Reinhard Gregor Kratz
Die Propheten der Bibel
Geschichte und Wirkung
C.H.Beck
Die biblischen Propheten gehören zu den markantesten Repräsentanten der jüdischen Religion und nehmen auch im Christentum und auf seine Weise im Islam eine zentrale Stellung ein. Ihre Geschichte reicht zurück in den Alten Orient und das Alte Israel, als es die biblischen Schriften und die sich darauf gründende jüdische Religion noch nicht gab. In dieser Zeit haben Propheten keine Bücher geschrieben, und auch in ihrem Auftreten und in ihrer Botschaft unterscheiden sie sich sehr von den Propheten der Hebräischen Bibel. Das macht eine historische und literarische Beschäftigung mit den Quellen nötig. Dieses Buch beschreibt die außerbiblischen Zeugnisse der Prophetie und unterscheidet in der biblischen Überlieferung selbst zwischen den historischen und den literarischen Propheten. Es bietet so einen umfassenden Überblick über die Erscheinungsformen und die Geschichte der Prophetie von der altorientalischen Mantik bis zur jüdischen Apokalyptik mit einem Ausblick auf die Rezeption im Neuen Testament und die Rolle der Propheten in den drei abrahamitischen Religionen.
Reinhard G. Kratz, geboren 1957, ist Professor für Altes Testament an der Georg-August-Universität Göttingen, Leiter der dortigen Qumran-Forschungsstelle sowie Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Fellowships in Berlin, Oxford, Cambridge und Rufe nach Kiel, Heidelberg, Berlin und Oxford belegen sein internationales Renommee. Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem «Qumran. Die Texte vom Toten Meer und die Entstehung des biblischen Judentums» (2022).
Einführung
I. Das Gesetz und die Propheten: Stationen der Auslegungsgeschichte
1. Schriftsteller der heiligen Geschichte
2. Lehrer des Gesetzes
3. Verkündiger des Christus
4. Männer des ewig Neuen
5. Begründer der jüdischen Tradition
II. Mantik und Magie: Propheten im Alten Orient
1. Königliche Archive
2. Charisma und Amt
3. Politik und Propaganda
4. Medien der Kommunikation
III. Königsmacher und Wundertäter: Propheten in Israel und Juda
1. «Wahre» und «falsche» Propheten
2. Prophetie und Königtum
3. Die Wundertaten der Propheten
4. Die biblischen Prophetenerzählungen
IV. Inspiration und Interpretation: Die Bücher der Propheten
1. Wort und Schrift
2. Die Schriften
3. Prophetische Fortschreibung
4. Schriftgelehrte Propheten
5. Schriftprophetie und Offenbarung
V. «Das Ende ist gekommen»: Die Anfänge der prophetischen Überlieferung
1. Das Ende des Reiches Israel
2. Das Buch Jesaja
3. Die Bücher Hosea und Amos
VI. «Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund»: Die Ausbildung der prophetischen Überlieferung
1. Das Ende des Reiches Juda
2. Das Buch Jeremia
3. Das Buch Ezechiel
VII. «Tröstet, tröstet mein Volk!»:Der Ausgang der prophetischen Überlieferung
1. Der Zweite Tempel von Jerusalem
2. Deuterojesaja
3. Tritojesaja
4. Das Erlöschen der Prophetie
VIII. «Das Ende steht noch aus»:Das Buch Daniel und die jüdische Apokalyptik
1. Das aramäische Danielbuch
2. Die hebräischen Visionen
IX. «Seine Deutung ist»:Die Propheten in den Texten vom Toten Meer
1. Die Gemeinschaft von Qumran
2. Prophetie und Schriftgelehrsamkeit
3. Abschrift und Zitat
4. Text und Kommentar
5. Biblische Geschichte und Zeitgeschehen
6. Prophetenbuch und Pescher
X. «Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde»: Propheten in Judentum, Christentum und Islam
1. Die biblischen Propheten im Neuen Testament
2. Rabbinische Propheten
3. Christliche Propheten
4. Islamische Propheten
Anhang
Offene Fragen der Prophetenforschung
1. Prophetenwort und Prophetenbuch
2. Worte und Erzählung
3. Ältere und jüngere Orakel
4. Der religionsgeschichtliche Vergleich
5. Unheil und Heil
6. Historischer Ort
7. Textüberlieferung
Literaturhinweise
Textausgaben außerbiblischer Quellen
Forschungsüberblicke
Gesamtdarstellungen
Sammmelbände
Altorientalische und griechische Parallelen
Prophet und Prophetenbuch
Prophetie in Qumran
Jesaja
Jeremia
Ezechiel
Zwölf Propheten
Bildnachweis
Zeittafel
Stellenverzeichnis
Altes Testament
Neues Testament
Apokryphen und Pseudepigraphen
Qumran
Josephus
Rabbinische Literatur
Koran
Die südliche Levante im 8. Jahrhundert v. Chr.
Der Alte Orient
Die Propheten der Hebräischen Bibel, des von den Christen sogenannten Alten Testaments, gehören zu den markantesten Repräsentanten der jüdischen Religion. In ihren Rückblicken auf die Vergangenheit, den Analysen der Gegenwart und den Prognosen der Zukunft künden sie von einem Gott, der sein Volk verworfen hat, aber nicht von ihm lassen kann. Und sie künden von einem Volk, das seinen Gott verlassen hat, aber nicht ohne ihn sein kann. Der Bruch könnte nicht tiefer sein, und doch gehören Gott und Gottesvolk zusammen wie nirgends sonst. Es versteht sich fast von selbst, dass den Propheten der Hebräischen Bibel daher nicht nur in der jüdischen, sondern auch in der daraus erwachsenen christlichen Tradition eine zentrale Bedeutung zukommt, für die Theologie ebenso wie für die Ethik. In gewisser Weise gilt dies auch für den Islam, der in Anknüpfung an die jüdische und die christliche Tradition und in produktiver Auseinandersetzung mit beiden ein eigenes, höchst profiliertes Prophetenverständnis entwickelt hat. Es ist der Gott der Propheten, der die drei abrahamitischen Religionen, bei aller Verschiedenheit, in besonderer Weise miteinander verbindet.
Doch das war nicht immer so. Die Propheten der Hebräischen Bibel haben eine Vorgeschichte. Sie reicht zurück bis in den Alten Orient und in die Geschichte des Alten Israel, eine Zeit, in der es die biblische Überlieferung noch nicht gab. Auch in dieser Zeit haben Propheten eine wichtige Rolle als Mittler zwischen Gott und Volk gespielt. Nur haben sie keine Bücher geschrieben und das Verhältnis nicht reflektiert, sondern praktiziert. Das ist einer der Gründe, warum man in der biblischen Überlieferung zwischen den historischen und den literarischen Propheten unterscheiden muss. Die einen repräsentieren die Religion des Alten Israel, die anderen die Tradition des werdenden Judentums.
Die vorliegende Darstellung macht mit dieser Unterscheidung ernst und richtet ihr Augenmerk vor allem auf die literarische Überlieferung, die als solche gewürdigt und nicht, wie weithin üblich, mit den historischen Propheten und ihren Reden verwechselt werden soll. Die kritische Analyse der biblischen Quellen, auf der die Unterscheidung zwischen historischen und literarischen Propheten basiert, kann hier nicht im Einzelnen vorgeführt und näher begründet werden. Die Darstellung setzt sie voraus und teilt die daraus resultierende Rekonstruktion der Literatur-, Religions- und Theologiegeschichte mit. So werden nach einem Überblick über verschiedene Stationen der Auslegungsgeschichte (Kapitel I) zuerst die historischen (Kapitel II–III) und anschließend die literarischen Befunde in ihrem geschichtlichen Kontext behandelt (Kapitel IV–X).
Bibelstellen werden nach der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 2017 zitiert, wenn nötig mit leichten Veränderungen. Auch die Abkürzungen der biblischen Bücher und die Schreibung der Namen richten sich nach dieser Ausgabe. Durchgängig geändert ist die Wiedergabe des Gottesnamens, dessen historische Aussprache unsicher ist und der darum hier mit den transkribierten vier Konsonanten «JHWH» des hebräischen Wortes, dem sogenannten Tetragramm, wiedergegeben wird. Da der Name von Juden nicht ausgesprochen werden darf und stattdessen ʾadonai, «Herr», gelesen wird, schreibt die Lutherbibel an diesen Stellen «der HERR». Außerbiblische Quellen (Alter Orient, Apokryphen und Pseudepigraphen, Qumran-Schriften, Flavius Josephus, rabbinische Literatur, Koran) werden nach leicht zugänglichen, bei den Literaturhinweisen aufgeführten Textausgaben zitiert, die eine deutsche oder englische Übersetzung bieten.
Das vorliegende Buch basiert auf dem Band Die Propheten Israels in der Reihe C.H.Beck Wissen (2003). Er wurde für die vorliegende Neuausgabe durchgesehen, aktualisiert und um die Kapitel zu Qumran (Kapitel IX) und zu den Propheten in Judentum, Christentum und Islam (Kapitel X) erweitert. Den allgemeinverständlichen Stil der Originalausgabe, in der keine Fußnoten vorgesehen waren, habe ich beibehalten. Weiterführende Hinweise zur Forschung und vertiefenden Lektüre finden sich im Anhang. Nachdem die Originalausgabe vergriffen war, erreichten mich vielfach Anfragen von Kollegen, die das Buch im akademischen Unterricht verwenden, Studierenden und interessierten Lesern nach einer Neuauflage. Ich danke dem Verlag C.H.Beck und insbesondere meinem Lektor Ulrich Nolte, dass sie diesem Wunsch nachgekommen sind und die erweiterte Ausgabe möglich gemacht haben.
Wer die Bibel aufschlägt und von vorne zu lesen beginnt, muss sich gedulden, bis er zu den Propheten kommt. In den deutschen Übersetzungen stehen sie am Schluss des Alten Testaments. Auf die Geschichtsbücher und die poetischen Bücher folgen zuerst die drei großen Propheten: Jesaja, Jeremia, Ezechiel, danach die zwölf kleinen: Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Dazwischen stehen das Buch Daniel und manchmal im Anschluss an Jeremia auch die Klagelieder Jeremias, das Buch Baruch, des Schreibers Jeremias, sowie ein Brief Jeremias.
In den Ausgaben der Hebräischen Bibel ist das anders. Hier folgen die Propheten auf die Fünf Bücher Mose, den Pentateuch, und umfassen nicht nur die drei großen und zwölf kleinen Propheten, sondern auch die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige, die jenen vorausgehen. Das Buch Daniel und die Klagelieder Jeremias stehen an einem anderen Ort; Baruch und der Brief Jeremias sind nicht enthalten.
Stellung und Umfang der Prophetenbücher beruhen auf Selektion und spiegeln die verschiedenen Fassungen des hebräischen und des griechischen Kanons wider. In ihnen machen sich Unterschiede im Prophetenverständnis bemerkbar, die auch für die weitere Auslegungsgeschichte bestimmend gewesen sind.
Der Kanon der Hebräischen Bibel, der sich in der jüdischen Tradition und, was den
Umfang angeht, in den Kirchen der Reformation durchgesetzt hat, hat die Reihenfolge
Gesetz (Tora), Propheten (Nebiim) und Schriften (Ketubim). Die andere Fassung, in
der die Propheten (in verschiedener, später angeglichener Reihenfolge) am Schluss
stehen, ist die der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel,
die auch noch weitere, sogenannte «verborgene Schriften», die Apokryphen, umfasst.
Sie war die Bibel der griechisch sprechenden Juden sowie der frühen Christen und hat
sich in der Tradition der orientalischen und – über die lateinische Übersetzung (Vulgata) –
der römisch-katholischen Kirche behauptet.
Beide Fassungen des Kanons gelten als göttlich inspiriert und nehmen für sich in Anspruch, dass die Autoren der biblischen Bücher Propheten waren. Diese Auffassung kann man in der Schrift Contra Apionem (I,37–41) des jüdischen Historikers Flavius Josephus aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. sowie im Babylonischen Talmud (Traktat Baba Batra 14b–15a) nachlesen. Sie ist bereits in der Bibel selbst angelegt. Der um 300 v. Chr. schreibende Chronist geht davon aus, dass jede Epoche der heiligen Geschichte ihren Propheten hatte und dass jeder Prophet über seine Epoche eine Schrift verfasst hat, aus der wiederum er, der Chronist selbst, schöpft (1. Chr 29,29 u.ö.). Die Quellen, die dem Werk des Chronisten zugrunde liegen, sind tatsächlich keine anderen als die uns bekannten biblischen Bücher von Genesis bis Könige und von Jesaja bis Maleachi, denen er durch seine Quellentheorie einen autoritativen, gewissermaßen kanonischen Rang verleiht.
Auf kanonische Dignität zielt auch die Unterteilung in «vordere» und «hintere» Propheten. Vordere Propheten heißen im hebräischen Kanon die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige, die in der Septuaginta zu den Geschichtsbüchern zählen; hintere Propheten werden die Bücher Jesaja bis Maleachi genannt, deren Umfang und Reihenfolge in der handschriftlichen Überlieferung variieren, die aber zusammengenommen das Corpus propheticum bilden, das in der Septuaginta an den Schluss gestellt ist. Dass die Bücher Josua bis Könige zu den Propheten gerechnet wurden, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sie Erzählungen über Propheten enthalten. Entscheidend dürfte jedoch die Absicht gewesen sein, ihre Verfasser mit Mose, dem Urbild der Propheten (Dtn 18,15; Hos 12,14), und den Propheten selbst auf eine Stufe zu stellen. Die Übertragung des prophetischen Geistes von Mose auf Josua ist in Numeri 27,18–23 und Deuteronomium 34,9 beschrieben.
Auf diese Weise verbinden sich die Bücher der beiden Kanonteile Tora und Propheten, die sich für die Zeit Jesajas (2. Kön 18–20//Jes 36–39) und Jeremias (2. Kön 24–25//Jer 52) teilweise überschneiden, zu einer fortlaufenden, vom Geist der Propheten erfüllten und von ihnen aufgezeichneten Geschichte. Im hebräischen Kanon erstreckt sie sich von der Schöpfung der Welt bis zur Wiederherstellung Jerusalems unter den persischen Königen oder, um mit Josephus und den Rabbinen zu sprechen, von Mose bis Artaxerxes. Danach, so heißt es, sei der prophetische Geist erloschen. Das ist auch der Umfang, in dem die Bücher Chronik, Esra und Nehemia die heilige Geschichte rekapitulieren, und in denselben zeitlichen Rahmen fügt sich der dritte Kanonteil «Schriften», der aus der Sammlung der Psalmen Davids hervorgegangen ist. Im «Lob der Väter» des Sirachbuchs, das Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. hebräisch abgefasst und um 132 v. Chr. ins Griechische übersetzt wurde, ist die biblische Geschichte dementsprechend nach dem kanonischen Bestand der biblischen Bücher nacherzählt (Sir 44–49).
Einem anderen Ordnungsprinzip folgt die Septuaginta. Hier reicht die in der Tora und den historischen Büchern erzählte heilige Geschichte bis in hellenistische Zeit, von der die Makkabäerbücher handeln. Die Stellung der Prophetenbücher am Schluss des Kanons deutet an, dass die Geschichte noch nicht an ihr Ziel gekommen ist, sondern der endzeitlichen Vollendung harrt.
Die Propheten schreiben die heilige Geschichte nicht nur auf, sondern spielen in ihr auch selbst eine entscheidende Rolle. Ihre Aufgabe geht aus den letzten Versen der Sammlung der Propheten in Maleachi 3 klar hervor:
Gedenkt an das Gesetz meines Knechtes Mose, das ich ihm befohlen habe auf dem Berge Horeb für ganz Israel, an alle Gebote und Rechte! (Mal 3,22)
Der Schluss schlägt den Bogen zur Ermahnung Josuas durch JHWH am Anfang der Sammlung in Josua 1,7–8 und bindet den Kanonteil «Propheten» an die Tora des Mose. Mit dieser Rahmung sind vordere und hintere Propheten als Lehrer des Gesetzes gesehen, die das Volk Israel während der ganzen Zeit seines Aufenthalts in dem von Gott geschenkten Land, von der Landnahme bis zur Exilierung, und auch weiterhin zum Gehorsam gegenüber ihrem Gott und seinen Geboten aufrufen und vor den Folgen des Ungehorsams warnen.
Grundlage der prophetischen Lehre ist das Gesetz des Mose, das am Sinai offenbart und von Mose im Lande Moab, unmittelbar vor Eintritt in das verheißene Land, öffentlich verkündet wird. Auf dieses Gesetz und insbesondere seine Proklamation im Buch Deuteronomium wird in den vorderen Propheten, den Büchern Josua bis Könige, permanent verwiesen (bes. 2. Kön 22), weswegen man von einem deuteronomistischen Geschichtswerk, richtiger: von einer deuteronomistischen Redaktion in den Büchern Josua bis Könige, spricht. Auf diese Redaktion geht die Auffassung der Propheten als Gesetzeslehrer und Mahner zurück (2. Kön 17,13; 21,10–16; 22,14–20). Die Redaktion identifiziert das Wort Gottes im Munde der Propheten, das in den Prophetenbüchern, gleichsam als Hypostase Gottes, die Geschichte bestimmt (vgl. Jes 9,7; 40,8; 55,10–11), mit dem Gesetz des Mose. Die prophetische Sukzession (Dtn 18,15) bürgt wie später die apostolische für die Authentizität und ungebrochene Weitergabe der Lehre. Und weil diese Lehre erst recht nach Eintritt der von den Propheten angekündigten Katastrophe ihre Gültigkeit behält, ist die Mahnung zum Gesetzesgehorsam in Maleachi 3 als Inbegriff der Verkündigung auch der hinteren Propheten (vgl. Jer 7,25–26; 44,4–5) zum Abschluss des ganzen Kanonteils Nebiim wiederholt.
Als Lehrer des Gesetzes sind die Propheten über die Chronik (2. Chr 36,15–16), das Danielbuch (Dan 9,6) und andere Wege in die jüdische Tradition eingegangen (siehe Kapitel X,2). In ihr werden die Propheten vom Gesetz her ausgelegt. Der Schriftgelehrte, der die Weisheit aller Vorfahren erforscht und sich dabei auch um das Verständnis der Prophezeiungen bemüht, ist einer, der es dem Gerechten von Psalm 1 gleichtut und über das Gesetz des Höchsten sinnt (Sir 38,34 [39,1]). Im Gottesdienst der Synagoge bildet bis heute die Lesung aus den Propheten den Abschluss der Toralesung. Ihren klassischen Ausdruck hat dieses Verständnis der Propheten in den «Sprüchen der Väter» gefunden:
Mose empfing die Tora vom Sinai und übergab sie an Josua, Josua an die Ältesten, die Ältesten an die Propheten, und die Propheten übergaben sie an die Männer der großen Versammlung. (Pirqe AbotI 1a)
Dieselbe Auffassung findet sich auch im Neuen Testament (Mt 23,34–36; Mk 12,1–12). Über die hier gebräuchliche, aus dem Judentum übernommene Bezeichnung der heiligen Schrift als «das Gesetz» oder «das Gesetz (Mose) und die Propheten» hat sie Eingang in die christliche Tradition gefunden. Klassisch fasst sie Martin Luther in seiner Vorrede zum Alten Testament von 1523 zusammen:
Was sind aber nun die andren Bücher der Propheten und der Geschichten? Antwort: Nichts anderes, als was Mose ist. (H. Bornkamm, Luthers Vorreden zur Bibel, 31.989, 55)
Darüber, «was Mose ist», gehen die Meinungen freilich auseinander. Bei Luther heißt es weiter:
Also, dass die Propheten nichts andres sind als Handhaber und Zeugen Moses und seines Amtes, dass sie durchs Gesetz jedermann zu Christo bringen.
Gemeint ist die Verheißung der Propheten, die nach christlichem Verständnis ebenso wie Mose und das Gesetz auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und damit auf das Neue Testament zielt. Dieses Verständnis von Gesetz und Propheten hat seinen Grund im Neuen Testament selbst. Zwar heißt es von Jesus, dass er nicht gekommen ist, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 5,17), und weiter, dass kein Jota des Gesetzes vergehen wird, bis Himmel und Erde vergehen (Mt 5,18), und dass man für die Seligkeit nichts anderes tun muss, als auf Mose und die Propheten zu hören (Lk 16,29.31). Denn das Gesetz ist heilig, gerecht und gut (Röm 7,12). Aber es ist das Gesetz selbst in Gestalt von Mose und den Propheten, das auch die Verheißung Gottes enthält und damit auf Johannes den Täufer als Vorläufer (Mt 11,11–14) und Jesus Christus als Vollender hinweist (Lk 24,27; Apg 26,22–23; Joh 1,45; Röm 3,21–22u.ö. «nach den Schriften»).
Im christlichen Verständnis von Gesetz und Propheten macht sich die Auffassung der Septuaginta bemerkbar, wonach die Propheten einen endzeitlichen Erwartungshorizont eröffnen. Die eschatologische Erwartung ist zwar auch dem hebräischen Kanon nicht fremd, wie der Ausblick auf den wiederkehrenden Elia in Maleachi 3,23–24, gleich anschließend an die Gesetzesvermahnung in Maleachi 3,22, belegt, doch ist sie deutlich eingedämmt. In der Septuaginta und noch mehr in anderen Schriften des Judentums aus hellenistisch-römischer Zeit spielt sie eine erheblich größere Rolle. Das Danielbuch und verwandte apokalyptische Schriften, die nicht in die Hebräische Bibel gelangt sind, rufen zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz auf, entnehmen ihm aber einen weiteren, tieferen Sinn für die bald anbrechende Endzeit. Sie legen das Gesetz des Mose und die heilige Geschichte von den Propheten her aus.
In den Höhlen von Qumran am Toten Meer wurden Kommentare zu den Prophetenbüchern gefunden, die zeigen, wie man die Propheten und in ihrem Sinne auch das Gesetz in den letzten zwei Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung gelesen hat (siehe Kapitel IX). Die Auslegung basiert auf der Annahme, dass Gott den Propheten eine Weissagung eingegeben und diktiert habe, die auf eine ferne Zeit zielt, die Propheten selbst aber nicht wussten, auf wen und auf welche Zeit genau sie sich bezieht. Dies sei erst dem sogenannten Lehrer der Gerechtigkeit, der höchsten Lehrautorität der Gemeinde von Qumran, offenbart worden. Aufgrund dieser Zusatzoffenbarung ist es den schriftgelehrten Verfassern der Kommentare möglich, die prophetischen Weissagungen auf sich und ihre eigene Zeit zu deuten, in der sie das Ende der Zeiten anbrechen sahen. Andere führten die richtige Auslegung von Gesetz und Propheten auf den weisen Daniel (Dan 9,2) oder die vorsintflutlichen Weisen Henoch und Noah zurück. Sie alle haben auf ihre Art das Wort der Schrift für ihre Zeit aktualisiert.
Im Neuen Testament ist es die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die das Verständnis und die Auslegung der heiligen Schriften leitet (siehe Kapitel X,1). Für die frühen Christen hat sich die Wiederkehr des Propheten Elia (Mal 3,23–24) in Johannes dem Täufer ereignet (Mt 11,14). Auf Mose und Elia folgt Jesus Christus, der Menschensohn, mit dem das Ende dieser Welt anbricht (Mk 9,2–13; siehe Abbildung S. 181). Da das Ende der Welt ausblieb, hat es die christliche Tradition auf die Wiederkunft des Christus verschoben wie die jüdische auf die Wiederkunft des Elia. Für die Zwischenzeit gilt die christliche Lehre, die wie die jüdische die Propheten bald zu Lehrern des Gesetzes, bald zu Kündern der aufgeklärten Moral oder zu begnadeten Rednern und Poeten erklärt.
Die jüdische und christliche Tradition hat sich lange behauptet (siehe Kapitel X,2–3). Im 19. Jahrhundert wurde sie von der historisch-kritischen Bibelwissenschaft radikal und nachhaltig in Frage gestellt. Die Entdeckung der Persönlichkeit der Propheten, ihrer Individualität und dichterischen Kraft hat den Boden für ein historisches Verständnis bereitet. Den Durchbruch brachte jedoch die religions- und literaturgeschichtliche Erkenntnis, dass das Gesetz des Mose jünger ist als die Propheten und in der Geschichte der jüdischen Religion also nicht die Propheten auf das Gesetz, sondern das Gesetz auf die Propheten folgt.
Die Umkehrung der biblischen Chronologie besagt nicht, dass es zur Zeit der Propheten keine israelitische Rechtstradition und -überlieferung gegeben hätte. Auch Tora hat es schon gegeben. Darunter ist jedoch zunächst die priesterliche Weisung oder die Belehrung des Weisen zu verstehen und noch nicht «das Gesetz», die Tora des Mose, wie sie im Pentateuch vorliegt, namentlich in den priesterlich geprägten, legislativen Partien der Bücher Genesis bis Levitikus und im Deuteronomium. Hier sind das Recht, die priesterliche Weisung und die Lehre der Weisen zum absoluten Willen Gottes geworden, den zu halten über Leben oder Tod entscheidet. Erst danach kann man im theologisch qualifizierten Sinne vom «Gesetz» sprechen. Für dieses Gesetz ist der Anspruch kennzeichnend, den stellvertretend für das Ganze das erste, nach jüdischer Zählung das erste und zweite der Zehn Gebote erhebt: «Ich bin JHWH, dein Gott … du sollst keine anderen Götter neben mir haben.» (Ex 20,2–3; Dtn 5,6–7)
Von alldem wissen die Propheten ursprünglich nichts. Wo sie in ihren Texten für das Erste Gebot und das Gesetz eintreten, hat man es mit literarischen Nachträgen aus später Zeit zu tun. Manchmal legen sie Maßstäbe an, wie man sie auch im alten Recht, in alten Opferritualen oder in der alten Weisheit findet. Auch diese Maßstäbe entbehren nicht der göttlichen Legitimation, ohne die sich der Alte Orient gar keine Ordnung denken konnte. Nur berufen sich die Propheten dafür nicht auf das Gesetz. Sie stützen sich auf gegebene Normen wie Richter, Priester und Weise. Ihre Autorität beziehen die Normen aus sich selbst, nicht daraus, dass Gott sie zu erfüllen verlangt. Das wird erst anders, sobald die institutionellen Rahmenbedingungen fehlen, in denen die Normen Geltung haben. Hier gilt nach den Propheten der göttliche Wille, der einfordert, was sich nicht mehr von selbst versteht, und darüber hinaus noch vieles mehr befiehlt. Aber auch dafür berufen sich die Propheten in der Regel nicht auf das Gesetz.
Was bleibt, wenn man den Propheten das Gesetz als Fundament nimmt? Es bleibt, dass sie ohne Rückhalt in der Überlieferung von einem transzendenten Gott künden, der für sich und die Menschen Gerechtigkeit fordert und dafür den Untergang seines Volkes in Kauf nimmt. Weil er der Gott Israels und Israel das Volk Gottes ist, darum kann das Ende seines Volkes Israel, das in den beiden Katastrophen des Untergangs des Königreichs Israel 722 v. Chr. und des Königreichs Juda 587 v. Chr. schweren Schaden genommen hat, nur von ihm beschlossen und herbeigeführt worden sein. Doch das Ende setzt zugleich einen neuen Anfang: Es fordert zum Umdenken und zur Umkehr heraus.
Eine solche Botschaft ist nirgends sonst im ganzen Alten Orient von Propheten oder anderen Gottesmännern je verkündet worden. So sehr auch hier die Götter einmal zürnen und viel Unheil über ihre Städte bringen konnten, so haben sie doch nie die Grundlagen in Frage gestellt, auf denen der Kontakt zu ihnen beruhte. Doch was die Propheten Israels verkünden, war etwas Unerhörtes und Neues in der Alten Welt. Nicht ganz zu Unrecht hat man sie darum als «die Männer des ewig Neuen» bezeichnet (Bernhard Duhm). Dem widerspricht nicht, dass sie eigentlich gar «nichts Neues, nur alte Wahrheit verkündigen» wollten. Doch indem sie die alte Wahrheit, das von Königen, Richtern, Priestern, Sehern und Weisen vermittelte Verhältnis zu Gott, vom Willen Gottes zur Gerechtigkeit abhängig machten, kehrten sie die hergebrachte Ordnung um. Sie hatten das Gesetz (noch) nicht zum Fundament, aber sie machten es dazu. So wurden sie – nicht dem Begriff, aber der Sache nach – zu den «Begründern der Religion des Gesetzes» (Julius Wellhausen).
Die Spätdatierung von Mose und dem Gesetz hat Folgen für die heilige Geschichte, die unter seinem Namen und den Namen Josuas (für das Buch Josua), Samuels (für die Bücher Richter und Samuel) und Jeremias (für die Bücher 1.–2. Könige) überliefert ist. Denn auch die Geschichtsschreibung im Alten Testament ist vom Gesetz affiziert und folgt insoweit den Propheten nach.
Die Beeinflussung ist sehr weitgehend. Das Bild der Geschichte des Volkes Israel, das die biblische Überlieferung bietet, ist ein spätes Konstrukt. Für den vorliegenden Text sind literarische Bearbeitungen verantwortlich, die das Gesetz zur Voraussetzung haben. Sieht man von ihnen ab, zerfallen die Überlieferungen in Richter, Samuel und Könige in Einzelstücke, die nicht vom ganzen Volk Israel, sondern von einzelnen Personen, Sippen und Stämmen, Regionen, Ortschaften und Königtümern handeln und Begebenheiten erzählen, die eher neben- als nacheinander vorzustellen sind. Eine (im ganzen zuverlässige) historische Chronologie bietet nur die alte Annalistik der beiden Königshäuser von Israel und Juda, die sich in den Rahmennotizen der Königsbücher findet.
Nicht anders der Pentateuch, an den sich die alten Erzählungen im Buch Josua nahtlos anschließen. Dass Israel zweimal hintereinander das Land in Besitz nimmt, einmal als Sippe Abrahams, Isaaks und Jakobs von der Wiege der Menschheit, Mesopotamien, aus (Gen 2–35), das andere Mal als Volk Israels unter der Führung Moses von Ägypten aus (Ex 2–15 + Num 20–25 + Jos 2–12), ist eine künstliche historische Kombination, die zwei Versionen des Mythos von den Ursprüngen Israels auf einen Nenner bringt. Um der Einheit Gottes und seines Volkes willen wurden die beiden konkurrierenden Ursprungslegenden Israels zur einen fortlaufenden Gottesgeschichte verbunden. In ihr hat sich Gott zuerst durch die Verheißung an Abraham (Gen 12) und anschließend durch die Befreiung aus Ägypten (Ex 2–15) und in beidem durch Bund und Gesetz (Gen 15 und 17; Ex 19–24; 32–34) offenbart. Hinter beiden Ursprungslegenden stehen wiederum Einzelüberlieferungen unterschiedlicher Herkunft, die von Hause aus nichts miteinander zu tun haben und noch nicht von dem Gottesvolk Israel, sondern von einzelnen, regional begrenzten Figuren wie Lot von Sodom, Isaak und Rebekka bei Abilmelech, Jakob und Laban, einem spektakulären Sieg des Gottes JHWH über «Ross und Reiter» der Ägypter oder Josuas Einnahme von Jericho erzählen.
Die verschiedenen Einzelüberlieferungen haben vor, neben und nach den Propheten existiert. Streiflichtartig gewähren sie Einblick in das Leben der Familien, Stämme und Ortschaften sowie der Königshäuser in den beiden Monarchien und vermitteln einen Eindruck davon, wie man sich die eigene, noch recht kleinräumige Welt zurechtgelegt hat. Die alten Erzählungen gehören mit dem alten Recht, dem alten Kult und der alten Weisheit auf eine Stufe. Von alldem sind in der Hebräischen Bibel aber nur Reste enthalten.
Die Zusammenführung der Einzelüberlieferungen zu größeren Erzählkränzen bis hin zur heiligen Geschichte in den Büchern Genesis 1 bis 2. Könige 25 versteht sich nicht von selbst. Sie hat den Verlust der gewohnten politischen, sozialen und religiösen Ordnungen zur Voraussetzung, von denen die alten Erzählungen wie selbstverständlich ausgehen, und gibt dem Leben unter veränderten Bedingungen ein neues, theologisch begründetes Fundament. Bevor das Gesetz zum Maßstab der Geschichte wurde, war es die unmittelbare Bindung Gottes an sein Volk, die den Lauf der Geschichte im Guten wie im Bösen bestimmte. An die Stelle der beiden Monarchien trat das Volk Gottes «Israel», an die Stelle der von Gott gegebenen kosmischen und politischen Ordnung die Geschichte Gottes mit seinem Volk. Damit gingen die Überlieferungen des Alten Israel über in die jüdische Tradition, der wir die Hebräische Bibel verdanken.
Der Vorgang ist ohne die Propheten kaum denkbar. Sie kündigten angesichts des nahenden oder bereits eingetretenen Endes der beiden Monarchien Israel (722 v. Chr.) und Juda (587 v. Chr.) die bis dahin bestehende, institutionell vermittelte Beziehung zwischen Gott und den beiden Königshäusern auf und stellten sie auf eine neue, durch den Bruch geläuterte, theologisch reflektierte Grundlage: die unmittelbare und unbedingte Bindung an den Willen Gottes. Auf dieser Grundlage wurde die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel konstruiert und anschließend die Offenbarung des Gesetzes in diese Geschichte eingeschrieben. So ist nicht nur das Gesetz, sondern auch die heilige Geschichte jünger als die Propheten. Beides hat nachträglich auf die Prophetenüberlieferung eingewirkt. Doch die Propheten haben beides angestoßen und sind damit die Begründer der jüdischen Tradition. Die neuzeitliche Philosophie hat sie – unter Ausblendung der historischen und kulturellen Spezifika – deswegen sogar zu Vertretern einer universalen «Achsenzeit» und damit gewissermaßen zu Begründern der Moderne erklärt (Karl Jaspers, Jürgen Habermas, Robert Bellah).
Mit dem Alten Orient, in dessen Umfeld das Alte Testament entstanden ist, betreten wir eine andere Welt. Hier findet man keine Prophetenbücher, sondern trifft auf die vielfältige Praxis von Priestern und Propheten zur Ermittlung des göttlichen Willens. Die allgemeine Religionsgeschichte fasst das Phänomen der Wahrsagekunst unter dem Begriff der Mantik oder auch Divination zusammen. Mit Cicero (De divinatione) unterscheidet sie zwischen induktiver und intuitiver Divination.
Am weitesten verbreitet war die induktive («künstliche») Divination, bei der der göttliche Wille aus Vorzeichen in der Natur oder mittels eigens dafür entwickelter Techniken wie der Eingeweideschau ermittelt wurde. Dafür waren göttliche oder dämonische Kräfte vonnöten. Der induktiven Mantik steht die Magie nahe. Beides ist vor allem für Assyrien und Babylonien umfassend belegt. In schriftlichen Sammlungen sind die Techniken und Ergebnisse systematisch zusammengestellt, so dass die Omina jederzeit wiederverwendet und auf neue Situationen angewandt werden konnten. Es handelt sich um einen Zweig der antiken Wissenschaften.
Weniger verbreitet war die andere Art, die intuitive («natürliche») Divination, bei der sich die Gottheit einem Medium mitteilt. Ihr sind die Propheten im engeren Sinn zuzurechnen. Das Wort «Prophet» leitet sich vom Griechischen her und bezeichnet all diejenigen, die göttliche Botschaften empfangen und Vorhersagen machen. Die wenigen Belege, die sich erhalten haben, sind zeitlich und geographisch weit gestreut. Sie weisen aber eine erstaunliche Ähnlichkeit in Form und Inhalt auf, so dass sich aus ihnen speziell für den syrisch-mesopotamischen Raum ein recht zuverlässiges Bild des religionsgeschichtlichen Phänomens der altorientalischen Prophetie gewinnen lässt.
Die Quellen stammen im Wesentlichen aus zwei Archiven: dem königlichen Archiv von Mari (Tell Hariri) am Oberlauf des Euphrat aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. und dem Archiv der königlichen Bibliothek in Ninive aus neuassyrischer Zeit, dem 7. Jahrhundert v. Chr.
Bei den Ausgrabungen von Mari hat man seit 1933 Tausende von Briefen gefunden. Die Stadt lag an der Grenze zwischen Syrien und Mesopotamien und unterhielt vielfältige verwandtschaftliche und diplomatische Kontakte nach beiden Seiten. Die Briefe versetzen uns unmittelbar in das politische Ränkespiel der altbabylonischen Stadtstaaten in der mittleren Bronzezeit, der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr., an dem der berühmte König und Gesetzgeber Hammurapi von Babylon beteiligt war. An die fünfzig von ihnen enthalten Mitteilungen prophetischer Orakel an den König von Mari, Zimrilim, der gerade abwesend war. Oft wird der Gewandsaum und eine Locke des Propheten oder des Briefschreibers mitgeschickt, um die Mitteilung zu beglaubigen (TUATII/1, 83–93).
Sammeltafel mit neuassyrischen Prophetien (K 4310), Vorder- und Rückseite sowie Seitenansichten
Im Archiv von Ninive wurden rund dreißig Orakel der Göttin Ischtar von Arbela und gelegentlich auch anderer Götter an die beiden neuassyrischen Könige Asarhaddon (681–669) und Assurbanipal (669–627) entdeckt (TUATII/1, 56–65). Hinzu kommen Erwähnungen von Propheten und Orakeln in Königsinschriften. Ein äußerer Anlass wird nur an wenigen Stellen erkennbar. Der Schwerpunkt der Orakel liegt auf der Legitimation der Könige, die mit innenpolitischen Spannungen um die assyrische Herrschaft über Babylon zu kämpfen hatten. Der nie aufgeklärte Tod Sanheribs, des Vaters Asarhaddons, und der Aufstand des Schamaschschumukin, Asarhaddons Sohn, der sich gegen seinen Bruder Assurbanipal erhob, schwächten das neuassyrische Reich, das 612 in die Hände der Babylonier fiel. Seine beiden letzten bedeutenden Könige suchten die Schwächung durch gesteigerte religiöse Aktivitäten zu kompensieren und gaben sich ihren literarischen Neigungen hin. Die Entdeckung der mesopotamischen Kultur und Kenntnis der meisten Keilschrifttexte, des «babylonischen Kanons», verdanken wir der 1849 ausgegrabenen Bibliothek von Ninive, die Assurbanipal mit großem Aufwand angelegt hatte.
Außer den königlichen Archiven gibt es noch einige Einzelfunde, darunter solche, die uns zeitlich und geographisch näher an Israel und Juda heranführen.
Der Ägypter Wenamun, der um 1076 v. Chr. von seinem König nach Syrien geschickt wurde, um Holz aus dem Libanon zu beschaffen, erzählt eine merkwürdige Begebenheit: Als er im Hafen von Byblos an der syrischen Küste lag und der König von Byblos ihn täglich zur Abreise aufforderte, sei ein Rasender, offenbar ein Ekstatiker, aufgetreten und habe verkündet, dass Wenamun ein Gesandter des ägyptischen Gottes Amun-Re sei. Dies stimmte den König von Byblos um und ließ ihn in Verhandlungen über die Holzlieferungen eintreten (TGI3, 41–48).
Stele des Königs Zakkur von Hamath, um 800 v. Chr.
Nach einem üblichen Muster läuft der Vorfall ab, den die Inschrift des aramäischen Fürsten Zakkur von Hamath aus der Zeit um 800 v. Chr. erzählt (TUATI/6, 626–628). Zakkur wird von einer Koalition aramäischer Stadtstaaten unter der Führung des auch der Hebräischen Bibel bekannten Königs von Damaskus, Barhadad (hebräisch: Benhadad), Sohn des Hasael (vgl. 2. Kön 13,3.22–25), bedrängt. Er erhebt seine Hände zum «Herrn des Himmels», Baalschamin, und befragt Seher und Wahrsager. Die Gottheit antwortet mit einem Heilsorakel, «Fürchte dich nicht», und verheißt ihm den Sieg. Tatsächlich dürfte sich Zakkur mit Hilfe der Assyrer seiner Feinde entledigt und unter ihrem Schutz sein Herrschaftsgebiet vergrößert haben. Baalschamin und seine Propheten haben den politischen Pakt mit der assyrischen Großmacht offensichtlich befürwortet.
1967 wurden auf einem im östlichen Jordantal gelegenen Hügel, dem Tell Dēr ʿAllā, Fragmente einer mit roter und schwarzer Tinte geschriebenen Wandinschrift gefunden (TUATII/1, 138–148). Trotz des sehr schlechten Erhaltungszustands wurde bald klar, dass es sich um das «Buch Bileams, des Sohnes Beors, des Sehers der Götter» handelt, dem die Götter in einem Nachtgesicht erschienen sind. Dieser Seher ist kein anderer als der Bileam der Bibel (Num 22–24), nur dass wir ihn hier in seiner ursprünglichen Umgebung und in seiner Zeit, dem 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr., erleben, bevor er von Israel und der biblischen Überlieferung vereinnahmt wurde. Was ihn die Versammlung der Götter schauen ließ, verheißt nichts Gutes. Soweit der Text lesbar ist, enthält er Unheilsankündigungen und Flüche, die Bileam seinen Leuten unter Tränen mitteilt. Er agiert als eine Art Klagepriester, vielleicht in der Absicht, das drohende Unheil der Götter abzuwenden, vielleicht um sie im Nachhinein zu belehren und auf künftiges Unheil vorzubereiten. In Numeri 22–24 ist daraus eine Heilsbotschaft für Israel geworden, zum großen Ärger von Balak, dem König von Moab.
Lachisch-Ostrakon Nr. 3, Vorderseite (links) und Rückseite (rechts)