Von Angkor bis zur Gegenwart
C.H.Beck
Kambodscha ist durch die grandiosen Tempel aus der Angkor-Zeit bekannt, aber auch als Ort des Völkermords der Roten Khmer. Bernd Stövers kompakte, anschauliche Darstellung beginnt mit den frühen Gottkönigtümern und der Entstehung der Tempelkomplexe in Angkor Wat und Angkor Thom, die nach dem Niedergang des Khmer-Reiches, vom Dschungel überwuchert, zentrale Symbole kambodschanischer Identität blieben. Während der französischen Kolonialherrschaft erwachte ein Nationalbewusstsein, Phnom Penh avancierte zum «Paris des Ostens», aber der Traum von Demokratie und Unabhängigkeit endete nach 1954 schnell. Bernd Stöver beschreibt eindrucksvoll, wie Indochina- und Vietnamkrieg, der Steinzeit-Kommunismus der Roten Khmer und Bürgerkriege das Land jahrzehntelang ausbluteten. Erst seit 1999 kommt Kambodscha wieder zur Ruhe, im Schatten der Killing Fields, aber auch im Licht der Tempel von Angkor.
Bernd Stöver, geb. 1961, lehrt nach Stationen in Bielefeld und Washington D. C. als Professor Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Der Kalte Krieg» (4 2012), «United States of America. Geschichte und Kultur» (22013) sowie «Geschichte des Koreakriegs» (22013).
Für Naam
Umschrift und Datumsangaben
Abkürzungen
1. Kambodscha, vergessenes Land
2. Glorreiche Vergangenheit: Die Großreiche der Khmer
Funan, Chenla und der Aufstieg der Khmer
Kambuja: Entstehung und Blüte der Angkor-Dynastien
Herrschaft, Gesellschaft, Alltag
Vom Indischen Ozean bis zum Pazifik: Das Reich der Khmer
3. Die Tempel von Angkor: Heiligtum und Identität
Die Angkor-Architektur: Bauwerke, Stile, Auftraggeber
Tempelikonographie: Gründungsmythos – Propaganda – Alltag
Angkor Wat und Angkor Thom
Das wiederentdeckte Angkor
4. Krise und Niedergang
Der Niedergang des Khmer-Reichs im 15. Jahrhundert
Zwischen feindlichen Nachbarn: Vietnam und Siam
Die Europäer kommen
Kultur als Bewahrung der Identität
5. Französische Kolonie 1863–1940/41
Cambodge als Teil Französisch-Indochinas
Herrschaft und Alltag
Entstehung einer antikolonialen Nationalbewegung
Der kambodschanische Widerstand
6. Der Traum von der Unabhängigkeit 1940/41–1954
Der Zweite Weltkrieg
Sihanouk und die Unabhängigkeit
Die Kolonialmacht kehrt zurück: Der französische Indochinakrieg
Ende der Illusionen: Die Genfer Friedenskonferenz 1954
7. Kampuchea als Teil des Vietnamkriegs 1954–1975
Blockfreiheit und «Buddhistischer Sozialismus»
Zwischen den Fronten des Kalten Krieges
Die Einbeziehung in den Vietnamkrieg
Schlachtfeld: Bürgerkrieg und «Operation Menu»
8. Das «Demokratische Kampuchea» 1975–1979
Pol Pot und die unbekannten Roten Khmer
Die Eroberung der République Khmère
Das «Jahr Null»: Die perfekte Revolution
Massenmord und Auflösung
9. Auf der Suche nach Normalität 1979–1998
Unter vietnamesischer Kontrolle
Bürgerkrieg mit den Roten Khmer
Versuch der Demokratisierung und Aufarbeitung
Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur
10. Die Wiederentdeckung durch die Welt seit 1999
Anhang
Zeittafel zur Geschichte Kambodschas
Die wichtigsten Bauprojekte Kambujas und ihre Bauherren
Ausgewählte Daten zum heutigen Kambodscha
Anmerkungen
Bildnachweis
Literaturhinweise
Personenregister
Kambodschanische Begriffe sowie Personen- und Ortsnamen werden – soweit keine eingeführte deutsche Schreibweise vorliegt –, in der Transkription der sogenannten UN-Romanisierung wiedergegeben. Die im Kambodschanischen übliche Nennung des Familien-vor dem Rufnamen wird beibehalten, ebenso die Regel, nur den Vornamen zu verwenden. Chinesische Namen folgen in derselben Weise der Pinyin-Umschrift, thailändische dem Transkriptionssystem des Royal Institute, laotische der ALA-LC-Romanisierung und russische dem Duden. Für Datumsangaben wird der westliche Kalender verwendet.
ANKI |
Armées Nationale pour Khmer Independent |
ANS |
Armées Nationale Sihanoukist |
APSARA |
Authority for the Protection and Management of Angkor and the Region of Siem Reap |
ARVN |
Army of the Republic of Viet Nam |
ASEAN |
Association of Southeast Asian Nations |
BLDP |
Buddhist Liberal Democratic Party |
BStU |
Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR |
CGDK |
Coalition Government of Democratic Kampuchea |
CIA |
Central Intelligence Agency |
CLPK |
Comité de Libération de Peuple Khmer |
CNKL |
Comité National Khmer de Libération |
CNRP |
Cambodian National Rescue Party |
CPP |
Cambodian People’s Party (Kambodschanische Volkspartei) |
CREST |
CIA Records Search Tool |
DC-Cam |
Documentation Center of Cambodia |
DK |
Demokratisches Kampuchea |
ECCC |
Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia |
EFEO |
École française d’Extrême-Orient |
FANK |
Forces Armeés Nationales Khmères (ab 1970–1975) |
FARK |
Forces Armées Royales Khmères (bis 1970) |
FNL |
Front National de Libération (auch: NLF, National Liberation Front/Mặt Trận Giải Phóng Miền Nam Việt Nam) |
FUNCINPEC |
Front Uni National pour un Cambodge Indépendant, Neutre, Pacifique, et Coopératif |
F(U)I |
Front (Uni) Issarak |
FUNK |
Front Uni National du Kampuchéa |
FUNSK |
Front d’Union nationale pour le salut du Kampuchéa |
GRUNK |
Gouvernement Royal d’Union Nationale du Kampuchéa |
HA |
Hauptabteilung (MfS) |
HRP |
Human Rights Party |
KBW |
Kommunistischer Bund Westdeutschlands |
KNP |
Khmer Nation Party |
Komintern |
Kommunistische Internationale |
KPK |
Kommunistische Partei Kampucheas (seit 1962/63) |
KPNLF |
Khmer People’s National Liberation Front |
MAAG |
Military Assistance and Advisory Group |
MACV |
Military Assistance Command Vietnam |
MIA |
Missed in Action |
MIKE |
Mobile Strike Force Command |
MOLINAKA |
Mouvement National de Libération du Kampuchea |
MfS |
Ministerium für Staatssicherheit (DDR) |
NA II |
National Archives II, College Park, Maryland, USA |
NADK |
Nationalarmee des Demokratischen Kampuchea (ab 1979) |
NATO |
North Atlantic Treaty Organization |
NIE |
National Intelligence Estimate (CIA) |
NRP |
Norodom Ranariddh Party |
NSC |
National Security Council |
OSS |
Office of Strategic Studies |
PEO |
Programs Evaluations Office |
PNAS |
Proceedings of the National Academy of Sciences |
SEATO |
South-East Asian Treaty Organization |
SAS |
Special Air Service |
SMM |
Saigon Military Mission |
SRP |
Sam Rainsy Party |
UNAMIC |
United Nations Advance Mission in Cambodia |
UNESCO |
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization |
UNTAC |
United Nations Transitional Authority in Cambodia |
UXO |
Unexploded ordnance |
VOC |
Vereenigde Oostindische Compagnie (Niederländische Ostindien-Kompanie) |
ZAIG |
Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (MfS) |
Zugegeben: Wer heute an Kambodscha denkt – «Kambuja» oder «Kambujadesa», das Land der Nachkommen des mythischen Kambu, wie es die Khmer noch heute nennen, oder Kampuchea, wie es offiziell heißt –, dem wird wahrscheinlich zunächst der blutigste Teil seiner jüngsten Geschichte in den Sinn kommen: die Herrschaft der Roten Khmer, der Khmer Krahom, zwischen 1975 und 1979, die wiederum eine Folge der Einbeziehung des Landes in den Vietnamkrieg war. Kaum jemand bestreitet heute noch, dass es dieser Krieg war, der den Grundstock für das mörderische Pol-Pot-Regime legte.
Die weit über zweihunderttausend US-Bombenangriffe, die bereits 1965 begannen, 1969 bis 1973 einen blutigen Höhepunkt erreichten und erst 1975 ihr Ende fanden, erfolgten zwar nicht ohne Grund: Der «Ho-Chi-Minh-Pfad», der die rund 40.000 Viet Cong, wie die kommunistischen Einheiten seit Mitte der 1950er Jahre genannt wurden, in Südvietnam versorgte, verlief als «Sihanouk-Pfad» durch kambodschanisches Gebiet.[1] Um den Viet Cong die Deckung zu nehmen, wurden auch in Kambodscha schon ab 1962 hochgiftige Entlaubungsmittel eingesetzt, unter anderem das berüchtigte Agent Orange.
Völkerrechtlich blieben dies alles jedoch illegale Angriffe auf einen neutralen und souveränen Staat, die man in Washington so lange wie möglich verschwieg. Auf dem Schlachtfeld Kambodscha war das internationale Kriegs- und Völkerrecht tatsächlich außer Kraft gesetzt. Dies machte der 15. Mai 1975 – auf den Tag genau fast zwei Monate nach dem Fall von Phnom Penh und zwei Jahre nach der in Paris geschlossenen Vereinbarung über die Beendigung des Krieges vom Januar 1973 – noch einmal spektakulär deutlich. Damals ließ die US-Regierung unter Protest selbst von Verbündeten die mit sieben Tonnen Sprengkraft größte konventionelle Bombe aus ihren Waffenarsenalen über der kleinen kambodschanischen Insel Koh Tang abwerfen, um sich für die Entführung eines Containerschiffs durch die damals bereits siegreichen Roten Khmer zu rächen.
Die «Sideshow», wie der Journalist William Shawcross das Schlachtfeld Kambodscha 1979 in seinem berühmten, für den Pulitzer-Preis vorgeschlagenen Bericht nannte,[2] zerstörte in diesen Jahren eines der letzten relativ stabilen Länder Südostasiens, das noch in den 1950er Jahren eine der großen demokratischen Hoffnungen in der Region gewesen war, und ebnete damit den Weg für Pol Pots Regime, das 1975 seine mörderische Herrschaft begann. Die rund 2,4 Millionen Bomben trafen zwar auch Truppenansammlungen, insbesondere aber Zivilisten, was die Roten Khmer erst in die Lage versetzte, massenhaft jugendliche Waisen zu rekrutieren.[3] Heute weiß man, dass diese Kindersoldaten zu ihren gläubigsten und rücksichtslosesten Anhängern wurden. Nicht zuletzt trafen die Teppichbombardements der B-52-Bomber aus großer Höhe auch das kulturelle Erbe der Khmer. Schwer getroffen wurde unter anderem die 1500 Jahre alte Ruinenstadt Ishanapura (Iśanapura, heute: Sambor Prei Kuk) und die spektakulär auf einem Berg platzierte tausendjährige Tempelanlage Phnom Chisor.
Erfolgreiche Hollywood-Streifen wie Francis Ford Coppolas Apocalypse Now kultivierten bereits 1979 – bezeichnenderweise in jenem Jahr, als auch die monströse Diktatur des «Steinzeitkommunisten» Pol Pot unterging – weltweit das Bild eines vergessenen Winkels der Welt, in dem irrationale, grauenhafte Dinge geschahen. Gerade dieser stilbildende und mit Millionen Zuschauern wirkmächtige Film prägt mit seinen verstörenden Bildern bis heute die Sicht auf das Land.[4] In apokalyptischen Szenen tauchte es wie aus einer anderen Welt auf, mit vom Dschungel verschluckten jahrhundertealten Tempeln, mit steinzeitlichen Bergvölkern, die mit Speeren bewaffnet jeden bekämpften, der in ihr Gebiet eindrang: ein vergessener Ort, in dem kein Gesetz mehr zu gelten schien und in dem deshalb auch Psychopathen wie der von Hollywoodstar Marlon Brando verkörperte Colonel Kurtz eine brutale Herrschaft etablieren konnten, ohne dass sich dagegen irgendein Widerstand erhob. «Hier sind Sie am Arsch der Welt, Captain», wird der von Martin Sheen dargestellte Filmheld Captain Willard begrüßt, der Kurtz im Auftrag der US-Armee töten soll, als er die Grenze Kambodschas überschreitet. Alles das schien dem westlichen Publikum so fremd wie das fast achtzig Jahre alte literarische Vorbild, Josephs Conrads berühmte Kongo-Novelle Heart of Darkness.
Noch bestürzender waren die Berichte, die die Welt zur gleichen Zeit aus dem untergegangenen «Demokratischen Kambodscha» Pol Pots erreichten. Das am 17. April 1975, dem «Tag Null» der Khmèrs Rouges, gestartete und an Maos «Großem Sprung» orientierte Gesellschaftsexperiment kostete nach den Toten des Vietnamkrieges noch einmal mindestens 1,67 Millionen Kambodschaner das Leben.[5] Weltweit bekannt gewordene Kinofilme – insbesondere The Killing Fields (1984; dt.: Schreiendes Land) – präsentierten erneut unvorstellbares Grauen. Selbst langjährige Kenner des Landes wie der Anthropologe François Bizot glaubten angesichts dieser Katastrophe, dass es eine besonders ausgeprägte Brutalität der Khmer gebe.[6]
Auch die vietnamesische Besatzungszeit ab 1979 veränderte das Bild kaum. Ruhe kehrte nicht ein, zumal die bis 1989 das Land kontrollierenden Truppen Hanois bei den Khmer traditionell unbeliebt waren und es ihnen trotz ihrer militärischen Stärke nicht gelang, Frieden zu bringen. Erst 1999 ergaben sich die letzten Einheiten der Roten Khmer. Zurück blieben vier bis sechs Millionen Landminen und eine unbekannte Anzahl Blindgänger, die sogenannten UXOs, darunter vor allem auch die besonders heimtückischen Cluster-Bomben.[7] Offiziell schätzte man 2002, dass rund 4500 Quadratkilometer des Landes mit noch nicht geräumten Altlasten der Kriege, die das Land seit 1940 heimgesucht hatten, kontaminiert sind. Dazu gehören auch heute noch Bereiche um weltberühmte Tempel. In kaum einem anderen Land der Welt gibt es so viele Amputierte wie in Kambodscha, da niemand weiß, wo die Sprengsätze liegen. Identifiziert sind heute nur rund 11.500 Minen in rund 15.000 Dörfern. Daher gefährden sie bis heute nicht nur rund 45 Prozent der Einheimischen, sondern auch unvorsichtige Touristen, die vielleicht nur einmal kurz von ausgeschilderten Wegen abweichen (s. Karte S. 156).
Tatsächlich schien sogar das Ende des Kalten Krieges 1991 Kambodscha kaum zu helfen. Zwar zogen die unbeliebten Vietnamesen schon 1989 ab, aber die Entsendung von zwei zwar gut gemeinten, aber schlecht geführten UN-Missionen zwischen Oktober 1991 und November 1993 (UNAMIC/UNTAC) brachte eine weitere Katastrophe: die bis heute kaum eingedämmte Welle von HIV-Infektionen, die das Bild eines gescheiterten Staates noch verstärkte.
Zudem wurde nun auch im Ausland das problematische Nebeneinander von Opfern und Tätern in Kambodscha immer deutlicher, wie es aus vielen anderen nachdiktatorischen Ländern bekannt war. Zum Synonym dafür wurde der kleine Ort Pailin im Nordwesten, der zum Rückzugsort selbst hochrangiger Kader der Roten Khmer geworden war. Nuon Chea, der einstige «Bruder Nr. 2» neben Pol Pot, fühlte sich hier sogar lange Zeit so unbehelligt, dass er Journalisten ausführliche Interviews gab. Mit Pailin rückte auch die auffallende Nachsicht gegenüber den Tätern in den Fokus, die die Regierungen unter den ehemaligen Khmèrs-Rouges-Funktionären Heng Samrin und Hun Sen seit 1979 gezielt betrieben hatten. Samrin ist bis heute Präsident der Nationalversammlung, Sen Premierminister. Gezielt waren sogar weitere einschlägig Belastete in hohe Ämter gebracht worden, so Ee Chheau, der einstige Leibwächter Pol Pots, der Gouverneur wurde. Unter diesen Gegebenheiten schien es bezeichnend, dass es für die juristische Abrechnung mit den alten Kadern internationalen Drucks bedurfte.
So bleibt das Land bis heute weit entfernt von westlichen Vorstellungen einer demokratischen Gesellschaft. Nach Recherchen von Transparency International gehört es zu den korruptesten Staaten der Welt: 2013 gab es weltweit nur 15 andere, in denen es noch mehr Korruption gab.[8] Auch Menschenrechte finden wenig Beachtung: Als Anfang des Jahres 2014 berechtigte Forderungen von kambodschanischen Textilarbeitern im Gewehrfeuer kambodschanischer Soldaten und Polizisten erstickt wurden, blieben mehrere Tote zurück.[9]
Dass Kambodscha aber dennoch viel mehr ist, nämlich eine faszinierende tropische Kulturlandschaft mit jahrhundertelanger großer Geschichte, rückte erst ab 1999 wieder ins internationale Bewusstsein: 2012 besuchten nach offiziellen Angaben fast vier Millionen Touristen das «Kingdom of Wonder», als das sich das Land der Khmer heute vermarktet. Hauptziele sind vor allem die zwischen dem 9. und dem 14. Jahrhundert entstandenen Tempelanlagen der Angkor-Dynastien, von denen einige seit 1992 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Die Khmer haben sogar gelernt, die Schattenseiten ihres Landes touristisch zu verwerten: Dazu gehören Folterzentren und Gräberfelder der Pol-Pot-Zeit, die zu Gedenkstätten gemacht wurden, ebenso wie die vorwiegend für die Landbevölkerung noch immer lebensgefährliche Verminung: Bei vielen ausländischen Besuchern ist das T-Shirt mit dem Aufdruck: «Danger!! Mines!! Cambodia» noch immer erste Wahl.
Für das bitterarme Land sind die Touristenströme heute zur wichtigsten Einnahmequelle geworden. Für die Tempel Kambujas, die sich allein im engeren Bereich von Angkor auf 400, insgesamt aber auf bis zu 1200 Quadratkilometern ausdehnen,[10] wurden sie allerdings häufig zum Fluch. Natur wie Kulturlandschaft waren niemals für einen solchen Massenansturm gerüstet. So ist es vielleicht sogar ein Segen, dass die Bauwerke der Khmer-Reiche, die mit dem sagenhaften Funan im 2. Jahrhundert nach der Zeitenwende begannen und unter den Angkor-Dynastien zwischen dem 9. und dem 14. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten, sich weit über das Gebiet des heutigen Staates Kambodscha erstrecken und dass viele nach wie vor nur mühsam zu erreichen sind. In den beeindruckenden Tempel von Lingapura (heute: Koh Kēr), wo sich im 10. Jahrhundert kurzzeitig das Zentrum des Reiches befand, oder in der hoch auf einer Felsklippe über der Ebene des heutigen Kambodscha gelegenen Anlage von Preah Vihear, aber auch in den mächtigen Tempeln von Funan und Chenla sind Besucher heute häufig noch allein.
Die touristische, dann auch wissenschaftliche Begeisterung für Kambodscha begann während der Kolonisierung im 19. Jahrhundert. Zum Durchbruch wurde der 1863 veröffentlichte Reisebericht Henri Mouhots, Voyage à Siam et dans le Cambodge, in dem der während seiner Expedition an Malaria verstorbene Autor auch Angkor enthusiastisch beschrieb.[11] Der Erfolg des Buchs fiel in eine Zeit, als nicht nur die Begeisterung für die Archäologie einen Höhepunkt erreichte, sondern auch das Interesse an Südasien gewachsen war. Neben den Berichten über die Entdeckung der märchenhaften Tempel und Reichtümer Britisch-Indiens hatten vor allem die Schilderungen Niederländisch-Indiens ein lebhaftes Echo gefunden. Über zweihundert Jahre nachdem die Niederländische Ostindien-Kompanie auf Java ihren Hauptsitz Batavia (das heutige Jakarta) gegründet hatte, war dort 1814 der Tempelberg Borobodur (wieder-)entdeckt worden, der etwa zur gleichen Zeit wie viele Khmer-Heiligtümer im 8. und 9. Jahrhundert entstanden war.[12] Anders als diese, die nach und nach vom Dschungel verschluckt wurden, hatte auf Java der Vulkan Merapi Borobodur bereits im 10. Jahrhundert begraben.
Dass es beeindruckende Tempel in Kambodscha gab, war freilich auch in Europa schon lange vorher bekannt. Am Ende des 16. Jahrhunderts hatten portugiesische Missionare wie Antonio da Magdalena sie bereits begeistert in Briefen beschrieben.[13] Wer sie gebaut hatte, blieb zunächst ein Rätsel. Manche Besucher vermuteten sogar antike griechische Bauten, war doch schon Alexander der Große bis nach Indien vorgestoßen. Der kleine Tempel Ta Prohm, wenig entfernt von Angkor Wat und Angkor Thom, eine 1186 eingeweihte und immer noch von beeindruckenden Baumwurzeln überwucherte Anlage, zeigt heute noch ein wenig von der «vergessenen Welt», die nicht zuletzt die literarische Phantasie im Westen beflügelte.[14] Kambodscha bot sich wie ganz Südasien angesichts der Probleme der Industrialisierung in Europa geradezu als Sehnsuchtsort an. Rudyard Kipling gelang 1894 mit seinem Jungle Book ein ebenso großer Überraschungserfolg wie Mouhot fast dreißig Jahre zuvor mit seinem Reisebericht.
Auch vor den Reichen von Funan, Chenla und Kambuja war das Land allerdings nicht unbesiedelt gewesen. Die archäologischen Funde bei Laang Spean im Nordwesten des heutigen Kambodscha belegen, dass etwa um 4200 v. u. Z. bereits eine entwickelte Kultur von Jägern und Fischern vorhanden war.[15] Sie wurden später von einwandernden sesshaften austronesisch-protomalaiischen Bauern zurückgedrängt, aber aus der Mischung entstanden die Khmer und damit auch das Khmer, das man zu den sogenannten austroasiatischen Sprachen rechnet. Heute (2014) zählen von den rund 15,5 Millionen Kambodschanern noch immer etwa 90 Prozent ethnisch zu den Khmer, etwa 5 Prozent sind Vietnamesen, 1 Prozent Chinesen.[16] Weitere Bevölkerungsgruppen sind die zu den sunnitischen Muslimen gehörenden Cham, Nachkommen des Reichs Champa (s. Karte S. 23), sowie «Bergstämme» wie die Tampuan, Pnong, Kreung, Kra Chok, Kavet, Brao oder Jarai, die vor allem die östlichen Provinzen Kratie, Stung Treng, Modulkiri und Ratanakiri bewohnen.
Darüber hinaus gibt es die außerhalb des heutigen Staatsgebiets lebenden Khmer, die noch heute belegen, wie weit einst das mächtige Imperium reichte. Die Khmer Loeu (die «Oberen Khmer») leben vorwiegend im nun thailändischen Isaan, einem früher dicht bewaldeten Hochland zwischen der 1657 gegründeten siamesischen Stadt Nakhòn Ratchasima und dem Mekong. Die Thais nannten sie abschätzig «Waldkhmer». Bezeichnenderweise wird heute Nakhòn Ratchasima noch immer Khorat genannt; Angkor Raj (kurz: Khorat) lautete der Name der alten Khmer-Gründung, neben der die Siamesen nach deren Eroberung ihre Festung errichteten. Zu den Khmer Loeu werden auch die «Bergstämme» in Ostkambodscha gezählt. Die Khmer Krom (die «Unteren Khmer») hingegen leben im heutigen Vietnam und sind mehrheitlich im Mekongdelta ansässig. Auch das heutige Ho Chi Minh City, das ehemalige Saigon, war unter dem Namen Prei Nokor ursprünglich eine Khmer-Siedlung.
Bei allen diesen blieb das zu den sogenannten Mon-Khmer-Sprachen innerhalb der austroasiatischen Sprachfamilie gehörige Khmer die Hauptsprache, wenngleich heute Thai, Lao und Vietnamesisch je nach Region die Amtssprache sein muss. Schon seit dem 2. und 3. Jahrhundert, als der Einfluss aus Indien stark wurde, übernahmen die Khmer auch indische Begriffe aus Bürokratie, Militär und Literatur. Neuere Lehnwörter kamen seit dem 19. Jahrhundert im Zuge der Kolonisierung aus dem Französischen und heute aus der thailändischen und insbesondere der englischen Sprache. Thai und Englisch dominieren vor allem die Jugend- und Populärkultur – unabhängig davon, dass die politischen Gegensätze mit dem nördlichen Nachbarn Thailand immer wieder und zum Teil gewalttätig ausbrechen und die USA von vielen Khmer noch heute für den Niedergang Kambodschas verantwortlich gemacht werden. Parallel dazu bleibt allerdings die Musik, die in Khmer gesungen und auf traditionellen Instrumenten gespielt wird, vor allem auf dem Land, wo nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung lebt, beliebt.
Tropische Temperaturen und der Monsun waren Grundlage der Pflanzen- und Tierwelt wie auch der Lebensart der Menschen. So wie der Nil die Grundlage für die frühen Reiche Ägyptens war, wurden der Tonle-Sap-See und der in den Mekong mündende gleichnamige Fluss zu zentralen Lebensadern Kambodschas. Bis heute wächst der See im Monsun bis auf das Achtfache seiner Größe und füllt wie eh und je Flüsse, Seen, Kanäle und Wasserreservoirs, die sogenannten Barays. Sie entstanden in der Hoch-Zeit Kambujas planmäßig insbesondere im Bereich der großen Tempelanlagen und sicherten lange sogar mehrere Ernten im Jahr.
Die Besonderheit des Tonle Sap, zwischen Trocken- und Regenzeit mit entsprechendem Tief- oder Hochstand des Mekong seine Fließrichtung zu ändern, wurde aber auch eine wichtige Voraussetzung für die gigantische Bautätigkeit der Khmer während der Angkor-Zeit. Da das Baumaterial vorwiegend am Phnom Kulen abgebaut wurde, einem Bergmassiv knapp vierzig Kilometer nördlich «Angkors», konnte man die tonnenschweren Steine in der Monsunzeit leichter transportieren.
Die Geographie des Landes inspirierte aber die Architektur noch auf eine ganz andere Weise: Die Felsklippen und erloschenen Vulkane des Landes wurden wie in Phnom Chisor, Preah Vihear oder Phnom Rung zu Orten, die den Göttern nahe waren und deshalb über Jahrhunderte gepflegt und erweitert wurden. Die vor allem auf dem Land aus Holz und auf Stelzen gebauten Wohnhäuser der einfachen Khmer passten sich dagegen durch Baumaterial und Architektur vor allem den klimatischen Bedingungen an: In sie konnte man sich während der periodisch wiederkehrenden Überschwemmungen vor dem Hochwasser retten. Ansonsten boten die aus Holz, Gras und Kokos gefertigten Heime Schutz vor der Hitze. Auf diese Weise prägen und formen Klima und Geographie das Land bis heute.
Am Beginn des großen Khmer-Imperiums Kambuja stand Funan, ein Königreich, das seit dem 2. Jahrhundert existierte und sich auf seinem Höhepunkt im 6. Jahrhundert weit über sein ursprüngliches Kernland, das Mekongdelta im heutigen Südvietnam, hinaus bis über den Golf von Thailand im Westen erstreckte.[17] Von Funan weiß die Nachwelt allerdings fast nur aus chinesischen Berichten aus dem 3. Jahrhundert. Damals orientierte sich vor allem Wu, das südlichste der zwischen 220 und 280 bestehenden «Drei Reiche» Chinas, die nach dem Zerfall der Han-Dynastie entstanden waren, nach Süden, um Handelsbeziehungen aufzubauen.
Wie die Khmer ihr Reich damals bezeichneten, ist nicht bekannt. Aus Legenden weiß man, dass sie ihr Land Kok Thlok nannten, was wörtlich «Land des Baumes» oder auch «Waldland» heißt.[18] Funan leitete sich wohl aus dem kambodschanischen Wort phnom (bnam) – (Tempel-)Berg – ab. Wie Chenla (Žhen-la), das in der Mitte des 6. Jahrhunderts Funans Herrschaft ablöste, war der Name aber wohl lediglich eine Sammelbezeichnung für verschiedene «Fürstentümer».[19] Was sie zusammenhielt, ist nur zu vermuten. Wahrscheinlich waren es gemeinsame Interessen und vor allem Kulte. Chenla jedenfalls erstreckte sich bereits weit über das alte Funan hinaus und wurde zum direkten Vorgänger Kambujas.
Chinesen waren es nachweislich auch, die kurz vor und während des Niedergangs von Funan im 5. und 6. Jahrhundert in ihren Berichten zum ersten Mal über die Khmer sprachen. Die ersten Darstellungen liegen zwar Jahrzehnte auseinander, aber sie geben doch ein relativ klares Bild.[20] Übereinstimmend hielten sie die Einwohner von Funan und Chenla – wie im Übrigen die meisten ihrer anderen Nachbarn – für nicht viel mehr als unzivilisierte Barbaren. Ihre Schrift immerhin erinnerte sie an Bekanntes, an das aus Indien stammende Sanskrit. Ansonsten erschienen den Besuchern die «dunkelhäutigen» Bewohner von Funan wild und kriegerisch, was sich ihrer Meinung nach auch in ihren sonstigen Gebräuchen zeigte, schlichteten sie doch ihre Rechtstreitigkeiten vorzugsweise mit brutalen Gottesurteilen. Diese kamen allerdings, wie man heute weiß, ebenfalls aus Indien.[21]
Die chinesischen Gäste vermerkten aber auch, dass Funan technisch bereits hoch entwickelt war. Besonders beeindruckt zeigte man sich von Steinmetzarbeiten und aufwändig graviertem Silbergeschirr – Produkte, die man auch heute noch überall in Kambodscha findet. Auch die Landwirtschaft imponierte mit ihren bis zu vier Ernten im Jahr. Besonders ins Auge fielen die für die Bewässerung der Felder und den Transport angelegten Kanalsysteme. Sie schufen damals bereits die Verbindungen zwischen den befestigten Siedlungen und ermöglichten später auch den Bau der großen Tempelanlagen. Ausgrabungen während der französischen Kolonialzeit bestätigten die Existenz der künstlichen Wasserstraßen bereits für die Zeit Funans. Die Hafenstadt Óc Eo (Khmer: O Keo), die 1920 durch die gerade erfundene Luftbildphotographie identifiziert werden konnte, war wohl ihr wichtigster Ausgangspunkt. Von hier aus reichten die Kanäle fast 80 Kilometer ins Inland, so unter anderem nach Angkor Borei (heute Provinz Takeo), südwestlich des Tonle-Sap-Sees, einem weiteren Zentrum Funans (s. Karte S. 23).
Spätere Berichte chinesischer Besucher klangen ähnlich.[22] Am bekanntesten wurde der viele Jahrhunderte später entstandene Bericht über Kambodscha (Chenla fengtu ji) des chinesischen Delegierten Chou Ta-kuan (Zhōu Dáguān). Er besuchte «Chenla», wie die Chinesen damals noch immer das Reich der Khmer nannten, im Auftrag seines Kaisers in den Jahren 1296/97, zu Beginn der Regierungszeit des Khmer-Königs Śrîndravarman (ca. 1295–1307). Von Champa (heute: Vietnam) aus kommend, beschrieb Chou damals vor allem Angkor Thom, das damals neu gebaute Zentrum der jahrhundertealten Hauptstadt Yaśodharāpura. Er notierte aber auch viele Einzelheiten zu Herrschaft, Alltag und Kultur, die heute noch aktuell erscheinen, da sich überraschend viele Traditionen, etwa in der Lebensweise, im Glauben, in der Ernährung oder auch der Kunst, bis heute erhalten haben.[23]
Heute weiß man aufgrund einer Vielzahl von archäologischen Funden, dass im Gebiet des späteren Kambuja seit mindestens rund 7000 Jahren Menschen lebten. Auf die steinzeitliche Jäger- und Sammler-Kultur bei Laang Spean, südwestlich der heutigen Stadt Battambang in Kambodscha, wurde bereits hingewiesen. Etwas jüngere Siedlungen aus der Bronzezeit fand man in Nong Nor und Khok Phanom Di an der heutigen Ostküste Thailands in der Provinz Chonburi.[24] Auch im Gebiet des späteren Yaśodharāpura, insbesondere im Bereich des viele hundert Jahre später errichteten westlichen Wasserreservoirs von Angkor Thom, des sogenannten West-Baray, gab es bereits zur Zeit Funans Siedlungen.
Wo die Hauptstadt Funans lag und ob es überhaupt eine zentrale Hauptstadt gab, ist umstritten. Die chinesischen Berichte sprachen von einer Stadt Temu, die bislang allerdings ebensowenig lokalisiert werden konnte wie Vyadhapura, die man heute für die Hauptstadt Funans hält.[25] Als Favoriten für die Suche gelten verschiedene Gebiete in der Umgebung Bà Phanoms, rund 80 Kilometer östlich von Phnom Penh, so etwa Banteay Prei Nokor, nahe der heutigen Stadt Kampong Cham. Für diesen Ort spricht zumindest, dass er, wie in den chinesischen Berichten erwähnt, tatsächlich rund 200 Kilometer von der Küste entfernt und in der Nähe eines Berges liegt. Die heute sichtbarsten Bauten gab allerdings erst Jayavarman VII. (1181–ca. 1219) in Auftrag.
Die Hauptstadt des Funan-Nachfolgers Chenla zu rekonstruieren, fällt viel leichter. Es ist das um 615 gegründete Ishanapura (Iśanapura), das heute als Sambor Prei Kuk in der Provinz Kampong Thom bekannt ist. Die «Stadt Shivas», wie die wörtliche Übersetzung lautet, lag wie die meisten späteren Hauptstädte der Khmer am Ostufer des Tonle-Sap-Sees und war der von König Ishanavarman I. (Īśānavarman, ca. 615–ca. 637) in Auftrag gegebene Regierungssitz (s. Karte S. 31). Aus der Zeit am Ende seines Lebens datiert auch die erste bekannte in Khmer verfasste Inschrift. Vor Ishanapura war Bhavapura die Hauptstadt, deren genaue Lage allerdings ebenfalls nicht bekannt ist. Vermutet wird sie beim heutigen Thala Barivat in der Provinz Stung Treng (s. Karte S. 31).
Ishanapura erinnert noch heute mit seinen insgesamt vier großen, vornehmlich aus gebrannten Ziegeln und teilweise aus Sandstein errichteten hinduistischen Tempelkomplexen an das wenig entfernte und viel später entstandene Angkor Thom, auch wenn ihre Bassins heute versandet und ihre Ziegelbauten teils eingestürzt, teils von Vegetation überwuchert, teils durch Krieg, Vandalismus und gierige Kunstsammler zerstört sind. Gerade die Zeit während und nach der Pol-Pot-Ära bis in die späten 1990er Jahre wurde nicht nur für die Angkor-, sondern auch für die Tempel der Chenla-Periode zu Jahren des kulturellen Verlusts. Hier wie auch in Angkor konnte der Raubzug bis heute nicht aufgehalten werden. Klassisches Beispiel eines solchen Verlusts in Ishanapura ist der «Schildkröten-Tempel», Prasat Tao.
Seit dem 2. Jahrhundert prägte die Einwanderung aus dem indischen Amaravati, die im Wesentlichen über das heutige Myanmar erfolgte, nachhaltig zunächst Funans Kultur, seit etwa 550 auch Chenla und danach die Angkor-Dynastien.[26] Erzwungen war das nicht, eher adaptierte man Vorstellungen, wenn sie sich als nützlich erwiesen, andere ignorierte man. So fand etwa das Kasten-System Indiens keine Nachahmer. Dagegen übernahm man neben der Schriftsprache Sanskrit Elemente der indischen Rechtsauffassung, des Kalenders, der Mathematik, Astronomie und Astrologie sowie Architekturvorstellungen und nicht zuletzt die hinduistische und schließlich buddhistische Glaubenswelt, wobei beides schon seit Funan häufig nahtlos ineinander überging. Von Funans Einwohnern wurden insbesondere die beiden hinduistischen Hauptgötter, Vishnu und Shiva, und zwar in der Hari-Hara (Vishnu-Shiva-)-Kombination, verehrt sowie der Hinayana-Buddhismus praktiziert.[27]
Der Shiva-Kult mit seiner Lingam-Symbolik wurde zur öffentlich sichtbarsten Tradition, die über Jahrhunderte die Tempelbauten bestimmte. Er lebte auch nach dem endgültigen Übergang zum Buddhismus, zu dem sich heute über 90 Prozent der Khmer bekennen, seit dem 14. Jahrhundert weiter. Die chinesischen Besucher berichteten im 6. Jahrhundert, dass bereits die Einwohner von Funan Götter «mit acht Armen» oder «vier Gesichtern» anbeteten, wie es etwa für die Trimurti, die Dreieinigkeit Shiva, Brahma und Vishnu, üblich war. In den Ruinen Ishanapuras braucht der Besucher auch heute nicht lange zu suchen: Schon die zentrale Tempelgruppe, Prasat Sambor, ist Shiva gewidmet, und die umgebenden Tempel zeigen jeweils Serien von Lingas. Archäologische Funde konnten belegen, dass auch die dortigen Buddha-Abbildungen von den indischen Gandhara-, Gupta- und Amaravati-Stilen beeinflusst waren.[28] Insofern blieb die Indisierung für die Khmer auch in ihrer Erinnerungskultur immer positiv. Ohne Indien konnten sich die Khmer auch der Angkor-Dynastien nicht einmal mehr die Gründung Funans denken, die nach dem Mythos aus einer indischkam bodschanischen Liebesbeziehung hervorgegangen war.
Militärische Macht und Handelsverbindungen hatten bereits Funan groß gemacht. Sie reichten nach China und Indien, aber auch in den Mittleren Osten und im Westen bis ins Römische Reich. Dies konnten 1944 die Ausgrabungen auf dem Gebiet der Hafenstadt Óc Eo ebenfalls belegen. Die Funde stammten nachweislich aus der Regierungszeit der Kaiser Antoninus Pius und Marc Aurel im 2. Jahrhundert.[29] Das Ende Funans kam, als die zerstrittenen chinesischen Reiche sich entschlossen, ihre Handelswege nicht mehr über dessen Gebiet zu führen.[30] Als der letzte Herrscher von Funan, Rudravarman (514–ca. 545), starb, war sein Reich bereits zu einem tributpflichtigen Vasallenstaat degradiert und wurde ab etwa 550 Teil des neuen Reiches Chenla.
Aber auch Chenla blieb fragil und zerfiel Anfang des 8. Jahrhunderts, wie die chinesischen Annalen berichten, in ein nördliches «Land-Chenla» und ein südliches «Wasser-Chenla», die wiederum aus unterschiedlichen Herrschaftsgebieten bestanden. Land-Chenla umfasste den Nordosten des heutigen Kambodscha einschließlich des Südens von Laos und des heute thailändischen Hochplateaus von Khorat, des sogenannten Isaan. «Wasser-Chenla» hatte seinen Mittelpunkt dagegen im Mekongdelta, erstreckte sich aber weit ins Landesinnere (s. Karte S. 23).
Man weiß aus den Inschriften, dass der im 10. Jahrhundert erbaute berühmte Tempel der Angkor-Dynastien, Phnom Rung, bereits über einem Heiligtum Land-Chenlas errichtet wurde. Ähnlich gestaltete man später auch andere schon bestehende heilige Stätten um, so die grandiose Anlage Wat Phu am Mekong bei Champasak im heutigen Süden von Laos, die sogar bereits auf den Resten von Tempeln aus dem 5. Jahrhundert erbaut wurde. Auch die Herrscher von Wasser-Chenla handelten in der gleichen Weise.
Am Ende des 7. Jahrhunderts begannen nach 681 erneut heftige innenpolitische Auseinandersetzungen, die über hundert Jahre andauerten und in denen Chenlas Territorien von Java abhängig wurden. Erst mit dem von dort zurückgekehrten kambodschanischen Prinzen, der als Jayavarman II. um 802 zum Alleinherrscher, zum «Chakravartim», gekrönt wurde, gelang wieder eine «Reichseinigung». Damit wurde gleichzeitig die Abhängigkeit von Java beendet. Rückblickend endete damit auch die sogenannte Prä-Angkor-Zeit. Das Kambuja der nun folgenden Angkor-Dynastien wurde wieder über einen gemeinsamen Kult, nun aber auch über ein «universales Königtum» abgesichert und gestärkt.[31]
Den Mittelpunkt bildete die Vorstellung eines Königs, der dem (Haupt-)Gott – in diesem Fall Shiva – nicht nur nahestand, sondern diesem durch die ihm verliehene Macht ähnlich geworden war. Der eventuell schon von Jayavarman II. in Auftrag gegebene Tempel Bakong (Bàkoṅ) bei Siem Reap, der von seinem Nachfolger Indravarman I. (877–ca. 889) achtzig Jahre später fertiggestellt wurde, zeigte mit der Errichtung des Linga Indreśvara demonstrativ die Verschmelzung von König und (Haupt-)Gott.[32] Dort, auf dem 881/82 eingeweihten Tempelberg, ließ der König auch sein politisches Selbstverständnis für alle Zeiten verewigen: «Weil der Schöpfer [zu diesem Zeitpunkt: Shiva] anscheinend keinen Gefallen mehr daran fand, so viele Könige zu erschaffen, erschuf er diesen einzigartigen König …».[33] In Phnom Bakong und im parallel dazu errichteten Heiligtum Kandòl Dò’m wurde Indravarman I. zum «Herrscher der Erde», zum universalen König erklärt. In der Öffentlichkeit wurde dies rasch als «Gottkönigtum» (Devarāja) wahrgenommen.[34] Dazu trug bei, dass im Anschluss an Indravarmans Herrschaft seit dem 10. Jahrhundert die Gesichter der Götterstatuen die Züge der Herrscher Kambujas erhielten.[35]
Die Anziehungskraft des Herrscherkonzepts bewies sich am Ende der Angkor-Dynastien darin, dass es sogar die siegreichen Siamesen, die ansonsten fast alles unternahmen, um sich von den Khmer zu distanzieren, nach der Eroberung Angkors 1431 adaptierten. Das dortige «Gottkönigtum» wurde erst 1932 mit der Einführung der ersten Verfassung des Königreichs Siam wieder abgeschafft, lebt faktisch aber bis heute fort. Ähnlich verhielt es sich in Kambodscha.
Tatsächlich waren die Vorteile unbestreitbar: Das «Gottkönigtum» schuf einen einheitlichen Bezugspunkt, ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine gemeinsame Identität. Daraus folgte allerdings auch eine klare Abgrenzung von «den Anderen» – eine Vorstellung, die sich über die Jahrhunderte nicht nur in der Haltung gegenüber den benachbarten Staaten, sondern auch in einer gewissen Reserviertheit gegenüber den «Barang» – den westlichen Ausländern – bis heute bewahrt hat.
So wie Entstehung und Geschichte der Reiche von Funan und Chenla im Wesentlichen nur über die Berichte ausländischer Besucher zu rekonstruieren sind und deshalb viele Fragen offen bleiben, ist auch der Beginn und die Entwicklung der Angkor-Dynastien, des Reichs Kambuja, nicht in allen Einzelheiten zu klären. Die Unsicherheiten beginnen bereits mit der aus dem Sanskrit stammenden Bezeichnung Angkor (Nagara), was soviel wie «Stadt» bedeutete und deshalb häufig nur als Oberbegriff oder Synonym für verschiedene Reichszentren verwendet wurde, für die es im Laufe der Jahrhunderte ganz unterschiedliche Namen gab. Als Nagara-Stil bezeichnet man bis heute auch den in Indien seit dem 8. Jahrhundert parallel zur Gründung des Reiches von Angkor entstandenen Tempelbaustil.
Im heutigen Sprachgebrauch fällt daher unter die Bezeichnung Angkor (bzw. Groß-Angkor) einmal die jeweilige Hauptstadt, insbesondere das von König Yaśovarman I. Ende des 9. Jahrhunderts begonnene Yaśodharāpura mit dem unter Sūryarvarman II. (ca. 1112–ca. 1155) in Auftrag gegebenen berühmten Staatstempel Angkor Wat und das einige Jahrzehnte später unter Jayavarman VII. gebaute neue Stadtzentrum, Angkor Thom (s. Abb. S. 36f.). Darüber hinaus meint Angkor aber ein Territorium von bis zu 1200 Quadratkilometern – das entspricht etwa der Fläche des heutigen New York City[36] –, darin auch die vor Yaśodharāpura genutzten anderen, manchmal rasch wieder aufgegebenen Hauptstädte. Dazu gehören das Vishnu (Hari) und Shiva (Hara) gemeinsam gewidmete Hariharālayapura, dessen Reste heute östlich des Tonle-Sap-Sees im Gebiet der sogenannten Roluos-Gruppe liegen, ferner das hauptsächlich Shiva geweihte Lingapura (Chok Gargyar, heute: Koh Kēr), außerdem Mahendraparvāta nördlich des Tonle-Sap-Sees in der Nähe des für die Khmer heiligen Berges Kulen sowie das bislang noch nicht wiederentdeckte Amarendrapura.
Jayavarman II. (770–ca. 835, gekrönt 802), mit dem die Geschichte der Angkor-Dynastien und Kambuja-Zeit (802–1431) beginnt, war mutmaßlich ein aus der Stadt Śambhupura am Mekong stammender Adliger.[37] In den chinesischen Berichten taucht er als Ishanasera (Īśānasera) auf und wurde 802 wohl von den Ministern seines hingerichteten Vaters und Vorgängers Mahendravarman zum König von Kambuja(-desa) bestimmt.[38] Wohl um 770 begann er mit dem Versuch einer Reichseinigung. Wie chaotisch die Zeit war und wie gefährdet er selbst, ist auch daraus ersichtlich, dass er immer wieder seinen Regierungssitz wechselte. Seine wichtigste, aber bereits dritte Hauptstadt wurde Mahendraparvāta, die er wohl nicht zuletzt aus Gründen seiner Legitimierung nahe des heiligsten Berges der Khmer, dem Kulen, errichten ließ.
Zur Zeit seiner Krönung 802 erstreckte sich Jayavarmans Herrschaftsgebiet bereits weit über den Bereich des heutigen Nordwestkambodscha hinaus bis zum Khorat-Plateau im heutigen Thailand und ins südliche Laos. Wie die Herrscher von Funan und Chenla unterwarfen auch die Könige der Angkor-Dynastien nach und nach weitere Gebiete – zuerst immer jene der lokalen und regionalen Konkurrenten. Auch wenn Tempelinschriften gewöhnlich übertrieben, so machten sie doch den Machtanspruch der neuen Dynastie deutlich. Im zwischen 878 und 887 im Auftrag Indravarmans I. errichteten Heiligtum Kandòl Dò’m hieß es: «Seine Herrschaft war wie eine … makellose Krone auf den erhabenen Köpfen der Könige von China, Champa [Vietnam] und Yavadvῑpara [Indonesien]».[39]
Nun konnten sich die Khmer-Könige dieser Zeit noch längst nicht mit den Nachbarn im Norden, im Osten oder im Süden militärisch erfolgreich messen, das war erst über hundert Jahre später unter Sūryavarman I. (ca. 1001–ca. 1049) möglich. Zweifellos begann jedoch mit Indravarman I. (877–ca. 889) eine auch für Außenstehende erkennbare neue Phase der Reichsgeschichte, die nicht zuletzt die politisch-militärische Schwächeperiode vor der «Reichseinigung» vergessen machen sollte: Im Großraum Angkor entstand jetzt eine Fülle von repräsentativen Staatsbauten, die nicht nur die religiösen Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllen sollten, sondern auch für die Propaganda ihrer Könige genutzt wurden.
Indravarmans Idee der universalen Herrschaft, des «Herrschers der Erde», wie sie ebenfalls im Heiligtum Kandòl Dò’m verewigt wurde, fand mit seinem Sohn Yaśovarman I., der wohl zwischen 889 und 910 regierte, eine angemessene Fortsetzung. Unter ihm wurde der Regierungssitz aus Hariharālayapura in die neue Hauptstadt Yaśodharāpura verlegt. Yaśovarman I. wurde damit zum Gründer des wichtigsten Reichszentrums der Angkor-Dynastien, das bis zu ihrem Ende 1431 mit nur wenigen Unterbrechungen genutzt und ausgebaut wurde.
Die von Jayavarman IV. (ca. 928–ca. 942) befohlene Verlegung der Reichshauptstadt Ende der 920er Jahre nach Lingapura (heute: Koh Kēr), deren Gründe unklar sind, scheiterte. Falls er sich damit von seinen übermächtigen Vorgängern zu distanzieren suchte, misslang der Plan. Lingapura blieb wie andere Hauptstädte eine Episode, die sein Nachfolger, Rajendravarman II. (ca. 944–968), 944/45 beendete. Er verlegte die Residenz wieder zurück nach Yaśodharāpura und tat überdies nun alles dafür, sie prächtiger als je zuvor auszubauen. Wieder entstanden zahlreiche neue Tempel, zu denen unter anderem Bàksěi Čamkrŏṅ und die Anlagen von Prè Rup gehören.
Zur entscheidenden Hürde für den weiteren Aufstieg der Angkor-Dynastien wurde aber zunächst ein Bürgerkrieg, über dessen Einzelheiten wenig bekannt ist. Sicher ist nur, dass seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts mit Jayavῑravarman (1002–ca. 1010) und Sūryavarman I. (1001–ca. 1050) zwei rivalisierende Könige gegeneinander antraten und Letzterer nach fast zehn Jahren blutiger Unruhen siegte. Sūryavarmans Erfolg muss so überwältigend gewesen sein, dass er ungehindert eine erste einschneidende religiöse Reformation beginnen konnte. Sie sollte nicht die letzte sein. Die Staatsreligion wechselte vom Hinduismus zum (Mahāyāna-)Buddhismus.
Auch außenpolitisch konnte er sich ungehindert wieder der Expansion des Reiches widmen. Seine außergewöhnlich lange Regierungszeit von fast fünfzig Jahren füllte er mit einer Reihe sehr erfolgreicher Feldzüge. In Richtung Westen sind siegreiche Kampagnen gegen Rivalen auf dem Gebiet des heutigen Myanmar, im Osten gegen den alten Gegner Champa und im Norden unter anderem gegen das Königreich der Mon, Haripujaya, das etwa auf dem Gebiet des heutigen Nordthailand um Lamphun lag, sowie gegen das Reich Lavo im Raum des heutigen Lopburi nachgewiesen. Das Khmer-Reich erstreckte sich nun bis in den Raum des jetzigen Luang Prabang, weit im heutigen Norden von Laos. Im Süden hatte Sūryavarman I. seinen Einfluss militärisch gegen das Königreich Grahi durchgesetzt, so dass sein Reich dort in etwa auf der Höhe der heutigen thailändisch-malaiischen Grenze endete (s. Karte S. 47).
Sūryavarmans Nachfolger konnten diese Expansion allerdings zunächst nicht sichern. Gegen das im Osten liegende Reich der Cham unterlag man immer wieder, was schließlich sogar dazu führte, dass Kambuja erneut geteilt wurde. Erst mit Sūryavarman II. (ca. 1112–ca. 1155) konnte seine Einheit wiederhergestellt werden. Es gelang ihm schließlich, nicht nur Champa, sondern auch das nördlich davon gelegene Reich Đại-Việt zu schlagen. Die Cham-Hauptstadt Vijaya – das heutige Quy Nhơn in Vietnam – wurde von den Khmer in den 1140er Jahren sogar einige Zeit besetzt. Wenngleich Sūryavarman II. gegen andere Nachbarn nicht annähernd so erfolgreich war, reichte seine Herrschaft im Norden schließlich wieder bis zum heute thailändischen Lopburi und im Osten – wenn auch kurzfristig – bis an das Südchinesische Meer.[40] Im Westen grenzte es an das Reich von Pagan im heutigen Myanmar, endete aber im Süden bereits am Isthmus von Kra (s. Karte S. 47).