«Ich kann nicht vergessen, dass ich als Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland gekrönt wurde.»
Die Queen 1977, als sie von Plänen zur Devolution, zur Regionalisierung des Königreichs, hörte
«Den Anschein der Nutzlosigkeit zu vermeiden, ist besonders schwierig für männliche Royals, sofern sie nicht in direkter Erbfolge stehen.»
Die «London Review Of Books» über Prinz Andrew, Januar 2020
«Wir beabsichtigen, als ‹senior royals› zurückzutreten und finanziell unabhängig zu werden.»
Der Herzog und die Herzogin von Sussex, 8. Januar 2020
«Die Attribute der Selbstdisziplin, gutgelaunter Entschlossenheit und das Gefühl mitmenschlicher Nachbarschaft zeichnen dieses Land noch immer aus.»
Elizabeth II. in einer TV-Ansprache zur Corona-Krise, 5. April 2020
Großbritannien, man muss immer wieder daran erinnern, ist eine Synthese aus vier unterschiedlichen Völkern – Schotten, Iren, Walisern, Engländern. Eingebettet in die viel beschworene Kontinuität des Königreichs ist daher immer auch die Realität dieser unterschiedlichen nationalen Identitäten; man kann nur bewundern, wie lange es der Insel gelungen ist, die Balance zwischen so vielen Verschiedenheiten zu halten und als unitarischer Staat stabil zu bleiben. Die historische Lehre, die Sir Henry Marten seiner gelehrigen Schülerin Prinzessin Elizabeth schon 1939 nahezubringen versuchte, dass nämlich die Monarchie ihr Überleben der Fähigkeit verdanke, «sich auf Veränderungen einzustellen» – diese Lehre gilt auch für den Zusammenhalt Großbritanniens selber: Das Land muss sich auf Veränderungen seiner Verfasstheit einstellen, will es in seiner Vielfalt überleben, nach dem Grundsatz, der auch im Motto der amerikanischen Union anklingt – «e pluribus unum», aus den Vielen das Eine.
Erste Reformschritte erfolgten nach 1999, als Wales, Schottland und Nordirland eigene teilautonome Regierungen erhielten, im Prozess der sogenannten Devolution, einer administrativen Entflechtung des Königreichs, mit eigenen Parlamenten und Hauptstädten in Cardiff, Belfast und Edinburgh. Nur England, als Schrittmacher der graduellen Erweiterung des Königreichs im Laufe der Jahrhunderte, stiftete sich kein eigenes Regionalparlament; es steckte darin auch ein großes Stück Stolz der dominanten englischen Kernlande, ein Gefühl der Überlegenheit über die «Randvölker». Die Königin betrachtete die Entwicklung zu mehr Regionalismus mit einigem Argwohn, als sie 1977, während ihres silbernen Thronjubiläums, zum ersten Mal von der damals erst angedachten Devolution erfuhr. In einem vertraulichen Gespräch mit Unterhausabgeordneten, das nicht lange vertraulich blieb, gab sie ihre Bedenken indirekt zu verstehen. «Ich kann nicht vergessen», so sagte sie, «dass ich als Königin des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland gekrönt wurde.»
Doch die Schotten, wenn auch königstreu, fühlen sich zunehmend fremd in diesem Vereinigten Reich. In ihrem Landesteil, mit seiner eigenen Königsgeschichte und staatlichen Selbständigkeit bis 1707, war Unabhängigkeit immer ein verführerischer Lockruf für die patriotische Seele. Die Nationalisten zum Beispiel geben mit ironischem Unterton vor, von keiner Elizabeth «II.» zu wissen, denn Elizabeth I. war nie Monarchin in Schottland, wo James VI. zur Zeit der Tudor-Königin regierte und 1603 ihre Nachfolge antrat, als James I. von England. Der Drang nach Unabhängigkeit triumphierte 2014, als es der regierenden Scottish National Party (SNP) tatsächlich gelang, ein Referendum über die Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich abzuhalten. Aus eigener Kraft hätte sich Edinburgh mit dem Wunsch nach einem Plebiszit nicht durchsetzen können, denn die Hoheit der Londoner Zentrale in Fragen der Verfassung, der nationalen Zugehörigkeit ist wie in Spanien absolut. Aber Premierminister David Cameron gab dem schottischen Begehren nach, nicht zuletzt deshalb, weil er «north of the border», wie man sagt, jenseits der englischen Nordgrenze argumentieren konnte, die Schotten brauchten nicht um eines ihrer Grundziele zu fürchten, die Zugehörigkeit zur Europäischen Union – Großbritannien sei ja weiterhin ein Mitglied, und ob die EU ein unabhängiges Schottland so einfach in die Gemeinschaft aufnehmen würde, sei höchst fraglich. So endete das Referendum mit einer Mehrheit von 55 zu 45 Prozent der Stimmen für die Unionstreuen: Die schottische Unabhängigkeit wurde abgelehnt, und für mindestens zwanzig Jahre sollte es keine zweite Volksbefragung über dieses Thema geben.
Aber Großbritannien vollführte nur zwei Jahre später einen radikalen Wechsel, als ein anderes Referendum, diesmal im gesamten Land abgehalten, alle Zukunftsannahmen aus den Angeln hob: Mit knapper Mehrheit von 52 zu 48 Prozent beschlossen die Briten, nach 43 Jahren der Zugehörigkeit die Europäische Union (EU) zu verlassen. Der Brexit wurde die Nemesis der britischen Politik, die europäische Frage legte eine tiefe Spaltung des Königreichs bloß. Während England und Wales mit 53 Prozent den Austritt aus der EU befürworteten, stimmte Schottland mit der deutlichen Mehrheit von 62 Prozent für einen Verbleib, Nordirland ebenfalls, wenn auch mit geringerer Marge, mit 55,8 Prozent. Seitdem haben die Schotten das Gefühl, ihrem Referendum von 2014 sei die Grundlage entzogen, es gelte nicht mehr, weil seine wichtigste Prämisse, Großbritanniens fortgesetzte Mitgliedschaft in der EU, sich in Rauch aufgelöst hat. Der Ruf nach schottischer Unabhängigkeit, das Verlangen nach einem neuen Referendum im Norden der Insel hat mit dem Brexit in der Tat neue Plausibilität erhalten, auch wenn es noch nicht wahrscheinlich ist, dass London diesem Wunsch in absehbarer Zukunft nachgibt, ist doch die Gefahr eines Auseinanderbrechens des Vereinigten Königreichs diesmal weitaus größer als 2014. Auch ist die schottische Gesellschaft selber noch uneinig darüber, ob sie für einen Austritt aus dem United Kingdom wirtschaftlich überhaupt gewappnet wäre, da die Verflechtung mit dem Rest der Insel wesentlich zur ökonomischen Stabilität Schottlands beiträgt.
Dennoch lernte die Welt spätestens mit dem EU-Referendum und seinem Ausgang, dass Fragen, die an den patriotischen Begriff der Souveränität rühren, nicht allein rationalistischen Erwägungen unterliegen. Eher gilt hier ein berühmtes Wort Blaise Pascals: «Das Herz hat seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiß.» Der Reiz der Sezession jedenfalls entfaltet in Schottland zunehmende Kraft, und sollte die Zustimmung dazu einmal die 65 oder 70 Prozent erreichen, wird sich London kaum mehr auf das Verfassungsargument zurückziehen können, die Hoheit über die Einheit Großbritanniens komme allein dem Urteil der Zentrale zu. Diesem Grundsatz wird dann der demokratische Gedanke des mehrheitlichen «Volkswillens» zu Leibe rücken, und wer kann sagen, was sich in Zeiten zerbrechender Übereinkünfte, wie wir sie heute erleben, letztlich durchsetzen wird?
Einem Menetekel kam gleich, was eine Meinungserhebung unter den englischen Tories, den Konservativen, ermittelte. Sie wurden 2019, noch vor der Wahl Boris Johnsons zum Premierminister, gefragt, ob sie den Brexit auch dann befürworten würden, wenn er den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs in Gefahr brächte: Mit deutlicher Mehrheit antworteten sie mit Ja. So weit war die EU-Frage im Gefühlshaushalt der Engländer nach vorn gerückt, hatte das Denken polarisiert, dass selbst die Loyalität zum britischen Ganzen vor dem emotional aufgeladenen Ruf «Raus aus der EU!» in den Hintergrund rückte. Kurzum – der Brexit hat Zentrifugalkräfte entfesselt, die an der Einheit rütteln wie sonst nichts in der Geschichte der Insel.
Die Auguren streiten, ob Schottland oder Nordirland die Ersten sein werden, von denen die Auflösung des Vier-Völker-Staates Großbritannien ihren Anfang nehmen könnte. Denn auch in Ulster, dem britischen Norden der grünen Insel, deuten die Zeichen auf einen möglichen Abschied von der britischen Geschichte, wie wir sie kennen. Das Karfreitagsabkommen vom April 1998, das den Bürgerkrieg in Ulster nach 30 blutigen Jahren beenden half und das die Regierungen in London wie in Dublin unterzeichneten, enthält eine entscheidende Konzession: Die Wiedervereinigung der Insel soll möglich sein, wenn Mehrheiten auf beiden Seiten der Grenze, und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg, für eine solche Lösung stimmen – ein Zugeständnis, das den schottischen Nationalisten notabene nicht zur Verfügung steht. Zwar müsste dann noch immer London (neben Dublin) formal befragt werden, doch dürfte der irischen Vereinigung schließlich nichts mehr im Wege stehen. Noch scheint ein solcher Schritt zwischen den lange verfeindeten Lagern, dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden, unvorstellbar, aber im Alltag beginnen die Perzeptionen sich zu ändern. Politisch bestimmt in Nordirland die protestantische DUP, die «Democratic Unionist Party», zwar noch immer die enge Bindung an das englische Mutterland, aber das lockert sich, seit die Regierung Boris Johnsons einem Brexit Deal zustimmte, der nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU Nordirland weiterhin unter Binnenmarkt-Regeln der Europäischen Union belässt, mithin die Provinz anders behandelt als das übrige Königreich. Dieses Nordirland-Protokoll zum EU-Austrittsvertrag will die Johnson-Regierung jetzt nachträglich aufheben.
Aber die demographische Zusammensetzung Nordirlands ändert sich – der katholische Bevölkerungsanteil ist dabei, die Mehrheit zu gewinnen. Die Menschen möchten den religiösen Konflikt endlich hinter sich lassen, sie setzen auf Fortsetzung der inzwischen reibungslosen Beziehungen, wie sie garantiert blieben, würde Irland sich wiedervereinigen und weiterhin der EU angehören. Das alles mag auf Aufbruch und positiven Wandel für die Zukunft der grünen Insel hindeuten, doch über der Einheit des Königreichs hängt ein Damoklesschwert. Sollte sich ausgerechnet unter Elizabeth II., dieser Ikone der Stabilität, der Abschied des United Kingdom von einem wesentlichen Teil seiner Geschichte abzeichnen oder sogar vollziehen?
Schon vor dem Referendum, bei ihrem letzten Staatsbesuch in Deutschland im Juni 2015, hatte die Queen die Sorge der Cameron-Regierung vor einem Auseinanderdriften von Insel und Kontinent anklingen lassen. «Wir wissen, dass Spaltung in Europa gefährlich ist. Und dass wir uns davor in Acht nehmen müssen», warnte sie damals in Berlin, mit einer deutlichen Anspielung auf die heimische Debatte im Königreich. Denn dort tat die «United Kingdom Independence Party» (Ukip), die Anti-EU-Partei, unter der Führung ihres Anführers Nigel Farage alles, um die Stimmung für den Austritt aus der Europäischen Union anzuheizen. Bei den Wahlen zum Europa-Parlament 2014 hatte die Ukip bereits vier Millionen Stimmen auf sich vereinigen können, was erste Zweifel an der britischen EU-Verlässlichkeit aufkommen ließ. Zwei Jahre später belegte der Ausgang des Referendums den Erfolg des jahrelangen Trommelfeuers gegen Brüssel. Gebunden an strikte Neutralität, musste sich Elizabeth aus dem politischen Streit jener Jahre heraushalten, konnte allenfalls über die Bande sprechen wie in Berlin 2015, verschlüsselt in einer Ansprache, die ihr das Foreign Office formuliert hatte.
Im September 2019 aber hieß es «Gardez!» auf dem politischen Schachbrett, als die Queen sich schutzlos dem Ansinnen ihres frisch ernannten Premierministers Boris Johnson ausgesetzt sah, das Parlament für eine längere Zeit in Urlaub zu schicken, damit er, befreit von unliebsamer Opposition, umso besser seinen Brexit-Plan verwirklichen konnte. Gegen solch ein Anliegen ist die Königin machtlos, da ihre Privilegien nicht so weit gehen, ihrer Regierung, in Gestalt des ersten Mannes, in den Weg treten zu können.
Die Opposition erhob Einspruch, der Fall wurde an das Oberste Gericht, den Supreme Court verwiesen – der Regierungschef verlor, und die Monarchin stand blamiert da. Die Implikationen dieses Vorfalls greifen tief in die Verfassungsrealität der Insel und stellen ungemütliche Fragen auch an das Staatsoberhaupt, die Queen. Wie steht es um ihre Bedeutung, wenn sie schutzlos einem Plan ihres Premierministers ausgeliefert ist, welches die Obersten Richter nachträglich für illegal erklären? Diesmal noch wiesen das Gesetz und seine obersten Interpreten den Regierungschef in seine Schranken, die Richter entschieden für die Souveränität des Parlaments und gegen den Premierminister, der diese Souveränität aushebeln wollte. Auf allen Ebenen, einschließlich der Königin, hatten die Beteiligten sich getäuscht, und der Supreme Court konnte nicht anders, als die Suspendierung für null und nichtig erklären. Doch die konstitutionelle Verwirrung, die der Brexit aufgedeckt hat, wird Großbritannien noch auf Jahre zu schaffen machen. Dringend wird gefragt: Wäre es nicht sinnvoll, ein Begehren an die Queen juristischer Überprüfung zu unterwerfen, ehe solch ein Wunsch ihren Schreibtisch erreicht? Das könnte in einer geschriebenen Verfassung geklärt werden, die solche Peinlichkeiten, wie ein ehrgeiziger Regierungschef sie herbeiführte, umschiffen würde. Wird Großbritannien bereit sein, diesen Weg zu gehen?
Macht – das ungemütliche Wort. Was hat ein Politiker am meisten zu fürchten?, wurde der britische Premierminister Harold Macmillan einmal von einem Journalisten gefragt. «Events, dear boy, events», so seine Antwort: Ereignisse, unvorhergesehene, ein plötzlich eintretendes Faktum, das alle bestehenden Perspektiven außer Kraft setzt. Solche Sorge muss alle Verantwortlichen umtreiben, auch die Staatsspitze hat die Unberechenbarkeit von Krisen zu fürchten. Im britischen Fall: die Monarchie, das Haus Windsor. Schon vor 25 Jahren wurde es heimgesucht von einer Kette schier unaufhaltsamer Events, von Skandalen, die sich der Steuerung durch die Queen weitgehend entzogen. Das betraf namentlich ihre eigenen Kinder, die sich dem Dysfunktionalen näherten wie einer ansteckenden Krankheit. Das Ansehen des Königshauses litt, nein – es wurde schwer beschädigt.
Davon aber hatte sich die Monarchie zuletzt sichtlich erholt. In ihren 90er Jahren, bei guter Gesundheit, hatte Elizabeth II. die dunkleren 60er und 70er Jahre ihres Lebens hinter sich gelassen und dem Königtum zu neuer Ausstrahlung verholfen, während gleichzeitig viele andere Säulen des Establishments weiter bröckelten – die Politik, die Medien, die Bankenwelt, die Kirchen. Immer hat ein königlicher Herrscher ja zwei Aufgaben vor Augen: die eigene Thronzeit in Ehren zu absolvieren, aber dem Königshaus gleichzeitig die Gewissheit der Dauer zu geben, mit gesicherter Thronfolge, gesichertem Ansehen, gesicherter Akzeptanz über die eigene Verweilzeit hinaus. In ihrem langen Leben hat die Queen beide Aufgaben bravourös bewältigt: Ihre Beliebtheit ist mit den Jahren immer nur gestiegen, seit dem «annus horribilis» von 1992 und seinen Folgen, als es von der Monarchie hieß, sie habe ihre Zukunft bereits hinter sich. Heute dagegen ist die Zukunft des Thrones durch eine stabile genealogische Folge gesichert: Charles, Prinz von Wales; William, Herzog von Cambridge; George, sein ältestes Kind. Das verspricht Stabilität auf Generationen. Die Republikaner, wie man auf der Insel die Befürworter einer Abschaffung der Monarchie nennt, wirken wie auf verlorenem Posten.
Doch ausgerechnet in diesem zum Optimismus einladenden Moment brach mit dem Brexit neue Ungewissheit über die Monarchie herein, mit ernsten Fragezeichen hinter dem Zusammenhalt des Königreiches, wie wir sahen. Und als habe es die Nemesis erneut auf die Royals abgesehen, gerät auch die Familie der Queen wieder in die Schlagzeilen, und das fest gefügte Haus zeigt Risse. Freilich stellt die Welt zuweilen allzu hohe Ansprüche an ein Ensemble wie die Royal Family, als dürfe sich das Menschliche, Allzumenschliche in solchen Kreisen nicht bemerkbar machen und als müssten die Mitglieder in unnatürlicher Vollkommenheit ihr Leben fristen. Zum Glück für die Windsors haben wir bei ihnen von solcher Erwartung der Perfektion längst Abschied genommen, ja, die Fehlbarkeit des Personals kann, wenn in Grenzen, beinahe eine zwischen Voyeurismus und Empathie schwankende Anteilnahme erzeugen.
Die fehlt im Falle von Elizabeths zweitem Sohn Andrew, dem Herzog von York, gänzlich, dessen langjähriger vertraulicher Umgang mit dem amerikanischen Milliardär und überführten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein fatale Rückschlüsse auf seine Urteilsfähigkeit erlaubt, wenn nicht Schlimmeres. Der Schatten fällt nicht nur auf ihn, sondern auch auf seine Mutter, die eine Art Déjà-vu-Schock erlitten haben muss über die 2011 zum ersten Mal zutage getretene Involvierung ihres Sohnes mit diesem 2019 durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Amerikaner. Kehren die alten Geister zurück, ist das Kapitel ausgestandener Skandale von vor fünfundzwanzig Jahren noch immer nicht beendet, muss eines der Kinder dem Kopf der «Firma», wie schon George VI. die Windsors nannte, neues Ungemach bescheren?
Der Herzog war zehn Jahre lang als Vertreter britischer Wirtschaftsinteressen weltweit unterwegs, wobei er im Umgang mit dubiosen Potentaten die Grenze der Schicklichkeit mehr als einmal überschritt; das kostete ihn 2011 seinen Dienstauftrag – Andrew war zu heikel geworden für die britische Politik und das Ansehen der Krone. Die Nähe des Königssohnes zu einem verurteilten Pädophilen freilich macht, was heikel war an dem Prinzen, zu einer Fatalität. Vieles an dieser Geschichte liegt noch im Dunkeln, auch in den Händen der Ermittler, der Gerichte und jeweiligen Anwälte. Der Kern der Vorwürfe einer damals 17-Jährigen, der Prinz habe sie sexuell missbraucht, was Andrew vehement bestreitet, ist weiterhin ungeklärt. Die Sorgen der Mutter werden darüber nicht geringer, auch wenn sie sich wie gewohnt nichts anmerken lässt und schweigend allen bösen Zungen trotzt, während ihr Sohn bis auf Weiteres von allen königlichen Pflichten entbunden bleibt.
Ein Unglück kommt selten allein. Es war im Herbst 2019, als man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte, da stimme doch etwas nicht zwischen William und Harry, den beiden beliebten Enkeln der Queen. Unstimmigkeiten, ein Zerwürfnis gar? Etwa auch zwischen Catherine Middleton und Meghan Markle, den Schwägerinnen? Hatten die Herzöge von Cambridge und Sussex nicht bereits die gemeinsame Leitung ihrer Wohltätigkeitsorganisation zur Förderung größerer Bereitschaft, über «mental illness», über geistigseelische Krankheiten zu sprechen, aufgegeben?
Was nur gerüchteweise verbreitet wurde, bestätigte bald darauf der Jüngere, Harry, während einer Reise ins südliche Afrika, auf der ihn seine Frau begleitete. «Wir sind derzeit auf verschiedenen Wegen», gestand er vor laufender Kamera eines TV-Reporters. «Wir sind Brüder, da gibt es manchmal gute und schlechte Tage, aber», so fügte er rasch hinzu, um den negativen Eindruck seines Geständnisses abzumildern, «wir lieben uns und werden immer füreinander da sein.» Solche Beteuerungen enthalten oft ihr eigenes Dementi. Denn versteckt hinter diesen Worten liegt eine simple Wahrheit, ein entscheidender Lebensunterschied zwischen den Brüdern: William, 39, hat eine vorgeschriebene Laufbahn, an der es nichts zu deuteln gibt, er steht in der Thronfolge gleich hinter seinem Vater, dem Prinzen von Wales, steht mithin fest auf dem Boden der monarchischen Verfassung der Insel, der unanfechtbare und unangefochtene Erbe.
Nicht so Harry, der Herzog von Sussex, 37 Jahre alt. Er muss seinen Lebensinhalt aus eigener Kraft finden, seine Bestimmung und seine Wirkung in der schwankenden Zeitgeschichte. Ein «freier Autor» sozusagen, ein Schiff auf der Suche nach einem Anlegeplatz. Das macht ihm zu schaffen, der einst so populär startete, als wilder Teenager und Draufgänger, darunter eine zweimalige Dienstzeit als Soldat in Afghanistan. Lang ist’s her. Die Ehe mit Meghan Markle, seine neue Vaterrolle, die Verantwortung für Frau und Kinder haben ihn verändert, nachdenklicher gemacht, auch spröder im Umgang mit seiner Umwelt, vor allem den Medien. Mit einem Wort: vulnerabel, zusammen mit seiner Ehefrau.
Während die Briten allmählich der endlosen Brexit-Saga überdrüssig wurden, entwickelte sich 2019 vor ihren Augen so etwas wie ein Psychodrama um Harry und Meghan. Im Zentrum die gemischtrassige Amerikanerin Meghan, die offensichtlich mehr als gedacht mit ihrer Rolle zu kämpfen hatte, als «Royal» im grellen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu bestehen. Schon William hatte ursprünglich Zweifel geäußert, ob sein jüngerer Bruder gut daran tat, der drei Jahre älteren amerikanischen TV-Schauspielerin (sie hatten sich 2016 kennen gelernt) nach nur kurzer Bekanntschaft einen Heiratsantrag zu machen und sie zwei Jahre später zu ehelichen. Er selber hatte seine Beziehung zu Catherine Middleton neun Jahre lang geprüft, ehe sich beide das Ja-Wort gaben.
In der Tat war die Begeisterung des Landes über die Traumhochzeit in Windsor vom Mai 2018 bald verflogen und hatte einer
Charles III. in spe, auf einem Empfang für die Royal British Legion Riders Branch in Clarence House, London, 17. Juni 2011 (Foto: ROTA)
unablässigen Kritikfreudigkeit Platz gemacht, die fast alles an der Frischverheirateten monierte, von ihrer Herausgeberschaft einer Gast-Nummer der Modezeitschrift «Vogue» («Me-me Meghan») bis zu ihrem Verschwinden aus der Öffentlichkeit während ihrer ersten Schwangerschaft und dem Verschweigen des Namens ihres Söhnchens bis weit nach seiner Geburt. Auf diese Welle der Kritik war die Amerikanerin nicht vorbereitet. Die Briten wähnen sich traditionell gleichsam im Besitz der königlichen Familie, lassen nicht locker mit Forderungen nach öffentlicher Präsentation ihrer Mitglieder. Der Boulevard verstärkt diese Ansprüche noch, sein Voyeurismus wird zur Jagd. Wiederholt sich mit Meghan das Schicksal meiner Mutter?, begann der Herzog von Sussex sich zu fragen.
Die britische Monarchie liefert dem globalen Dorf Traumbilder der Freude, wie im Mai 2018, wenn an einem sonnendurchfluteten Tag Prinz Harry seine Meghan heiratet, die Amerikanerin mit schwarzer Mutter aus dem Celebrity-Dunstkreis Hollywoods. Und sie stürzt uns in abendfüllende Dramen, wenn dieses Bild in weniger als zwei Jahren zerrinnt wie ein Straßenkreidebild im Regen. So bildeten sich auch in der jüngsten Krise um Harry und Meghan und ihre Flucht aus dem höfischen Korsett – rasch von den Medien «Megxit» getauft – verschiedene Lager der Gefolgschaft. Die einen teilen die Trauer der Monarchin, dass ihr Lieblingsenkel, auf den sie als Repräsentationsfigur im Commonwealth so viel gesetzt hatte, ins ungewisse Kalifornien entflieht, getrennt von seiner Herkunft, auf der Suche nach einem neuen Ankerplatz. Die anderen beharren auf dem Recht der königlichen Nachkommen, sich aus der Enge der höfischen Etikette zu befreien und einen eigenen, «progressiven» Weg einzuschlagen, wie das Sussex-Paar es im Januar 2020 leicht überheblich nannte.
Weniger als zwei Jahre hat es Meghan Markle unter den Windsors ausgehalten, wo Gefühle nicht artikuliert werden und dem Gespräch über schleichende Krisen in der Familie grundsätzlich aus dem Wege gegangen wird. Dabei hatten sie und der Prinz auf der Afrika-Reise im Herbst 2019 deutliche Signale ihrer Verlorenheit ausgesendet. Die Amerikanerin steht für eine moderne Generation, die, wenn es ihr ungemütlich wird, nicht schweigt, sondern aus der Deckung geht und sich beschwert. «Ich habe schon seit langem zu Harry gesagt», sprudelte es im Herbst 2019 auf der Afrika-Reise aus ihr heraus, «es ist nicht genug, etwas zu überleben, darum geht es doch nicht im Leben. Du musst aufblühen, dich glücklich fühlen. Ich habe wirklich versucht, diese britische stiff upper lip zu übernehmen. Aber ich glaube, was die dir im Innern antut, ist beschädigend.»
Hatte nicht wenigstens irgendjemand mit dem Sussex-Paar geredet nach den dramatischen Enthüllungen während der Afrika-Reise, wie unglücklich sich beide in ihrer königlichen Haut fühlten? Hat die Hüterin der Tradition, die Queen, das Gespräch mit ihrem Lieblingsenkel und seiner Frau, das Gespräch über das heikle Thema ihrer Gefühlswelt gesucht? Hat William mit seinem Bruder eine strategische Diskussion geführt? Eher war es wie zu Zeiten von König Edward VIII. und seinem bevorstehenden Abschied vom Königtum anno 1936, mit Wallis Simpson als Angelpunkt, worüber im Familienkern bis zuletzt nicht gesprochen wurde. So bedurfte es der spektakulären Erklärung des Ehepaares Sussex Anfang Januar 2020, dass sie von ihrer Rolle als «senior royals» zurücktreten würden, um Elizabeth II. und die Familie geradezu zu zwingen, genauer hinzuschauen. Kein Rücktritt vom Thron, nein, so hoch steht Prinz Harry nicht – aber ein Rücktritt dennoch, mit anklägerischem Unterton, die Zurückweisung eines royalen Lebenslaufs.
Eingedenk der einstigen Beliebtheit Prinz Harrys ist die Queen über ihren eigenen Schatten gesprungen, um gute Miene zu machen, mit Worten wie: «Meine Familie und ich unterstützen Harrys und Meghans Wunsch voll und ganz, ein neues Leben als junge Familie aufzubauen.» Man habe ein «konstruktives Gespräch» darüber geführt, hieß es. In der Diplomatie sind solche Floskeln Reinschrift für: «Wir hatten eine ziemlich harte Auseinandersetzung.» Das zeigte sich auch in dem Verbot für die beiden «Flüchtlinge», den Namen «Sussex Royal», den sie bereits für ihre Website gewählt hatten, als «brand name» zur Vermarktung ihrer globalen Geschäftsinteressen zu verwenden. Da hört die Unterstützung für Harrys und Meghans Wunsch auf.
Weiteres Gift fiel in die bereits beschädigten Beziehungen innerhalb der Windsor-Familie mit einem TV-Interview, das der Herzog und die Herzogin von Sussex der amerikanischen Celebrity-Moderatorin Oprah Winfrey im März 2021 gaben. Einmal mehr ließ der Prinz durchblicken, wie sehr der Tod seiner Mutter im Jahr 1997 seine Psyche gleich einer ungetilgten Hypothek belastet hatte. Diesem Gram über das früh erlittene Schicksal stellte er diesmal neue Beschwerden an die Seite, darunter das Empfinden, seine Ehefrau werde am Hof versteckten Herabsetzungen ausgesetzt. Er meinte «Rassismus» entdeckt zu haben, abzulesen an empörenden Spekulationen über die Hautfarbe seines erwarteten Kindes. Auch dem Vater, Prinz Charles, sowie seinem Bruder, Prinz William, dem Herzog von Cambridge, schleuderte der Jüngere den Fehdehandschuh hin – sie säßen «in der Falle», weil sie ihren Positionen – anders als er? – nicht entrinnen könnten.
Nichts hat die Köngin in ihren späten Jahren mehr verletzt als die Unterstellung des «Rassismus». Zwar wurde sie von ihrem Enkel ausdrücklich als Urheberin der Gerüchte ausgenommen, aber Rassismus ist ungefähr das Letzte, was man ihrer Thronzeit nachrufen kann. Hatte sie doch, wie in dem Kapitel über das Commonwealth erläutert, alle umwälzenden Veränderungen in den früheren britischen Kolonien, in Afrika vor allem, mit engagierter Sympathie begleitet, war zur Stelle gewesen, als die ersten Anführer des schwarzen Kontinents ihre Länder in Freiheit übernahmen. Im Gegensatz zum konservativen Establishment Englands öffnete die Queen sich früh dem Zug der Zeit, ganz anders etwa als Margaret Thatcher, die für Afrika keine Antenne mitbrachte. Elizabeth II. wurde so etwas wie die weiße Häuptlingsfrau unter den stolzen Repräsentanten farbiger Staaten, wurde deren Anlaufpunkt und Gewährsfigur. Ihre Haltung prägte die Multikulturalität Großbritanniens mit, ein Vorbild gesellschaftlicher Toleranz.
Die Flucht Prinz Harrys und seiner Ehefrau nach Kalifornien, wo sie eine eigene Karriere ansteuern und ihre beiden Kinder außerhalb des britischen Milieus aufziehen, verstärkte zeitweilig den Eindruck der Dysfunktionalität in der königlichen Familie. Dabei ist die Geschichte der britischen Monarchie reich an Beispielen dafür, dass der Zweitgeborene immer mit besonderen Existenzfragen zu ringen hatte. Das weiß die Queen. Sie hat selber an ihrer Schwester erlebt, wie die Nummer zwei der Thronfolge aufgrund der nicht festgeschriebenen royalen Perspektive ins Straucheln geraten kann. Obgleich sie jetzt auf ihren Lieblingsenkel im Ensemble der königlichen Familie verzichten muss, bleibt sie eher vorsichtig in ihren Reaktionen auf seine hoch öffentlichen Interventionen. Denn schon in den Tagen von Diana Spencer, der unvergessenen Lady Di, ist deutlich geworden, was dem Königtum droht, wenn es sich gegenüber dem Wandel der Generationen und Temperamente, mögen diese auch querliegen zur Tradition royalen Auftretens, abkapselt und damit den Anschluss an die Zukunft verpasst. Die Brücken zu ihrem Enkel brach die Queen daher, bei aller Enttäuschung, nie ab.
Ihr ganzes Leben, «ob es lang währt oder kurz», wollte die Queen dem Königtum und dem Commonwealth widmen – oder besser gesagt «weihen», wie sie an ihrem 21. Geburtstag aus Kapstadt am Radio verkündete. Jetzt, 75 Jahre später, sah sie sich als Staatsoberhaupt zu einem besonderen Dienst aufgerufen: der britischen Familie ein Wort des Trostes zuzurufen und damit das Königtum als Stütze in umkämpfter Zeit neu ins Bewusstsein zu rufen. Die Coronakrise hat alles in den Schatten gestellt, was Großbritannien an Herausforderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu bewältigen hatte. Inmitten der allgemeinen Diskussion, wie dem unheimlichen Virus zu begegnen sei, inmitten der tiefen Sorge um die Zukunft des Gemeinwesens musste die Königin ein Wort finden für das gequälte Gemüt ihrer Zeitgenossen, ein Wort der Hilfe und des Mitgefühls. Sie tat es mit einer fünfminütigen Fernsehansprache schon am 5. April 2020. «Ich spreche zu euch in einer Zeit wachsender Herausforderung», so begann sie, «einer Zeit der Zerrissenheit im Leben unseres Landes, einer Zerrissenheit, die Gram für einige, finanzielle Schwierigkeiten für viele und enorme Veränderungen im täglichen Leben von uns allen mit sich bringt.»
Wie viele lebten damals auch die Queen und ihr Mann, der Herzog von Edinburgh, seit dem Frühjahr 2020 in selbstauferlegter Isolation, in Schloss Windsor. «Noch mehr wird zu ertragen sein», gab sie unverschnörkelt zu verstehen, um sogleich auf ihre wichtigste Botschaft zuzusteuern – einen Appell an charakteristische Eigenschaften der Briten, die sie mit der Inbrunst ihres langen Lebens beschwor, wie eine Therapie für die angekränkelte nationale Psyche. «Ich hoffe, dass jeder von uns in den kommenden Jahren Stolz empfinden wird über die Art, wie wir auf diese Herausforderung reagiert haben: dass die, die nach uns kommen, sagen werden, die Briten unserer Generation waren so stark wie immer. Dass die Attribute der Selbstdisziplin, gutgelaunter Entschlossenheit und das Gefühl der mitmenschlichen Nachbarschaft noch immer dieses Land auszeichnen.»
Eine Frau mit Jahrhunderterfahrung – inzwischen eine der Wurzeln ihrer Aura und Autorität. Wie selbstverständlich erinnerte Elizabeth daran, wie sie schon als Vierzehnjährige 1940 in ihrer ersten Radioansprache tröstlich zu den Kindern gesprochen hatte, die damals kriegsbedingt von ihren Eltern getrennt in Sicherheit verbracht worden waren. Damit verglich sie die Entbehrungen, die mit der heute auferlegten Isolierung einhergehen und dem Erlebnis «leidvoller Trennung von denen, die wir lieben. Es ist ein Trost», fuhr sie fort, «dass auch, wenn wir noch mehr werden ertragen müssen, bessere Tage zurückkehren werden. Wir werden wieder bei unseren Freunden sein, bei unseren Familien, wir werden uns wieder treffen.» Mit diesem Schlussappell, «we will meet again», griff sie auf den wohl berühmtesten Schlager aus der Kriegszeit zurück, der bis heute, einst von der Sängerin Vera Lynn für die Truppen im Krieg gesungen, die Menschen bewegt – «we’ll meet again, don’t know where, don’t know when …». Mit der inzwischen geadelten Sängerin, die zwei Monate später, 103 Jahre alt geworden, starb, rief die Queen eine Ikone der Vergangenheit auf, eine Mitbegleiterin auf dem Weg vom Einst in die Zukunft. Aber nicht nur der Glorienschein des Gestern inspirierte ihre Worte, dafür lebt sie zu sehr auch im Hier und Heute. «Die Krise ist auch eine Gelegenheit zu neuer Entdeckung: Tempo drosseln, anhalten, nachdenken in Gebet oder Meditation.»
Nur viermal zuvor hatte Elizabeth sich außerhalb ihrer jährlichen Weihnachtsansprachen übers Fernsehen an das Publikum gewandt: 1991 zur Zeit des Irak-Krieges; 1997 nach dem Tod von Diana, der Prinzessin von Wales; 2002 beim Tod ihrer Mutter; und kurz auch zum Dank für die Glückwünsche zu ihrem diamantenen Jubiläum 2012.
Dabei ist immer schwer abzuschätzen, ob Worte, auch wenn eine so verehrte und geachtete Person wie die Queen sie vorträgt, helfen, die Gesellschaft in ihrer konkreten Alltagsnot zu beruhigen und mit neuem Mut auszustatten. Die Corona-Krise, das konzedierte auch die Königin, unterscheidet sich grundlegend von früheren Herausforderungen nicht nur dadurch, dass sie ein weltweites Phänomen ist. Das Virus als unsichtbare Gefahr ist schwer greifbar, und insofern sind Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg und dem «British spirit», der Großbritannien damals in seiner Drangsal half, möglicherweise nur bedingt treffend. Hitler und die nationalsozialistische Bedrohung waren ein zu jeder Zeit vor Augen stehendes Bild. Der Feind steht diesmal im Innern, und die Disziplin, die zu seiner Bekämpfung nottut, erfordert nach allen Beobachtungen zusätzliche Quellen, denn die Corona-Krise greift das seelische Gleichgewicht der Menschen an. Einen Trumpf wie die Queen zur Bekämpfung einsetzen zu können, ist dennoch von unschätzbarem Wert.
Nur dreißig Personen verloren sich im gebührenden Abstand zueinander in den zwei gegenüberliegenden Reihen des hölzernen Chorgestühls der spätgotischen St George’s Chapel auf dem Gelände von Schloss Windsor, als Prinz Philip, der Herzog von Edinburgh, am 17. April 2021 zu Grabe getragen wurde – darunter auch drei seiner deutschen Verwandten: Bernhard Prinz von Baden, Philipp Prinz zu Hohenlohe-Langenburg und Heinrich Donatus Prinz von Hessen. Coronabedingt wurde es eine sehr intime Trauerfeier für den am 9. April verstorbenen Gemahl der Queen, zwei Monate vor seinem 100. Geburtstag. Zuvor war der Sarg auf der Ladefläche eines von ihm einst selbst entworfenen Land Rovers vom Schloss zur Kapelle gebracht worden. Unter strahlend blauem Himmel folgten die engsten Familienmitglieder dem Sarg zu Fuß, nur die Queen im königlichen Bentley. Von seinem neuen Wohnsitz in Kalifornien war Prinz Harry angereist, Außenseiter, der er inzwischen geworden war. Besinnung, bis zum Zerreißen gespannt.
Mit dem Tod des Herzogs von Edinburgh schloss sich ein Kapitel der Geschichte. Die Königin selbst sagte in kleiner Runde nach jenem traurigen 9. April, es sei jetzt eine Leere um sie, a void. Sie, die zuletzt noch mit ihrer schieren Präsenz der Nation Zuversicht eingeflößt hatte, musste nach 73 Ehejahren Abschied nehmen von ihrem «Felsen», wie sie Philip aus Anlass ihrer Goldenen Hochzeit anno 1992 apostrophiert hatte. Eine existenzielle Amputation. Der Glaube, das Alter und der Herzog von Edinburgh – das waren nach ihrem eigenen Eingeständnis «die drei Glücksmomente» ihres Lebens. In der Kirche saß sie dann auch ganz allein in ihrer Bankreihe, in sich gekehrt, versunken in Wehmut und Erinnerung.
Ein immenses Kapital an Popularität ging dem Königshaus mit Prinz Philip verloren. Aber noch bürgt Elizabeth dafür, dass dieser Fundus nicht aufgebraucht ist. Wenige Tage vor ihrem 95. Geburtstag am 21. April erhöhte die Welle der Anteilnahme eher noch ihr Image, unentbehrlich zu sein. Es ist aber eine gestundete Zeit, auf die Philips Beerdigung mit unabweislicher Konsequenz hinwies. Die Fristen werden knapper, die Gedanken beschäftigen sich mit einem zweiten Abschied. Was dann?
Die tiefen Risse, die durch das Harry & Meghan-Kapitel zuletzt im Königshaus sichtbar geworden waren, hatte der Prinzgemahl nicht mehr kitten können. Charles, sein Ältester, erinnerte sich an den Vater vor allem wegen dessen herausragender «Individualität». Aber Individualität beansprucht auch der Herzog von Sussex für sich und seine Weichenstellungen. Er kann geradezu auf seinen Großvater verweisen: In der Tat hat niemand größere Hindernisse überwinden müssen, um sich auf dem Königsweg durchzusetzen, als dieser Heimatlose aus griechisch-dänisch-deutschem Haus. Was sind die Beschwerden, die ein Harry vorträgt, im Vergleich zu der Ablehnung, die Prinz Philip, der deutsche «Hunne» – wie die Queen Mother ihren angehenden Schwiegersohn gern titulierte –, am Hofe vorfand? Wer erinnert sich noch an den Streit über den Familiennamen, als Philip für sein «Mountbatten» plädierte, das Establishment aber auf «Windsor» beharrte? «Ich bin hier nur eine verdammte Amöbe», so der Kommentar des Unterlegenen. Er war ein genuiner Außenseiter, der an die Spitze vordrang, aber nie das Gefühl verlor, ein Exilierter zu sein. Daher seine Fähigkeit, den Pomp in seiner Umgebung gelegentlich mit passender Unkorrektheit aufzuspießen.
Welch himmelweiter Unterschied der Generationen! In Philips Herkommen galt noch der Comment, persönliche Krisen klaglos mit sich selbst auszumachen. Trotz seiner zerrissenen Jugend, diesem unsteten, heimatlosen Wechsel von Verwandten zu Verwandten, von Schule zu Schule, quasi ohne Eltern und festen Wohnsitz, ließ Philip keine Spur von Larmoyanz an sich heran. «So war mein Leben», pflegte er zu sagen, wenn immer ihn ein Interviewer festnageln wollte auf das Eingeständnis einer harten Jugend: So war eben mein Leben, mehr ist dazu nicht zu sagen. Er nahm sich gleichsam an die Zügel, unter der Devise «Get on with it!», mach weiter, halte dich nicht auf mit müßigem Jammern. Nach diesem Motto richtete er seine Laufbahn aus, es wurde die Basis seines Überlebens – eine ideale Ergänzung zur ähnlich nüchternen Elizabeth.
Die britische Jugend heute, und nicht nur sie, lebt längst nach anderen Stichwörtern ihrer Gefühlskultur. «Let it all hang out», lautet das Motto, lass alles aus dir raus, wie eine Katharsis der Befreiung. Man nennt es gerne die «touchy-feely»-Haltung, eine Haltung, die oft ihr Inneres nach außen kehrt, die berührt werden möchte und ernst genommen in ihren persönlichen Nöten, den vielen Schattierungen von mental illness, von seelischen Krankheiten, wie das Stichwort heute lautet. Es ist das Harry & Meghan-Syndrom. «Madness», ein Aberwitz, der «zu nichts Gutem führen» könne, kommentierte der totkranke Philip einem Insider zufolge noch vom Krankenhausbett aus das Oprah-Winfrey-Interview. Aber als wollte er sich erinnern an die Spur seines eigenen Lebens, fügte er dem Vernehmen nach hinzu: Die Jugend müsse natürlich ihren eigenen Weg gehen, wie er selbst es getan hatte, auch gegen Widerstände. Doch beim «Duke», wie man ihn immer nur abkürzte, war «Selbstverwirklichung» noch gekoppelt an eine strenge Auffassung von Pflichten und nötigem Verzicht. An dieser Frage scheiden sich heute die Geister.
Dennoch ist der Abschied von Prinz Philip auch eine Mahnung an die Monarchie: Will sie ihre Akzeptanz sichern, muss sie in Rufweite dieser neuen Gefühlskultur bleiben, ohne sich ganz an sie zu verlieren. «Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert», heißt es in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman «Der Leopard». Vielleicht liegt hier das Vermächtnis des Herzogs von Edinburgh, der wusste, wie wichtig die Lockerungsübungen waren, die er der britischen Monarchie verpasste. Die Queen, ganz die Pflichtbewusste, folgte nach Philips Tod dem Motto ihrer Tudor-Vorgängerin, «semper eadem», immer die Gleiche, und ging klaglos ihren Dienstaufgaben nach, betrübt, wenn sie von ihren Ärzten ermahnt wurde, sich zu schonen und etwa den Umweltgipfel in Glasgow im November 2021 nicht persönlich zu besuchen, sondern es bei einer digitalen Botschaft bewenden zu lassen.
Viel kommt auf den Erstgeborenen der Queen zu, den Prinzen von Wales, wenn er, ein ewig Wartender im Vorraum der Krönung, dereinst von seiner Mutter als Charles III. das Zepter übernimmt. Kann er die Monarchie gegen Krisen in der königlichen Familie immunisieren, sie vor den Fallstricken der Skandale bewahren, in denen auch er sich mit eigenem Zutun vor Jahrzehnten verfing? Und wie hält er die Balance zwischen Tradition und Moderne, ohne nach dieser Seite zu anbiedernd, nach jener zu verkrustet zu wirken?
Wie seine Mutter muss auch er sich an dem Diktum von Sir Henry Marten von 1939 orientieren, der «die Fähigkeit, sich auf Veränderungen einzustellen», als die wichtigste Überlebensstrategie der Monarchie definierte. Für Charles beginnt die Veränderung mit dem königlichen Personal. Das Stichwort heißt: verschlanken. Die Anzahl der für die Repräsentanz der Windsors verantwortlichen Personen muss verringert werden, damit das Königshaus nicht durch zu viele Ausrutscher in der erweiterten Familie immer wieder in Misskredit gerät. Die Szene auf dem berühmten Balkon des Buckingham Palastes im Jahr des diamantenen Jubiläums der Queen, 2012, sprach Bände über Charles’ künftige Pläne: Neben der Queen sah man nur noch ihn, den unmittelbaren Erben, neben seiner Ehefrau Camilla, dazu William und Catherine, Herzog und Herzogin von Cambridge, sowie Harry, noch ohne Partnerin. Der Herzog von Edinburgh, Prinzgemahl Philip, fehlte damals wegen Krankheit. Das war, wenn man so will, der harte Kern. Kein Andrew, kein Edward, keine Prinzessin Anne, die Geschwister von Charles. Und auch nicht mehr deren Kinder. Zusätzlich fallen jetzt auch Harry und Meghan buchstäblich aus dem Bild. Welcher Kontrast zur Szene zehn Jahre zuvor, bei der Goldenen Hochzeit der Queen, wo die erweiterte Familie auf dem Balkon kaum Platz fand, so groß war das Gedränge.
Die Verschlankung der Royal Family, wie sie dem Prinzen von Wales vorschwebt, erhöht die Erwartung an das Ehepaar Cambridge, William und Catherine, Korrektheit und Stabilität der Windsors zu repräsentieren, was beide nicht als Last zu empfinden scheinen. Zerschlagen hat sich dagegen die Hoffnung auf Integration von Meghan Markle, der nach Sophie Rhys-Jones und Catherine Middleton dritten Bürgerlichen im Kreis der Royals. Die rosigen Träume scheiterten an der Realität kultureller Widersprüche und am Comment des Königshauses, private Wünsche dem größeren Wohl des Ganzen zuliebe zurückzustellen. Selbstverwirklichung contra Bewahrung königlicher Konstanz: Dieser Konflikt machte den Kern der Krise um das Herzogspaar Sussex aus. Eine condition humaine freilich, die der britischen Monarchie auch in kommenden Generationen neue Herausforderungen bescheren dürfte.
Ein britischer Monarch, so schrieb der Historiker David Cannadine, «hat zwei Körper: Er ist ein Individuum und eine Institution, die sich beide auf bestimmte Zeit im jeweiligen Souverän versammeln.» Die «bestimmte Zeit» der zweiten Elizabeth währt inzwischen seit siebzig Jahren, weshalb man versucht sein könnte, auch bei ihr von einem elisabethanischen Zeitalter zu sprechen. Das sagten ihr die Zeitgenossen schon bei ihrer Thronbesteigung voraus, was die junge, 1953 gekrönte Queen in ihrer ersten Weihnachtsbotschaft schnippisch von sich wies: «Ehrlich gestanden, komme ich mir ganz und gar nicht wie meine große Tudor-Vorgängerin vor, die weder mit Mann noch Kind gesegnet war, die als Despot herrschte und die kein einziges Mal die Küsten ihres Heimatlandes verlassen konnte. Aber da gibt es wenigstens eine sehr signifikante Ähnlichkeit zwischen ihrem Zeitalter und meinem. Ihr Königreich, obwohl klein und arm im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn, war von einem großen Geist durchweht.»
Der große Geist? Man ist versucht, vom Geist der Schwächung zu sprechen, der das Inselreich zwischen 1952 und 2022 ereilt hat, einer Reduktion des Empire auf die Größe einer global vernetzten Mittelmacht, die gerne, wie Kritiker sagen, über ihrer Gewichtsklasse boxt. Zieht man die Begriffe «hard power» und «soft power» zu Rate, die der Harvard-Politologe Joseph Nye einst in die Debatte einführte, so wird man Großbritannien in der Tat nicht als eine «hard power» bezeichnen können, mit globaler, seegestützter Macht, sich Geltung zu verschaffen, wie es das zu Hochzeiten des Empire vermochte. Dagegen ist die Insel als «soft power» – womit wir die Attraktivität eines Landes aufgrund der Summe seiner Vorzüge bezeichnen – ein Spitzenreiter. Das beginnt schon mit der Sprache, dem Englischen, einem universalen Magneten. Und zur «soft power» – dem «great» in «Great Britain» – gehört eben auch die Stabilität, die die Insel dank der Queen immer noch verkörpert und die nicht allein an der Dauer ihrer Regentschaft, einer in der Geschichte einmaligen, abzulesen ist. Es ist vielmehr die Dauer der Hingabe, eines unverbrüchlichen Dienstes, die die Annalen Elizabeths II. auszeichnet. Dank ihrer hinterlässt die Queen eine im Kern starke Institution, die heute, wo so viele Säulen der Gesellschaft wanken, weiterhin beträchtliche Widerstandsfähigkeit besitzt, allen Generationenkonflikten in der königlichen Familie zum Trotz. Diese sind auch ein Tribut an das Gesetz des Wandels, der dem Bestehenden immer wieder zu Leibe rückt und es durch Zukunft zu ersetzen sucht. Die Briten jedenfalls sehen weiterhin keine Alternative zu ihrem 1000-jährigen Verfassungsornat, der Monarchie, und hängen an Elizabeth II. wie an dem Urmeter einer immanenten Identität. Das Individuum Elizabeth hat sein Curriculum auf dieser Erde noch nicht beendet, die Institution, deren vierzigster Träger seit der normannischen Eroberung im Jahr 1066 sie ist, steht noch immer konkurrenzlos da. Was werden die Erben daraus machen?
Eine deutsche Biografie der Queen darf auf die klassischen englischen Darstellungen zurückgreifen, vor allem auf Ben Pimlotts 2001 aktualisiertes Meisterwerk von 1996, «Elizabeth II and the Monarchy», Sarah Bradfords «Elizabeth II. A Biography of Her Majesty the Queen» von 1996 sowie auf Robert Laceys Gesamtdarstellungen von 1977 und 2002. Verpflichtet ist der Autor auch dem Buch von William Shawcross, «Queen and Country», 2002, vor allem für das Kapitel über die Queen und das Commonwealth. Eine Vielfalt von Quellen behandelt einzelne Aspekte der Monarchie, auch die frühen Jahre der Queen, neben Porträts ihrer Familie oder anderer Persönlichkeiten aus dem Umkreis der Windsors. Besonders faszinierend ist die Literatur zu Prinzessin Elizabeth aus den 30er Jahren, die von der englischen Geschichtsschreibung bisher nur flüchtig, wenn überhaupt, rezipiert worden ist.
Viele Gesprächspartner haben dem Autor darüber hinaus den Weg gewiesen, wofür allen ausdrücklich Dank gebührt. Hervorgehoben seien hier drei – Lord Janvrin, der langjährige Privatsekretär der Queen, Sir Robert Worcester, Gründer des Meinungsforschungsinstituts Ipsos MORI, das den Buckingham Palast seit 40 Jahren berät, sowie die Cousine der Königin, die Honourable Margaret Rhodes, die 2011 ihre Memoiren veröffentlichte, doch leider 2016 verstarb. Unschätzbare Hilfe leistete Sebastian Borger, Korrespondentenkollege in London, der schon im Entstehen dieses Buches Kapitel für Kapitel auf sachliche Irrtümer, befremdliche Wortwendungen und Urteile hin überprüfte. Zum Schluss gab Stefanie Hölscher vom Verlag C.H. Beck durch kundiges Lektorieren dem Buch seinen letzten Schliff. Was jetzt noch zu beanstanden bleibt, geht allein zu Lasten des Autors.
Um die Lektüre nicht unnötig zu belasten, wurde auf Fußnoten verzichtet. Die verwendete Literatur ist dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Auf zahlreiche Quellen wurde außerdem im Text selbst verwiesen. Spezielle Belege zu einzelnen Stellen liefern darüber hinaus die folgenden Anmerkungen.