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Martin Zimmermann

PERGAMON

Geschichte, Kultur, Archäologie

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck


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Zum Buch

Im Jahr 47 v. Chr. ist ein Teil der weltberühmten Bibliothek von Alexandria im Zuge des römischen Bürgerkriegs ein Raub der Flammen geworden. Wenige Jahre später kommt Marcus Antonius, der neue Machthaber im Osten, auf den Gedanken, seiner Königin Kleopatra und der Stadt Alexandria als Ersatz die Bibliothek von Pergamon zu schenken, die zu diesem Zeitpunkt die ungeheure Zahl von 200.000 Schriftrollen beherbergt haben soll. Diese Begebenheit illustriert sinnfällig, welchen Rang Pergamon im Konzert der großen Kulturmetropolen der Antike eingenommen hat. Noch heute stehen wir staunend vor den Kunstwerken und respektgebietenden Ruinen der untergegangenen Stadt – Tempel, Heiligtümer, Paläste, Gymnasien – und nicht zuletzt vor dem monumentalen Pergamonaltar mit seinem dramatisch gestalteten Figurenfries, der bis auf den heutigen Tag Millionen von Besuchern aus aller Welt anlockt und fasziniert.

Martin Zimmermann erzählt in diesem Band spannend, informativ und anschaulich die Geschichte vom Aufstieg und Fall Pergamons vom 4. Jh. v. Chr. bis in byzantinische Zeit – von seinen Mythen und seinen Herrschern, von seiner Kunst und seiner Kultur, von seinen Feinden und seinen Förderern. Und er erzählt die Geschichte von der Wiederentdeckung des versunkenen Pergamons im 19. Jh. und von der Freilegung und Bergung seiner kulturhistorisch einzigartigen Schätze.

Über den Autor

Martin Zimmermann lehrt als Professor für Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er selbst erforscht seit Jahren das Umland von Pergamon und gilt als Fachmann für die griechische und römische Geschichte des westlichen Kleinasien. Im Verlag C.H.Beck ist von demselben Autor lieferbar: Der Traum von Troia. Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt (Hrsg., 2006)

Inhalt

  I. Geschichte

Auftakt: Die Entdeckung des Pergamonaltars und «einer ganzen Kunstepoche»

Die Landschaft Pergamons

Telephos gründet die Stadt: Mythenlandschaft und Frühgeschichte

Philetairos (281–263 v. Chr.), Eumenes I. (263–241 v. Chr.) und der Beginn der attalidischen Dynastie

Ein Königreich entsteht und wankt: Attalos I. (241–197 v. Chr.) und die große Politik

Eumenes II. (197–158 v. Chr.): Das neue Pergamon und Rom

Pergamon, ein zweites Athen. Mythische Gründung und griechische Identität

Kulturpolitik der Könige und die Verwaltung des Reiches

Die letzten Könige Attalos II. (158–138 v. Chr.) und Attalos III. (138–133 v. Chr.)

Aristonikos (133–129 v. Chr.) und römische Herrschaft

Aufstand, Strafgericht und Diodoros Pasparos: Ein Bürger als König

Die römische Metropolis: Die neue Stadt Trajans (98–117 n. Chr.) und Hadrians (117–138 n. Chr.)

Niedergang in Spätantike und byzantinischer Zeit

 II. Kultur und Archäologie

Pergamon entsteht neu: Eine kurze Grabungsgeschichte

Die Oberburg: Paläste der Herrscher und Arsenale

Der hellenistische Burgberg als urbanistisches Gesamtkunstwerk und die römische Großstadt

Städtisches Leben in den Wohnvierteln

Erziehung zum vortrefflichen Bürger: Die Gymnasien

Die Stadt und ihre Götter

Der große Altar: Der Sieg Pergamons über die Barbaren

Stadt der Kunst und Gelehrsamkeit

Das Umland: Agrarische Ressourcen und Nachbarstädte

Pergamon in Berlin

III. Anhang

Verwendete und weiterführende Literatur in kleiner Auswahl

Nachweis der Bildzitate

Namenregister

Sachregister

Ortsregister

I. Geschichte

Auftakt: Die Entdeckung des Pergamonaltars und «einer ganzen Kunstepoche»

Das antike Pergamon an der kleinasiatischen Westküste ist nach seinem Untergang nie ganz in Vergessenheit geraten. Der Name des modernen Städtchens Bergama, das an der Stelle der antiken Stadt entstanden war, und die antiken Texte hielten die Erinnerung wach. Schon Pilgerreisende oder Kaufleute des Mittelalters, wie der italienische Humanist Cyriacus von Ancona (1391–1455), berichteten, daß sie die Ruinen der untergegangenen Stadt gesehen hätten. Aber erst im 19. Jh. begann die wissenschaftliche Erkundung durch gelehrte Reisende. Abenteurertum und der Ehrgeiz, für ihre Heimatländer Kunstschätze zu finden und die Museen zu füllen, waren oft die Motive dieser Expeditionen. Entsprechend knapp blieben meist die Berichte, aber es gab auch Liebhaber der Antike, denen an der Dokumentation der Monumente lag. Für Pergamon sind neben den 1809 publizierten Arbeiten von Marie-Gabriel Choiseul-Gouffier jene von Charles Texier zu nennen, der von 1833 an weite Teile der kleinasiatischen Küste bereiste und seine Erkundungen in seiner Description d’Asie Mineure 1838 bis 1849 veröffentlichte.

Die eigentliche Entdeckung Pergamons erfolgte wie ein Paukenschlag. So wie die Ausgrabung Troias ohne die Beharrlichkeit Heinrich Schliemanns schwerlich vorstellbar ist, so steht auch am Beginn der Entdeckung Pergamons das Engagement und die Ausdauer eines Laien, aber echten Liebhabers der Antike, nämlich Carl Humanns (1839–1896). Kurz nach der Mitte des 19. Jh.s war der Deutsche als Vermessungsingenieur und Bauleiter vom türkisch-osmanischen Staat mit dem Bau einer Küstenstraße beauftragt worden. Die Trasse sollte von Norden kommend an der kleinasiatischen Westküste entlang nach Smyrna, dem heutigen Izmir, führen, und das florierende Landstädtchen Bergama passieren.

Im Jahr 1869 verlegte Humann seinen Bauhof in diese Stadt und mietete sich dort eine Wohnung. Der Burgberg mit seinen antiken Ruinen, der als mächtiger Hügel über dem malerischen Bergama thront, hatte schon bei ersten Planungen des Straßenbaus 1865/67 seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Bauleiter war nämlich nicht nur ein Organisationstalent und Kenner von Land und Leuten, sondern auch an den antiken Überresten interessiert, die es überall entlang der Baustrecke zu besichtigen gab. Insbesondere die großformatigen Reliefplatten, die aus dem Schutt der Ruinen herausragten, hatten sein Interesse geweckt. In seinem Bauhof richtete er ein kleines «Museum» ein, auch um die antiken Kunstwerke vor der Zerstörung zu bewahren. Die türkische Bevölkerung verbrannte nämlich den antiken Marmor zu Kalk, der als Baumaterial benötigt wurde. Wenn die antiken Überreste eine Zukunft haben sollten, mußte rasch etwas geschehen.

Als Humann 1871 in Konstantinopel zufällig den Professor für Klassische Archäologie aus Berlin Ernst Curtius traf, der gleichzeitig Leiter des Königlich-Preußischen Museums war, erzählte er von seinen Funden und lud ihn nach Bergama ein. Im darauffolgenden Sommer besuchte eine kleine gelehrte Reisegruppe unter der Leitung von Curtius die Ruinen und zeigte sich beeindruckt. Dadurch ermuntert, fasste Humann den Plan, eine Grabung zu beginnen. Er mußte sich freilich gedulden. Curtius selbst war im antiken Olympia gebunden, das ihn wegen seiner klassischen Kunstwerke offenbar stärker interessierte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, daß die Grabung Humanns zehn Jahre später als archäologische Sensation gefeiert und sein Entdecker mit Ehrungen überhäuft werden sollte. Die hohe Qualität der von ihm nach Berlin entsandten Reliefs erkannte aber Alexander Conze, der 1877 die Abteilung der Antiken Skulpturen der Berliner Museen übernommen hatte. Sie schienen die antike Überlieferung, die von Pergamon als Stadt der Kunst berichtet, zu bestätigen. Conze initiierte eine Museumsgrabung, die naheliegenderweise unter der Leitung Carl Humanns stehen sollte – nicht nur die erste, sondern, wie sich rasch zeigte, eine ausgezeichnete Wahl.

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Abb. 1: Carl Humann. Stich in der «Berliner Illustrirten Zeitung» vom 4. November 1882

Von 1878 bis 1886 dauerte diese erste Grabung, welche unter anderem den Pergamonaltar mit seinen mehr als 100 m langen Reliefs zutage förderte. Angesichts der hohen Zahl und ausgezeichneten Qualität der ausgegrabenen Reliefplatten und Fragmente war die Sensation perfekt. Dies um so mehr, da das Bauwerk selbst in der antiken Überlieferung nur einmal erwähnt wird. In der Enzyklopädie, die Lucius Ampelius im 2. Jh. n. Chr. unter dem Titel Liber memorialis zusammenstellte, findet sich der knappe Hinweis, in Pergamon stehe «ein großer marmorner Altar, 40 Fuß hoch, mit sehr großen Skulpturen. Er enthält eine Gigantomachie.»

Obgleich Ampelius den Altar zu den Weltwundern zählte und damit andeutete, daß es sich um ein recht beachtliches Monument handelte, konnte man sich vor der Grabung keine Vorstellung von seinem Aussehen machen. Die von Conze begutachteten Reliefs ließen immerhin Aufsehenerregendes erwarten. Schon bei Beginn der erfolgreichen Ausgrabung 1878 konnte Humann denn auch in einem Brief an Conze schreiben, man habe nicht «ein Dutzend Reliefplatten, sondern eine ganze Kunstepoche, die begraben und vergessen war, aufgefunden». Dank der mit der Hohen Pforte in Konstantinopel vereinbarten Fundteilung hatten die Ausgräber die Erlaubnis, die Kunstwerke nach Berlin zu bringen. Auch der osmanisch-türkische Anteil wurde den Deutschen gegen eine stattliche Geldzahlung überlassen.

Humann und mit ihm Conze wurden in der Presse und in Gelehrtenkreisen gefeiert. Berlin hatte seine archäologische Sensation: ein antikes Weltwunder. Endlich konnte man den großen Museen in Rom, Paris oder London auf Augenhöhe begegnen. Reichskanzler Bismarck und Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere Kaiser Friedrich III., begeisterten sich für die Ausgrabung. Rasch entstanden Pläne für eine museale Präsentation. Bereits 1901 wurde das von Fritz Wolf erbaute Alte Pergamonmuseum mit einer feierlichen Enthüllung einer Statue Carl Humanns eröffnet. 1906 begann Wilhelm von Bode, der neue Direktor der Königlichen Museen, mit Planungen für einen Neubau, da sich am älteren Gebäude bereits Schäden zeigten und der Platz für die Funde anderer Grabungen nicht mehr ausreichte. Nach langer Bauzeit, die durch politische Unruhen, aber auch durch heftig geführte öffentliche Debatten über das Ausstellungskonzept überschattet war, konnte das neue Museum schließlich 1930 eröffnet werden. Noch heute strömen trotz der wechselvollen Geschichte der Sammlung große Besucherscharen in das Pergamonmuseum, um die Funde zu besichtigen. Der Pergamonaltar nimmt unter den in Berlin gezeigten archäologischen Pretiosen immer noch eine Sonderstellung ein.

Mit der antiken Stadt Pergamon verbindet man seit den Entdeckungen von Humann und Conze in erster Linie diesen bedeutenden Altar. Pergamon bietet freilich mehr. Die Stadt war, wie die nun mehr als 130 Jahre dauernden Ausgrabungen gelehrt haben, neben Alexandria, Antiochia, Ephesos, Athen und Rom eine der großen Metropolen der antiken Mittelmeerwelt mit einem spektakulären Stadtbild. Öffentliche Bauten, eine ausgedehnte Wohnstadt und beeindruckende Festungsmauern dokumentieren eine wechselvolle Geschichte zwischen Blüte, Stagnation, erneuter Blüte und allmählichem Niedergang. Als Zentrum für Kunst und Kultur strahlte Pergamon weit über die Region hinaus. Die Stadt war zudem Residenz eines hellenistischen Königreiches, das die Geschichte Kleinasiens für zwei Jahrhunderte prägte. Die dort herrschende Dynastie wirkte weit über ihre Stadt hinaus und schuf die Grundlagen dafür, daß Pergamon auch unter römischer Herrschaft nur wenig von seiner Strahlkraft einbüßte, obwohl die Konkurrenz mit Smyrna und Ephesos hart war und diese Städte im Wettstreit um die Gunst von Besuchern und Kaisern bisweilen erfolgreicher waren. Um die überaus farbige und lehrreiche Geschichte der Stadt soll es in diesem Buch gehen.

Die Landschaft Pergamons

Ohne einen Blick auf die Landschaft, in der eine Stadt gebaut wurde, bleibt ihre Geschichte unverständlich. Eine sichere Lage und die gute Versorgung mit Wasser, Nahrung, Bau- sowie Brennmaterial bildeten die Basis für Entstehung, Erhalt oder in manchen Fällen auch Prosperität antiker Städte. Der Siedlungsplatz Pergamons nahe der kleinasiatischen Westküste, ca. 110 km nördlich des heutigen Izmir, war in dieser Hinsicht ausgezeichnet gewählt: Der ca. 330 m hohe und im Norden, Westen und Osten steil abfallende Burgberg von Pergamon war leicht zu befestigen, und der sanfter abfallende Südhang bot ausreichend Platz für eine ausgedehnte Wohnsiedlung. Die Stadt lag zudem ca. 27 km vom Meer entfernt, was zusätzliche Sicherheit schuf – Feinde, die von dort kamen, konnte man frühzeitig erkennen. Der Berg dominierte das weite und fruchtbare Tal des antiken Kaikos, des heutigen Bakir Çay. Dieser Fluß folgte einem von West nach Ost laufenden, markant eingeschnittenen Tal – ein für das westliche Kleinasien typisches Landschaftsbild. Es findet sich ähnlich weiter im Süden an den antiken Flüssen Mäander, Kaystros und Hermos, an deren fruchtbaren Tälern in der Antike mit Smyrna, Ephesos, Milet, Priene oder Magnesia blühende Städte gewachsen waren.

Das mehrere Kilometer breite Kaikostal weitet sich westlich von Pergamon und wird im Westen begrenzt durch Höhenzüge des Kara Dag, der sich über die dort vorgelagerte Halbinsel erstreckt. Südlich dieser Halbinsel fließt heute wie in der Antike der Kaikos ins Meer und hat in seinem Mündungsgebiet ein ausgedehntes Schwemmland mit Salzwiesen entstehen lassen. Der Fluß führt dank kräftiger Quellen und mehrerer Nebenarme ganzjährig Wasser, so daß schon im Altertum stets eine ausgezeichnete Wasserversorgung gegeben war, auch wenn man zusätzliche Zisternen im innerstädtischen Bereich anlegte, um im Belagerungsfall die schützenden Mauern nicht verlassen zu müssen. Die Bachläufe des antiken Ketios (Kestel Çay) und Selinus (Bergama Çay) führen von Norden kommend sogar direkt am Burgberg vorbei. Das Quellgebiet der beiden Flüsse eignete sich für den bereits im 3./2. Jh. v. Chr. begonnenen Bau von Aquädukten, welche die rasch wachsende Bevölkerung mit Wasser versorgten. Zudem bildeten die Flußläufe die Grundlage für die Bewässerung der Ackerfluren in der Ebene, von deren Aussehen man sich heute freilich ein nur sehr ungenaues Bild machen kann. Die durch den Fluß herangeführten Sedimente sowie Erde und Gestein, die in Folge starker Erosion in den letzten 2000 Jahren von den angrenzenden Hügelketten ins Tal gelangt sind, wuchsen zu einer mehrere Meter starken Schwemmschicht an, von der die antiken Dörfer und Gehöfte bedeckt sind. Archäologische und geographische Forschungen der letzten Jahre zeigten aber, daß diese Aufschwemmung regional sehr unterschiedlich ausfiel und der Ebene durchaus noch Geheimnisse über die antike Besiedlung zu entlocken sind. Wir werden darauf noch zurückkommen.

Das Tal bot jedenfalls ausgezeichnete Bedingungen für den Landbau. Der Geograph Strabon (63 v. Chr. – nach 23 n. Chr.) spricht gar davon, das fruchtbare Tal sei das beste Landstück Mysiens, der Landschaft zwischen Marmarameer und Pergamon, gewesen. Das typisch mediterrane Klima mit trockenen Sommern und sehr regenreichen Wintern war Garant einer reichen Vegetation, die eine gute Versorgung der Stadt mit Agrarprodukten sicherte. Der immense Bedarf Pergamons an Brenn- und Bauholz konnte hingegen in den nahen waldreichen Bergen gedeckt werden. Das Bild des nördlich der Stadt gelegenen, ausgedehnten Bergrückens des Kozak (des antiken Pindasos), der bis zu einer Höhe von mehr als 1200 m ansteigt, prägen noch heute ausgedehnte Kiefern- und Pinienwälder. Hier dürfte es in der Antike auch Bestände von Eichenwald gegeben haben. Ähnliches gilt für den südlich von Pergamon gelegenen, rund 750 m hohen Yünd Dag (den antiken Aspordenon), auf dem wegen intensiver Beweidung heute anstelle der ehemaligen Wälder vor allem die für die kleinasiatischen Küstengebiete typische Macchie aus Kermeseichen und anderen Sträuchern zu sehen ist.

Zumindest der Höhenzug des Kozak lieferte auch Steinmaterial für die Bauten der Stadt. Dort finden sich Granitsteinbrüche, aus denen das antike Pergamon monolithe – aus einem Stück gefertigte – Säulen, Wasserbecken und ähnliches bezog. Bei Wanderungen in den Pinienwäldern kann man in dieser Gegend noch heute gebrochene und deshalb liegen gelassene Rohlinge aus den Steinbrüchen sehen. Die ansonsten in der pergamenischen Landschaft vorherrschenden Gesteinsarten sind vulkanischen Ursprungs, vor allem Andesit und die weicheren Tuffgesteine verschiedener Körnung. Sie machen den Hauptteil des Baumaterials aus, das – wie fast überall in antiken Städten üblich – in nicht allzu großer Entfernung vom Bauplatz gebrochen wurde. Die unterschiedlichen im Stadtgebiet verbauten Marmorsorten wurden hingegen importiert. Gleiches gilt für Metalle und Edelmetalle, die wohl nur in geringen Mengen lokal gewonnen werden konnten. Immerhin gibt es Hinweise auf Kupfer, Silber und sogar Goldvorkommen im Kozak; zumindest sprechen die Ruinen antiker Bergwerke in der Region für die einst lohnende Verhüttung. Auch nordwestlich von Pergamon am Rand des Tales wurde damals Gold gewonnen, vermutlich in jenem Bereich, in dem noch heute eine Goldmine betrieben wird.

In dieser mit allen wichtigen Ressourcen ausgestatteten Gegend, die in der Antike komplett als Kulturlandschaft erschlossen gewesen sein dürfte, war Pergamon nicht die einzige größere Stadt. Unter ihren Nachbarn ist zunächst die nahe der Kaikosmündung gelegene Hafenstadt Elaia zu nennen, die als wichtiger Hafen für den Im- und Export von Waren, aber auch als Flottenstützpunkt der Könige diente. Das wenige Kilometer weiter nordwestlich auf der Südseite der Halbinsel des Kara Dag gelegene Pitane (heute Çandarli) war ebenfalls ein wichtiger Hafenort und Handelspartner Pergamons. Inmitten der Halbinsel wird derzeit eine weitgehend unbekannte kleine Stadtanlage erforscht, die auf einem Hügel namens Hatiplar Kalesi liegt. Sie dominierte die Halbinsel und dürfte ein militärisch wichtiger Posten Pergamons in hellenistischer Zeit (338–31 v. Chr.) gewesen sein. Im Norden, nahe des heutigen türkischen Badeortes Dikili befand sich die mächtige Stadtanlage von Atarneus, von der aus im 4. Jh. v. Chr. ein Lokaldynast namens Hermias den gesamten Küstenstreifen bis Assos im Norden beherrschte. Die Stadt war zu dieser Zeit die bedeutendste der Region und zunächst wichtigster Konkurrent Pergamons. Auf dem markantesten Hügel in der Kaikosebene zwischen Atarneus und Pergamon wird die Burg von Teuthrania lokalisiert, die – sollte sich diese Zuschreibung bewahrheiten – sehr bescheidene Ausmaße hatte; sie wird uns im folgenden Kapitel über die Gründungslegenden noch beschäftigen. Im nördlichen Kozak lag die Stadt Perperene, die sich in der Kaiserzeit zu einem wichtigen Handelspartner für Granit, Holz, Wein und andere agrarische Produkte im Hinterland entwickelte. Am Rande des Kaikostales östlich und südlich von Pergamon lagen die Städte Gambreion, Apollonia und vielleicht Germe, deren Geschichte weitgehend im dunkeln liegt. Wichtigste Stadt im Bergland des Yünd Dag war die Stadt Aigai, die wegen ihres hellenistischen Baubestandes und des aufwendigen, sorgfältig gearbeiteten Quadermauerwerks gern als ‹kleines Pergamon› bezeichnet wird. Bemerkenswert sind zudem kleine Kurorte der Region. Da an verschiedenen Stellen des Kaikostales und seiner Nebentäler heiße Schwefelquellen aus dem Untergrund austreten, entstanden Bäder mit angeschlossenen medizinischen Kurbetrieben, die vor allem in der Kaiserzeit frequentiert wurden. Bekannt ist nicht zuletzt das östlich von Pergamon gelegene Allianoi, wo neben beeindruckenden Thermen auch zahlreiche Räume freigelegt wurden, in denen sich medizinische Gerätschaften fanden. Es hat traurige Berühmtheit erlangt, da es derzeit zu Gunsten eines Stausees überflutet und unwiederbringlich zerstört wird.

Telephos gründet die Stadt: Mythenlandschaft und Frühgeschichte

Eine solche Landschaft wurde von den antiken Zeitgenossen auf ganz spezielle Weise betrachtet. Wenn man in der Geographie Strabons die Partien über das westliche Kleinasien liest, gewinnt man den Eindruck, im Geiste durch ein mythisches Land zu reisen. Beinahe alle antiken Städte führten sich auf homerische Helden oder gar Götter der griechischen Mythologie zurück. Mit Hilfe einer angeblich gemeinsamen Frühgeschichte, die von zum Teil komplizierten Genealogien von Göttern und Helden überwölbt wurde und bereits einen größeren zeitgenössischen Gelehrtenkreis beschäftigte, schufen sich die Alten eine lokale Identität. Mit ihrer Hilfe grenzte man sich von nichtgriechischen, barbarischen Völkern ab. Die Zugehörigkeit zum Kulturkreis der Griechen brachte Prestige und diente der Selbstbehauptung. Dabei konnte man durchaus mehrere Gründer für sich in Anspruch nehmen, die von unterschiedlichem Gewicht in der öffentlichen Selbstdarstellung waren.

Dieses Phänomen ist auch in Pergamon zu beobachten, wo wir zwei unterschiedlich bewerteten Gründungsmythen begegnen. Bedeutend ist zunächst die Gründung durch den mysischen König Telephos. Er war der Sage nach Sohn der arkadischen Königstochter Auge, die es nach dramatischen Verwicklungen in das Kaikostal verschlagen hatte. Sie war von ihrem Vater zur Athenapriesterin gemacht worden und als solche zur Jungfräulichkeit verpflichtet. Ein Orakel hatte ihm nämlich geweissagt, ihr Sohn werde ihre Brüder töten. Auge wurde trotz dieser väterlichen Fürsorge von Herakles vergewaltigt und nach Geburt des dabei gezeugten Kindes, das in der Wildnis ausgesetzt wurde, von ihrem Vater in einem Boot fortgeschickt. Dieses trieb an die kleinasiatische Küste, wo Auge vom König Theutras in seiner Burg Teuthrania aufgenommen wurde. Der von Herakles gezeugte Sohn Telephos kam schließlich auf der Suche nach seiner Mutter mit einem griechischen Heerzug in die Landschaft Mysien bei Teuthrania und gründete in der Nähe die Stadt Pergamon.

Die zweite Gründungslegende ist mit dem eponymen, das heißt namengebenden Heros Pergamos verknüpft, der einen bedeutenden Stammbaum hatte. Er war einer der Söhne des griechischen Heros Pyrrhos, auch Neoptolemos genannt, und der Andromache, der Witwe des Troiakämpfers Hektor, die Pyrrhos als Beute erhalten hatte. Pergamos war demnach zugleich der Enkel des bei Troia gefallenen Achill – Phyrros’ Vater –, eines der bedeutendsten Helden der griechischen Frühzeit. Sein Stammbaum reichte folglich wie jener des Telephos, der durch Herakles mit dem obersten Gott verwandt war, bis zum Göttervater Zeus. Damit wurden zwei Stammväter Pergamons postuliert, die als mythische Figuren eigentlich recht blaß erscheinen und nicht zur ersten Garde antiker Gründerheroen gehörten, aber zumindest beeindruckende Stammbäume aufwiesen. In Pergamon gab es zwar ein kleines Heiligtum für Andromache und Pergamos, aber der Telephosmythos, wie wir noch sehen werden, eindeutig im Vordergrund.

Derartige Mythen wurden und werden noch heute gern als Geschichten verstanden, die einen historischen Kern besitzen. Man kann immer wieder die Vermutung lesen, daß sie in zunächst mündlicher und schließlich schriftlich gefaßter Überlieferung eine tatsächliche Gründung der Stadt im Zuge der griechischen Wanderungen des 2. Jahrtausends v. Chr. tradieren, zu der nur die archäologische Evidenz gefunden werden müsse. Wie problematisch diese Annahme ist, zeigt ein Blick auf die Siedlung Teuthrania, von der aus Telephos die Gründung vorgenommen haben soll. Teuthrania ist dank einer Angabe bei dem Geographen Strabon ziemlich verläßlich auf einem markanten Hügel in der Kaikosebene lokalisiert worden. Intensive Forschungen auf diesem Berg haben in den letzten Jahren die ältere Beobachtung bestätigt, daß es dort vor dem 4./3. Jh. v. Chr. keine Siedlung gab. Dieser Sachverhalt legt es nahe, zum besseren Verständnis literarischer Überlieferung wie materieller Hinterlassenschaften einen methodisch völlig anderen Weg zu gehen. Archäologische Befunde und mythische Überlieferung sollten streng voneinander getrennt werden. Durch sorgfältige Analysen der Gründungssagen und ihrer sich wandelnden Gestaltung konnte auch im Falle Pergamons nachgewiesen werden, daß sie erst in hellenistischer Zeit von den Königen der Stadt selbst aufgebracht bzw. eingesetzt wurden, um ihr und ihrer jungen Dynastie zu einem respektablen Platz in der griechischen Welt zu verhelfen. Sie sagen mithin nichts über die Frühgeschichte, aber sehr viel über den Kontext ihrer fiktiven Ausgestaltung im 3./2. Jh. v. Chr. aus, indem sie Einblicke in die kulturellen und politischen Legitimationsstrategien der pergamenischen Dynastie gewähren.