György Dalos
Der letzte Zar
DER UNTERGANG
DES HAUSES ROMANOW
Deutsche Bearbeitung
von Elsbeth Zylla
C.H.BECK
Als in der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 Zar Nikolaus II. mit seiner Frau und der gesamten Familie von einem Kommando der Tscheka in Jekaterinburg ermordet wurde, war der Alptraum aller europäischen Monarchien wahr geworden. Diese Nemesis der Geschichte hatte sich seit langem schon durch Verschwörungen und Attentate angekündigt und schien Lenins Diktum zu bestätigen: «Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.» Der letzte Zar hatte 1894 den Thron bestiegen und sich von Anfang an als unfähig erwiesen, der vielfältigen Probleme seines Reiches Herr zu werden. Verstrickt in Katastrophen, Krieg und persönliches Leid, die den schwachen Herrscher zutiefst verunsicherten, verfügte er über keinerlei taugliches Konzept, wie er die Nöte der Arbeiter und Bauern hätte lindern können. Während an seinem Hof der Wanderprediger Rasputin als Heilbringer verehrt wurde und das irrationale Moment der Herrschaft vergrößerte, unterblieben dringend notwendige Reformen – und als der Zar sie schließlich auf den Weg zu bringen versuchte, war es zu spät. Der erfolglos geführte Erste Weltkrieg drängte ihn immer weiter in die Defensive, bis er und das Haus Romanow im reißenden Strom der bolschewistischen Revolution untergingen und Russland im Bürgerkrieg versank.
György Dalos ist freier Autor, Historiker und Osteuropa-Spezialist. 1995 wurde er mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm u.a. lieferbar: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart (22015); Ungarn in der Nußschale. Ein Jahrtausend und zwanzig Jahre (22012); Gorbatschow. Mensch und Macht (2012).
KAPITEL 1: Einleitung
KAPITEL 2: Chodynka – eine gescheiterte Reifeprüfung
KAPITEL 3: Krieg mit Japan
KAPITEL 4: Allein mit der Revolution
KAPITEL 5: Dynastie oder Familie – eine griechische Tragödie
KAPITEL 6: Eine gefährliche Freundschaft im Vorfeld des Krieges
KAPITEL 7: Zarenalltag mit Schlüsselfigur
KAPITEL 8: Der Zar in der Julikrise
KAPITEL 9: Der ratlose Kriegsherr
KAPITEL 10: Der Sturz
KAPITEL 11: Die Tragödie des Bürgers Romanow
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Fußnoten
Für Christoph Hoff
in Berlin
KAPITEL 1
Die Dynastie Romanow, wichtige Protagonisten ihrer mehr als dreihundert Jahre währenden Herrschaft, einzelne Zarinnen und Zaren sowie schließlich das Ende ihrer Ära sind in schier endlos vielen Büchern beschrieben worden – von klassischen historischen Arbeiten bis hin zu primitiven Kolportagen. Seit der Erfindung der Filmkunst kamen zahlreiche Stumm- und Tonfilme hinzu, deren Spektrum ebenfalls von höchstem Niveau bis hin zu kitschigen Schinken reichte. Insbesondere das Schicksal der letzten Vertreter des Hauses, vor allem von Zar Nikolaj II. und seiner Frau, der hessisch-darmstädtischen Großherzogin Alexandra, beschäftigt bis heute die literarische, künstlerische und handwerkliche Phantasie von Autorinnen und Autoren. Dabei ging es nicht allein um die bestialische Ermordung der engeren Familie mitsamt den Teilen der Dienerschaft, die ihnen die Treue gehalten hatten. Letztendlich wurden von den 65 Mitgliedern des Herrscherhauses 18 von den bolschewistischen Machthabern umgebracht und 46 ins Exil gezwungen. Wir kennen nur einen Großfürsten, dem es möglich war, dem Gefängnis zu entkommen und das Land zu verlassen: Dank eines lebensrettenden Briefs von Maxim Gorkij an Lenin kam Gavriil Konstantinowitsch frei, wobei er bis zu seiner Ausreise nach Finnland sogar die Gastfreundschaft des weltberühmten Schriftstellers genießen durfte.
Das, was mit dem Zarenpaar und seinen Kindern in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 in Jekaterinburg geschah, lässt bis heute dem russischen historischen Gedächtnis keine Ruhe. Auf der einen Seite suchte die sowjetische Publizistik, um die Untat zu rechtfertigen, ein diabolisches Bild von «Nikolaj dem Blutigen», der Quelle allen Übels, zu zeichnen und dabei wichtige Nebenumstände des Massakers zu verschweigen bzw. zu tabuisieren.[1] Auf der anderen Seite dominierte in der Exilliteratur die Tendenz, das tragische Ende der Familie Romanow rückwirkend als Nachweis ihrer beinahe heiligen Tugenden herauszustellen. Eher westlich orientierte Autoren waren bemüht, eine ausgewogene Analyse der Laufbahn von Russlands letztem Herrscher «aus Gottes Gnaden» zu leisten. Was ihre Arbeit erschwerte, war die mangelhafte Quellenlage. Obwohl die dicken Bände des von dem weißen Admiral Koltschak nach Jekaterinburgs Eroberung ernannten Untersuchungsrichter Sokolow sowie die Erinnerungen von Zeitzeugen manche Lücke füllten, konnten aufgrund der Einseitigkeit etlicher Aussagen viele kardinale Fragen nicht beantwortet werden, darunter etwa solche nach den Entscheidungsmechanismen der bolschewistischen Zentrale. Diese wurden auch nach 1991, dem Jahr der Öffnung sowjetischer Archive, nicht hinreichend aufgeklärt.
Die in Putins Russland mit starker kirchlicher Deckung betriebene Kanonisierung des ermordeten Zaren als «Märtyrer» stößt nicht nur auf meine Skepsis als Agnostiker, sondern lässt in mir auch andere dunkle Zweifel aufkommen. Zunächst einmal ist es aus meiner Sicht nicht zulässig, das Ehepaar Romanow, praktizierende Antisemiten, die ihre geistige Nahrung sogar noch in Jekaterinburg in den «Protokollen der Weisen von Zion» suchten und fanden, in einer Reihe mit dem Juden Jesus Christus zu nennen. Zweitens: Was heißt in diesem Falle «Märtyrer»? Märtyrer zu sein bedeutet für mich etwas Überzeugenderes, als die eigene Herrschaft «aus Gottes Gnaden» zu vertreten, eine Herrschaft, an deren Untergang das Zarenpaar zudem nicht ganz unschuldig war. Wenn schon unbedingt Märtyrer genannt werden sollen, dann müssen die politisch Unschuldigen wie Hofdamen, Köche, Leibärzte und andere aufgezählt werden, die freiwillig das Los ihrer Herrschaften geteilt haben. Auch die Hauslehrer Gilliard oder Gibbs, der Küchenjunge Ljonja Lednew oder die Hofdame Wyrubowa wären Märtyrer ihrer eigenen Treue geworden, wenn die Täter sie aus verschiedenen Gründen nicht daran gehindert hätten. Unschuldige Opfer waren die fünf Kinder der Zarenfamilie. Opfer waren alle Toten von Jekaterinburg, und was den Zaren und die Zarin betraf, seit ihrer Verhaftung sogar in doppeltem Sinne: als Personen der Öffentlichkeit, die keine Rolle mehr spielten und die zu keiner Zeit von irgendeiner Instanz einer juristischen Schuld bezichtigt wurden.
Wird eine Epoche beerdigt,
Tönt kein Psalm übers Grab,
Brennnesseln, Disteln
Werden den Hügel verziern.
Den Totengräbern im Zwielicht
Geht’s von der Hand. Und es eilt.
Mein Gott, wie die Stille wächst –
Man hört die Zeit vergehn.
ANNA ACHMATOWA
Seinen Zenit als Großmacht hatte das Zarenreich mit dem Sieg über Napoleon und der Schaffung der Heiligen Allianz während des Wiener Kongresses erreicht. Im Jahre 1815 galt Zar Alexander I. als Retter Europas vor der «französischen Gefahr», die alle Monarchen «aus Gottes Gnaden» seit 1789 in Panik hielt. Unter anderem war jede Rückkehr eines Herrschers aus dem Haus des Parvenüs Bonaparte nun streng untersagt. Obwohl Fürst Metternich, Österreichs Außenminister, der Spiritus Rector der als «ewiger Frieden» konzipierten feudalen Restauration war, war es die militärische Stärke Russlands, welche dieser Rückwärtsbewegung die erforderliche physische Energie verlieh. Allerdings erwies sich die Struktur der Allianz als unvollkommen. Einerseits blieb das nichtchristliche Osmanische Reich ausgegrenzt, andererseits sah Großbritannien keinen Grund, sich an eine kontinentale Koalition zu binden.
Außerdem konnte das Bündnis der Ewiggestrigen weder die bürgerliche Entwicklung noch die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen wirksam aufhalten. 1830 fegte eine Revolution in dem inzwischen der Heiligen Allianz beigetretenen Frankreich die Bourbonen hinweg und setzte auf Ludwigs Thron den «Bürgerkönig» Louis Philippe, der ausgerechnet auf die französische Verfassung seinen Eid ablegte. In den 1830er Jahren erlangte Belgien die nationale Unabhängigkeit, und Griechenland kämpfte, gestützt von der ungeteilten Solidarität Europas, gegen die Osmanenherrschaft. Russisch-Polen startete einen Aufstand gegen St. Petersburg, der nur mit Mühe niedergeworfen werden konnte. In Preußen herrschten Ideen des Vormärz, gefordert wurden ein bürgerliches Parlament und die nationale Einheit, und in Ungarn, wo der Landtag ursprünglich loyal gewesen war, ging er zu offenem Widerstand gegen die Habsburger über. Die aufgeklärte Elite forderte «französische» Reformen wie die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Abschaffung der Zensur. Radikale Strömungen deutscher Exilarbeiter in Frankreich baten die schreibkundigen Bürgersöhne Karl Marx und Friedrich Engels, für sie ein leicht lesbares Programm der «sozialen Revolution» zu erarbeiten. Die schmale Broschüre mit dem legendären Titel «Manifest der kommunistischen Partei» erschien im Februar 1848 bei einem namenlosen Londoner Verlag.
Durch seine diplomatischen und geheimdienstlichen Quellen war Zar Nikolaj I. natürlich bestens aufgeklärt über die aus dem Westen drohenden Gefahren. Er wusste, dass viele seiner Offiziere, die sich im Krieg gegen Napoleon heldenhaft ausgezeichnet hatten, vom Virus einer freieren und zivilisierteren Ordnung infiziert waren. Um eine liberale Monarchie in Russland einzurichten, versuchte ihre kleine, nach dem Vorbild der Freimaurer strukturierte Organisation sogar, mit einem Aufstand seine Inthronisierung im Dezember 1825 zu verhindern. Dieser Vorstoß der Adeligen, die nach dem Zeitpunkt des Aufruhrs «Dekabristen» (Dezemberleute) genannt wurden, scheiterte jedoch und zog mehrere Hinrichtungen und Hunderte von Verbannungen nach sich – die Verhöre führte der Zar höchstpersönlich. Wichtiger als sein Rachegefühl war die Angst vor Nachahmern dieser ersten Wagemutigen.[2] Deshalb stoppte er sogar Reformen, die sein Vater Alexander I. noch hatte einführen wollen, darunter einige Erleichterungen für die Leibeigenen, die immerhin 80 Prozent der bäuerlichen Bevölkerung ausmachten. Er verstärkte landesweit die Bespitzelung durch die Geheimpolizei und verhärtete die Zensur. In Ausnahmefällen wie dem von Alexander Puschkin, dessen Genialität ihn beeindruckte, übte er nach dessen zeitweiliger Verbannung in den Kaukasus persönlich die Rolle des ersten Zensors aus.[3]
Im Unterschied zu anderen europäischen Staaten, in denen die nachhaltige Wirkung der Französischen Revolution nie mehr ganz rückgängig gemacht werden konnte, gab es im Russischen Reich mit seinen staatlich-militärisch-kirchlichen Strukturen nicht viel zu restaurieren. Die intellektuelle Schicht konnte nur ein zahlenmäßig ganz geringes Publikum erreichen in einem Imperium, das zu mehr als 99 Prozent aus Analphabeten bestand – ein Phänomen, das die privilegierten Schichten mit einschloss. So war Nikolai Gogols Roman «Die toten Seelen» von 1842 mit 2400 Exemplaren bereits ein Bestseller. Keine Analphabeten hingegen waren die militärischen und zivilen Beamten, die das vitale Element des Staatslebens bildeten. In der Armee herrschten Hunger, Drill und physische Brutalität, im zivilen Dienst vorauseilender Gehorsam und eine beispiellose Korruption. Das letztgenannte Phänomen erreichte auch die höchsten Stufen der Hierarchie und war dem Zaren wohlbekannt. Zu den herausragenden Affären zählten der Diebstahl des Geldes für den Neubau des 1837 abgebrannten Winterpalais und das «Verschwinden» des gesamten Invalidenfonds. Beide Täter gehörten zum direkten Umfeld des Herrschers und veranlassten den Zaren zu der Äußerung: «So etwas hätten selbst die Dekabristen mir nicht angetan.»
Als einziges Trostpflaster blieb ihm der internationale Glanz als Retter Europas vor der Revolution. Während des «Völkerfrühlings» versuchte er sich noch einmal in dieser Rolle: Als im Mai 1849 Österreich um Russlands Hilfe gegen die rebellierenden Ungarn bat, stellte der Zar den Habsburgern eine Armee von 200.000 Mann. Dieses Entgegenkommen verstand er als Beitrag zur Niederschlagung aller europäischen Revolutionen – auch die unruhigen Polen waren nun entsprechend vorgewarnt. Selbstverständlich war Nikolaj I. auch davon überzeugt, dass die Habsburger-Monarchie im Gegenzug sich ihm gegenüber zu Dankbarkeit verpflichtet sehen würde. Aber diese Kalkulation erwies sich als grundfalsch.
Die stürmischen Revolutionswellen in Frankreich brachten Bonapartes gleichnamigen Neffen durch einen Staatsstreich an die Macht, zunächst als Präsidenten. Am 2. Dezember 1852 ließ er sich mit Hilfe eines Referendums zum Kaiser mit dem Namen Napoleon III. krönen. Obwohl Nikolaj I. nichts gegen einen starken reaktionären Herrscher mitten im postrevolutionären Abendland haben konnte, hatte er aus seiner Sicht berechtigte Bedenken, bedeutete doch die Anerkennung eines Bonapartes als Kaiser auch einen Verstoß gegen die Grundsätze der Heiligen Allianz. Ihn störte sogar die römische Ziffer «III.», die indirekt anzeigte, dass die Kontinuität der Dynastie «Napoleon» akzeptiert wurde, obwohl der armselige, früh gestorbene «Fürst von Reichstadt» niemals als «II.» auch nur in die Nähe eines Throns gelangt war und seinen Ruhm einzig und allein Edmond Rostands sentimentalem Versdrama «Der junge Adler» zu verdanken hatte. Der Zar konsultierte deshalb mit Hilfe seiner Diplomaten andere Monarchen in dieser Frage, und sowohl Österreich als auch Preußen teilten seine Auffassung, dass der neue französische Imperator in keinem Fall als Herrscher von Gottes Gnaden zu betrachten sei. Entsprechend bediente sich Nikolaj in seiner Grußbotschaft an den französischen Staatschef statt der unter Blaublütigen gewohnten Ansprache «Mein Bruder» des ordinär-bürgerlichen «Mein Freund». Doch weder Franz-Joseph noch Friedrich Wilhelm folgten seinem Beispiel – und der von Victor Hugo als «petit Napoleon» verhöhnte Kaiser der Franzosen war ausgesprochen rachsüchtig.
Der Anlass zur Vergeltung steckte in einem gesamteuropäischen Missverständnis – in der Annahme, dass das Osmanische Reich im Sterben lag. Selbst vorsichtigere Analytiker bezeichneten das Sultanat als den «kranken Mann am Bosporus». Heute wissen wir, dass das Osmanische Reich zumindest formal drei von den damals existierenden kontinentalen Imperien – das Russische und Deutsche Reich sowie die österreichisch-ungarische Monarchie – um einige Jahre überlebte. Dabei befand es sich in keinem beneidenswerten Zustand: Sowohl die innere Rückständigkeit als auch die damit zusammenhängende schwindende Integrationskraft hinsichtlich der außeranatolischen Besitztümer zeigten dies deutlich.
Die Napoleonischen Kriege lockerten Konstantinopels Kontakte zu den nahöstlichen Provinzen, und die Freiheitsidee der Achtundvierziger weckte die nationalen Ambitionen der Völker: der Griechen, Albaner, Rumänen, Slowaken, Kroaten, Tschechen, Serben und Bulgaren. Vor allem die Südslawen sahen in Russland ihren natürlichen Verbündeten, was wiederum der starken panslawischen Strömung im Zarenreich entsprach. So brauchte es nicht viel Ermunterung, um den ewigen Traum von den Dardanellen und von Christi Kreuz an der Spitze der Hagia Sophia lebendig werden zu lassen. Während St. Petersburgs nicht eben taktvolle Diplomaten der Hohen Pforte das direkte Protektorat aufzwingen wollten, indem sie mit einem Balkankrieg drohten, versprachen die Botschafter aus London und Paris dem Sultan direkte Hilfe, ohne dies dem Zaren und seinen Diplomaten auf die Nase zu binden. So ließ sich das Zarenreich in ein dummes Abenteuer locken, in dem es zum ersten Mal in seiner Geschichte völlig isoliert zu einem militärischen und politischen Desaster verurteilt war. Die größte Enttäuschung waren aber nicht die Kriegsgegner, die mit ihrer Flotte in den Dardanellen erschienen und Sewastopol einnahmen, sondern die vermeintlichen Freunde. Während sich Preußen aus dem Konflikt heraushielt, drohte Österreich zur Wahrung seiner Interessen auf dem Balkan sogar mit einer Mobilmachung an der russischen Grenze. Die Enttäuschung über Österreich zeigt ein anekdotisch wirkendes, aber glaubhaftes Gespräch zwischen Zar Nikolaj und seinem polnischen Generaladjutanten Graf Rzewuski:
NIKOLAJ I. Wer war deiner Meinung nach der dümmste polnische König?
RZEWUSKI Wer denn?
NIKOLAJ I. Der dümmste polnische König war Jan Sobieski, denn er hat Wien von den Türken befreit. Und der dümmste aller russischen Herrscher bin ich, weil ich den Österreichern geholfen habe, die ungarische Rebellion zu unterdrücken.
So kam es – bereits unter dem nächsten Zaren – zu dem für Russland demütigenden Pariser Frieden. Nikolaj I. weilte am Ende seines verlorenen Krieges nicht mehr unter den Lebenden, und wenn wir behaupten, dass er an dem Zusammenbruch seiner Träume, hauptsächlich der Heiligen Allianz, gestorben ist, dann sind wir nicht sehr weit entfernt von der Wahrheit. Sein Sohn Alexander II., der bereits als Thronfolger die Politik seines Vaters kritisch gesehen hatte, verstand, dass hinter der Niederlage ungelöste Probleme des russischen Riesenreiches steckten. Vor allem konnte das Heldentum einzelner Soldaten oder Generäle niemals ohne exakte Organisation und transportable Kriegstechnik auskommen. Das war nicht mehr die russische Armee, die einstmals Napoleon bezwungen hatte. Eine Reform der Streitkräfte wiederum war nur in einem Land möglich, das über eine zeitgemäße Industrie und eine effektivere, nicht auf halbsklavischer Arbeit beruhende Landwirtschaft verfügte. Und wenn schon Kriege geführt werden sollten, dann von einer Gesellschaft, die auch verstand, warum gekämpft wurde und in der die Bürger zumindest in lokalen Angelegenheiten über gewisse, vor Gericht einklagbare Rechte verfügten. Deshalb ordnete der Zar die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Schaffung gewählter Selbstverwaltungen (semstwo), einer embryonalen Form des Parlamentarismus, an. Die Reformen, denen Alexander II. den Beinamen «Befreier-Zar» verdankte, lösten eine unglaubliche Mobilität aus. Millionen von frei gewordenen Bauern füllten die Großstädte und bildeten nach und nach das Proletariat. Auf längere Sicht sollte dieser Durchbruch der Moderne auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Zarenreichs erhöhen.
Abb. 1: Zar Alexander verkündet die Bauernbefreiung
Doch hier darf Alexis de Tocquevilles berühmte These nicht vergessen werden: «Die Erfahrung lehrt, dass der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung gewöhnlich der ist, in dem sie sich zu reformieren beginnt.» Die Veränderung eines solch versteinerten Regimes, wie es das zaristische war, nahm notwendigerweise Formen einer unaufhaltbaren Erosion an. Die plötzliche Umwertung aller Werte erschütterte althergebrachte Autoritäten und ließ hauptsächlich in der Vorstellungswelt intellektueller Eliten die Illusion entstehen, das Tempo des Fortschritts durch individuelle Aktionen beschleunigen, seine Ziele in Richtung des Utopischen verändern zu können. So verwandelte sich der Marxismus, der im Westen eine wahlweise revolutionär oder reformistisch interpretierbare Lehre darstellte, in Russland in einen Leitfaden zielgerichteter Aktion, eine Art Gebrauchsanweisung für Akteure der Geschichte. 1879 entstand die Partei «Narodnaja Wolja» (= Volkswille), deren erste historisch relevante Tat die brutale Ermordung des Befreier-Zaren am 1. März 1881 war – ein Ereignis, das der damals 13-jährige Großfürst Nikolaj Alexandrowitsch miterlebte.
Abb. 2: Die Ermordung von Alexander II. (März 1881)
Für Alexander III., den direkten Nachfolger des Ermordeten und Nikolajs Vater, suggerierte dieser Mord die Einsicht, dass liberale Politik à la Alexander II. den Terror begünstige, ergo fehl am Platz sei. Vielmehr müsse zaristische Autokratie, Staatsmacht und offene wie geheime Polizeigewalt demonstriert sowie die Intelligenzija gezügelt werden, um endlich Ruhe zu schaffen. Allerdings konnte durch solche Bemühungen weder die bürgerliche Entwicklung noch der Terror revolutionärer Geheimbünde gehemmt werden. Die Lösung dieser Quadratur des Kreises blieb nach dem Tod von Alexander III. seinem Sohn überlassen, dem damals 26-jährigen Thronfolger Nikolaj II.[*1]
KAPITEL 2
Der junge Zar Nikolaj, das wollen wir ihm zugute halten, war sich anfangs seiner begrenzten Fähigkeiten durchaus bewusst. Der Leichnam seines Vaters Alexander war noch nicht kalt, als er seinen Schwager und guten Freund, den Großfürsten Alexander Michajlowitsch, Ehemann seiner Schwester Xenia, im Salon des Livadia-Palais auf der Krim mit Tränen in den Augen befragte: «Sandro, was soll ich tun? Was wird aus mir, aus dir, aus Xenia, aus Alix, aus Mutter, aus Russland? Ich bin nicht darauf vorbereitet, Zar zu sein. Ich wollte nie einer werden, und ich verstehe überhaupt nichts von Regierungsgeschäften. Ich weiß nicht einmal, wie man mit Ministern spricht.»
Nicht von ungefähr lastete die Macht auf dem Sechsundzwanzigjährigen. Nikolaj II. erklomm nun den Thron einer Dynastie, die im Zeitraum ihrer Herrschaft seit 1613 dem Russischen Reich die unterschiedlichsten Zaren beschert hatte: den westlich orientierten Reformer Peter I., die aufgeklärte, mit Voltaire korrespondierende Monarchin Katharina II., dann Alexander I., den Bezwinger Napoleons, der durch die Heilige Allianz die europäische Politik mitbestimmte. Schließlich folgten der Erzreaktionär Nikolaj I. sowie einige kurzlebige Übergangsherrscher, darunter Peter II. und Paul I., die von großfürstlichen Rivalen entmachtet bzw. ermordet wurden. Neben diesen historischen Gestalten hatte es der junge Imperator mit zwei Schatten zu tun, die seinen eigenen Lebzeiten entstammten: mit dem Großvater Alexander II., an dessen von einer Terroristenbombe zerfetztem Leichnam er als Halbwüchsiger Totenwache gehalten hatte, und der gestrenge Vater Alexander III., der dem Zarewitsch die ihm angemessen erscheinende zivile und militärische Erziehung zukommen ließ, ihn nach Abschluss seiner Studien auf eine Weltreise schickte und seine Eheschließung mit der jungen deutschen Fürstin Alexandra, genannt Alix, arrangierte.
Kurz und gut: Im Dezember 1894 zog ein netter junger Mann in das Winterpalais ein, den sein späterer Ministerpräsident Graf Sergej Witte als «unerfahren, aber nicht dumm» bezeichnete und über den er in seinen Memoiren sogar zweimal bemerkte: «Ich habe nie einen dermaßen wohlerzogenen Menschen kennen gelernt.» Allerdings beklagte er manche Schwächen Nikolajs, von denen ihm die leichte Beeinflussbarkeit besonders schwerwiegend erschien. Diese betonte auch sein Lehrer im Fach Geschichte und Politik, Graf Pobedonostsew, der ebenfalls einen Zusammenhang mit Nikolajs jungem Alter und seiner fehlenden Erfahrung sah. Wer aber hatte je die Erfahrung, «Zar aller Reußen» zu sein, vor der Thronbesteigung gemacht? Sogar die große Katharina war zu Anfang naiv und musste sich auf Rat und Tat ihrer berühmten Favoriten stützen. Nikolaj wollte unbedingt ein guter Herrscher sein, arbeitete unentwegt, las selbst alle Akten, die auf seinen Tisch gelangten und versah sie reichlich mit Randnotizen. Als staatsmännisches Vorbild galt ihm sein Vater mit seinem Konservatismus. In Nikolajs erster, mit großem Lampenfieber vom Blatt abgelesenen öffentlichen Ansprache warnte er die Vertreter der lokalen Selbstverwaltungen vor allzu mutigen Reformträumereien. Das war aber zunächst nur Rhetorik, noch keine Politik. Peinlicheres ergab sich, als der neue Zar im Verlauf einer Audienz des zuständigen Ministers den Bau eines Militärhafens in Murmansk – eines Lieblingsprojekts seines Vaters Alexander III. – absegnete, um die Genehmigung nach einem Gespräch mit einem seiner zahlreichen Onkel, dem Großfürsten und Admiral Alexej Alexandrowitsch, noch am selben Tag zurückzuziehen und per Ukas das lettische Libau als Militärhafen zu bestimmen, was der Minister erst aus dem Mitteilungsblatt der Regierung erfuhr. Doch selbst solche Fauxpas sah man ihm anfangs noch nach. Um diesen Fehler wenigstens ein bisschen wieder gutzumachen, ließ er den Hafen nach seinem Vater benennen.
Eigentlich galt er in den ersten anderthalb Jahren seiner Herrschaft noch nicht als vollwertiger Monarch: Es fehlte am Krönungsakt, der gemäß der russischen Tradition nur in der alten Hauptstadt Moskau vollzogen werden durfte. Dabei handelte es sich um eine doppelte Krönung, die des Zaren und der Zarin. Das kirchliche, militärische und weltliche Zeremoniell wurde langfristig mit gebührendem Pomp geplant. Am 8. März 1895 gründete man zu diesem Zweck eine dreiköpfige Kommission mit Nikolajs Onkel, dem Großfürsten Sergej Alexandrowitsch, an der Spitze, der neben seinem hohen Rang auch den Posten des Moskauer Generalgouverneurs bekleidete, ein Amt, das hierarchisch weit höher rangierte als das des Moskauer Bürgermeisters. Mit der Organisation der vom 6. bis 26. Mai 1896 anberaumten Feierlichkeiten beauftragten die drei Verantwortungsträger das Petersburger Hofministerium und die diesem untergeordnete Moskauer Krönungskommission.
Massenspektakel dieser Art folgten im ausgehenden 19. Jahrhundert mitunter dicht aufeinander. Sie mehrten einerseits das internationale Ansehen des jeweiligen Landes und wirkten gleichzeitig im Sinne der sprichwörtlichen «panem et circenses» wohltuend auf die Stimmung der eigenen Bevölkerung. So feierte 1887 Großbritannien als damals mächtigstes Imperium der Welt das goldene Thronjubiläum von Königin Victoria in der Westminster Abbey mit 50 Monarchen und Fürsten, die als Gäste geladen worden waren, und begeisterte das Volk auf dem Trafalgar Square. Zwei Jahre später wurde in Paris die Weltausstellung mit Sensationen wie dem Eiffelturm und Edisons Phonographen eröffnet. Allerdings vermied man, zu diesem Ereignis die blaublütige Elite des Kontinents einzuladen, denn die Weltausstellung fand aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der Großen Revolution statt, in der zu viele Köpfe der Aristokratie gerollt waren. Fast zeitgleich mit der Krönung des russischen Herrscherpaares kam es in Europa zu zwei weiteren grandiosen Selbstdarstellungen: Die Ungarn feierten 1896 die tausendste Jahreswende seit ihrer «Landnahme» zwischen Donau und Theiß. Neben der von Kaiser Franz-Joseph eröffneten Jubiläumsausstellung und Hunderten von Veranstaltungen von Frühjahr bis Herbst erhielt so die Hauptstadt Budapest die erste Untergrundbahn des Kontinents, die noch heute als «millennarisch» bezeichnet wird. Und sogar das bettelarme Griechenland inszenierte 1896, Coubertins Idee folgend, die ersten Olympischen Sommerspiele der Neuzeit in Athen. Die Eröffnungsrede hielt König Georg I., Cousin sowohl von Nikolaj als auch von seiner Gattin Alix.
Was die Prominenz der Gäste betraf, so ließ sich auch der Zarenhof nicht lumpen: Erzherzöge und Großfürsten aus Siam, Dänemark, Japan, Baden-Württemberg, Montenegro, Bayern und Neapel waren geladen. Als besonders herausragende Gäste kamen aus Großbritannien Alfred, Duke of Edinburgh, sowie aus Österreich der Thronfolger Franz Ferdinand. Aus China reiste Li Hongzhang an, Sonderbeauftragter des Kaisers, sowie das gesamte diplomatische Corps, aus dem Russischen Reich selbst standen der Emir von Buchara, der Khan von Chiva, sämtliche Kirchenfürsten, Kammerherren und Hofdamen, alle hohen Militärs, Amtsträger und Repräsentanten des Adelsstandes und sogar eine Delegation von Bauern auf der Gästeliste. Über den Ablauf der Festlichkeiten berichteten rund zweihundert ausländische und russische Journalisten, für die eigens ein Presseklub eingerichtet wurde. Alles in allem gönnte man sich, wie es in heutiger Diktion heißen könnte, ein Medienereignis vom Weltrang.
Die vorgesehenen Höhepunkte sahen folgendermaßen aus: am 9. Mai Einzug der Kaiserfamilie, die aus Nikolaj, Alix und der verwitweten Zarenmutter Maria Fjodorowna bestand, in den Moskauer Kreml. Für den Vormittag des 14. Mai war die «Heilige Krönung» in der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale vorgesehen, und um neun Uhr abends sollte der Kreml durch die frisch gekrönte Zarin feierlich elektrisch illuminiert werden, was in dem bis dahin von Kerzen und Petroleumlampen beleuchteten Imperium eine wahre Offenbarung bedeutete. Traditionsgemäß gehörte zum Programm das für den 18. Mai angesetzte Volksfest auf dem stadtauswärts liegenden Chodynka-Feld. Der Abend dieses Tages war dem vom französischen Botschafter Montebello zu Ehren des jungen Herrscherpaars ausgerichteten prunkvollen Ball vorbehalten. Ansonsten wimmelte es in jenen Tagen nur so von Empfängen, Banketten, Gottesdiensten, Paraden und Flaggenweihungen, alles begleitet von Feuerwerken, Kanonenschüssen und Glockentönen. Auch an lukullischen Freuden wurde nicht gespart. Auf der Speisekarte eines der zahlreichen Festbanketts, die mit einem Aquarell des berühmten Künstlers Alexander Benoit dekoriert worden war, schlug man folgende Gänge vor: Schildkrötensuppe mit Piroschki, gesalzener Fisch mit Krabbensauce, Rinderfilet mit Gemüse, kaltes Rebhuhn und Gänseleber, Salat aus Perlhuhn, Blumenkohl und Erbsenschoten. Zum Dessert servierte man neben anderen Früchten auch Ananas, des Weiteren Kuchen und Eis. Das Hoforchester spielte den Balltanz aus Pjotr Tschaikowskis «Jewgenij Onegin» sowie die Polowetzer Tänze aus Alexander Borodins Oper «Fürst Igor».
Abb. 3: Speisekarte von Alexander Benoit zum Bankett während der Krönungsfeier (1896)
Den protokollarischen musikalischen Rahmen der Krönungszeremonie lieferte hingegen die Oper «Ein Leben für den Zaren» des längst nicht mehr unter den Lebenden weilenden Komponisten Michail Glinka,[4] eine bewusst ideologisch motivierte Entscheidung. Denn es ging um eine Geschichte vom Beginn des 17. Jahrhunderts, als die polnisch-litauische Armee in der Nähe von Kostroma nach Michail jagte, dem ersten Romanow. Die Soldaten verlangten von Iwan Sussanin, einem russischen Bauern, ihnen auf die Spur zu helfen. Dieser willigte scheinbar ein, ließ jedoch den Herrscher vor der drohenden Gefahr warnen und führte die Gegner in einen dichten, dunklen Wald. Dort gab er die Täuschung zu und wurde aus Rache getötet. Doch der Zar war vor dem sicheren Tod gerettet. Der Schlusschor der Oper heißt «Sei gepriesen!» und erlangte später in Russland geradezu den Rang einer Nationalhymne. So geschah es auch an dem Galaabend im Bolschoj-Theater am Freitag, dem 17. Mai. Glinkas Oper wurde als Suite gegeben, dazu ein Ballett, das die Apotheose symbolisieren sollte. Die Euphorie schien keine Grenzen zu kennen, alle erhoben sich von den Plätzen und blickten zu der mit Gobelins geschmückten kaiserlichen Loge, man rief «Hurra», «Sei gepriesen», «Ein Leben für den Zaren» und verlangte wiederholt nach der staatlichen Hymne «Gott erhalte den Zaren». Der auf diese Weise Gefeierte war überwältigt. Zum ersten Mal empfand er das reine Glück seines neuen Herrscher-Daseins. Angesichts der späteren Wende seines Schicksals sollte es wohl auch das letzte Mal gewesen sein.
An jenem Freitag, als man um 19 Uhr im Bolschoi den Vorhang aufzog, hatten sich bereits, neunzehn Stunden vor dem zu erwartenden Auftritt des Herrscherpaares, Zehntausende vor dem Chodynka-Feld versammelt, und die Menge wuchs mit jeder Minute. Zwischen dem Stadtgebiet und dem ehemaligen militärischen Übungsplatz, später auch Gelände für die inzwischen abgerissene Erste Russische Industrieausstellung, waren in einer Reihe etwa hundert Buden errichtet worden, allesamt überdacht, in denen die Geschenke des Zaren für seine Untertanen anlässlich der Krönung bereitgestellt worden waren. Es handelte sich dabei um eine Papiertüte, die ein mit einem figürlichen Muster bemaltes Tuch sowie einen Emaillebecher mit dem Monogramm des Zarenpaares enthielt. Nüsse, Mandeln, eine Packung Pumpernickel mit dem Aufdruck «Krönung 1896», ein Stück Wurst sowie ein bunt eingeschlagenes Büchlein, das die Bedeutung des historischen Ereignisses erklärte, sollten die Volksbeglückung vervollständigen. Die Verteilung der Präsente sollte genau um zehn Uhr am nächsten Vormittag beginnen. Es war geplant, dass die Menschen, nachdem sie ihre Tüten erhalten hatten und zwischen den Buden hindurch auf das Riesenfeld gelangt waren, dort geduldig den Anfang des Volksfestes um zwei Uhr nachmittags abwarteten. Sodann würden Zar und Zarin auf dem Balkon des eigens für das Fest erbauten Petrowskaja-Pavillons erscheinen und eine kurze Rede halten, bevor die Hofkapelle eine Kantate des Komponisten Wassilij Safonow spielte. Danach sollte an die Menschen auf dem Feld kostenlos Brot verteilt und Bier mit Honig ausgeschenkt werden. Vor den kleinen Bühnen konnte das Volk dann Puppenspiel, Zauberer, Gauklerdarbietungen, Glücksspiele, Tombola und Musik genießen.
Die Buden wurden zunächst von 250 Wachleuten vor Plünderungen geschützt; die Bierfässer auf der Wiese wurden von 200 Kosaken bewacht, außerdem standen 100 Feuerwehrleute bereit. Die «natürliche» Barriere zwischen der Stadtgrenze und den Buden bildete ein 500 Meter langer, einige Meter breiter, schlecht und recht mit Sand zugeschütteter ehemaliger Schützengraben, der an einigen Stellen mannshoch war. Über diesen Graben führten einige wenige enge Stege zum Festplatz. Schneller konnte man dorthin gelangen, indem man in den alten Schützengraben hinein- und auf der anderen Seite wieder herauskletterte. Von da aus waren es nur noch zwanzig oder dreißig Schritte bis zum begehrten Geschenk, und danach konnte man die freie Wiese betreten. Daher besetzten jene, die zuerst kamen, den Vorplatz zwischen den Buden und dem Graben, der ebenfalls ein schlecht gesicherter Teil des ehemaligen Truppenübungsplatzes war. Seiner ursprünglichen Bestimmung entsprechend gab es dort Sandkuhlen, Schießscharten, verschiedene Deckungen und provisorisch abgedeckte Löcher, darunter auch ein mit Brettern verschlossener tiefer Brunnen. Bald füllten den Graben Zehntausende von nachrückenden Menschen. Weitaus mehr aber – Hunderttausende kamen noch hinzu – bevölkerten die ganze Petrowskij-, in späteren Zeiten Leningrader Chaussee, und Kutschen hatten bereits am späteren Abend keine Chance mehr, sich dem Schauplatz zu nähern. Dennoch blieb zunächst alles ruhig, und die Stimmung war sogar heiter. Familien aus Moskau und Umgebung, Bauern und Arbeiter – Letztere von ihren Fabrikdirektoren beurlaubt – waren mit Proviant und Getränken eingetroffen, entfachten kleine Feuer und sangen frohe Lieder.
Erst in den frühen Morgenstunden begann die Menge zu spüren, dass sie in eine Falle geraten war. Wer einmal seinen Platz eingenommen hatte, darunter Alte, Frauen sowie Mütter mit Kindern, konnte weder vorwärts noch zurück, geschweige denn den Ort verlassen. Der deutsche Journalist Friedrich Schütz beschrieb die Szene für die Wiener «Neue Freie Presse»: «Tausende zu einer großen Kugel zusammengeballt – Dampf und Dumpf stiegen wie aus einem erhitzten Samowar zum Himmel. Der Schweißgeruch wurde unerträglich. Man roch ihn noch viele Stunden später.» Wem übel wurde, der konnte nicht einmal in Ohnmacht fallen – man blieb bewusstlos stehen. Selbst die ersten Toten, Opfer eines Herzanfalls oder der Atemnot, konnte man aus der Masse nicht herausbringen. Nur einige Kinder gelangten ins Freie, indem sie über die Köpfe der Menschen hinweggereicht wurden.
Kurz vor sechs Uhr morgens verbreitete sich das Gerücht, die Geschenke seien bereits an einige Bevorzugte ausgegeben worden. Da die Leute in den hinteren Reihen ohnehin befürchteten, die märchenhaften Tüten könnten bereits verteilt sein, bevor sie selbst die Buden erreicht hatten, begann ein immer hysterischer werdendes Getümmel, und zwar in Richtung des Grabens, aus dem die darin Stehenden, auch weil sie nicht genug Platz auf der anderen Seite hatten, nicht rasch genug herausklettern konnten. Angesichts des Gedränges gerieten die Bewacher in Panik und begannen die Geschenke in die Menge zu werfen, was das Geschiebe der Menschenmassen noch verstärkte. Nun bekam plötzlich ein Problem akute Brisanz, das bisher als unbedeutend erschienen war und nun vielen zum Verhängnis wurde – nämlich die vielen Provisorien und Tücken des ehemaligen Truppenübungsplatzes. Allein der nur oberflächlich abgedeckte tiefe Brunnen wurde zur Todesfalle für achtundzwanzig Menschen, die teilweise kopfüber dort hineinstürzten. Insgesamt wurden binnen einer halben Stunde mehr als 1300 Menschen zu Tode getrampelt und etwa 400 schwer, teilweise lebensgefährlich verletzt.
Abb. 4: Massenkatastrophe auf dem Chodynka-Feld
Erst dann trafen die Ordnungskräfte in Gestalt der Moskauer Polizei ein, denen die traurige Aufgabe verblieb, die Toten von den Lebenden zu trennen – die meisten Leichen lieferten sie gleich auf dem nahegelegenen Waganjkowo-Friedhof ab. Alles musste schnell geschehen: zum einen wegen der Seuchengefahr und zum anderen, um die Spuren der Katastrophe schleunigst zu beseitigen, damit die Begegnung des Zaren mit seinem Volk am frühen Nachmittag ungetrübt verlaufen konnte. Die Verletzten brachte man in Krankenhäuser, die von den unerwartet zahlreichen Patienten förmlich überrannt wurden. Moskau lag noch arglos im Schlummer, und als die Stadt erwachte, sahen die Einwohner zunächst nur die Glückseligen, die unversehrt mit ihrer Geschenktüte auf den Hauptstraßen spazieren gingen. Gegen Mittag erblickte man jedoch mit Decken, Teppichen und Tüchern abgedeckte Fuhrwerke, über deren Seitenwände Gliedmaßen baumelten – improvisierte Leichenwagen.
Nikolaj II. erhielt die böse Nachricht um halb elf am Vormittag. «Bisher lief, Gott sei Dank, alles wie geschmiert», vertraute er seinem gewissenhaft bis zum Tode geführten Tagebuch an, «aber heute ist eine große Sünde geschehen. (…) Schrecklich auszusprechen: etwa 1300 Menschen sind zu Tode getrampelt worden. (…) Wir aßen um 12.30 zu Mittag, um bei dem unseligen ‹Volksfest› anwesend zu sein. Und dann fuhren Alix und ich zur Chodynka.» Besonders aufschlussreich an dieser Eintragung erscheint die Wortwahl für das Geschehene: Der Zar spricht nicht von einer Katastrophe oder einem schweren Unfall, sondern von einer Sünde. Das bedeutet, dass er an dem Tag, als ihn die Nachricht von dem Massensterben erreichte, dieses noch als moralisch messbares Phänomen wahrnahm. Offensichtlich hatte er aber in diesem Augenblick ein anderes, viel konkreteres Problem: Welche Haltung konnte er in dieser außergewöhnlichen Situation einnehmen, die ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf? Alles abblasen, die Krönungsfeier in eine Trauerfeier verwandeln?[5] Oder war es besser, so zu tun, als sei nichts politisch Relevantes geschehen, selbst wenn er gefühlsmäßig die «Dawka», das tödliche Gedränge, als tragische Erschütterung erlebte? Der spontane, beinahe selbstverständlich erscheinende Beschluss, Chodynka zu besuchen, und zwar programmgemäß gemeinsam mit der Eskorte, spricht dafür, dass der Zar innerlich zu der zweiten Lösung neigte oder glaubte neigen zu müssen.
Für ein bisschen Beruhigung sorgte der Eifer der Behörden, die innerhalb weniger Stunden alles taten, damit zum Zeitpunkt der Ankunft der Majestäten und Regierungsmitglieder nichts mehr an die Schrecklichkeiten des Morgengrauens erinnerte. Nikolajs Aufzeichnungen hierzu: «Es war nichts Besonderes zu sehen. Wir blickten von dem Pavillon aus auf die riesige Menschenmenge, die die Plattform umringte, wo das Orchester immer wieder die Nationalhymne und ‹Sei gepriesen› spielte.» Dieses Potemkinsche Dorf beeindruckte selbst die eigentlich aufgrund der Hiobsbotschaft verzweifelte Großfürstin Xenia, Sandros Frau, die ebenfalls vom Pavillon aus die Szene beobachtete: «Unten wogte eine einzige riesige Menschenmenge, das Orchester und der Chor spielten unzählige Male die Nationalhymne und ‹Sei gepriesen›. (…) Das ‹Hurra!› war atemberaubend.» Dennoch spürte die Großfürstin die Schizophrenie dieser Feierlichkeiten: «Es war peinlich und traurig. Während wir da waren, wurden immer noch Leichen weggetragen.» Der Großfürst Konstantin Konstantinowitsch, ein Schöngeist, der unter dem Pseudonym K. R. lyrische Gedichte schrieb und Shakespeares «Hamlet» ins Russische übersetzt hatte, bezeugte ebenfalls: «Als Ihre Majestäten sich auf dem Balkon des Pavillons zeigten, brach ein gewaltiger Jubel los. Es war ein feierlicher, aufwühlender Moment.»
Aber auch Großfürst Konstantin war sich der ganzen Wahrheit bewusst: «Es war schrecklich, zum Fest gehen zu müssen und dabei zu wissen, dass es vor dem eigentlichen Beginn ein solches Unglück gegeben hatte.» Trotzdem hielt man sich an das vorgesehene Protokoll. Es folgte ein Empfang der Amtsbezirksältesten mit einem Festessen. Alix, die sich ohnehin wegen ihrer mangelnden Russischkenntnisse am Gespräch nicht beteiligen konnte und unter der bedrückenden Allgegenwart der verwitweten Zarenmutter Maria Fjodorowna litt, konnte ihre Verzweiflung kaum verbergen. Sie weinte lautlos und wischte sich die Tränen mit der Serviette ab.
Die Familiensolidarität zerbrach erst am späteren Nachmittag, als die drei älteren Onkel des Zaren, die gemäß ihrem Vatersnamen «Alexandrowitschi» hießen, mit den vier jüngeren, den «Michajlowitschi»[6], aneinandergerieten. Der Familienrat diskutierte stürmisch die Frage, ob man angesichts der Todesfälle den von der französischen Gesandtschaft gegebenen Ball oder zumindest die Beteiligung des Herrscherpaars absagen sollte. Das Problem war von höchster diplomatischer Brisanz. Marquis Gustave de Montebello, der französische Botschafter, hatte recht tief in die Staatskasse und auch in die Geldbörse seiner reichen Gattin gegriffen, um die russische Krönung unter würdevollen Umständen im eigenen Moskauer Palais zu feiern. Es ging dabei um mehr als nur einen wichtigen Staatsakt – es ging um die Festigung der neuen europäischen Konstellation.
Mit Bismarcks Entlassung 1890 fühlte sich der junge Kaiser Wilhelm II. nicht mehr an das vorsichtige Manövrieren des Eisernen Kanzlers gebunden, dessen Ziel darin bestanden hatte, das Deutsche Reich in keinem Fall zwischen die Fronten geraten zu lassen. Die diesbezüglichen Verträge, so 1881 der «Dreikaiserbund» zwischen Deutschland, Russland und der Österreich-Ungarischen Monarchie sowie der Rückversicherungsvertrag von 1887 zwischen Berlin und St. Petersburg, waren von dem ehrgeizigen Hohenzollern danach als Altpapier behandelt und – obwohl Russland darauf insistierte – nicht ratifiziert worden. Daraufhin setzte Alexander III. auf die französische Karte, schloss 1892 mit der Republik kurzerhand ein militärisches Abkommen und 1894, unmittelbar vor seinem Tod, einen Bündnisvertrag. Obwohl all diese Kungeleien unter dem Begriff «Geheimdiplomatie» firmierten, wussten sogar neugierige Journalisten, wohin der Hase lief.