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Ulrich Rudolph

ISLAMISCHE
PHILOSOPHIE

Von den Anfängen bis zur Gegenwart

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Ulrich Rudolph skizziert in diesem Buch konzise und anschaulich die Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt. Die Darstellung beginnt mit dem Prozess der griechisch-arabischen Übersetzungen und konzentriert sich dann auf die maßgeblichen, zum Teil auch in Europa gelesenen Autoren (Avicenna, Averroes u.a.). Spätere Entwicklungen (Osmanisches Reich, Iran in der Neuzeit) kommen ebenfalls zur Sprache. Ein Blick auf die gegenwärtigen Tendenzen rundet den Band ab.

Über den Autor

Ulrich Rudolph, geb. 1957, ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Zürich. Zur Zeit arbeitet er an der Edition eines vierbändigen Werkes über die Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt. Band I, in dem die Entwicklung vom 8. bis zum 10. Jahrhundert dargestellt wird, ist 2012 erschienen.

Inhalt

Vorwort

Vorwort zur dritten Auflage

  1. Die Rezeption der antiken Wissenschaften

  2. Der erste Entwurf: Abû Yûsuf al-Kindî

  3. Der zweite Entwurf: Abû Bakr ar-Râzî

  4. Der dritte Entwurf: Abû Nasr al-Fârâbî

  5. Die Verbreitung philosophischer Kenntnisse

  6. Ein neues Paradigma: Avicenna

  7. Eine theologische Reaktion: al-Ghazâlî

  8. Die Etablierung der Philosophie in Spanien: Ibn Bâdjdja

  9. Der Versuch einer Synthese: Ibn Tufail

10. Die Rückbesinnung auf Aristoteles: Averroes

11. Philosophie als Illumination: Suhrawardî

12. Veränderte Rahmenbedingungen

13. Philosophie in der Nachfolge Avicennas und Suhrawardîs

14. Ein neuer Ansatz: Mullâ Sadrâ und die Schule von Isfahan

15. Die Herausforderung durch das europäische Denken

 

Zeittafel

Literaturhinweise

Personenregister

Werkregister

Vorwort

Wer heutzutage von der islamischen Welt spricht, verbindet mit ihr meistens rückwärts gewandte Tendenzen. Schriftgläubigkeit und Obskurantismus sind die Schlagworte der Stunde. Für Rationalität oder gar Philosophie scheint in diesem Bild kein Platz zu sein. Gleichwohl ist es unbestreitbar, dass dieselbe Welt noch vor nicht allzu langer Zeit ganz anders wahrgenommen wurde. Da war häufig von Kultur, von Philosophie, von Avicenna und Averroes die Rede: mithin von einer Tradition, die nur als Entfaltung höchster Rationalität verständlich ist.

Sie aufzugreifen und ihre Entwicklung zu skizzieren, ist das Ziel dieses Buches. Das mag als Plan überschaubar klingen, ist in der Durchführung aber keineswegs einfach. Denn wir verfügen zwar inzwischen über eine Vielzahl von aufschlussreichen Studien zu einzelnen Themen und einzelnen philosophischen Gelehrten. Aber von einem Gesamtbild, das sich mit unseren Kenntnissen über die griechische oder über die neuzeitliche europäische Philosophie vergleichen ließe, sind wir noch weit entfernt.

Ein Grund für diesen Mangel liegt wohl in den Besonderheiten der Forschungsgeschichte. Sie war lange Zeit dadurch gekennzeichnet, dass man die islamische Philosophie nicht als einen Gegenstand von eigenem Interesse wahrnahm. Als wichtig galt vielmehr der Beitrag, den die Muslime für die europäische Geistesgeschichte geleistet hatten. Hier wurde ihnen eine Brückenfunktion zugesprochen. Denn schließlich waren sie es, die das antike Erbe durch die griechisch-arabischen Übersetzungen (ab dem 8.Jh.) bewahrt hatten und später an das lateinische Mittelalter weitergaben (vor allem im 13.Jh.). Diese Perspektive bestimmte das Forschungsinteresse bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Es konzentrierte sich folglich auf den Zeitraum (9.–12. Jh.) und auf die muslimischen Denker (Kindî, Fârâbî, Avicenna und Averroes), von denen man sich Aufschlüsse über das europäische Mittelalter versprach. Was danach in der islamischen Welt geschah, war – so gesehen – irrelevant. Also fand es auch kein wissenschaftliches Interesse. Viele Forscher vertraten sogar die Ansicht, dass es vom 13. Jahrhundert an (wegen der Rückeroberung Spaniens durch die Christen und/oder wegen der kritischen Äußerungen Ghazâlîs) gar keine Philosophie mehr im islamischen Kulturkreis gegeben habe.

Diese Auffassung wurde seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend erschüttert. Federführend war dabei Henry Corbin, der eine völlige Umwertung der Geschichte der islamischen Philosophie vornahm. Sie betraf vor allem die Zeit nach 1200. In ihr sah er keineswegs die Zeichen eines Niedergangs oder eines Endes. Im Gegenteil: Für ihn war dies die Epoche, in der sich die islamischen Autoren endlich auf ihre eigentliche Bestimmung besannen. Jetzt hätten sie sich nämlich von den Fesseln eines griechisch geprägten Denkens befreit und andere, ihren Zielen angemessenere Konzepte aufgenommen. Damit meinte Corbin, dass sich die Philosophie zu einer Weisheitslehre entwickelt habe, in die Elemente aus der Mystik, dem schiitischen Gedankengut und einer spezifisch orientalischen Theosophie eingegangen seien. Der Schauplatz dafür war nach seiner Ansicht Iran, das ohnehin auf eine alte spekulative Tradition (die er als prägende Kraft im Hintergrund des schiitischen Denkens vermutete) zurückblicken konnte. Deswegen habe sich hier eine spirituelle Geistigkeit herausbilden können, die als die wirkliche «islamische» Philosophie zu betrachten sei.

Corbins Thesen hatten zur Folge, dass zahlreiche scheinbare Gewissheiten hinterfragt wurden. Vor allem wiesen sie der Forschung einen Weg, sich von der herkömmlichen Fixierung auf die europäische Geistesgeschichte zu befreien. Der Preis für diese Horizonterweiterung war jedoch hoch. Denn Corbins Ansatz eröffnete nicht nur neue Perspektiven; er trug auch dazu bei, den Blick zu verengen. Seine Vision einer spezifisch «islamischen» Philosophie und Weisheitslehre ersetzte nämlich die alte, eurozentrierte Sichtweise durch einen anderen, orientalisierenden Geschichtsmythos und nahm außerdem noch die Preisgabe eines eindeutigen Begriffs von Philosophie in Kauf.

Die jüngere Forschung geht deswegen erneut andere Wege. Sie postuliert zwar ebenfalls, dass es nach 1200 eine Philosophie in der islamischen Welt gegeben habe, meint aber nicht, dass sie als Bruch mit den früheren Denkern zu verstehen sei. Vieles spricht vielmehr dafür, dass sich gerade damals anhaltende Lehrtraditionen, die sich auf ältere Autoren beriefen, herausbildeten. Sie verstanden die Philosophie nach wie vor als eine rationale Wissenschaft, die um die Frage nach den Strukturen und den allgemeinen Zusammenhängen des Denkens, des Seins und des Handelns kreist. Für das 13. Jahrhundert ist das bezeugt. Doch auch für die Zeit danach scheint man eine solche Entwicklung voraussetzen zu können. Sie dauerte offenkundig über die Jahrhunderte fort und reicht in weiten Teilen der islamischen Welt bis in die Gegenwart.

Vorwort zur dritten Auflage

Im Vorwort zur ersten Auflage habe ich darauf hingewiesen, dass eine mehrbändige Darstellung zur Philosophie in der islamischen Welt im neuen Grundriss der Geschichte der Philosophie (Ueberweg) geplant ist. Dieses Projekt hat sich inzwischen konkretisiert: Band I, der die Entwicklung vom 8. bis zum 10. Jahrhundert behandelt, ist 2012 erschienen. Band 2 (11.–12. Jahrhundert), in dem auch die jüdischen und die christlichen Autoren in der islamischen Welt zur Sprache kommen werden, ist derzeit in Bearbeitung. Nach seinem Abschluss werden parallel Band 3 (13.–18. Jahrhundert) und Band 4 (19.–20. Jahrhundert) fertig gestellt werden.

Im Vergleich zu den ausführlichen Darlegungen, die im Grundriss möglich sind, kann der hier vorgelegte Band nur einen skizzenhaften Überblick über das Thema bieten. Gleichwohl sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass diese Skizze zahlreiche Anregungen den Diskussionen, die ich mit den Mitarbeitern am Grundriss führen durfte, verdankt. Allen Kollegen sei deswegen herzlich gedankt, ebenso Ulrich Nolte vom Verlag C.H.Beck, der auch diese dritte Auflage umsichtig betreut hat.

I. Die Rezeption der antiken Wissenschaften

Die Anfänge der Philosophie in der islamischen Welt reichen zurück ins 9. Jahrhundert. In dieser Zeit entstanden die ersten arabischen Texte, die hinsichtlich ihrer Thematik, der angewandten Methode und des Erkenntnisinteresses ihrer Verfasser eindeutig als philosophische Schriften zu bezeichnen sind. Die Voraussetzungen für diese Entwicklung waren jedoch schon früher gelegt worden, denn das Aufkommen der Philosophie war weder ein überraschendes noch ein isoliertes Ereignis. Es lässt sich vielmehr als Teil eines umfassenden intellektuellen Prozesses beschreiben, in dessen Verlauf zahlreiche, in der Antike gepflegte Wissenschaften Eingang in den islamischen Kulturkreis fanden und dort zum Gegenstand des Nachdenkens und der schöpferischen Weiterentwicklung wurden.

Dieser Rezeptionsvorgang hatte bereits um die Mitte des 8. Jahrhunderts begonnen. Im Grunde lassen sich seine Wurzeln sogar bis in das 7. Jahrhundert zurückverfolgen. Denn seit die Muslime weite Gebiete des Byzantinischen Reiches und den ganzen Herrschaftsbereich der Sassaniden erobert hatten, kamen sie ständig in Berührung mit Personen, die eine andere Sprache (Griechisch, Mittelpersisch, Syrisch usw.) benutzten und über ein anderes kulturelles (hellenistisches, iranisches, christliches usw.) Erbe verfügten. Mitte des 8. Jahrhunderts erfuhren diese anfangs noch unverbindlichen Kontakte jedoch eine qualitative Veränderung. Denn jetzt begnügte man sich nicht mehr damit, den Austausch auf mündlichem Wege und in der unmittelbaren Begegnung zu pflegen, sondern ging dazu über, das antike Erbe systematisch zu erschließen, indem man vollständige Texte aus dem Griechischen (zum Teil auch aus dem Mittelpersischen und aus dem Syrischen) ins Arabische übertrug. Damit begann die große Übersetzungsbewegung, die bis in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts andauern sollte und deren Ergebnis letztendlich lautete, dass fast die gesamte wissenschaftliche Literatur der Antike (Philosophie; Medizin und Pharmakologie; mathematische Wissenschaften einschließlich Optik, Mechanik, Astronomie, Astrologie und Musiktheorie; Naturkunde; Agrikultur; Geheimwissenschaften) auf Arabisch zugänglich wurde.

Über die Gründe dieses erstaunlichen Vorganges ist viel spekuliert worden. Dabei bestand lange Zeit die Tendenz, den gesamten Übersetzungsprozess damit erklären zu wollen, dass man einzelne historische Umstände (z.B. die Vermittlungstätigkeit der syrischsprachigen Christen) oder das Interesse und die Tatkraft einzelner Kalifen (insbesondere al-Maimagemûns, reg. 813–833) an seinem Ursprung vermutete. Inzwischen dürfte jedoch deutlich geworden sein, dass die Bewegung viel zu lang dauerte und in der Gesellschaft viel zu breit abgestützt war, als dass sie mit solchen monokausalen Begründungsmodellen erklärt werden könnte. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass sie auf eine Reihe von Ursachen und von Motiven seitens der Beteiligten zurückging, die teils nacheinander, teils in der Verbindung miteinander zur Entstehung und zum anhaltenden Erfolg des Prozesses beitrugen.

Einer dieser Faktoren waren sicher die praktischen Interessen der neuen Machthaber, ja überhaupt der neuen Gesellschaft. Denn die Muslime standen vor einer Fülle von Aufgaben, die sie mit ihren bisherigen Kenntnissen und Instrumentarien nicht bewältigen konnten. Man brauchte beispielsweise, um die Steuern des riesigen Reiches berechnen zu können, mathematische Fertigkeiten. Man brauchte, um das Gesundheitswesen aufzubauen, Fachleute in der Medizin, um den Anbau von Nahrungsmitteln zu fördern, Kenntnisse in der Agrikultur. Und selbst die Ausübung der Religion setzte profane Fähigkeiten voraus. Denn um von allen Städten des Reiches aus die Gebetsrichtung nach Mekka festlegen zu können, waren sowohl Astronomie als auch Geodäsie vonnöten. Also suchte man nach Möglichkeiten, solche Kenntnisse schnell und zuverlässig zu erwerben, und dabei boten sich die einschlägigen wissenschaftlichen Darlegungen und Handbücher der Antike als Quellen an.

Hinzu kam, dass das Selbstverständnis der abbasidischen Kalifen, die seit der Mitte des 8. Jahrhunderts das islamische Weltreich regierten, die Aneignung des antiken Erbes förderte. Dafür spricht schon die Tatsache, dass von dem Moment an, da ihre Dynastie (reg. 750–1258) das Herrscherhaus der Omaiyaden (reg. 661–750) abgelöst hatte, die Übersetzungsbewegung ihren entscheidenden Aufschwung nahm. Die Abbasiden verstanden sich – im Gegensatz zu ihren Vorgängern – nicht mehr als die Anführer einer arabisch-islamischen Elite. Ihr Anspruch griff viel weiter aus: Sie wollten die rechtmäßigen Herren aller Muslime und aller von ihnen repräsentierten Kulturen sein. So erklärt es sich, dass sie Bagdad, ihre neue Hauptstadt, in der Nähe der alten sassanidischen Zentren gründeten. So erklärt sich auch ihre Propaganda, in der sie verkünden ließen, dass nur die Kalifen – und nicht etwa andere, nicht-islamische Herrscher – die wahren Hüter der iranischen Tradition (die in hohem Maße hellenisiert war) sowie der griechischen Überlieferung seien. Das brachte es mit sich, dass die Abbasiden in ihrer «Kulturpolitik» dem Erbe der Antike eine besondere Stellung einräumten und dafür Sorge trugen, dass es durch arabische Übersetzungen Eingang in die neue Gesellschaft fand.

Schließlich muss man bei einem Prozess der Rezeption und der intellektuellen Aneignung mit einer inneren Dynamik rechnen. Denn jedes Wissensgut, das bekannt wird, löst nicht nur Probleme; es wirft auch neue Fragen auf. Kennt man die angewandte Mathematik, so will man ihre theoretischen Grundlagen kennen lernen. Hat man gelernt, die Sterne mit astronomischen Geräten zu beobachten, so führen die Beobachtungen den Fragenden weiter: sei es zur astronomischen Theorie, zur Kosmologie oder gar zu einer allgemeinen Lehre von der Physik. Außerdem darf man nicht vergessen, dass in der Epoche, von der wir sprechen, nicht nur die Wissenschaften, die auf einer antiken Grundlage aufbauen konnten, entdeckt und fortgesetzt wurden. Auch genuin islamische Disziplinen begannen sich im 8. Jahrhundert zu entwickeln (Recht, Theologie, Koranexegese usw.). Ihren Vertretern stellte sich ebenfalls die berechtigte Frage, ob aus den überlieferten antiken Texten nicht Anregungen für die eigene Methodik (Dialektik, Logik usw.) oder für die eigenen theoretischen Konzepte (über die Natur, den Aufbau der Schöpfung usw.) zu gewinnen seien.

All das trug dazu bei, dass die Bewegung der griechisch-arabischen Übersetzungen eine breite Resonanz fand und zu einem ausgesprochen fruchtbaren kulturellen Prozess wurde. Er dauerte über zwei Jahrhunderte und stellte der neuen, sich rasch entwickelnden und ausdifferenzierenden Gesellschaft eine ständig wachsende Zahl von Kenntnissen bereit. Dieses Wissen wurde aufgenommen, theoretisch durchdacht und in der Praxis angewandt. Aber es blieb eben nicht nur bei solchen, ihrem Charakter nach rezeptiven Vorgängen. Die Muslime entwickelten bald ihre eigenen Fragestellungen zu den verschiedenen Wissensbereichen – und damit sind wir wieder bei den Anfängen der Philosophie in der islamischen Welt angekommen.

2. Der erste Entwurf: Abû Yûsuf al-Kindî

Diese Anfänge sind untrennbar verknüpft mit dem Namen Abû Yûsuf al-Kindî (ca. 800–ca. 865). Er wurde schon von seinen Zeitgenossen als «der Philosoph der Araber» bezeichnet, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass ihm der entscheidende Anteil an der Begründung der philosophischen Wissenschaft in arabischer Sprache zukam. Auch sonst war Kindî eine auffällige Erscheinung. Die Quellen berichten jedenfalls, dass er ein privilegiertes Leben führte. Aus einer einflussreichen südarabischen Familie stammend, studierte er zunächst in Kufa (wo sein Vater den Posten des Gouverneurs innehatte), dann in Basra, und verbrachte anschließend viele Jahre am Kalifenhof in Bagdad (mit einem kurzen Intermezzo, in dem er in Ungnade gefallen sein soll).

Das Leben in der Metropole hatte den Vorteil, dass Kindî die rasante Entwicklung in den verschiedenen Wissenschaften unmittelbar miterlebte. Was auch immer in der Hauptstadt übersetzt wurde – er rezipierte es und griff die Thematik alsbald in einem eigenen Werk auf. So entstand ein Œuvre von beachtlicher wissenschaftlicher Breite: Schriften zu Astronomie und Astrologie, Optik und Mathematik, Musik und Medizin, Phonetik und Alchemie; Texte, aus deren Widmungen hervorgeht, dass sie an die verschiedenen Träger der neuen Bildung (Kalifen, Ärzte, auch Dichter) adressiert waren. Man wird Kindî daher als Universalgelehrten bezeichnen können. Sein Interesse galt allen Wissenschaften, die zu seiner Zeit aus den antiken Quellen rezipiert wurden, und sein Engagement trug viel zu deren Erhaltung und Weiterentwicklung in der islamischen Welt bei. Gleichzeitig ist es gerechtfertigt, Kindî einen Philosophen zu nennen. Denn so breit sein Œuvre auch war – die Philosophie dominierte es, und das in zwei Hinsichten: in einem weiteren Sinn, insofern als die meisten Disziplinen, die er verfolgte, nach seinem Verständnis (wie überhaupt nach aristotelischer Tradition) ohnehin zur Philosophie gezählt wurden; und in einem engeren Sinn, insofern als Kindî sein Werk mit einigen Schriften krönte, die explizit philosophischen Themen gewidmet waren und zugleich den Zweck hatten, seinen verschiedenen wissenschaftlichen Studien eine gemeinsame Orientierung und Zielsetzung zu geben.

Um solche Texte verfassen zu können, bedurfte er allerdings philosophischer Kenntnisse. Sie zu erwerben, war in den Jahren, als Kindî nach Bagdad kam (d.h. vor 830), gar nicht so einfach, denn zu dieser Zeit waren erst wenige philosophische Werke ins Arabische übersetzt (vermutlich nur populäre Ethik, elementare Logik sowie einzelne Partien der aristotelischen Naturphilosophie). Kindî ging deswegen als Erstes daran, die Basis seines Nachdenkens zu erweitern. Zu diesem Zweck gab er mehreren Übersetzern, die im Umkreis des Kalifenhofes tätig waren, den Auftrag, zusätzliche Schriften zu besorgen und für ihn ins Arabische zu übertragen. Was auf diese Weise alles bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts übersetzt wurde, lässt sich nicht mehr im Einzelnen rekonstruieren. Wir können jedoch mit einiger Sicherheit angeben, welche Texte bzw. Textgruppen zu dieser Zeit im Vordergrund des Interesses standen und mit besonderem Engagement bearbeitet wurden. Zu ihnen zählen die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles, soweit sie nicht schon vorher bekannt waren (u.a. die Meteorologie und Über den Himmel), sowie die Metaphysik und Über die Seele. Hinzu kamen Paraphrasen platonischer Werke: sicher des Timaeus und des Symposium, vielleicht auch schon anderer Dialoge wie Phaedo und Sophistes. Darüber hinaus waren es vor allem spätantike Texte, die Kindî kennen lernte. Hier ist mit einer breiten Rezeption zu rechnen, die von den frühen aristotelischen Kommentatoren (wie Alexander von Aphrodisias) bis zu deren späten christlichen Nachfolgern (wie Johannes Philoponos) reichte. Entscheidend waren in diesem Zusammenhang jedoch die Neuplatoniker, allen voran Plotin und Proklos. Sie haben Kindî nachhaltig beeinflusst, wobei man allerdings hinzufügen muss, dass er ihr Denken nicht in der ursprünglichen Form kennen lernte. Was ihm vorlag, waren nämlich keine arabischen Übersetzungen ihrer originalen griechischen Werke. Es waren Bearbeitungen und Paraphrasen von bis heute nicht ganz geklärter Herkunft, die Teile der Enneaden Plotins sowie der Institutio theologica des Proklos in einer kreationistisch-monotheistischen Interpretation wiedergaben und dazu noch Aristoteles zuschrieben (die berühmte Theologie des Aristoteles, Das Buch über die Ursachen/Liber de Causis und andere mehr).

Bei der Umsetzung dieses umfangreichen Übersetzungsprogrammes spielte Kindî durchaus eine aktive Rolle. Er wählte nicht nur verschiedene Texte zur Bearbeitung aus, sondern korrigierte auch die Sprache der Übersetzungen, die ihm vorgelegt wurden. Außerdem machte er sich um die Festlegung einer eindeutigen philosophischen Terminologie im Arabischen verdient. Sein Werk Über die Definitionen und die Beschreibungen der Dinge war der erste Versuch, das neue wissenschaftliche Vokabular, das man zur Wiedergabe der griechischen Termini benötigte, zusammenzufassen und zu normieren. Gleichwohl war Kindî nicht nur ein Anreger und Nutznießer der intensiven Übersetzungstätigkeit, die sich in seinem Umkreis abspielte. Er war vermutlich auch ihr Opfer. Denn während er an seinen eigenen Werken zur Philosophie arbeitete, veränderte sich ständig die Grundlage seines Nachdenkens. Stets wurden neue Texte mit anderen Fragestellungen und anderen Lösungsansätzen bekannt, so dass er mehrfach gezwungen wurde, seine Vorstellungen zu modifizieren und durch Anregungen aus Quellen, die vorher noch unzugänglich waren, zu ergänzen.

Besonders deutlich wird das in der Schrift, die man als sein Hauptwerk bezeichnen kann: einer relativ umfangreichen Abhandlung über die Metaphysik (Über die Erste Philosophie). Sie besteht in der überlieferten Fassung aus vier Abschnitten, die nicht nur thematisch, sondern auch von ihrem philosophischen Hintergrund her sehr unterschiedlich angelegt sind. – Das erste Kapitel dient dem Zweck, den Rahmen der Untersuchung abzustecken. Hier bestimmt Kindî die Aufgabe des Philosophen und erklärt, dass sein Ziel die Wahrheitssuche, das heißt die Suche nach den Ursachen für die Form, die Materie, die Bewegung und den Zweck der Dinge sei. Das erinnert in auffälliger Weise an die Metaphysik des Aristoteles, die im Text auch ausführlich benutzt und mitunter sogar wörtlich zitiert wird. – Im zweiten Abschnitt ändert sich indes die Perspektive. Jetzt geht es darum, dass unsere Welt keine unendliche Größe darstelle, sondern von endlicher Ausdehnung sei. Das postuliert Kindî zunächst für die Dimension des Raumes. Dabei kann er sich wieder auf Aristoteles beziehen, wobei ihm diesmal vor allem Über den Himmel als Ausgangspunkt dient. Dann geht Kindî jedoch einen Schritt weiter und erklärt, unsere Welt sei auch der Zeit nach endlich ausgedehnt, das heißt, sie besitze einen zeitlichen Anfang. Das widerspricht den Vorstellungen des Stagiriten, weshalb Kindî jetzt auf Argumente von Johannes Philoponos zurückgreift. – Im dritten Teil möchte er dann die Existenz Gottes beweisen. Grundlage dafür ist ein Argument, das von der Vielheit der sinnlich wahrnehmbaren Dinge auf die Existenz des ursprünglichen Einen schließt. Das aber bedeutet: Die Basis der Reflexionen hat sich erneut gewandelt; denn was hier erklärt wird, lässt sich weder mit Aristoteles noch mit Johannes Philoponos, sondern mit Texten des Neuplatonikers Proklos verbinden. – Proklos ist es dann auch, dessen Überlegungen das vierte Kapitel des Textes begleiten. Hier versucht Kindî nämlich, Gott zu beschreiben, und entwickelt dabei eine negative Theologie, die ganz im Banne des späten Neuplatonismus steht. Sie beschließt jedoch nicht den Text. Vielmehr kommt es am Ende zu einer letzten gedanklichen Wendung. Denn jetzt heißt es, der ferne, unerkennbare Gott habe unsere Welt nicht von Ewigkeit her bewirkt, sondern in der Zeit aus dem Nichts geschaffen – womit schließlich das religiöse Dogma von der Schöpfung aus dem Nichts anerkannt ist.

All das belegt, dass Kindî virtuos mit seinen Quellen umging. Er versuchte – wie das schon verschiedene christliche Autoren der Spätantike getan hatten – möglichst viele philosophische Konzepte und Argumentationsstrategien mit seinen eigenen religiösen Überzeugungen zu verbinden. Das gilt, wie wir gerade gesehen haben, für sein metaphysisches Hauptwerk; aber es gilt auch für die kleineren Schriften aus seiner Feder. Sie gaben Kindî die Gelegenheit, einzelne Fragen aus anderen Bereichen der Philosophie (Physik, Psychologie, Ethik usw.) zu erörtern und jeweils seinen Standpunkt dazu darzulegen.

Handelte es sich dabei um Themen der Naturphilosophie, so war seine Haltung durchweg aristotelisch. Das zeigen beispielsweise seine Traktate Über die Ursache des Werdens und Vergehens und Darlegung der Tatsache, dass sich die Natur der Himmelssphäre von den Naturen der vier Elemente unterscheidet, die weitgehend an Aristoteles’ Vom Werden und Vergehen bzw. Über den HimmelÜber die SeeleTheologie des Aristoteles