansichten bekannt war.) Karl Bonhoeffer zeigte schwäbische Eigenschaften – eine gewisse Zurückhaltung und eine eher unpreußische Gelassenheit –, und als er die etwas jüngere Paula von Hase kennenlernte, machte sie einen, wie er es ausdrückte, «fast mystischen, lebensentscheidenden Eindruck» auf ihn.[1] Seine erste Stellung in Breslau war bei den Medizinern einer Klinik für geisteskranke Strafgefangene; nun, 1912, war er zum Chef der Neurologie und Psychiatrie an der Charité, dem führenden Krankenhaus Berlins, ernannt worden, wodurch er an die Spitze der deutschen Psychiatrie trat.
Die Bonhoeffers hatten acht gesunde Kinder, vier Mädchen und vier Buben: Als sie vier Jahre später in den angenehm grünen, bei der Oberschicht der hauptstädtischen Gesellschaft beliebten Berliner Bezirk Grunewald zogen, führten sie in ihrem behaglichen großen Haus mit großem Garten (das sie mit Blick auf Ziegen- und Hühnerhaltung ausgewählt hatten, was sich in kargen Zeiten des Ersten Weltkriegs als nützlich erweisen sollte) ein Leben in asketisch-spartanischem Luxus. Der Onkel der Kinder, Hans von Hase, wohnte nahbei in einem Pfarrhaus, wie auch der Großvater mütterlicherseits, der angesehene Theologe Karl-Alfred von Hase. Unter den weiteren Nachbarn und Kollegen befanden sich der Historiker und Theologe Adolf von Harnack und seine Familie; der Physiker (und Nobelpreisträger) Max Planck und seine Familie; Plancks Schwager, der berühmte Historiker Hans Delbrück mit seinen sieben Kindern, darunter Justus, Emilie und Max (ein zukünftiger Nobelpreisträger); und gleich nebenan der Museumsdirektor Richard Schöne. Hier lebten auch viele nahezu gänzlich assimilierte Juden – einige von ihnen waren Freunde der Familie.
Die lebenstüchtige und überaus respektierte Mutter unterrichtete die Bonhoeffer-Kinder im Haus, bis sie sieben oder acht waren (ihre Beobachtung, den Deutschen werde «zweimal im Leben das Rückgrat gebrochen: erst in der Schule und dann beim Militär», wurde in der Familie zu einem geflügelten Wort), und sie glänzten an ihren Gymnasien und Universitäten. Alle Kinder waren sportlich (der Vater brachte ihnen Tennis und Eislaufen bei) und musikalisch (Großmutter Hase war eine Schülerin Clara Schumanns gewesen). Sie musizierten und sangen regelmäßig gemeinsam; Musik und musikalische Erinnerungen begleiteten sie ein Leben lang. (Emmi Bonhoeffer Delbrück entsann sich viele Jahre später, daß die häuslichen Musikabende während der Nazizeit auch zur «Tarnung für viele konspirative Treffen» wurden.)[2] Diese ambitionierte, beneidenswert begabte Familie war privilegiert und sich dessen auch bewußt; aber zu ihren Tugenden gehörten auch Bescheidenheit und die deutliche Wahrnehmung der Lebensumstände anderer. Zudem verkörperte Dr. Bonhoeffer, in seiner Zuwendung zu seinen Patienten und seiner Hingabe an die ärztliche Arbeit und die medizinische Forschung, in idealer Weise das ärztliche Ethos.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, begeisterten sich die deutsche geistliche Elite und Professorenschaft überwiegend für diese, wie sie es sahen, nationale Herausforderung und moralische Prüfung, die Deutschland vom alles durchdringenden Materialismus reinigen würden. Auch die Bonhoeffers waren stolz auf ihr Land und sahen hoffnungsvoll in seine Zukunft; aber angesichts der erbarmungslos andauernden Schrecknisse des Krieges während der nächsten drei Jahre gingen sie auf Distanz zu den nationalistischen Hurrapatrioten, die lauthals einen Sieg beschworen, der Deutschland eine unüberwindliche Vorherrschaft in Europa sichern sollte.[∗] Sie erfuhren vom Tod geliebter Vettern, von entsetzlichen, verstümmelnden Verwundungen und begannen als Eltern um ihre ältesten Söhne zu bangen, die 1917 neunzehn, achtzehn und sechzehn – und damit wehrpflichtig – sein würden. Tatsächlich meldeten sich die beiden ältesten 1917 zur Infanterie und wurden an die Front geschickt. Im April 1918 erlag der zweite Sohn, Walter, seinen während der letzten großen deutschen Frühjahrsoffensive erlittenen Wunden. Ein Brief aus einem Feldlazarett, den er wenige Stunden vor seinem Tod schrieb, zeugt von der typischen Bonhoefferschen Charakterstärke:
«Meine Technik, an den Schmerzen vorbei zu denken, muß auch hier herhalten. Doch gibts jetzt in der Welt interessantere Dinge als meine Verwundung … und das uns heute als besetzt gemeldete Ypern gibt uns viel zu hoffen. An mein armes Regiment darf ich gar nicht denken. So schwer waren für es die letzten Tage. Wie mags den anderen Fahnenjunkern gehen? Voll Sehnsucht denkt an Euch alle, ihr Lieben, Minute um Minute der langen Tage und Nächte …»[3]
Dietrichs Zwillingsschwester Sabine erinnerte sich des «schönen Maimorgens, der sich plötzlich so schrecklich verdüsterte», als ihr energischer Vater, den eigentlich nichts erschüttern konnte, beim Öffnen der Telegramme erbleichte und in einen Stuhl sank – das eine informierte über Walters Einweisung ins Krankenhaus, das zweite über seinen Tod –, «vornübergebeugt, beide Arme stützten seinen Kopf, das Gesicht verbargen die Hände». Als Dr. Bonhoeffer sich erhob, um seiner Frau die Nachricht zu überbringen, ging er, sich aufs Geländer stützend, «die breite, bequeme Treppe hinauf, die er sonst so leicht stieg». Die Eltern blieben im Zimmer der Mutter viele Stunden allein.[4]
Der Tod Walters, die Verletzung des ältesten Bruders Karl-Friedrich binnen weniger Monate und die Einberufung des jüngeren Klaus hinterließen eine gebrochene Frau Bonhoeffer, die sich wochenlang in einem abgedunkelten Zimmer im Haus der benachbarten Schönes zurückzog. Und doch war sie es, die für Walters Trauerfeier das abschließende Lied auswählte, das vertraute, wunderschöne «Was Gott tut, das ist wohlgetan, es bleibt gerecht sein Wille.»
Anfang 1918 war dann Amerika in den Krieg eingetreten und das erschöpfte – und unter bolschewistischer Herrschaft stehende – Rußland ausgeschieden. Der unglückselige Kaiser Wilhelm trat alle wirkliche Macht zugunsten einer verschleierten Militärdiktatur ab, die ihrerseits eine rasch anwachsende antidemokratische Bewegung, die Deutsche Vaterlandspartei, unterstützte. Auch eine Gruppe namhafter «Gemäßigter» hatte sich gebildet, darunter Hans Delbrück, Max Planck, Max Weber, Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch, die ihrer früheren Kriegsbegeisterung entsagte, auf eine Beendigung des Gemetzels drang und für innenpolitische Reformen eintrat, die helfen sollten, die krassen politischen Ungleichheiten in Deutschland zu verringern; sie forderten einen Verhandlungsfrieden. Die Reaktionäre der Vaterlandspartei verhöhnten diese Reformvorschläge; die Bemühungen um vernünftige Friedensbedingungen lehnten sie ab und schmähten ihre Widersacher (die sie vor allem als «Marxisten» und «Juden» diffamierten) als Schwächlinge. «Die Toten sollen nicht umsonst gefallen sein», schrien die Hurrapatrioten, während weiterhin Zehntausende auf dem Schlachtfeld starben. Der einigende «Geist von 1914» zerfiel, und ein allgemeines Mißtrauen in die politische Führung durchdrang die deutsche Bevölkerung.
Am Tag des harschen Waffenstillstands im November 1918 schrieb der große Kirchenhistoriker und Theologe Ernst Troeltsch über den unerwarteten Kriegsausgang: «Allein das Morden ist zu Ende, die Illusion ist zerstoben, das System ist unter seiner Sünde zusammengebrochen.»[5] (Es blieb weitgehend Troeltsch und Thomas Mann überlassen, die beide einst den «Geist von 1914» besungen hatten, öffentlich vor dem wachsenden Einfluß der rechtsextremen Demagogie zu warnen. Weil sie ihr einst erlegen waren, wußten sie, wie verlockend sie war.) Die beiden Bonhoeffer-Jungen kehrten etwas radikalisiert von der Front zurück; Karl-Friedrich war bereit, die Revolution zu akzeptieren, die die alte Ordnung gestürzt und für einen kurzen Moment Sozialisten an die Macht gebracht hatte.
Ihr Vater hingegen war von dem schockiert, was er an der Revolution von 1918 sah, und schloß daraus, daß in ihr Psychopathen eine tragende Rolle spielten. Später wies er auf seine damalige Befürchtung hin, daß der Kriegstod einer Million Soldaten im Alter zwischen neunzehn und neunundzwanzig Jahren «sozial und biologisch wertvolle Männer» vernichtet und die Vorherrschaft der «Minderwertigen» bewirkt habe. Sein Argument hätte zumindest den 1914 noch stark verbreiteten deutschen Mythos, daß Kriege eine Art Auswahl der Tüchtigsten begünstigen, widerlegen sollen. Er war im Gegenteil der Auffassung, daß der Krieg zu einer weiteren moralischen und physischen Schwächung Deutschlands geführt haben konnte – ein Gedankengang, der ihn für die Ideen der Eugenik empfänglich machte, die damals allgemein verbreitet waren, gerade auch in den Vereinigten Staaten.[6]
Daß der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war, gehört zum Wissensbestand unserer Zeit; für Dr. Bonhoeffer war es wahrscheinlich die prägende politische Erfahrung. Zum ersten Mal erlebte er – wie viele andere Deutsche –, daß politische Ereignisse sein privates Leben erschütterten und überwältigten. Jeder Aspekt seiner Existenz war betroffen – der private, der berufliche, der patriotische – und all das war ein Vorgeschmack auf die weitaus grausamere Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Vielleicht verstärkte es seine moralisch und sozial konservative Einstellung, obwohl er politisch der Republik gegenüber loyal blieb. Wie wir sehen werden, waren seine politischen und beruflichen Antennen für das Auftauchen psychopathischer Führer in Umbruchszeiten sensibilisiert. Er wurde kein politischer Mensch, aber auf eine distanzierte Art verstand er aus seiner beruflichen Perspektive die psychischen Dramen der Welt nach 1918.
Wenn in den Jahren des Nationalsozialismus die Grausamkeiten draußen inneres Leben und Erwartungen bedrohten, riefen sich alle Bonhoeffers Walters Tod in Erinnerung. Offenbar hatte sich Dr. Bonhoeffer, ein liebevoller pater familias im besten traditionellen Sinne, mit dem klinischen Blick auf psychische Gesundheit und einer tiefen Verwurzelung in seiner Familie seinen Mut, seine Zuversicht und Gelassenheit bewahren können.
Die meisten Deutschen reagierten fassungslos auf die Niederlage ihres Landes von 1918, deren Kommen die Zensur während des Krieges geschickt verschleiert hatte, und viele trauerten den verschwundenen Monarchien und Dynastien aus alten Zeiten nach; sie hielten die Weimarer Republik mit ihrem revolutionären Auftreten für eine fremdartige Auswucherung am Körper ihrer Nation. «Wer ist schuld?» gefolgt von: «Wer hat sich auf den Versailler Schandfrieden eingelassen?» waren daher die alles beherrschenden Fragen. Hitlers Antwort – Juden und Marxisten – war eine Kernbehauptung seiner unablässigen Propaganda während der zwanziger Jahre; sie fand Anklang bei den Deutschen, da sie ihnen ermöglichte, der Wahrheit auszuweichen. Überdies empörten sich so gut wie alle Deutschen über die harten Bedingungen des Versailler Vertrags (wie übrigens auch einige Nichtdeutsche, unter ihnen vor allem John Maynard Keynes): die Rechte war über Präsident Wilsons «Verrat» demonstrativ verbittert, Gemäßigte empfanden den Vertrag als schmachvoll, waren aber bereit, auf seine schrittweise Revision hinzuarbeiten. Alle aber entrüsteten sich darüber, daß der Vertrag festlegte, Deutschland trage die Alleinschuld am Kriegsausbruch.[∗]
Die Bonhoeffers spürten diese Spannungen, und sie verstanden auch eine weitere verhängnisvolle, die Religion betreffende Konstellation. Die Weimarer Verfassung hatte das traditionelle Bündnis von Thron und protestantischem Altar in einer vorsichtigen und bescheidenen Neubestimmung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat gleichsam beendet. Die evangelischen Landeskirchen, die über fast vier Jahrhunderte seitens der politisch herrschenden Mächte in den verschiedenen Herzogtümern, Königreichen und souveränen Städten, aus denen sich Deutschland vor der Reichsgründung 1871 zusammensetzte, Schutz und Unterstützung erfahren hatten, waren sich nun ihrer rechtlichen und finanziellen Zukunft nicht mehr sicher; überdies erschütterte auch sie Deutschlands Niederlage zutiefst, denn sie waren überzeugt gewesen, daß sich im «Geist von 1914» ihr deutsch-evangelischer Glaube authentisch manifestiert habe. Nun fühlten sie sich «heimatlos», wie Klaus Scholder es formulierte,[∗∗] und daher überrascht es nicht allzu sehr, daß die Führungsgruppen der evangelischen Kirchen der Weimarer Republik überwiegend mißtrauisch, wenn nicht feindselig gegenüberstanden.
In Wahrheit hatten die evangelischen Kirchen schon vor 1914 an moralischer Intensität verloren, denn allzuoft fungierten sie nur als äußere Form eines scheinbar religiösen, tatsächlich aber weltlich bestimmten bürgerlichen Lebens; selbst einige Christen hatten dies mehr oder minder offen gesagt. Als der achtzehnjährige Dietrich Bonhoeffer zusammen mit seinem Bruder Klaus 1924 seine erste Italienreise machte und die Energie einer vitalen religiösen Kultur erlebte, die so völlig anders war als seine eigene, drängte sich ihm der Gedanke auf, daß in Deutschland vielleicht der Eifer, sich politisch fest zu institutionalisieren, die evangelischen Kirchen über die Jahrhunderte ihres eigentlichen religiösen Sinns beraubt hatte. «Und so hat, je mehr sich die politischen Verhältnisse änderten, seine Fesselungskraft bei der Menge abgenommen, bis zuletzt sich unter dem Namen ‹Protestantismus› viel versteckt, was man offen und ehrlich nur Materialismus nennen kann … [Die Kirche] war allzu lange das Asyl für obdachlose Geister gewesen, die Herberge der ungebildeten Aufklärung.»[7]
Pastoren, die angesichts der moralischen Schwäche der Kirchen, ihrer umfassenden Säkularisierung und der Entfremdung des wachsenden Proletariats besorgt waren – was sich während des Krieges noch verschlimmert hatte –, sahen sich mit einer großen Mehrheit von verstaubten konservativen Kirchenmännern konfrontiert; unter ihnen setzten sich einige aktiv für einen «Bund» der Landeskirchen ein, der den deutschen Charakter des Protestantismus stärker bewußtmachen sollte. (Das hatten sie 1917, als sich Luthers Anschlag seiner 95 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg zum vierhundertsten Mal jährte, öffentlich stark betont.) Diese «Deutschen Christen», wie sie sich nannten, wollten besonders die nordischen Wurzeln ihres deutschen Glaubens herauskehren und dafür innerhalb der evangelischen Theologie die Bedeutung des Alten Testaments vermindern oder es ganz eliminieren. Der Antisemitismus, der vor 1914 im deutschen Christentum so verbreitet gewesen war, wurde nun erheblich feindseliger und verschmolz mit tief verwurzelten Ressentiments gegen die «Weimarer Moderne». Dieser ideologische Fanatismus beschädigte in hohem Maße das Ansehen der Deutschen Evangelischen Kirche – der Nachfolgerin des 1922 gegründeten Deutschen Evangelischen Kirchenbunds, einem Zusammenschluß von bislang unabhängigen lutheranischen, calvinistischen, unierten und reformierten evangelischen Gemeinden.
Die Bonhoeffers waren entsetzt von der bösartigen Verlogenheit und der Gewalttätigkeit rechtsextremer Schläger und früher Nazis. Und sie waren zutiefst empört, als 1922 der Außenminister der Weimarer Republik in Berlin ermordet wurde, der jüdische Industrielle und Staatsmann Walther Rathenau, der niedergeschossen wurde, als er von seinem Haus in Grunewald zur Arbeit gefahren wurde. Zu Recht – und sofort – sahen sie in diesem Verbrechen ein böses Omen. Dietrich berichtete Sabine am 25. Juni, er und seine Klassenkameraden hätten am Tag zuvor in der Schule «ein eigentümliches Knallen [gehört]. Es war die Ermordung Rathenaus – kaum 300 Meter von uns entfernt. Ein Schweinevolk von Rechtsbolschewisten.»[8] (Bonhoeffer erahnte ganz richtig eine Affinität zwischen radikalen rechtsextremen Mördern und Bolschewisten. Ein Jahr darauf regte Karl Radek, führendes Mitglied der Komintern, eine irgendwie geartete Zusammenarbeit zwischen Bolschewisten und rechten Deutschnationalen an.) Bonhoeffers Schwester Christine schrieb an ihren Verlobten, Hans von Dohnanyi, damals noch Jurastudent in Berlin, daß «von all den Scheußlichkeiten dieser verfluchten Hakenkreuzleute» diese bislang die scheußlichste gewesen sei.[9] Er widersprach ihr nicht. Der Mord an Rathenau signalisiere, daß die deutsche Regierung ernsthaft in Gefahr sei, äußerte er ihr gegenüber am 1. Juli. «Die Polizei hat ganze Mordlisten zu Tage gebracht.»[10] Ein anderer Brief an Dohnanyi aus dem Jahre 1922, diesmal von Christines Bruder Klaus, berichtete von widerwärtigen Pöbeleien unter seinen Kommilitonen in den Rechtswissenschaften. «Hans, denk doch, daß wir es mit den Brüdern später zu tun haben werden.»[11]
Dietrich, der sich im folgenden Jahr an der Universität Tübingen einschrieb (und wie seine Geschwister mit dem Studium an der schwäbischen Alma Mater des Vaters begann) war sich bewußt, daß dieser Übergang in seinem jungen Leben in jener denkwürdigen Zeit erfolgte, als Deutschland von der großen Inflation heimgesucht wurde und zusehen mußte, wie die Währung mit jedem Tag an Wert verlor, und als blutige Aufstände sowohl der Rechten wie der Linken und separatistische Bestrebungen die Integrität der Republik bedrohten. Er berichtete seinen Eltern, daß er für jede Mahlzeit eine Milliarde Mark ausgeben mußte und sechs Milliarden für ein Brot.
Wichtiger war, was er ihnen von seinen Aktivitäten in der dortigen studentischen Verbindung «Igel» erzählte – der sein Vater und seine Onkel angehörten, nicht jedoch seine älteren Brüder. Im Herbst 1923 erhielt er als Mitglied des «Igel» eine zweiwöchige militärische Ausbildung in Ulm unter Reichswehroffizieren, dank eines Programms, das die Landesregierung von Baden-Württemberg zur Bereitstellung von Truppen für den Fall eines Generalstreiks eingerichtet hatte; «Igel»-Männer waren 1919 bereits gegen Aufstände in Stuttgart und München eingesetzt worden, weshalb sich Karl-Friedrich und Klaus geweigert hatten, der Verbindung beizutreten.[12] Er wog das Für und Wider gegeneinander ab und erhielt vorsichtige Zustimmung nicht nur von den Eltern, sondern auch von seiner in Tübingen lebenden Großmutter Julie Tafel Bonhoeffer – jener resoluten, furchtlosen Dame mit dezidiert fortschrittlichen politischen Ansichten. Bonhoeffer wußte den Gemeinschaftssinn der Verbindung zu schätzen, blieb aber klugerweise gegenüber reaktionären Hitzigkeiten immun.
Angesichts des allgemeinen Tenors in der Familie überrascht es nicht, daß sie Hitlers politische Erfolge stark beunruhigten. «Den Sieg des Nationalsozialismus im Jahre 1933 und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler», schrieb Dr. Karl Bonhoeffer später, «betrachteten wir von vornherein und zwar einheitlich in allen Gliedern der Familie, als ein Unglück. Die Abneigung und das Mißtrauen gegen Hitler begründete sich bei mir auf seine demagogischen Propagandareden, sein Sympathietelegramm in der Potembaschen Mordangelegenheit,[∗] … schließlich auf das, was an psychopathischen Eigenschaften von ihm im Kreise der Fachkollegen kursierte.»[13]
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