Wolfgang Huber
DIETRICH
BONHOEFFER
AUF DEM WEG ZUR FREIHEIT
Ein Porträt
C.H.Beck
Dietrich Bonhoeffer gehört zu den wirkmächtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Sein Widerstand gegen Hitler hat weltweit Protestbewegungen gegen Unterdrückung und Ungleichheit inspiriert. Seine Briefe aus der Haft wurden als Neubeginn der Theologie verstanden. Wolfgang Huber stellt Bonhoeffers Denken in den Mittelpunkt seines wunderbar prägnanten Porträts und macht deutlich, warum die mutigen Entscheidungen des Ausnahme-Theologen auch heute Ansporn sein können.
Kaum ein anderer Theologe hat so wie Dietrich Bonhoeffer darauf beharrt, dass theologisches und ethisches Denken immer Denken in einer bestimmten Situation ist und sich unter neuen politischen oder gesellschaftlichen Umständen ändern kann. Das bedeutete für ihn zugleich aber auch, dass das Denken das Leben ändern kann, ja in besonderen Fällen ändern muss. So entschied sich Bonhoeffer im Juni 1939, als ihm in New York eine Dauerstelle angeboten wurde, gegen das Exil und kehrte kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Berlin zurück, um für ein besseres Deutschland zu kämpfen. Es folgten Zeiten von Konspiration, Camouflage, Gefangenschaft, Einsamkeit und Zuversicht trotz allem. Wolfgang Huber macht in seinem meisterhaften biographischen Porträt deutlich, warum Bonhoeffers meistgelesene Schriften – insbesondere die Ethik und Widerstand und Ergebung – nur unter diesen existentiellen Bedingungen entstehen konnten und wie sich sein Leben und Denken spannungsvoll ergänzten. Die kühnen Neuansätze des großen «unvollendeten» Theologen, der am 9. April 1945 auf Hitlers persönliches Geheiß hingerichtet wurde, ermutigen bis heute Menschen zum konsequenten Glauben und Handeln – gerade angesichts weltweiter Not und um sich greifender Gewalt, ungewisser Zukunft und Gefahren für die Demokratie.
Wolfgang Huber, Professor für Theologie in Berlin, Heidelberg und Stellenbosch (Südafrika), war u.a. Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Er engagiert sich im Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik sowie im Potsdam Institute for Advanced Sustainability Studies und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Max-Friedlaender-Preis, dem Karl-Barth-Preis und dem Reuchlinpreis. Wolfgang Huber hat die Neuausgabe der «Dietrich Bonhoeffer Werke» federführend mitverantwortet.
1. Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer?
Denken und Leben
Sturm und Drang
Bekenntnis und Widerstand
Zuversicht ohne Ende
Modern und zugleich liberal
2. Bildungswege
Die Familie als Bildungsort
Nietzsche und andere Schulmänner
Rom, die Kirche und die Theologie
Abschlüsse und Aufbrüche
3. Die Kirche als Vorzeichen vor der Klammer
Individuelle Spiritualität oder Gemeinschaft
Die soziale Gestalt des Glaubens
Weltkirche und Wortkirche
Das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten
4. Billige oder teure Gnade
Immer wieder Luther
Unendliche Leiter und guter Baum
Nachfolge und Widerstand
Beten und das Gerechte tun
5. Die Bibel im Leben und in der Theologie
Von der Bergpredigt zu den Losungen
Die Bibel vergegenwärtigen
Historischer Jesus oder gegenwärtiger Christus
Zurück zu den Anfängen des Verstehens
6. Christlicher Pazifismus
Kirche und Welt, Frieden und Widerstand
Friedfertige und Pazifisten
Freund oder Feind
Nur Gebote, die heute wahr sind
Gewaltfrei Frieden machen
Zwischen Militarismus und doktrinärem Pazifismus
Willkürliches und lebensnotwendiges Töten
Bonhoeffers Aktualität
7. Widerstand mit theologischem Profil
Bonhoeffers Rolle im Widerstand
In der Einsamkeit des Gewissens
Theologie des Widerstands
Schuld und Widerstand
Wunderbar geborgen
8. Mut zur Schuld
Schöpfung und Schuld
Bonhoeffers kirchliches Schuldbekenntnis
Geistesgegenwärtiges Bekennen
Kann die heilige Kirche sündigen?
Nothilfe und Schuld
9. Verantwortungsethik
Arbeit an der Ethik
Wegbereitung
Beruf und Verantwortung
Natürliche Rechte und Menschenrechte
Zivilcourage
10. Kein Ende der Religion
In religionsloser Zeit
Kritik der Religion
Die mündig gewordene Welt
Das religiöse Gewand ablegen
Glaube in einer Welt voller Religion
11. Polyphonie des Lebens
Drei schriftstellerische Vorhaben im Gefängnis
Nie ohne Musik
Bach oder Beethoven
Gregorianisch singen
Musiker oder Theologe
Fragmentarisches Leben
12. Epilog: Was bleibt
Weltweite Wirkungen
Kronzeuge von Protest und Widerstand
Bereitschaft zum Neuanfang
Von guten Mächten
Dank
Zeittafel
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Fußnoten
Ein Mensch lässt sich auf verschiedene Weise porträtieren. Fotografiert oder gezeichnet, gemalt oder als Skulptur kann uns die Person vor Augen treten. Auch durch Erzählen kann ein Bild von ihr entstehen. Die Stationen ihres Lebens, die für sie wichtigen Beziehungen und die dramatischsten Ereignisse zwischen Leben und Tod können geschildert werden.
Doch nicht nur Ereignisse, Begegnungen und Beziehungen gehören zu einer Person. Ebenso wichtig sind ihre Überzeugungen und ihr Denken. Für einen Menschen, der aus innerer Gewissheit seinen eigenen Weg gegangen ist und auf jeder Station von seinem Denken Rechenschaft abgelegt hat, ist ein allein lebensgeschichtlich angelegtes Porträt unzureichend. Man muss die tragenden Gewissheiten dieses Menschen verstehen und die Veränderungen seines Denkens nachzeichnen. Für Dietrich Bonhoeffer gilt das allzumal. Er war nicht nur ein Mitglied der Konspiration gegen die Diktatur Adolf Hitlers; er war zugleich ein überzeugungsstarker und literarisch produktiver Theologe. Weder der Entzug der Lehrbefugnis an der Berliner Universität noch ein im ganzen Deutschen Reich gültiges Veröffentlichungsverbot konnten ihn am Schreiben hindern; glücklicherweise ist mehr von seinen Manuskripten erhalten, als man unter den Bedingungen von Diktatur und Krieg erhoffen konnte.
In Bonhoeffers wechselvoller Geschichte hingen Glauben und Leben, Theologie und Widerstand eng miteinander zusammen. Es lohnt sich, sein Denken vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte zu betrachten. Dazu ist ein Porträt erforderlich, das nicht nur an Ereignissen, sondern ebenso an Gedanken orientiert ist. Das Denken ist in der Biographie verankert, aber nicht in ihr gefangen. Bonhoeffer dachte immer wieder über die eigene Zeit und die Bedingungen der eigenen Existenz hinaus. Seine Theologie entwickelte sich auf besonders überraschende Weise gerade in einer Zeit, in der er als Häftling des Regimes äußerlich betrachtet zur Untätigkeit verurteilt war. Seine Bereitschaft, immer wieder neu anzufangen, bewährte sich gerade in dieser Zeit.
Auf seinem Lebensweg wagte Bonhoeffer mutige Schritte und wich vor Enttäuschungen wie vor Gefahren nicht zurück; das kann auch heute ein Ansporn sein. Als Theologe und denkender Zeuge einer abgründigen Zeit scheute er neue Ansätze und kühne Vorstöße nicht. Das ermutigt dazu, sich auch heute wichtigen Fragen zu stellen und nach eigenen Antworten zu suchen. Auf Hitlers persönliches Geheiß wurde Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 im Alter von neununddreißig Jahren ums Leben gebracht. Wen wundert, dass sein Leben und sein Denken fragmentarisch geblieben sind? Doch gerade ein Fragment fordert dazu auf zu erkunden, wie das Ganze wohl gemeint war. Bonhoeffer hoffte darauf, dass sich das in seinem Fall erkennen ließe.
Mit knappem Vorsprung vor seiner Zwillingsschwester Sabine kam Dietrich Bonhoeffer am 4. Februar 1906 in Breslau zur Welt. Er war das sechste von acht Kindern. Die Mutter war als Paula von Hase in einer Familie aufgewachsen, zu deren Ahnenreihe mehrere Theologen gehörten. Der Vater Karl stammte aus einem württembergischen, über lange Zeit in Schwäbisch Hall ansässigen Geschlecht, das eine Reihe von Bürgermeistern dieser stolzen Reichsstadt hervorgebracht hatte. Zum Zeitpunkt der Geburt seiner Zwillinge lehrte er als Professor für Psychiatrie und Neurologie in Breslau. 1912 erhielt er einen Ruf an die renommierte Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, die heute Humboldt-Universität zu Berlin heißt. Nach einigen Jahren im Bezirk Tiergarten, nahe dem Stadtbahnhof Bellevue, nahm die Familie 1916 in Grunewald Wohnung, einem Villenviertel, in dem Angehörige der Bildungs- und Besitzelite weithin unter sich waren. Besorgt tauschte die Elterngeneration sich über die politischen Ereignisse aus; und die Jugendlichen bewegten sich in einem Freundeskreis, in dem man sich früh einer besonderen Berufung bewusst war. Sie vergewisserten sich ihres Wegs im Kreis von Gleichgesinnten. Das Bewusstsein, in einer Elite aufzuwachsen und zu entsprechender Verantwortung verpflichtet zu sein, prägte von früh auf das Selbstverständnis dieses Kreises.
Paula Bonhoeffer mit ihren acht Kindern, 1911/12 (Dietrich Dritter von links)
Der Umzug in die Wangenheimstraße fand mitten im Ersten Weltkrieg statt. Dessen tiefe Schatten fielen auch auf die Familie Bonhoeffer. Die beiden ältesten Brüder Karl-Friedrich und Walter wurden noch im letzten Kriegsjahr eingezogen; der ältere Bruder Klaus wurde nach kurzer Ausbildung gegen Ende des Krieges noch für wenige Wochen eingesetzt. Bereits am 23. April 1918 wurde Walter verwundet und starb fünf Tage später, erst achtzehn Jahre alt. Die Erschütterung der ganzen Familie war groß; die Lebenskraft der Mutter Paula Bonhoeffer schien gebrochen. Noch zu Weihnachten sah sie sich außerstande, ihrer Mutter Weihnachtsgrüße zu schicken; der Brauch, jeweils am Ende des Jahres wichtige Entwicklungen in der Familie in einem Silvestertagebuch festzuhalten, wurde für zehn Jahre unterbrochen. Dietrich erhielt die Konfirmationsbibel seines Bruders Walter zu seiner eigenen Konfirmation; er benutzte sie bis zu seinem Tod.
Wie stark die Familie ihn prägte und ihm den Mut zur selbständigen Entscheidung und zur gelebten Verantwortung vermittelte, blieb Dietrich stets bewusst. Doch in der Schar der Geschwister und Freunde ging er zugleich seinen eigenen Weg. Zur Konfirmation in der Grunewaldkirche am 15. März 1921 wählte Pfarrer Hermann Priebe als Konfirmationsspruch das Wort aus dem Römerbrief des Paulus aus: «Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben.» (Römer 1,16; 9: 31)[1] Ungewöhnlicherweise fügte der Konfirmator den Text ausschließlich im griechischen Original in die Urkunde ein. Damit würdigte er nicht nur die guten Griechischkenntnisse des Konfirmanden; sondern er zeigte auch Respekt für dessen Glaubensernst. Denn schon seit geraumer Zeit hatte der Fünfzehnjährige das Studium der Theologie ins Auge gefasst. Dieses Vorhaben in der Familie zu verteidigen war nicht einfach. Die älteren Geschwister hielten ihm vor, bei der Kirche handle es sich doch um ein schwächliches und langweiliges Gebilde, worauf er antwortete: «Dann werde ich eben diese Kirche reformieren!» (Bethge 2005: 61)
Dietrich Bonhoeffer als Elfjähriger, 1917
Das Studium der Theologie, das er im Alter von siebzehn Jahren begann, führte er in einer Weise durch, die den Maßstäben seiner Herkunft entsprach. Noch während des Studiums machte er sich mit seinem Bruder Klaus zu einer Auslandsreise auf, die bis nach Marokko führte, deren Höhepunkt jedoch in einem langen Rom-Aufenthalt bestand; die Begegnung mit der Lebenswirklichkeit des Katholizismus brachte den jungen Theologen zum Nachdenken über die Kirche. Schon mit einundzwanzig Jahren schloss er seine Dissertation zum Verständnis der Kirche ab. Die grundsätzliche und mutige Arbeit mit dem Titel Sanctorum Communio («Gemeinschaft der Heiligen») ist bis zum heutigen Tag lesenswert. Von welcher Arbeit eines Einundzwanzigjährigen kann man das schon sagen? Nur einen Monat nach dem Abschluss des Promotionsverfahrens legte er am 17. Januar 1928 das Erste Theologische Examen ab. Zum Vikariat ging er nach Barcelona und lernte dort die Lebenswirklichkeit von Auslandsdeutschen in Spanien kennen.
Nach der Rückkehr wollte Bonhoeffer seine akademischen Qualifikationen vervollständigen. Sein Doktorvater Reinhold Seeberg war in der Zwischenzeit emeritiert worden. Bei dessen Nachfolger Wilhelm Lütgert erhielt er eine Assistentenstelle, die ihm konzentriertes Arbeiten an seiner Habilitationsschrift Akt und Sein ermöglichte; sie war dem Verhältnis von Theologie und Philosophie gewidmet. Bereits mit vierundzwanzig Jahren wurde er habilitiert und absolvierte zugleich das Zweite Theologische Examen. Doch für die Ordination in das geistliche Amt war es zu früh; dafür mussten die Kandidaten – Frauen waren damals noch nicht zum evangelischen Pfarramt zugelassen – das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet haben.
Den Spielraum, den er durch den frühen Abschluss seines Studiums gewonnen hatte, nutzte Bonhoeffer 1930 zu einem Studienjahr am renommierten Union Theological Seminary in New York. Dort verzichtete er auf die Möglichkeit, einen weiteren akademischen Grad zu erwerben, und ließ die Vielfalt des geistigen Lebens in den USA auf sich wirken. Zugleich verwandte er viel Zeit auf die Begegnung mit der amerikanischen Lebenswirklichkeit. Manche Ernüchterung erlebte er dabei, wofür beispielhaft seine Empörung darüber stehen mag, dass «ein zwölfjähriges Mädchen in einer Methodist Sunday School als Auszeichnung für regelmäßigen Besuch eine Schmink- und Puderbüchse geschenkt bekam und der Pastor auf diese Anpassung an die Gegenwart stolz war» (10: 273).
Aber auch Begeisterung lässt sich erkennen. Sie entzündete sich an der Begegnung mit der Abyssinian Baptist Church in Harlem. Bonhoeffer übernahm eine eigene Sonntagsschulklasse und hielt während der Woche Bibelstunden. Er erlebte die Schwermut über die Last der Rassendiskriminierung genauso wie den Jubel, der über erlittenes Unrecht hinausführte. Doch bis die amerikanische Bürgerrechtsbewegung in Martin Luther King einen charismatischen Führer fand und sich ihr Traum von der unteilbaren Menschenwürde auch in der Gewährleistung gleicher Rechte niederschlug, sollte es noch Jahrzehnte dauern.
Auch später hegte Bonhoeffer noch Pläne für Auslandsaufenthalte. Besonders wichtig war ihm das Vorhaben einer Reise nach Indien, um Mahatma Gandhi zu begegnen und von ihm zu lernen. Doch dieser Traum erfüllte sich nicht. Dass Bonhoeffer sich von früh an und in einer für die damalige Zeit ungewöhnlich intensiven Weise der Erfahrung des Fremden und Unbekannten aussetzte, lässt sich als Ausdruck eines Hungers nach Wirklichkeit deuten. Er wollte die Fesseln sprengen, mit denen er an die vermeintlich heile Welt des Villenviertels im Grunewald gebunden war.
Doch solche Erfahrungen suchte Dietrich Bonhoeffer nicht nur in der Ferne, sondern auch in der Nähe. Das zeigte sich bald nach der Rückkehr aus New York. Nun nahm er nicht nur seine Tätigkeit als Privatdozent für Systematische Theologie auf, sondern ließ sich zugleich in den kirchlichen Dienst berufen. Am 15. November 1931 wurde er im Vormittagsgottesdienst der St.-Matthäus-Kirche in Berlin-Tiergarten durch Generalsuperintendent Ernst Vits, der weder vorher noch nachher in seinem Leben eine Rolle spielte, ordiniert. Zwar kennt die evangelische Kirche keine Priesterweihe; doch die Ordination ist auf ihre Weise eine bedeutende Zäsur in der Lebensgeschichte von Theologinnen und Theologen. Mit ihr verbindet sich der lebenslange Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums und zur Leitung der Sakramentsfeiern von Taufe und Abendmahl. Doch in Bonhoeffers Fall handelte es sich eher um einen bürokratischen Vorgang, der zur selbständigen Führung eines Pfarramts berechtigte. Vor dem Gottesdienst bezahlte der Ordinationsanwärter beim Küster die fälligen Gebühren von fünf Reichsmark. Dass er von Familienmitgliedern oder Freunden begleitet war, wird nicht berichtet. Ein festliches Mittagessen im Familienkreis stand auch nicht auf dem Programm. Kaum war der Gottesdienst beendet, radelte Bonhoeffer nach Berlin-Dahlem, wo sein Freund Franz Hildebrandt am Nachmittag in einer Predigt des einhundertsten Todestags von Georg Wilhelm Friedrich Hegel gedachte. So selbstverständlich war für diese jungen Theologen die Präsenz der Philosophie in der evangelischen Theologie. Das Ereignis der Ordination trat, so scheint es, dahinter zurück. Dass heute ein von Johannes Grützke gestaltetes Reliefbildnis an der Außenwand der St.-Matthäus-Kirche an Bonhoeffers Ordination erinnert, lässt sich nach alldem geradezu als eine gelungene Überraschung bezeichnen.
Bereits zum Wintersemester 1931/32 übertrug das Konsistorium (so heißt die leitende kirchliche Verwaltungsbehörde) der Mark Brandenburg Bonhoeffer eine Studentenpfarrstelle an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Kurz darauf erhielt er zusätzlich einen Vertretungsauftrag an der Zionskirche in Berlin-Mitte. Insbesondere sollte er eine Konfirmandengruppe übernehmen. Die Gruppe von siebenundvierzig ungebärdigen Konfirmandenjungen hatte, wie man ihr unverhohlen vorwarf, ihren vorherigen Pfarrer zu Tode geärgert. Hätte Bonhoeffer sich dieser Aufgabe verweigert, wäre die Konfirmation möglicherweise geplatzt. Als er den Konfirmanden das erste Mal begegnete, versuchten sie, ihn mit «Bon, Bon, Bon» niederzubrüllen. Er ertrug es schweigend, bis das laute Rufen dadurch langweilig wurde. Dann erzählte er den Jugendlichen von Harlem. Sie wurden still und begannen zu fragen. Er mietete sich ein schlichtes Zimmer in der Nähe der Kirche, über einer Bäckerei in der Oderberger Straße 61. Seine Konfirmanden kamen ihn besuchen. Zu Weihnachten beschenkte er sie und erklärte seinen Freunden, warum sie dieses Mal leer ausgingen. Aus den Konfirmandenrebellen wurde eine verschworene Gemeinschaft. Er zog mit ihnen auch ins Berliner Umland. Mit einigen konnte er sogar für ein paar Tage in das elterliche Ferienhaus im Harz fahren. So verschaffte er ihnen Gemeinschaftserlebnisse, die sie zusammenschweißten.
Dietrich Bonhoeffer mit seinen Konfirmanden Ostern 1932 in Friedrichsbrunn
Die Konfirmation fand statt, Bonhoeffers Konfirmationspredigt vom 13. März 1932 ist erhalten. Ausdrücklich nimmt diese Predigt auf die soziale Situation der Jugendlichen Bezug. Sie belegt die große Bedeutung, die der Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit in der Vorbereitung auf die Konfirmation zukam. «Keiner» – so sagte der Konfirmator gegen Ende seiner Predigt – «soll euch je den Glauben nehmen, dass Gott […] uns das gelobte Land sehen lassen will, in dem Gerechtigkeit und Friede und Liebe herrscht, weil Christus herrscht, hier nur von fern, einst aber in Ewigkeit.» (11: 414)
Zehn Monate später begann in Deutschland die Herrschaft Adolf Hitlers. So sorgten die Umstände der Zeit früh dafür, dass Bonhoeffer weit über die beruflichen Perspektiven hinaus für seine Glaubenshaltung und deren Konsequenzen einstehen musste. Die akademische Laufbahn verlor an Bedeutung; Bonhoeffer suchte nach einer beruflichen Lebensform, die seinem Glauben entsprach.
Die klare Grundorientierung im Familien- und Freundeskreis, die neuen Erfahrungen in den USA sowie eine intensive Beschäftigung mit der Bibel im Jahr 1932 und dabei insbesondere mit der Bergpredigt Jesu immunisierten ihn von vornherein gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie. Schon aus Anlass der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 schilderte er ökumenischen Freunden ebenso klar wie drastisch die verheerenden Wirkungen eines Siegs der NSDAP – und zwar nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Welt (11: 349). Am 1. Februar 1933 hielt er einen zwanzigminütigen Radiovortrag über Wandlungen des Führerbegriffs in der jungen Generation, den er in ausführlicheren Fassungen bald darauf sowohl in der Technischen Hochschule als auch auf Einladung des liberalen Reichstagsabgeordneten Theodor Heuss (des späteren Bundespräsidenten) in der Hochschule für Politik wiederholte. Schon in der kurzen Fassung, die er zwei Tage nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Radio vortrug, trieb er das Thema über die Frage nach Führerbegriff und Führerkult in der Jugendkultur der damaligen Zeit weit hinaus. Mit klaren Worten sprach er vom politischen Führer, der seine Legitimation aus dem Volksgeist empfängt und damit als Messias, als «Erfüllung der letzten Hoffnung», angesehen wird (12: 255). So wird er zum «Idol» und damit zum «Verführer». Bonhoeffer fügte hinzu, dann handle er «unsachlich» am Geführten; in einer handschriftlichen Fassung hieß es sogar noch schärfer, er handle «verbrecherisch» (257). Was von diesen Aussagen im Radio gesendet wurde, lässt sich nicht mehr ermitteln. Denn wegen einer geringfügigen Zeitüberschreitung wurde die Wiedergabe des Vortrags vor dessen Ende abgebrochen; ein Tondokument ist nicht erhalten.
In den folgenden Wochen häuften sich die konkreten Anlässe, um aus dieser klaren Diagnose Konsequenzen zu ziehen. Nicht nur die alten Eliten, sondern auch breite Bevölkerungsgruppen, nicht nur die Professoren, sondern auch große Teile der Studentenschaft bejahten und bejubelten das neue Regime. Der Fackelzug durch das Brandenburger Tor in der Nacht des 30. Januar 1933, der geschickt genutzte Reichstagsbrand in der Nacht zum 28. Februar, die Aufmärsche in Potsdam im Zusammenhang mit dem Staatsakt zur Eröffnung des neu gewählten Reichstags am 21. März, der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April, die Bücherverbrennung in vielen Universitätsstädten am 8. Mai zeigten in aller Öffentlichkeit, welcher Geist sich ausbreiten und durchsetzen sollte.
Die Gegenwehr gegen die überschwängliche Begeisterung über die neue nationale Regierung war unbequem und notwendig zugleich; nur eine Minderheit fand sich dazu bereit. Die Haltung der Familie Bonhoeffer wurde exemplarisch von der Großmutter Julie Bonhoeffer demonstriert, die sich mutig über den Boykott jüdischer Geschäfte hinwegsetzte. Schon eine Woche später, am 7. April, wurden durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums «Nichtarier» aus dem beamteten Staatsdienst ausgeschlossen; vergleichbare Regelungen für den kirchlichen Bereich waren schon zuvor vom kirchenpolitischen Vortrupp der NSDAP, den Deutschen Christen, gefordert worden. Wenige Tage später stellte Bonhoeffer in einem Kreis von Pfarrern dar, wie die Kirche sich seiner Auffassung nach zur sogenannten «Judenfrage» verhalten sollte. Die Notwendigkeit tätiger Hilfe für die Entrechteten, ja sogar des aktiven Widerstands zeichnete sich für ihn ab. Es galt, nicht nur den Opfern zu helfen, die unter die Räder staatlichen Rechtsbruchs gerieten, sondern «dem Rad selbst in die Speichen» zu greifen (12: 353). Scharf stellte der junge Dozent und Pfarrer sich den Bemühungen der Deutschen Christen um eine Gleichschaltung der evangelischen Kirche mit dem nationalsozialistischen Staat entgegen, die unter anderem darauf hinauslief, getaufte Juden aus dem Kirchendienst zu entlassen. Mit Vertretern der Deutschen Christen lieferte er sich am 22. Juni 1933 vor zweitausend Studenten in der Aula der Universität einen scharfen Disput. Im September rief er zusammen mit Martin Niemöller und anderen den «Pfarrernotbund» ins Leben, der die Unvereinbarkeit des kirchlichen «Arierparagraphen» mit dem christlichen Glaubensbekenntnis proklamierte und zu einem Vorläufer der 1934 gegründeten Bekennenden Kirche wurde.
Von Anfang an sah Bonhoeffer deutlich, dass die nationalsozialistische Herrschaft auf einen Krieg hinauslief. Damit war schneller als erwartet der Ernstfall für die ökumenische Friedensverantwortung eingetreten, an der er sich seit der Rückkehr aus Amerika beteiligte. Als Jugendsekretär des Weltbunds für Freundschaftsarbeit der Kirchen machte er Erfahrungen mit der entstehenden ökumenischen Bewegung, die ihn für sein Leben prägen sollten. Wie groß die Erwartungen waren, die er in diese Bewegung setzte, zeigte sich, als er 1934 eine Konferenz in Fanø dazu nutzte, ein «ökumenisches Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt» zu proklamieren, «das den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt» (13: 301). Dieses Verkünden eines Friedenskonzils, das später von manchen idealistisch verklärt wurde, zeigte trotz des pathetischen Tonfalls, wie nüchtern Bonhoeffer von Anfang an die Kriegsgefahr einschätzte, die von Hitler-Deutschland ausging. Umso stärker schwankte er zwischen der Pflicht zur Resistenz im eigenen Land und der Chance, außerhalb Deutschlands zu wirken.
Im Herbst 1933 übernahm Bonhoeffer eine deutsche Auslandspfarrstelle in London; dafür unterbrach er seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität. Doch auch in England waren die kirchlichen Konflikte der Heimat gegenwärtig. Trotz erster Enttäuschungen über die mangelnde Eindeutigkeit und Geschlossenheit der kirchlichen Opposition erkannte er die Notwendigkeit, seinen Beitrag zum Aufbau der Bekennenden Kirche nicht von außen, sondern von innen zu leisten. Bereits 1935 kehrte er nach Deutschland zurück, um ein Predigerseminar für die Bekennende Kirche zuerst in dem Ostseebad Zingst und dann in Finkenwalde bei Stettin aufzubauen und zu leiten. In diesen Seminaren sollten Theologen, die das Erste Theologische Examen abgelegt und eine Vikariatsstelle angetreten hatten, im Sinne der Bekennenden Kirche auf ihr Zweites Examen und den Pfarrdienst vorbereitet werden.
Von Finkenwalde aus wollte Bonhoeffer auch seinen Pflichten als Privatdozent wieder nachkommen. Doch sein Vertrauen in Erich Seeberg, den Dekan der Theologischen Fakultät und Sohn seines Doktorvaters Reinhold Seeberg, wurde bitter enttäuscht. Denn in diesem Dekan trat ihm der «wohl einflussreichste Nationalsozialist und intriganteste Kollaborateur des Hitler-Staates unter den protestantischen Universitätstheologen» entgegen (Kaufmann 2005: 188 f.). Ausgerechnet dessen Sohn Bengt Seeberg forderte als Sprecher der theologischen Studentenschaft das Wissenschaftsministerium dazu auf, Bonhoeffer aus der Universität zu entfernen, da seine Verantwortung für eine Ausbildungseinrichtung der Bekennenden Kirche mit einer Lehrtätigkeit an der Universität unvereinbar sei. Unzweifelhaft war dieses Vorgehen zwischen Vater und Sohn abgesprochen. Und es war erfolgreich. Am 5. August 1936 entzog Wissenschaftsminister Bernhard Rust Bonhoeffer die Lehrbefugnis (Wendebourg 2006: 310). Als akademischer Lehrer hatte Bonhoeffer bisweilen zweihundert Hörerinnen und Hörer in seiner Vorlesung versammelt; viele von ihnen hatten gehofft, dass ihm bald eine Professur – in Berlin oder anderswo – übertragen würde. Stattdessen stand er im Alter von dreißig Jahren ohne venia legendi da.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als diese Demütigung hinzunehmen und sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die er unter den Bedingungen des Kirchenkampfs als vorrangig ansah. Das war die Vorbereitung künftiger Pfarrer auf ihren kirchlichen Dienst. Dabei ging er neue Wege – in der Gestaltung persönlicher Frömmigkeit, in den Regeln des gemeinsamen Lebens, in einer biblisch orientierten Theologie, im politischen Urteil. Ein aus dieser Zeit überlieferter Satz zeigt die Richtung: «Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.» (Bethge 2005: 506) In Finkenwalde entstand die persönliche Freundschaft mit dem drei Jahre jüngeren Eberhard Bethge, die nicht nur ein wichtiger Halt für die folgenden Jahre war, sondern sich auch für die Wirkung Bonhoeffers über seinen Tod hinaus als entscheidend erweisen sollte.
Im Rückblick auf diese Jahre schilderte Eberhard Bethge seinen Freund mit folgenden Worten: «Dietrich Bonhoeffer hatte eine kräftige Gestalt. Der hohe Wuchs stammte von der mütterlichen Seite, von den Hases und den großen, schwergliedrigen Kalckreuths; die federnde Kraft kam von den Bonhoeffer’schen Vorfahren. […] Sein Kopf war eher rund als lang, wirkte aber auf den breiten Schultern nicht unproportioniert. Die kurze Nase ließ Stirn und Mundpartie stärker vorherrschen. […] Den sensitiven Mund mit den vollen, doch scharf geschwungenen Lippen hatte er vom Vater. Dietrich lächelte sehr freundlich und zugewendet, obgleich man ihm zuweilen auch durchaus die Lust am Spott ansah. Er sprach dialektlos, in der Unterhaltung auffallend schnell; beim Predigen wurde seine Sprache schwer, fast stockend. Obgleich seine Hände feingliedrig erschienen, waren sie besonders kräftig. Im Gespräch spielte er meist mit dem Bonhoeffer’schen Wappenring an der linken Hand; wenn er zu musizieren begann, zog er ihn ab und legte ihn in die linke Ecke des Flügels. […] Im Zwiegespräch hörte er sehr aufmerksam zu und fragte auf eine Weise, die dem Partner Selbstvertrauen gab und diesen mehr sehen und sagen ließ, als er sich eben noch zugetraut hatte. […] Wie er niemals jemandem zu nahe trat, so ließ er auch keinen anderen sich selbst zu nahe treten. […] Schon seine Haltung drückte das deutlich aus. […] Bonhoeffer […] hat als ein besonders intensives Kind gegolten. Intensiv blieb die Art, anzufassen, was immer ihm begegnete: Lektüre und Schreiben, Entscheidungen zu fällen und ihren Gründen nachzugehen, Menschen beizuspringen oder sie zu warnen; kurz: sich um das zu kümmern, was sein gedrängter Lebenslauf ihm vorlegte und abforderte.» (Bethge 2005: 19 f.)
Neben der Freundschaft mit Eberhard Bethge prägte die mit dem ebenfalls drei Jahre jüngeren Theologen Franz Hildebrandt Bonhoeffers Leben mehr als alle anderen. Beide Freundschaften umfassten jeweils ein Lebensjahrzehnt, die Jahre 1927 bis 1937 in Hildebrandts Fall, 1935 bis 1945 im Fall Eberhard Bethges. Im einen Fall endete die Freundschaft durch die mit Hildebrandts Emigration nach England eingetretene räumliche Trennung, im anderen Fall endete sie mit Bonhoeffers Tod. Auch wenn Bonhoeffers Fähigkeit zur Freundschaft sich nicht auf diese beiden Menschen beschränkte, ist die Intensität dieser Freundesbeziehungen erstaunlich. Die enge Verbindung zwischen Bonhoeffer und Bethge rief schon in Finkenwalde Deutungen hervor, die auch in der neueren Literatur ein Echo finden (Marsh 2015: 299 f.). Eberhard Bethge hat sich zu der Mutmaßung, es habe sich um eine homosexuelle Beziehung gehandelt, unbefangen und klar geäußert: «Nein, wir waren ziemlich normal. Zwar weiß man heute mehr davon, dass es keine gleichgeschlechtlichen Freundschaften gibt, die nicht ihre homoerotischen Anteile verschiedenster Grade besäßen. Aber bei uns war es einfach so, dass sich unsere Freundschaft in ihren Anfängen sicher dadurch vertiefte, dass Dietrich die mehrjährige Beziehung zu einer Frau löste und mich zum Mitwisser dieses schmerzhaften Prozesses machte, während ich zur gleichen Zeit ans bittere Ende eines Verlöbnisses geraten war, was ich ihm offenbarte. Zum anderen war es so, dass unsere Freundschaft gegen ihr Ende für beide die Bindung an je eine höchst vitale Partnerin brachte, deren Werden und Schwierigkeiten durch die Kriegsverhältnisse wir miteinander teilten, wie Männer das eben tun, ehe irgendjemand sonst etwas davon wusste.» (Gremmels/Huber 1994: 15 f.)
Bethge bezog sich mit diesen Sätzen auf seine Verbindung mit Renate Schleicher, einer Nichte Dietrich Bonhoeffers, die er im Frühjahr 1943 heiratete. Bei der standesamtlichen Trauung im März konnte Bonhoeffer noch Trauzeuge sein; die Traupredigt, die er schon im Gefängnis für das junge Paar schreiben musste, traf nicht rechtzeitig ein. Das junge Paar war im Rückblick eher erleichtert darüber, dass sie nicht verlesen wurde, denn der patriarchalische Ton, in dem die dienende Rolle der Frau und die übergeordnete Verantwortung des Mannes hervorgehoben wurden, war den beiden Adressaten peinlich. Bonhoeffer seinerseits kam mit Maria von Wedemeyer, die ihn schon als Kind in Gottesdiensten erlebt hatte, erstmalig im Juni 1942 ins Gespräch. Die Beziehung, die sich bald zwischen ihnen anbahnte, suchte Marias Mutter zu unterbinden oder wenigstens hinauszuschieben, indem sie beiden ein Jahr der vollständigen Trennung abverlangte. Doch die Liebe war stärker. Am 13. Januar 1943, der für sie als Tag der Verlobung galt, gab Maria Dietrich ihr Jawort (Bonhoeffer/Wedemeyer 1992: 278). Die beiden rangen sich dazu durch, die aufgezwungene Wartezeit nicht zu akzeptieren, aber Dietrichs Verhaftung am 5. April 1943 trennte sie dann doch. Ihre drängende Hoffnung auf die Ehe sollte sich nicht erfüllen.
Von dem besonderen Charakter der Freundschaft zwischen Bonhoeffer und Bethge kehren wir noch einmal zu deren gemeinsamer Arbeit in der Verantwortung für das Predigerseminar zurück. Wie die vier anderen durch die Bekennende Kirche der Altpreußischen Union errichteten Predigerseminare – in Wuppertal-Elberfeld, im niederschlesischen Naumburg am Queis, in Bielefeld-Sieger sowie im ostpreußischen Blöstau – stützte sich auch das Seminar in Finkenwalde auf die Beschlüsse der Bekenntnissynoden in Barmen und Berlin-Dahlem aus dem Jahr 1934. In keinem anderen Bereich konnte die Bekennende Kirche das Notrecht, auf das sie sich im Widerstand gegen die staatlichen Übergriffe wie gegen die deutschchristlichen Häresien berief, so erfolgreich durchsetzen wie im Bereich der Pfarrerausbildung. Die Predigerseminare traten neben die 1905 gegründete Theologische Schule in Bethel und die 1935 eingerichteten Kirchlichen Hochschulen in Wuppertal und Berlin, die eine Alternative zum Theologiestudium an staatlichen Universitäten boten. Nirgendwo sonst hatte das Handeln der Bekennenden Kirche stärkere Auswirkungen auf die kirchliche Praxis als in der Ausbildung des theologischen Nachwuchses. Doch in den Augen des Staates galten die Predigerseminare, die das zustande brachten, als illegal. Der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, Hanns Kerrl, konnte jederzeit eingreifen und diesen Aktivitäten ein Ende machen. 1935 wurde ihm ausdrücklich die Kompetenz zuerkannt, «geordnete Zustände in der Deutschen Evangelischen Kirche und in den evangelischen Landeskirchen» auf dem Verordnungsweg herzustellen (14: 5). Damit waren die Predigerseminare von Anfang an durch gewaltsame staatliche Schließung bedroht. Im Rückblick erstaunt es geradezu, dass die Arbeit in Finkenwalde über zwei Jahre lang möglich blieb. Sie musste schließlich nicht etwa durch eine Verordnung des Kirchenministers eingestellt werden, das geschah vielmehr durch eine Anordnung des Reichsführers SS. Am 29. August 1937 wurde jede weitere Tätigkeit in Finkenwalde untersagt; am 28. September wurde das Seminar versiegelt. Am 11. Januar 1938 wurde Bonhoeffer zusätzlich mit einem Aufenthaltsverbot in Berlin belegt. Nach Intervention seines Vaters waren ihm allerdings weiterhin private Besuche in der Stadt möglich (15: 33 f.). Finkenwalde war geschlossen; und in Berlin war jede öffentlich erkennbare Tätigkeit untersagt. Die Pfarrerausbildung ging gleichwohl in verdeckter Form in Sammelvikariaten weiter. Dafür wurde zunächst ein leerstehendes Pfarrhaus im pommerschen Groß Schlönwitz, dann das abgelegene Vorwerk Sigurdshof in der Nähe von Groß Schlönwitz genutzt. An beiden Orten arbeitete Eberhard Bethge als Studieninspektor, während Bonhoeffer für einen Teil der Woche als Studiendirektor hinzukam. Doch am 18. März 1940 setzte die Gestapo dem gemeinsamen Studium in Sigurdshof ein Ende. Dietrich Bonhoeffers Lehrtätigkeit brach damit ab. Bald darauf wurde ihm auch die Möglichkeit zu publizistischer Wirksamkeit genommen. Im September 1940 verhängte das Reichssicherheitshauptamt gegen ihn ein reichsweites Redeverbot; dem stellte die Reichsschrifttumskammer am 19. März 1941 ein Veröffentlichungsverbot zur Seite.
Welch ein Kontrast: Stürmisch nahm Bonhoeffer in jungen Jahren alle kirchlichen und akademischen Hürden. Doch danach wurde ihm Schritt für Schritt die Basis für seine berufliche Tätigkeit entzogen. Erst verlor er das Recht zur akademischen Lehre, dann die Möglichkeit zur Ausbildung künftiger Pfarrer und schließlich das öffentliche Forum für seine theologische Arbeit. Insbesondere seine Eltern waren von dieser Entwicklung sehr beunruhigt. Doch Bonhoeffer hielt dem das Schicksal von Hunderten entgegen, die Vergleichbares erlebten. Klarsichtig konstatierte er im November 1937: «Die Sache der Kirche können wir nicht durchhalten ohne Opfer. […] Es reißt sich bestimmt keiner von uns ums Gefängnis. Aber wenn es kommt, dann ist es doch – hoffentlich jedenfalls – eine Freude, weil die Sache sich lohnt.» (14: 303)
Die persönliche Gefährdung war Bonhoeffer in diesen Jahren ständig bewusst. So war es verständlich, dass er am 2. Juni 1939 einer Einladung nach New York folgte, wo er, wie sich bei der Ankunft herausstellte, die Seelsorge für deutsche Emigranten übernehmen sollte. Eine solche Aufgabe hätte die Rückkehr nach Deutschland unter den gegebenen politischen Umständen unmöglich gemacht. Doch dazu war Bonhoeffer nicht bereit. Schon am 20. Juni schlug er das Angebot, das ihm wie vielen anderen Akademikern ein Leben im Exil ermöglicht hätte, aus. Denn in der Fremde wollte er nicht bleiben. Auf seine Arbeit für die Bekennende Kirche wollte er nicht verzichten. Darüber hinaus wollte er zur Erneuerung Deutschlands nach der von ihm klar vorausgesehenen Katastrophe beitragen und seinen Freunden im Widerstand gegen das Naziregime beistehen. So kehrte er zurück, wohl wissend, dass ein Krieg bevorstand, an dem mitzuwirken er aus Gewissensgründen nicht bereit war. Er hegte keine Illusionen darüber, dass er mit der Entscheidung zur Rückkehr sein Leben aufs Spiel setzte. Doch der Einberufung zum Militär, die er mit der Verweigerung des Kriegsdienstes beantwortet hätte, kam sein Schwager Hans von Dohnanyi zuvor. Er vermittelte ihm eine Stellung im Amt Ausland/Abwehr, dem militärischen Geheimdienst im Oberkommando der Wehrmacht. Es stand unter der Leitung von Admiral Wilhelm Canaris. Oberst Hans Oster, seit 1942 Generalmajor, leitete die Zentralabteilung. Dohnanyi, der als Persönlicher Referent mehrerer Reichsjustizminister das NS-Regime seit dem «Röhm-Putsch» vollständig ablehnte und dessen Verbrechen in persönlichen Aufzeichnungen für eventuelle gerichtliche Verfahren nach einem Umsturz festhielt, war seit Kriegsbeginn Osters engster Mitarbeiter. In diesen Kreis, dem eine Schlüsselbedeutung für den militärischen Teil des Widerstands gegen Hitler zukam, wurde Bonhoeffer einbezogen. Er sollte insbesondere seine ökumenischen Kontakte in andere europäische Länder im Dienst der Abwehr, zugleich aber auch des Widerstands nutzen; in diesem Auftrag reiste er nach Italien und in die Schweiz, nach Norwegen und Schweden. Formal war er der Münchener Außenstelle zugeordnet; mit seiner offiziellen Funktion verband sich die Möglichkeit, seine theologische Arbeit fortzusetzen. Diese Möglichkeit nahm er an unterschiedlichen Orten wahr, von Berlin aus im pommerschen Klein Krössin, wo Ruth von Kleist-Retzow wohnte, die Großmutter seiner späteren Braut Maria von Wedemeyer, von München aus in der bayerischen Benediktinerabtei Ettal. Vom Kriegsdienst war Bonhoeffer auf diese Weise befreit; der lebensgefährliche Konflikt auf Leben und Tod war dadurch allerdings nur vertagt.
Bonhoeffers Beteiligung an der Konspiration wird uns an anderem Ort noch genauer beschäftigen. Erstaunlich ist die Art, in der er sich zugleich auf seine theologische Arbeit konzentrieren konnte. Die Blätter seiner Entwürfe zur Ethik, an denen er gerade geschrieben hatte, fanden sich auf dem Schreibtisch im elterlichen Haus, als die Gestapo ihn am 5. April 1943 abführte. Überraschend kam die Festnahme nicht, die gleichzeitig mit derjenigen Hans von Dohnanyis erfolgte. Auch dessen Ehefrau Christine, eine von Dietrichs Schwestern, wurde bis Ende April inhaftiert. Bonhoeffer wurde unterstellt, er habe sich aus wahrheitswidrigen Gründen vom Kriegsdienst freistellen lassen; Dohnanyi habe ihn dabei unterstützt. Beiden wurde somit «Wehrkraftzersetzung» vorgeworfen (Tödt 1997: 374 f.). Ein weiterer Vorwurf bezog sich auf angebliche Devisenvergehen im Zusammenhang mit dem «Unternehmen Sieben», durch das dreizehn Jüdinnen und Juden in der Schweiz in Sicherheit gebracht werden konnten. Andere Vorwürfe traten im Lauf der Vernehmungen hinzu. Im Hintergrund spielte der Machtkampf zwischen Heinrich Himmlers Reichssicherheitshauptamt und der Militärischen Abwehr des Admirals Canaris eine wichtige Rolle. Ein förmliches Verfahren wurde während der gesamten Haftzeit nicht eröffnet. Immer wieder zerstob die Hoffnung auf Befreiung.
In der Einsamkeit des Gefängnisses, getrennt von seiner Verlobten Maria von Wedemeyer, abgeschieden von der Möglichkeit aktiven Wirkens, suchte Bonhoeffer, der gerade in der ersten Haftzeit oft der Verzweiflung nahe war, einen Weg, seinen Tagen auch unter solchen Bedingungen einen Sinn und eine Form zu geben. Im Schreiben fand er zu sich selbst: Literarische Versuche, Gedichte, theologische Entwürfe und vor allem Briefe an den Freund, die Verlobte, die Eltern gehören zum Vermächtnis dieser Zeit. Ein Zentrum aller Überlegungen schält sich deutlich heraus: Die Weltlichkeit der Welt ernst zu nehmen, die Mündigkeit des modernen Menschen anzuerkennen und auf dieser Grundlage glaubwürdig von Christus und der Kirche zu sprechen – das war sein Ziel.
Lange Zeit blieb Bonhoeffers Verbindung zum Widerstand unentdeckt. Bei den Verhören präsentierte er sich als ein penibel um Korrektheit bemühter und im Übrigen weltfremder Geistlicher.
Tatenlos musste Bonhoeffer auf die entscheidenden Schritte der Verschwörer warten. In dieser Zeit sah er sich zur Rechenschaft darüber genötigt, wer er war – wie andere ihn sahen und wie er sich selbst wahrnahm.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
(8: 513 f.)
Topographie des Terrors