Bart Somers
Zusammen leben
Meine Rezepte gegen Kriminalität
und Terror
Aus dem Niederländischen
von Gerd Busse
C.H.Beck
Die belgische Stadt Mechelen war mal ganz unten, verwahrlost und kriminell. Doch Bart Somers hat sie wieder aufgerichtet – mit einer verblüffenden Doppelstrategie: Null-Toleranz und Multikulti. In diesem Buch verrät der «beste Bürgermeister der Welt» (ausgezeichnet vom Weltverband der Bürgermeister) seine Rezepte gegen Kriminalität und Terror – und wie Integration gelingen kann.
Bart Somers, geb. 1964, ist Bürgermeister der belgischen Stadt Mechelen und Mechelener in der 14. Generation.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung: Lehren aus der Vergangenheit
Paderborn, 1944
Berlin, 1989
Mechelen, im Mai 2016
Zu Hause, im Sommer 2016
Kapitel 1: In den Fängen des Terrors
New York, 9/11
Terror auf europäischem Boden
Militärisch chancenlos
«The only thing we have to fear is fear itself»
Kapitel 2: Die Anziehungskraft des IS
Totalitäres Denken versus Demokratie
Die Anziehungskraft extremistischer Ideen
Rekrutierung wie bei einer Sekte
Die Fallstricke des IS
Kapitel 3: Prävention: Broken Windows 2.0
Polizeikommissariat Mechelen, im Dezember 2001
Prävention in den Stadtteilen
Verlorene Stadtteile
Ohne Sicherheit kein bürgerschaftliches Engagement
NERO
Joeri
Broken Windows
Gemeinwesenarbeit und Mittelschicht
Armierte Führung
Kapitel 4: Sicherheit erhöhen
Polizeikommissariat, am 22. März 2016
Benjamin Franklin
«Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten»
Die Fehler der Repression
Michael Ignatieff
Dreißig Maßnahmen der Regierung
Rückkehrer
Kernaufgaben
Vielfalt in Uniform
Alle Farben der Stadt
Europäisches FBI
Kapitel 5: Eine inklusive Gesellschaft
Mechelen, Jugendzentrum ROJM, am 19. November 2011
United we stand
Rückspiegel
Superdiversität
Raus aus der Komfortzone
Neue Identität
Gute Flamen
Rote Teufel
Halal
Friedhöfe
Kapitel 6: Eine aktive Bürgerschaft
New York, 10. Dezember 1948
Kulturzentrum, im September 2012
Grundrechte
Bürgerschaftserklärung
Niederländisch
Eine Kultur der Bürgerschaft
Schengen
Angela Merkel
Migration und soziale Sicherheit
Empowerment
Es braucht ein Dorf, aber auch die Eltern
Kinderarmut
Unsere Terroristen
Im Ausland kämpfen
Kapitel 7: Diskriminierung
Bruul, an einem Samstag im April 2016
Verbrechen
Meritokratie
Ramzi K.
Praxistests
Schulabbrecher
Aboutaleb
Kapitel 8: Der Islam
Viele Zimmer
Saudi-Arabien
Der Mensch im Muslim
Religion und die Moderne
Arbeit in der Moschee
Der Weg zur Erneuerung
Toleranz
Der Humanismus als neue Bruchlinie
Katholische «Dialogschule»
Die Arrivalists
Die Rolle des Staates
Das Freiheitsparadox
Sozialer Druck
Der Platz des Islams
Neutraler Staat
Kapitel 9: Gendergerechtigkeit
Lippenbekenntnis
Getrennte Sphären
Kulturkampf
Konfrontationslogik
Kopftuch
Die Rolle des Staates
Nafi Thiam und Sihame El Kaouakibi
Sexuelle Gewalt
Kapitel 10: Segregation
Yamina
Monokulturelle Enklaven
Das Prinzip der «Versäulung» auf dem Prüfstand
Das Projekt «School in Zicht»
Muslimische Schulen
Privatunterricht
Sozialer Wohnungsbau
Einpoldern
Optimismus
Ministerium für das Zusammenleben
Schluss: Eintracht schafft Macht
Kann Kultur uns retten?
Die Antwort auf den IS, das Ringen mit uns selbst
Für Jan Somers,
den Onkel, den ich nie kennengelernt habe,
gestorben in Uniform am 4. Oktober 1944.
Er war 15 Jahre alt.
Mechelen ist eine Stadt im Norden Belgiens, eine flämische Stadt mit einer reichen historischen Vergangenheit. Im 15. und 16. Jahrhundert war sie die Hauptstadt der sogenannten Lage Landen, also im Wesentlichen des Gebiets, das das heutige Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Nordfrankreich umfasst. Ihre Straßen und Plätze werden gesäumt von herrlichen gotischen, Renaissance- und Barockgebäuden: Kirchen, Klöstern, Stadtpalästen und reichen Bürgerhäusern.
Im 19. Jahrhundert war Mechelen eine der ersten industrialisierten Städte Flanderns. Ihre wirtschaftliche Dynamik erhielt einen neuerlichen Impuls, als sich ab den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts multinationale amerikanische Konzerne in ihr niederließen. Die traditionelle Möbelindustrie verschwand, doch neue Unternehmen der Fertigungsindustrie sorgten dafür, dass die Arbeitslosenzahlen nicht allzu sehr anstiegen.
Parallel zur wirtschaftlichen Globalisierung setzte in den Sechzigerjahren die Migration ein. So wie in vielen anderen westeuropäischen Städten änderte sich auch in Mechelen die Zusammensetzung der Bevölkerung dramatisch – ich kann mich noch gut an das «weiße», monokulturelle Mechelen meiner Kindheit erinnern. Das änderte sich Anfang der Siebzigerjahre, als eine wachsende Zahl von Marokkanern zu uns kam. Ihnen folgten in den Neunzigerjahren Menschen aus Osteuropa, dem Balkan und dem Kaukasus sowie Christen aus der Türkei. Nach der Jahrtausendwende kamen dann Menschen aus aller Welt: aus Schwarz- und Westafrika, aus Afghanistan, dem Nahen Osten sowie, seit Kurzem, zunehmend Informatiker aus Indien. Aktuell hat ein Drittel der Mecheler einen Migrationshintergrund, bei den Kindern ist es sogar die Hälfte. In unserer Stadt leben Menschen aus mehr als 130 Nationen. Die Welt ist bei uns zu Hause.
Diese Migration brachte neue, eindrucksvolle Herausforderungen mit sich. Die lokale Politik war darauf nicht vorbereitet und steckte – wie an so vielen anderen Orten auch – über Jahrzehnte hinweg den Kopf in den Sand. Oft war sie verblendet durch ideologische Kurzsichtigkeit, sodass die Linke in den Migranten nur Arme und die Rechte nur eine Gefahr sah. Dies führte zu einer Sozialpolitik, die die Armut zementierte, und zu einer gescheiterten Sicherheitspolitik.
Die Folgen waren dramatisch. Am Ende des vorigen Jahrhunderts war das einst so stolze Mechelen die kranke Schwester unter den flämischen und sogar unter den belgischen Städten. Einem Verbrauchermagazin zufolge hatten wir die dreckigsten Straßen, laut den nationalen Polizeistatistiken nahm die Stadt bei der Straßenkriminalität einen Spitzenplatz ein. Die Einwohnerzahl ging zurück, die Mittelschicht zog weg, und ihr Platz wurde von noch mehr Armut eingenommen. Ein Drittel der Geschäftslokale stand leer, die Stadtteile mit einem hohen Anteil an sozialem Wohnungsbau verwahrlosten zunehmend, und die Schulen standen ohne ausreichende Mittel da.
Mechelen liegt innerhalb der sogenannten «Flämischen Raute», dem urbanen Herzen Belgiens. Zwischen Antwerpen im Norden und Brüssel im Süden – beide kaum 25 Kilometer von Mechelen entfernt – ist unsere Stadt Teil der großstädtischen soziokulturellen Realität.
Die Menschen waren wütend und wollten Veränderung. Auf dem Nährboden dieser Frustrationen hatte sich die rechtsextreme flämische Regionalpartei Vlaams Belang mit rund 30 Prozent der Wählerstimmen zur größten Partei entwickelt. Doch die Partei Vlaamse Liberalen en Democraten, kurz VLD, bot mit einer Liste junger Kandidaten, die fest entschlossen waren, die Probleme anzupacken, eine demokratische Alternative zu diesem Wunsch nach Veränderung. Die VLD, zu der auch ich gehörte und noch gehöre, gewann die Wahlen, und am 1. Januar 2001 wurde ich zum ersten liberalen Bürgermeister Mechelens seit über hundert Jahren.
Inzwischen sind siebzehn Jahre vergangen, und ich darf die Stadt noch immer regieren. Im vergangenen Jahr wurde ich von der City Mayors Foundation sogar zum «World Mayor» gewählt, zum «besten Bürgermeister der Welt». Die Auszeichnung kam völlig überraschend, da es sich bei den Städten der vorherigen Preisträger – Kapstadt, Mexiko-Stadt, Bilbao und Calgary – schließlich um Metropolen handelt, die einer ganz anderen Größenordnung angehören als unsere mittelgroße Stadt mit ihren 86.000 Einwohnern.
Es gab, glaube ich, zwei Gründe, weshalb sich die Jury für uns entschieden hat. Zunächst einmal ist es die Metamorphose, die Mechelen durchgemacht hat. Keine andere Stadt in Belgien hat in den zurückliegenden fünfzehn Jahren eine derart revolutionäre Wende erlebt. Die Stadt gilt heute als eine der sichersten und saubersten in unserem Land, nirgendwo sonst stößt die Integrationspolitik auf so viel Zustimmung wie hier. Die Stadt ist bei jungen Familien ungeheuer populär, und wir haben offenbar einen gangbaren Weg gefunden, das Zusammenleben in Diversität gemächlich verlaufen zu lassen.
Der zweite Grund hat mit dem Terrorismus zu tun, dem Wahnsinn, der Europa nun schon seit einigen Jahren in Atem hält. Während sich aus Antwerpen und Brüssel einhundert beziehungsweise zweihundert Personen dem Kampf des IS angeschlossen und praktisch alle größeren Städte in Belgien ihre Auslandskämpfer haben, ist unter diesen foreign fighters niemand aus Mechelen. In Vilvoorde, einem Städtchen mit 44.000 Einwohnern in kaum zehn Kilometern Entfernung von Mechelen gelegen, gab es 28 Personen, die den Terroristen folgten. Und das mittlerweile weltberühmte Molenbeek liegt weniger als zwanzig Kilometer von Mechelen entfernt. Trotzdem hat sich niemand aus unserer Stadt den IS-Kämpfern angeschlossen. Statistisch ist das wenig stichhaltig, denn Mechelen ist nach Vilvoorde prozentual die marokkanischste Stadt Flanderns. Einer von fünf Bürgern der Stadt ist ein Muslim.
Die auffallende Wiederauferstehung Mechelens und die bemerkenswerte Tatsache, dass wir unsere Kinder gegen den Lockruf des IS schützen konnten, hat sowohl im In- als auch im Ausland sehr viel Aufmerksamkeit erregt.
Im vorliegenden Buch versuche ich zu erklären, wie wir dabei vorgegangen sind, vor allem aber, welcher Ansatz mir im Kampf gegen Terroristen der richtige zu sein scheint und wie wir aus Diversität und Migration einen Erfolg machen können. Ich tue dies nicht, um mich selbst zu loben, sondern in der Hoffnung, dass unser Ansatz andere inspirieren kann. Kein klassisch linker oder rechter Diskurs, sondern ganz und gar out of the box. Meine Botschaft ist keine Theorie und auch kein Wunschdenken, sondern sie beruht auf den Realitäten einer Stadt und einer Strategie, die Früchte abwirft. Es ist keine Geschichte von Rufern, sondern eine von Machern. Was kann das höchste Bestreben einer Stadt sein? Ein Leuchtturm der Hoffnung zu sein, der Beweis, dass ein Zusammenleben funktionieren kann.
Bart Somers
Bürgermeister
Einleitung
6. Oktober 1944. Ein grauer Herbsttag in einer zerstörten Stadt in Deutschland. Hitler verliert an allen Fronten. Auf dem Soldatenfriedhof werden routinemäßig dreimal Schüsse abgefeuert. Ein letzter Ehrensalut. Vögel flüchten davon. Eine Familie steht rund um das frische Grab eines fünfzehnjährigen Jungen. Tief erschüttert. Weit weg von Flandern, ihrer Heimat. Deutsche Soldaten singen unbeholfen das alte «Vaarwel mijn broeder», das sie sich eigens für ihren Kameraden Jan beigebracht haben. Ein Junge, der der deutschen Kriegsmaschinerie einverleibt und als eine der letzten Reserven in eine Uniform gesteckt worden war. Jan, kaum im Jugendalter, sollte mit anderen den Flughafen Lippstadt bewachen, Kugelmagazine für die Flaks, die Flugabwehrkanonen, heranschaffen. Er versuchte auf die letzte Straßenbahn aufzuspringen, stolperte jedoch über seinen viel zu großen Soldatenmantel und verunglückte. Vater und Mutter stehen zusammengesunken da, krank vor lauter Kummer, verzweifelt. Von ihrem anderen Sohn Karel haben sie schon eine ganze Weile nichts gehört. Er kämpft an der Ostfront. Lebt er noch? Vater Lodewijk ist ein gebrochener Mann. Er wird sich nie wirklich davon erholen. Sein jüngster Sohn Joos hält seine Hand fest. Er ist acht Jahre alt. Untröstlich, nun, da sein Lieblingsbruder und großes Vorbild gestorben ist. Solange er lebt, wird das Foto von Jans Grabstein auf seinem Schreibtisch stehen. Joos ist mein Vater, Jan der Onkel, den ich niemals kennengelernt habe.
Vater Lodewijk, vierundvierzig Jahre alt, blickt auf sein Leben zurück. Wie konnte es verdammt noch mal so weit kommen? Dass seine Jungs Uniformen tragen? Dass sie – noch Kinder – in einem grausamen Krieg mitkämpfen? In einem Land, das nicht das ihre ist? Der Radikalismus, der alles aufs Spiel setzt, seinen Sohn umbrachte und alles zerrüttet – wie ist er in diesen Wahnsinn hineingeraten? Er, ein gläubiger, anständiger und sozial engagierter Lehrer, Regisseur eines Amateurtheaters, stolzer Autor eines niederländischsprachigen Reiseführers über Brüssel, mit kaum einundzwanzig Jahren Schulleiter in Laken. Ja, er hat sich von klein auf für die flämische Sache eingesetzt. Er arbeitete mit ganzem Herzen an der Stärkung der kulturellen Entwicklung seines Volkes, an seiner politischen Emanzipation. Wütend auf den belgischen Staat, der das Opfer flämischer Ysersoldaten, also der Soldaten, die im Ersten Weltkrieg an der Yserfront gegen die deutschen Truppen gekämpft hatten, mit Füßen trat. So wurde Lodewijk Somers Mitglied des 1933 gegründeten Vlaamsch Nationaal Verbond, einer nationalistischen und faschistischen Partei, die im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Besatzern kollaborierte. Denn er wollte gegen die Diskriminierung kämpfen, der die Flamen in der Armee, der Verwaltung und im Bildungswesen ausgesetzt waren. Er setzte sich für die flämische Selbstverwaltung ein und stritt dafür, dass Flandern die Rolle spielte, die ihm zukam. Und dann – in den Krisenjahren, den trüben Jahren voller Unsicherheit – überstürzten sich die Ereignisse. Die Frustrationen über Unrecht und Zurücksetzung, seine Enttäuschung über die Trägheit der Politik, die beständigen Agitationen derer, die zur Aktion aufriefen und für die alles viel zu halbherzig vonstattenging, der Lockruf immer radikalerer Lösungen. Er wurde von der neuen Ordnung verführt, die Demokraten für Schlappschwänze hielt und im neuen Deutschland das Vorbild sah: kraftvoll, klar und kompromisslos. Im Krieg wurde er in die Kollaboration hineingesogen. Denn Flandern musste sich seinen Platz im neuen Europa verdienen, unter der Führung Hitlerdeutschlands. Es war eine Zeit, in der man nicht abseits stehen konnte. «Wer nicht kämpfen wollte, sollte auf den Knien durchs Leben gehen.» Und dann – als sich das Kriegsglück längst gewendet hatte – ging der älteste Sohn, kaum neunzehn, an die Ostfront. Gegen den Willen Lodewijks, denn der Zweifel hatte bereits zugeschlagen. Und da war natürlich auch die Angst vor dem Verlust seines Kindes gewesen. Doch Karel ging, für Flandern und für Jesus Christus. Nicht mehr als ein wenig Kanonenfutter für ein wahnsinniges Gedankengut, das von Über- und Untermenschen. Missbraucht von einer Ideologie, die alle Menschenrechte mit Füßen trat, jede Menschlichkeit verleugnete. Ein Regime, das Millionen Menschen ausrottete, weil sie als Juden oder Zigeuner geboren worden waren. Eine Gesellschaftsvision, gebaut auf dem irrsinnigen Glauben an eine Hierarchie der Rassen – nicht nur eine zwischen Weiß und Schwarz, sondern auch eine zwischen «Germanen» und «slawischen Völkern». Heute erscheint es uns nur noch lächerlich, doch damals scharten sich in ganz Europa Millionen hinter die Fahne. Wenngleich auch nicht jedermann mit allem einverstanden war: Ihre Grundideen – die Ablehnung der Demokratie, die Ungleichheit zwischen den Menschen – wurden von vielen mit offenen Armen empfangen. In einem Zeitraum von kaum zehn, fünfzehn Jahren konnte eine Reihe randständiger politischer Sonderlinge einen ganzen Kontinent in Brand setzen. Ein Dante’scher Wahnsinn, der sechzig Millionen Tote forderte. Ein gruseliger europäischer Bürgerkrieg. Heute fragen wir uns: Wie war es möglich? Wer kann bloß derart extremen Ideen anhängen? Der Gräuel des IS ist aus historischer Perspektive leider kein neues Phänomen.
Wir lümmelten im Keller unseres Studentenwohnheims herum, unbekümmerte Kinder des Wohlfahrtsstaats. Im Fernsehen lief CNN, ein brandneuer Sender mit – unglaublich für die damalige Zeit – Nachrichten rund um die Uhr! Irre, fanden wir. Globalisierung bis ins Wohnzimmer hinein. Der richtige Hintergrund für heftige und endlose Diskussionen. Bis plötzlich bestürzende Nachrichten auf dem Bildschirm erschienen. Menschen versammelten sich an der Mauer nahe dem Brandenburger Tor, dem Symbol eines geteilten Europas, der physischen Grenze zwischen Freiheit und totalitärem Denken, zwischen Demokratie und Diktatur, Menschenrechten und Unterdrückung. Die Mauer der Schande. Die Menschen schrien, johlten und skandierten, die Mutigsten hackten verbissen mit Hämmern auf die Mauer ein. Die Gruppe der Demonstranten schwoll an, zunächst langsam, doch dann kamen die Menschen in immer größerer Zahl. Die Vopos, die verhassten ostdeutschen Grenzschützer, standen fassungslos da und beobachteten das Ganze. In der Vergangenheit hatten sie jeden, der über die Mauer klettern wollte, einfach erschossen. Insgesamt waren auf diese Weise 138 Menschen ermordet worden, Landsleute, ohne Gnade. Doch jetzt blieb das Telefon still. Es kamen keine Befehle mehr. Die gestählten kommunistischen Kader wussten nicht mehr, wie sie den Drang nach Freiheit, nach einem Leben in Würde, eindämmen konnten.
Schon seit Monaten war Osteuropa in Bewegung. Zuerst mit der Solidarność in Polen. Ausgerechnet die Elitetruppen des Proletariats, die Arbeiter der Schiffswerften in Danzig, lehnten sich gegen die Kommunisten auf, die vorgaben, ihnen zu dienen. Unter der Führung eines charismatischen, unerschrockenen Mannes mit einem Schnauzbart: Lech Wałesa. In Russland war ein gewisser Gorbatschow an die Macht gekommen. Er ließ einen frischen Wind wehen. Glasnost, Perestroika. Es gab Raum für Selbstkritik, abweichende Stimmen wurden nicht länger in psychiatrische Anstalten weggeschlossen. Doch schon bald verlor er die Kontrolle über die Veränderungen, die er in Gang gesetzt hatte, die er in Gang hatte setzen müssen, denn das kommunistische Experiment war bankrott. Es konnte nicht mehr mit jenem anderen System wetteifern, das auf Freiheit und Demokratie gebaut war. Als Gorbatschow die Tür einen Spalt öffnete, ergriffen die Menschen ihre Chance. Sie begnügten sich nicht mit ein bisschen Liberalität. In allen osteuropäischen Ländern wurde der Ruf nach Freiheit, Demokratie und Respekt vor den Menschenrechten immer lauter. Die Basis kommunistischer Regimes wurde hinweggefegt. Der Höhepunkt dieser Freiheitsbewegung spielte sich an diesem Abend und vor unseren Augen auf dem neuen Sender CNN ab.
Wir waren jung und ungestüm. Engagierte Studenten, die bei keiner einzigen Debatte fehlten, sich an Demonstrationen beteiligten oder – wenn wir anderer Meinung waren – die Gegendemonstrationen organisierten. Wir lasen, diskutierten und agitierten: mit viel Sturm und Drang und wenig Nuancen. Wir sahen das Heraufdämmern einer neuen, hoffnungsvollen Zeit.
«Wir müssen nach Berlin, dort wird Geschichte geschrieben.» Zwölf Stunden später standen wir am Checkpoint Charly, mitten in einem völlig berauschten Meer von Menschen. Wir hämmerten mit auf die Mauer ein, hießen die kleinen Trabants voller Ossis, wie die Ostdeutschen damals genannt wurden, willkommen. Wir sahen, wie sich die zu Tränen gerührten Deutschen in die Arme fielen, manche jahrzehntelang durch die Mauer getrennt. Wir waren ergriffen von all den vielen Emotionen. Mädchen in niederländischer Kleidertracht teilten im Namen ihrer Regierung Tulpen an all jene aus, die die Grenze zur Freiheit überschritten. Wir sahen die Uneigennützigkeit derer, die einem unbekannten Ostdeutschen spontan einen nagelneuen Fernseher kauften, einfach weil dieser mit offenem Mund ins Schaufenster unseres westlichen Überflusses gestarrt hatte. Und nachts, als wir, müde von dieser Orgie des Glücks, der Befreiung und der Solidarität, nach einem Schlafplatz suchten, waren alle U-Bahnstationen rappelvoll mit Menschen. Menschen, die nie wieder zurück in diese abscheuliche Welt der Unfreiheit wollten und Angst hatten, dass es nur ein Traum für einen Tag sein könnte. Die fürchteten, dass russische Panzer dem Märchen morgen ein Ende bereiten würden, wie sie dies schon so oft getan hatten: in Budapest 1956, in Prag 1968 und 1983 noch in Polen.
Schließlich fanden wir in einer abgelegenen U-Bahnstation ein Plätzchen, um unseren Schlafsack auszurollen. Am Morgen danach – wir waren noch gar nicht richtig wach – spazierte ein Vater mit seiner kleinen Tochter an unserem Schlafplatz vorbei. Man sah an ihrer Kleidung, dass sie aus Ostdeutschland kamen. Verwundert fragte das Kind seinen Vater: «Papi, was ist das?» «Liebling», antwortete der Vater, «das, das ist Freiheit.»
Manche Menschen behaupten, mit einer politischen Überzeugung geboren zu sein. Ich habe die meine gesucht: Ich habe mich auf den Liberalismus hin entwickelt. Durch das Studium und die Debatte, mit dem Kopf und dem Herzen. So etwas ist ein Prozess, oft mäandernd, eine Evolution, die andauert, solange man nicht aufhört, Fragen zu stellen. Wenn man mich jedoch fragt, wann ich definitiv den Liberalismus in die Arme geschlossen habe, dann war es dieser Morgen des 10. November 1989. Damals, nach dem Bad in dem Meer aus Tausenden von Menschen, die den Eisernen Vorhang niederrissen, einem Meer der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, mit dem unaufhaltsamen Drang nach Freiheit, wusste ich mit Gewissheit, dass ich mit jeder Faser meines Körpers ein begeisterter Befürworter einer liberalen Gesellschaft war. Seither hat das Wort «Freiheit» ein wenig den Klang jenes Vaters und seiner Tochter.
Es brach eine Zeit der Hoffnung an, Jahre des Wohlstands und eines starken Wirtschaftswachstums, die Clinton-Jahre. Mauern wurden eingerissen. Europa stand kurz davor, eins zu werden, und die Welt würde folgen. In allen Erdteilen sollten Diktaturen den Werten der Freiheit und der Demokratie weichen, auf allen Kontinenten waren die Menschenrechte auf dem Vormarsch. Es war die Zeit einer nie zuvor gesehenen Einheit und eines nie da gewesenen Fortschritts. Alle Menschen werden Brüder. Armut und Unterdrückung? In Kürze Geschichte. Es konnte gar nicht anders sein, denn der einzige wirkliche Herausforderer des freien Marktes und unseres demokratischen Rechtsstaats, der Kommunismus, war tot und begraben. Es gab keine Konkurrenten unseres westlichen Gesellschaftsmodells mehr. Lediglich hoffnungslose Rückzugsgefechte einiger weniger in entlegenen, unterentwickelten Ecken dieser Welt. Das 21. Jahrhundert kündigte sich an, strahlend und hell.
Samstagnachmittag, 14. Mai, in meinem Büro im Rathaus von Mechelen. Vater und Mutter B. sind gerade gegangen. Ich denke über ihre Geschichte nach: zwei Menschen mit marokkanischen Wurzeln, doch bereits seit über vierzig Jahren echte Mecheler: rechtschaffene, einfache und gute Leute. Die Geschichte ihrer Tochter, einer vielversprechenden Studentin, die jedoch über das Internet in die Fänge eines der Sharia4Belgium-Anführer geraten war, hatte kürzlich für Schlagzeilen gesorgt. Im Alter von zwanzig Jahren kündigte sie plötzlich an, dass sie einen dieser Kerle heiraten wolle. Fünf Tage später verließ sie ihr Zuhause, zog nach Antwerpen und brach völlig mit ihrer Familie. Das war im Jahr 2008 gewesen, lange bevor der IS-Wahnsinn begonnen hatte. 2013 wandte sich der Vater dann von sich aus an die Polizei, weil er gehört hatte, dass seine Tochter in Syrien sei. Er zeigte sie an, denn er wollte nichts mit diesem Extremismus zu tun haben. Doch nun, da diese Geschichte Schlagzeilen macht, sorgen sich die Eltern um die Zukunftschancen ihrer anderen Kinder. Werden sie nicht darunter leiden? Oder ihren Job verlieren? Ihr Kummer berührt mich. Als Vater kann ich mir vorstellen, wie groß das Leid sein muss. Ihre Ohnmacht, ihre Wut auf die Typen, die aus ihrem Glauben etwas Schreckliches machen. Die tiefe Enttäuschung über sie, ihre Tochter, einst ihr Augenstern, noch immer ihr Fleisch und Blut. Was sollen sie machen? Was können sie tun? Erst die schneidende Gewissensnot und dann die verzweifelte Entscheidung, die eigene Tochter anzuzeigen. Und jetzt, nach diesem Zeitungsartikel, die Angst vor den Rückwirkungen auf die anderen Kinder. Die Furcht vor der Isolation, die öffentliche Schande. Wir saßen da, in meinem großen Büro im Rathaus, dieser Vater und diese Mutter. Ich als ihre letzte Zuflucht. Das Einzige, was ich spüren konnte, war ihr tiefer Kummer, menschliche Verbundenheit, Solidarität. Alle drei waren wir Mecheler, alle drei Eltern.
Ich sitze nun da, allein. Aus dem Konzept gebracht. In den zurückliegenden Monaten hat mich der extremistische Wahnsinn in Atem gehalten, mehr als mir lieb ist. Von der hoffnungsvollen Einigkeit aus meiner Studentenzeit ist nicht viel übrig geblieben. Die Vorhersage, dass nach dem Fall der Berliner Mauer alle unsere Art zu leben mit Begeisterung übernehmen würden, hatte sich als Utopie erwiesen. Wir werden erneut mit Menschen konfrontiert, die unsere Gesellschaft radikal ablehnen, erneut, da andere schon vor ihnen da gewesen sind: die Kommunisten im Kalten Krieg oder die Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren. Sie wollen nichts von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten wissen, mehr noch, sie hassen unsere Gesellschaft, wollen sie vernichten und durch ihr Modell ersetzen. Und was so schwer zu begreifen ist: Sie finden hier bei uns Anhänger, Verbündete. Jugendliche, die hier geboren und aufgewachsen sind, aber völlig unter dem Einfluss des Extremismus stehen. Sie setzen dafür alles ein, buchstäblich ihr eigenes Leben. Sie respektieren keine moralischen Regeln, keinerlei Menschlichkeit. Ihr Ehrgeiz besteht darin, uns so grausam wie möglich zu treffen, so viele unschuldige Menschen wie möglich umzubringen, und das mit einer erschütternden Brutalität.
Was in Gottes Namen (sic) ist bloß los? Was kann man tun, um den Extremismus außen vor zu halten? Um zu verhindern, dass er Jugendliche indoktriniert und rekrutiert? Wie stoppt man den Wahnsinn? Und was passiert mit unserer Freiheit und Sicherheit? Darum geht es in diesem Buch.
In den zurückliegenden Monaten ist bezüglich dieser Frage viel Tinte und Speichel geflossen, auch im belgischen Parlament. Es wurden sinnige Dinge gesagt, häufig wurde aber auch nur wild herumgegackert. Jeden Tag gab es eine neue Idee, je schärfer, umso besser. Und regelmäßig entgleiste die Debatte in bitteren Vorwürfen, gegenseitigen Schuldzuweisungen und simplifizierender Kriegsrhetorik. Extremisten rochen Blut, Populisten Wählerstimmen. Viele suchten den kurzfristigen Effekt, das zündende Zitat.
So gelangen wir nicht ans Ziel. Die heutige Zeit verträgt keine Unbesonnenheit. Wir brauchen dringend eine kohärente Vorgehensweise, kein Bombardement unüberlegter Bemerkungen, sondern eine Strategie, die die Probleme von der Wurzel aus angeht, nicht indem sie den lautesten Schreihälsen nach dem Mund redet, sondern indem sie entschlossen einen Weg aufzeigt. Das Untergangsdenken ist vorbei. Denn Kriegsrhetorik und schwarzseherischer Pessimismus sorgen nur für noch mehr Angst und Unsicherheit. So bekommen diejenigen, die Hass säen, freie Fahrt, und dann wird alles nur noch schlimmer. Einer kohärenten Strategie gelingt gerade das Umgekehrte: einen Weg aufzuzeigen, der Hoffnung und Perspektive bietet, Optimismus und Vertrauen vermittelt. Uns fehlt ein inspirierender Ansatz, der Menschen näher zueinander bringt, statt sie untereinander zu spalten, und der zugleich unsere Rechte und Freiheiten stärkt, anstatt sie auszuhöhlen.
Dieses Buch, das ich vor dem Hintergrund meiner Erfahrung als Bürgermeister geschrieben habe, versucht eine solche kohärente Strategie aufzuzeigen. Sollte Mechelen des Öfteren auftauchen, will ich mich gern dafür entschuldigen. Meine Stadt ist weit davon entfernt, ein Eldorado der Diversität zu sein, aber fünfzehn Jahre der Arbeit vor Ort in einer multikulturellen Stadt bieten nun einmal einen Kontext, der für andere inspirierend sein kann. Die konkreten Beispiele geben dieser Geschichte Fleisch und Blut. Sie werden keine Aufzählung konkreter Maßnahmen finden oder fix und fertige Gesetzesvorlagen, sondern eher eine Richtung, eine Methode und einen Stil, denen wir meiner Meinung nach folgen müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Ein Ansatz ohne Tabus und heilige Kühe. Es ist kein parteipolitisch gefärbtes Buch. Ich schreibe es zwar als Liberaler, das versteht sich von selbst, jedoch in dem ausdrücklichen Bestreben, eine breitere Basis für diese Gedanken zu finden. Wer nach den Denkmustern der Vergangenheit lebt, wird sich oft unbehaglich fühlen. Wer sich für die ausgetretenen Pfade der Links-Rechts-Gegensätze entscheidet, wird sich immer wieder ärgern. Mein Ansatz bürstet hier und da die Dinge gegen den Strich, das ist nicht zu ändern. Die Lösungen von gestern bieten uns nun einmal keine Hilfe, wir müssen daher mutig neue Wege einschlagen, uns von alten Mustern befreien. Denn unser Kampf gegen den IS ist auch ein Kampf gegen uns selbst: gegen unsere Angst, unsere Vorurteile und unseren Mangel an Vertrauen.
Ein richtiger Ansatz ist übrigens oft kontraintuitiv, das Gegenteil dessen, was wir uns in unserer Empörung, unserer Wut und unserer Angst spontan wünschen würden. Schlüsselbegriffe für den Erfolg im Kampf gegen einen gewalttätigen Radikalismus sind häufig milder konnotiert, als man erwarten könnte: Empathie, Solidarität, Verwundbarkeit, Vertrauen. Niemals naiv, sondern klug. An anderer Stelle müssen wir dann wiederum entschlossener sein und mit mehr Überzeugung und Ausdauer unser Zusammenleben und seine Prinzipien verteidigen.
Diese globale Strategie appelliert nicht nur an den Staat, sondern sie beinhaltet eine ausdrückliche Aufforderung an jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft, einen Appell an Sie persönlich als Bürger. Der Staat kann dies nicht allein zu einem guten Ende bringen, wer darauf zählt, täuscht sich in der Natur unseres Gegners, im Wesen der Herausforderung. Jeder Bürger wird seinen Teil zum Gelingen beitragen müssen: als Elternteil, Mitbürger, Nachbar, Kollege oder als Familienmitglied. Das Verharren am Spielfeldrand ist keine Option.
Machen wir uns nichts vor: Absolute Sicherheit kann ich nicht garantieren, das kann niemand. Doch ich glaube, dass der vorgeschlagene Ansatz die meisten Chancen auf eine freie und sichere Zukunft für unsere Kinder garantiert. Fünfzehn Jahre als Bürgermeister in einer Stadt mit 128 Nationalitäten haben mich optimistisch gemacht. Vieles ist möglich. Das Zusammenleben ist möglich. Unter der Voraussetzung, dass wir tun, was nötig ist. Unter der Voraussetzung, dass wir dies vor allem gemeinsam tun.
Kapitel 1
Am 22. März 2016, kurz nach acht Uhr morgens, überschlagen sich die Meldungen in den sozialen Medien. Rasch wird klar, dass wir nun an der Reihe sind. Bombenanschläge auf den Flughafen und in der Brüsseler U-Bahn, 35 unschuldige Menschen kommen dabei ums Leben, 305 werden verletzt, es ist das blutigste Massaker in unserem Land seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach Paris war dies der nächste schwere Anschlag von IS-Anhängern auf europäischem Boden, und es war leider nicht ihr letzter. Es folgten Nizza, Saint-Étienne-du-Rouvay, München, Orlando, Istanbul, Dhaka, Bagdad … Es scheint weltweit kein Ende nehmen zu wollen.
9/11, der Anschlag auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001, markierte eine Zeitenwende. Davor war der islamische Fundamentalismus der Taliban, al-Qaida und so weiter etwas gewesen, das es nur in weit entfernten, fremden Ländern gab. Der islamistische Terror hatte sich hauptsächlich in Afghanistan, einem gescheiterten Staat, abgespielt ‒ mit ein paar terroristischen Metastasen in einigen afrikanischen Ländern und im Nahen Osten.
Nach 9/11 schlich sich die Bedrohung jedoch immer näher heran. In den Jahren 2004 und 2005 wurden wir durch Anschläge in den U-Bahnen von Madrid und London brutal aufgeschreckt. Die Bilanz: 243 Tote und mehr als 2500 Verletzte. Mit dem «Arabischen Frühling» überstürzten sich dann die Ereignisse. Er begann Ende 2010 als Aufstand gegen Diktatur und Unterdrückung. Erstmals stand in zahlreichen arabischen Ländern eine neue, junge Generation auf, die entschlossen mehr Freiheit forderte. Doch das Fehlen demokratischer Traditionen spielte diesen Revolutionen schon bald einen Streich. Die diktatorischen Regime hatten jahrzehntelang die Bildung von Parteien und die Entstehung von Interessenverbänden verhindert, sodass die Menschen nun ohne Organisationen dastanden. Die massive Arbeitslosigkeit und die Armut stellten zudem einen perfekten Nährboden für die Verfechter radikaler Lösungen dar, den die Extremisten begierig nutzten. Die Folgen sehen wir heute, an erster Stelle in Libyen, im Irak und in Syrien. Im letztgenannten Land versuchte Diktator Baschar al-Assad den Protest nach altbewährtem Muster mit brutaler Gewalt zu unterdrücken. Was folgte, war ein Bürgerkrieg, der sich zu einer Hölle mit Hunderttausenden von Toten und Millionen von Flüchtlingen auswuchs. Die zahlreichen ethnischen, politischen und religiösen Bruchlinien machen den Konflikt hoffnungslos komplex. In dieser wirren Gemengelage drang der IS 2014 vom Irak aus, wo er bereits einige Jahre aktiv gewesen war, nach Syrien vor und machte sich auch dort breit. Am 29. Mai dieses Jahres rief er das Kalifat unter der Führung von Abu Bakr al-Baghdadi aus. So schaffte es der IS in die internationale Presse und an die Spitze des gewalttätigen islamischen Fundamentalismus. Muslime in der ganzen Welt wurden aufgerufen, das Kalifat anzuerkennen und es aktiv zu unterstützen.
Seit 2013 ist der gewalttätige Extremismus ein unmittelbares Problem für uns, mit Jugendlichen, die von hier stammen. Anfangs sympathisierten sie mit dem Arabischen Frühling und wollten zusammen mit anderen gegen den Diktator Assad kämpfen. Eine ganze Reihe von Meinungsführern aus Politik und Gesellschaft äußerte sich beschönigend: Manchmal wurden diese Jugendlichen als Freiheitskämpfer bezeichnet, und man zog Parallelen zu den internationalen Freiwilligen, die im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschisten Franco gekämpft hatten. Doch die Sympathien vieler (potenzieller) Kämpfer, die unser Land Richtung Syrien verließen, richteten sich schon bald auf die eher extremistischen Gruppierungen, in erster Linie den IS. Mit raffinierter Agitation und Propaganda versuchten diese Gruppen, in Europa neue Anhänger zu rekrutieren. Tausende Jugendliche strömten ihnen zu. Sie wurden als Kanonenfutter benutzt, indoktriniert und trainiert und als Kämpfer in einem bestialischen Krieg ohne Regeln eingesetzt.
Inzwischen sorgen Koalitionen aus vor Ort kämpfenden Parteien in einer Vielzahl von Ländern, unter ihnen auch dem unseren, für immer mehr Kontra. Seit der IS militärisch in die Defensive gedrängt wird und in seinem Kerngebiet an Terrain verliert, hat er die Strategie deutlich geändert und seine Terroranschläge auf Europa ausgeweitet. Mit dem Blutbad im Jüdischen Museum in Brüssel (24. Mai 2014), den zwölf Toten beim Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo (7. Januar 2015) und dem Massaker im Pariser Konzerthaus Bataclan (13. November 2015) hat die Barbarei auch hier zugeschlagen und scheint nicht mehr zu stoppen zu sein. Mit Soldaten auf der Straße, Polizisten, die kugelsichere Westen tragen, öffentlichen Sicherheitsstufen 3 und 4 sowie endlosen Kontrollen auf dem Flughafen befinden wir uns im Griff des Terrors. Viele Menschen haben Angst, fühlen sich machtlos und sind zugleich wütend.
Es ist verführerisch, von einem Weltenbrand oder einer Kriegssituation zu sprechen – es gibt nun einmal Parallelen. Dennoch haben die Herausforderer in militärischer Hinsicht keinerlei Chance gegen die internationale demokratische Rechtsordnung. Jüngsten Schätzungen des CIA und des britischen Nachrichtendienstes zufolge verfügt der ISnewsmonkeyISNewsweekIS