C.H.Beck
Kein antiker Denker hat die geistige Entwicklung des Abendlandes so nachhaltig geprägt wie Aristoteles (384-322 v. Chr.). Hellmut Flashar – langjähriger Herausgeber der deutschen Aristoteles-Ausgabe – beschreibt in diesem Buch anschaulich Leben und Epoche des wirkungsmächtigen Philosophen und erläutert höchst verständlich seine Werke.
Aristoteles wurde in dem nordgriechischen Städtchen Stageira geboren. Sein Vater war Leibarzt des makedonischen Königs, und auch seine Mutter stammte aus einer Arztfamilie. Das intellektuell geprägte Umfeld blieb Aristoteles auch dann erhalten, als seine Eltern früh starben und sein Vormund, der gleichfalls am makedonischen Hof verkehrte, sich um eine möglichst gute Ausbildung seines Zöglings bemühte. So schickte er ihn zur Vervollkommnung seiner Bildung im Alter von 17 Jahren an die seinerzeit beste Adresse: Platons Akademie in Athen. Dort wurde er der Meisterschüler des bedeutenden Philosophen, dem er sich Zeit seines Lebens verbunden fühlte – auch wenn er dessen Ansichten, vor allem die platonische Ideenlehre, verwarf und sich stärker der Empirie verpflichtet fühlte. Die intellektuelle Entwicklung, die Aristoteles in der Folgezeit nahm, blieb auch den Zeitgenossen nicht verborgen, und so wurde er 343/2 von Philipp II. gebeten, die Erziehung des damals dreizehnjährigen makedonischen Prinzen Alexander zu übernehmen. Auch wenn wir nicht den Lehrplan kennen, den sich der größte Philosoph der Antike für den nachmaligen größten Feldherrn der Antike – Alexander den Großen – ausgedacht hat, so kennen wir doch weite Teile seines bahnbrechenden Œuvres, die durch das Mittelalter und die Neuzeit bis in unsere Tage überliefert wurden und unser Denken geprägt haben. Sie stehen – Werk für Werk – im Mittelpunkt dieser wunderbar luziden Einführung.
Hellmut Flashar lehrte bis zu seiner Emeritierung als Klassischer Philologe an der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Im Verlag C.H.Beck sind von demselben Autor lieferbar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (22009); Sophokles. Dichter im demokratischen Athen (22010).
Den Freunden
Wolfgang Kullmann
und
Klaus Oehler
gewidmet
Vorwort
1. Das Leben – wechselnde Wege
2. Das Werk und seine Überlieferung
3. Ethik – Wege zum Glück
4. Politik – Der Mensch im Raum der Polis
5. Rhetorik – Theorie der öffentlichen Rede
6. Poetik – Handeln im Drama
7. Logik, Sprache, Dialektik – Argumentationsstrategien
8. Metaphysik – Erste Philosophie
9. Physik – Zweite Philosophie
10. Kosmologie, Meteorologie, Elementenlehre, Chemie – Die Erde im Mittelpunkt
11. Psychologie – Die Seele als Vollendung des Körpers
12. Biologie – Der Sekretär der Natur
13. Stationen der Rezeption
Anmerkungen
Literaturhinweise
Bildnachweis
Personenregister
Ortsregister
Fast könnte man meinen, das Werk des Aristoteles sei ‹überforscht›, so wie Meere ‹überfischt› sind und dann nichts mehr hergeben. Und in der Tat ist seit der Antike nicht mehr so viel über Aristoteles geschrieben worden wie heutzutage, und zwar im internationalen Rahmen. In meiner in zweiter Auflage 2004 erschienenen Darstellung des Aristoteles im Grundriss der Geschichte der Philosophie (Überweg) sind im Literaturverzeichnis etwa 2000 Titel verzeichnet. Es sind Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare, Monographien, auch nicht annähernd vollständig aufgeführt, aber doch einigermaßen repräsentativ. Seitdem sind wieder Hunderte von Arbeiten dazugekommen. Es ist völlig ausgeschlossen, mehr als nur eine kleine Auswahl in diesem Buch zu nennen.
Denn das vorliegende Buch wendet sich nicht allein an den (die) Fachwissenschaftler(in), sondern auch an den interessierten Laien, für den die Darstellung wirklich verständlich sein soll.
Die neueren deutschen Taschenbuch-Einführungen zu Aristoteles (Höffe 1996, Buchheim 1999, Rapp 2001, Detel 2005) stammen aus philosophischer Hand und sind daher in der Form der Darstellung mit Recht problemorientiert. Der Autor dieses Buches ist Philologe. Das heißt nicht, dass er den philosophischen Problemen aus dem Wege geht, aber deren Erörterung stärker auf das Werk und dessen Eigenarten bezieht. Der Leser soll erfahren, wie eine Schrift des Aristoteles strukturiert ist und in welchem Kontext ein bestimmtes Problem auftaucht.
Ich war 40 Jahre lang Herausgeber der Deutschen Aristoteles-Gesamtausgabe. In den bislang erschienenen 26 Bänden dieser Reihe finden sich neben den Übersetzungen ausführliche (gelegentlich zu ausführliche) Kommentare, in denen wahre Schätze erhellender Erklärungen ‹vergraben› sind, die in diesem Buch ans Licht gezogen werden, soweit dies sinnvoll und möglich ist. Dass ich einige wenige Passagen aus meiner eigenen Darstellung von 2004 in das Ganze integriere, dürfte kaum als Plagiat gewertet werden können.
Anders als in den meisten philologischen Arbeiten steht in diesem Buch die Problematik der Datierung aristotelischer Schriften oder von Teilen dieser Schriften nicht im Vordergrund. Denn die Bemühungen in dieser Richtung standen und stehen mangels zuverlässiger Datierungskriterien auf relativ schwachen Füßen. Ob zum Beispiel einzelne Bücher der Metaphysik oder der Politik früher oder etwas später geschrieben sind, ist – falls darüber im Einzelfall überhaupt ein Konsens vorliegt – für das Verständnis von Gedanken und Problematik nicht von zentraler Bedeutung. Gleichwohl wird dieser Aspekt der Interpretation nicht ganz vernachlässigt, sondern einbezogen, wo immer es angezeigt ist. Auf Polemik wird weitgehend verzichtet.
Für Hilfen und Hinweise bin ich Dagmar Adrom, Martin Flashar, Phanis Kakridis, Peter von Moellendorff, Oliver Primavesi, Christof Rapp und Charlotte Schubert sehr dankbar. Um die Herstellung des Typoskriptes hat sich Evanthia Tsigkana überaus verdient gemacht. Die Fritz Thyssen Stiftung hat für die Vorbereitung des Textes einen Zuschuss zur Verfügung gestellt, für den ich ebenfalls sehr danke. Mit besonderer Gründlichkeit, Sachkunde und Kritik hat sich Stefan von der Lahr vom Verlag des Manuskriptes angenommen, umsichtig unterstützt von Andrea Morgan. Zu danken ist auch Agnes Luk, die das Manuskript durchgesehen und die Indizes erstellt hat.
München, im Sommer 2012
Aus den Schriften des Aristoteles erfährt man über das Leben des großen Philosophen nichts, auch nicht in den Abhandlungen zu Ethik und Politik, in denen eine autobiographische Bemerkung oder Anspielung am ehesten zu erwarten gewesen wäre.
Doch gibt es ein reiches biographisches Material.[1] Am wichtigsten ist die Biographie des Diogenes Laertius (2. Jahrhundert n. Chr.), die sich im fünften Buch seines Werkes Leben und Meinungen berühmter Philosophen findet. Darin sind uns anderweitig nicht erhaltene Quellen und wiederum Quellen dieser Quellen (die Diogenes gelegentlich auch nennt) verarbeitet, die letztlich bis auf die Zeit des frühen Hellenismus zurückgehen und damit bis auf ein bis zwei Generationen an Aristoteles heranreichen. Daneben liegen noch drei weitere Biographien aus der Spätantike vor, unter ihnen die wertvolle, weil altes, zum Teil aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. stammendes Material enthaltende Vita Marciana. Sie heißt so, weil sie nur auf zwei Blättern des Codex Marcianus Gr. 227 aus dem 13. Jahrhundert erhalten ist und bis heute in der Bibliotheca Marciana in Venedig aufbewahrt wird. Diese Handschrift, im Laufe der Zeit stark verwittert und durch Löcher beeinträchtigt, ist zum ersten Mal 1861 ediert worden. Hinzu kommen zahlreiche Mitteilungen über das Leben des Aristoteles von verschiedenen Autoren, deren Werke meist nur in Fragmenten greifbar sind.
Das ganze biographische Material ist mit großer Vorsicht zu behandeln, weil es neben zuverlässigen Nachrichten auch viele unseriöse Anekdoten enthält, teils mit aristotelesfreundlicher, teils mit aristotelesfeindlicher Tendenz. Es gab seit dem Hellenismus, jener kulturell so bedeutsamen Epoche etwa vom Tode Alexanders (332 v. Chr.) bis zum Untergang des Ptolemäerreiches in Ägypten (30 v. Chr.), ein starkes literarisches Unterhaltungsbedürfnis. Insbesondere fingierte Briefe und Biographien galten als willkommene Gattungen, deren Inhalte ein solches Unterhaltungsbedürfnis zu befriedigen vermochten.
Aristoteles wurde im Jahre 384 v. Chr. in der kleinen, aber nicht ganz unbedeutenden Stadt Stageira (lat. Stagira) auf der nordgriechischen Halbinsel Chalkidike geboren. Am Eingang der heutigen Ortschaft Stageira steht seit 1985 in einem kleinen Park auf einem ziemlich hohen Sockel ein Denkmal, das Aristoteles mit einer Papyrusrolle in der rechten Hand zeigt. Diese auf 500 m Höhe gelegene kleine Siedlung ist aber gar nicht das antike Stageira und trägt überhaupt erst seit 1924 diesen Namen. Das antike Stageira und damit der Geburtsort des Aristoteles liegt an der Küste, 9 km (Luftlinie) von dem heute so genannten Ort entfernt, und zwar südöstlich der heutigen Gemeinde Olympiada, auf der Halbinsel Liotope, gegenüber der Insel Kapros (heute Kafkanas), mit einem Hafen, der auch Kapros (= «Eber») hieß. Der Eber war als heiliges Tier das Wahrzeichen der Stadt und erscheint auch auf kunstvoll gestalteten Silbermünzen, von denen nur wenige erhalten sind.[2]
Systematische Grabungen gibt es erst seit 1990. Sie gestalten sich schwierig, weil das Areal ein starkes Gefälle aufweist und dicht bewachsen ist. Als Aristoteles dort geboren wurde, hatte die Stadt, wie die Ausgrabungen inzwischen ergeben haben, eine Akropolis, einen Tempel, eine Agora (Marktplatz) und auch ein kleines Theater, vor allem aber eine ziemlich starke, landeinwärts gerichtete Befestigungsmauer mit einer Höhe von bis zu vier Metern.
Stageira hatte zu dieser Zeit bereits eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Die erste Besiedlung (vorher war die Gegend unbewohnt) erfolgte im Zuge der großen griechischen kolonisatorischen Bewegungen im Jahre 656/5 v. Chr. von der Insel Andros aus. Etwas später landeten dort Siedler aus Chalkis auf Euboea, weshalb die Halbinsel bis heute Chalkidike heißt. Stageira entwickelte sich bis zu den Perserkriegen (490–479), auch dank der im Bereiche der Stadt gelegenen Silberminen, zu einer blühenden Polis. Der Perserkönig Xerxes hat auf seinem Marsch nach Akanthos (südlich von Stageira in Richtung Athos) Stageira umgangen (Herodot VII 115,1) und offenbar nicht zerstört. Nach dem Ende der Perserkriege wurde Stageira Mitglied des attischen Seebundes und hatte, solange es das Bündnis gab, eine gleichbleibend niedrige Tributzahlung von 1000 Drachmen an die Bundeskasse zu entrichten, womit die Behörde (erst auf Delos, dann in Athen) die Tributzahlungen festgelegt und damit die wirtschaftliche Kraft der Polis Stageira wohl unterschätzt hatte.
ABB. 1: Modernes Standbild des Aristoteles vor der heutigen Ortschaft Stageira
ABB. 2: Sonderbriefmarken zum 2300. Todesjahr des Aristoteles.
2 a: Herme einer verlorenen Aristoteles-Statue (römische Kopie) mit einer Inschrift, in deutscher Übersetzung: «… ihn, den Sohn des Nikomachos, kundig in jedem Wissensbereich, hat Alexander aufstellen lassen, den göttlichen Aristoteles.» Die Herme, gefunden in der Attalos-Stoa auf der Agora, steht heute im Epigraphischen Museum in Athen (Inv. 10425). Der Text auch in: Epigrammatum Anthologia Palatina III, 1890, ed. E. Cougny (dort epigr. dedicat. 101). Abbildung mit Text bei Gisela Richter, The Portaits of the Greeks, II, London 1965, 171 und Abb. 1014. Am oberen Rand des Sockels ist ein Mantelrest erkennbar, der als Bausch wohl über die linke Schulter lief und auf eine Sitzstatue deuten könnte (Hinweis von Martin Flashar). Der Inhalt der Inschrift ist historisch unzutreffend, römische Fiktion, um die Bedeutung des Aristoteles zu erhöhen.
2b: Platon und Aristoteles aus dem Fresco Schule von Athen von Raffael (ca. 1510)
ABB. 3: Stageira, Heiligtumsbezirk
ABB. 4: Stageira, Stoa
ABB. 5: Stageira, Festungsmauer
Die Stadt fühlte sich autonom und agierte durchaus eigenwillig. Im Peloponnesischen Krieg (431–404) fiel sie 424 von Athen ab und schloss sich kurzerhand dem erfolgreichen spartanischen Feldherrn Brasidas an. Ein Jahr später hat der Feldherr Kleon vergeblich versucht, Stageira durch eine Belagerung für Athen zurückzugewinnen.[3] Der sogenannte Nikiasfriede von 421 beließ Stageira mit fünf weiteren Städten der Chalkidike einen relativ unabhängigen und neutralen Status, auch wenn diese weiterhin gegenüber dem attischen Seebund tributpflichtig blieben. Nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges schloss sich Stageira mit anderen Städten zum Chalkidischen Bund unter Führung von Olynth, der größten Stadt auf der Chalkidike, zusammen. Die einzelnen Städte behielten jedoch ihre Autonomie, so dass von einem Bundesstaat zu sprechen übertrieben wäre.[4]
Auf der anderen Seite erfuhr das benachbarte Königreich Makedonien einen starken Machtzuwachs. Die Makedonen, deren Herkunft nicht völlig klar ist, waren lange Zeit von den Griechen als «Barbaren» bezeichnet worden, und zwar durchaus in polemischer Absicht, noch bis ins 4. Jahrhundert hinein. Sie lebten anders als die Griechen. Es fehlte ihnen die für die Polis charakteristische Struktur des Gemeinwesens. Doch vom Beginn des 5. Jahrhunderts an suchten sie Kontakt mit der griechischen Kultur. Die Zulassung zu den Olympischen Spielen (bald nach 495) war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel. Die Annäherung an die Griechen war vor allem das Verdienst des Königs Archelaos I., der eben deshalb den Beinamen «Philhellenos» – Griechenfreund – bekam. Man suchte bedeutende griechische Künstler und Dichter an den makedonischen Hof in Pella zu binden; der Tragiker Euripides (480–406) hat hier seine letzten Lebensjahre verbracht und die Bakchen sowie das (verlorene) Drama Archelaos gedichtet, das in mythischer Rückprojektion von einem (erfundenen) Archelaos als Ahnherrn der Makedonen handelt. 44 Fragmente aus diesem Werk sind erhalten; es stellte natürlich zugleich eine Huldigung für den König Archelaos dar, dessen Regentschaft von 414 bis 399 den Höhepunkt in der Annäherung Makedoniens an die griechische Kultur markiert. Er hatte den Hof von Vergina nach Pella verlegt, und die Ausgrabungen an beiden Orten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben eindrucksvolle Zeugnisse einer hochstehenden Kultur ans Licht gebracht.[5] Eine weitere Sicherung der Macht brachte die Regentschaft von Amyntas III. (393–370), der durch ein Bündnis mit den Chalkidiern eine weitere Annäherung an die Griechen betrieb.[6] Er war makedonischer König, als Aristoteles 384 in Stageira geboren wurde.
ABB. 6: Olynth
Der Vater des Aristoteles, Nikomachos, war Arzt und führte seinen Stammbaum bis auf den berühmten, bei Homer (Ilias II 732; IV 429) erwähnten Arzt Machaon zurück, der seinerseits Sohn des Heilgottes Asklepios war. Nikomachos soll medizinische Schriften verfasst haben. Auch die Mutter Phaestis entstammte einer Medizinerfamilie aus Chalkis auf der Insel Euboea, wo sie noch ein Haus besaß. Dort sollte Aristoteles die letzten Monate seines Lebens verbringen. Phaestis’ Herkunft dürfte mit der ursprünglichen Besiedlung durch die Chalkidier zusammenhängen. Die Eltern gehörten also zu den vornehmsten Familien der Stadt.
Der Vater war Leibarzt von Amyntas III. und muss sich daher längere Zeit – nicht nur zu gelegentlichen Visiten – am Hofe aufgehalten haben. Demnach war er kontinuierlich nicht in Stageira; der makedonische Königshof in Pella ist mehr als 100 km von Stageira entfernt. Es ist ausdrücklich überliefert, dass Nikomachos mit Amyntas «zusammengelebt» habe (Diogenes Laertius V 1, 1). Daher ist es wahrscheinlich, dass Aristoteles einen Teil seiner Jugend ebenfalls am makedonischen Hof zugebracht hat. Er dürfte also schon als Kind mit Polis und Königreich zwei trotz gewisser Gemeinsamkeiten doch in der Struktur unterschiedliche politische Systeme kennengelernt haben.
Aristoteles hatte noch einen Bruder namens Arimnestos und eine (vermutlich ältere) Schwester Arimneste. Seine Eltern starben früh, wahrscheinlich vor 370, dem Todesdatum von Amyntas III. Aristoteles war damals noch minderjährig. So wurde ein Vormund für ihn bestellt, ein gewisser Proxenos aus Atarneus, einer Stadt an der kleinasiatischen Küste gegenüber der Insel Lesbos. Er war ein Freund des Nikomachos, verkehrte gleichfalls am makedonischen Hof und heiratete später die Schwester des Aristoteles. Dieser Proxenos also kümmerte sich um Aristoteles. Ob er ihn förmlich adoptiert hat, ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. Wenig wahrscheinlich ist indessen, dass Aristoteles in jungen Jahren durch die Beziehung zu Proxenos auch schon in dessen Heimatstadt Atarneus gewesen ist. Proxenos war bestrebt, seinem Zögling eine möglichst gute Bildung zukommen zu lassen. Das war in Stageira und am makedonischen Hof bis zu einem gewissen Grad möglich. Es gab längst einen über die ganze griechische Welt sich erstreckenden regelrechten Buchhandel. Papyrusrollen mit Abschriften der Werke Homers, der Tragiker und der frühen Philosophen waren dem Heranwachsenden sicher zugänglich. Gern wüsste man, was im Theater von Stageira zu dieser Zeit aufgeführt wurde, vielleicht Tragödien des Euripides.
Als Aristoteles 17 Jahre alt wurde, endete die förmliche Vormundschaft. Doch Proxenos fühlte sich weiterhin für seinen Zögling verantwortlich und schickte ihn zur Vervollkommnung seiner Bildung an die seinerzeit beste Adresse, zur Akademie Platons. Demnach hatten sich der Ruf Platons als eines bedeutenden Philosophen und die Kunde von seiner nun schon fast 20 Jahre bestehenden Akademie immerhin bis nach Nordgriechenland verbreitet. Vielleicht pflegte Proxenos sogar persönliche Verbindungen zu Platon oder einzelnen Mitgliedern der Akademie und wird Aristoteles in irgendeiner Weise dorthin empfohlen haben.
Aristoteles machte sich nun auf den Weg nach Athen. Wahrscheinlich hat Proxenos ihn begleitet. Ob er mit dem Schiff gefahren ist oder den Landweg genommen hat? Beides war möglich. Es existierte schon ein gut ausgebautes Straßennetz,[7] denn die Griechen, so sehr sie sich an ihre Polis gebunden fühlten, reisten viel, so zu den großen Spielen nach Olympia, Delphi, Nemea und auch zu vielen anderen Zielen und Anlässen. Schließlich erforderten – damals wie heute – auch militärische Erwägungen intakte Verkehrswege. Unterwegs konnte Aristoteles nach den ungeschriebenen Gesetzen der Gastfreundschaft damit rechnen, allenthalben Aufnahme zu finden. Vermutlich aber ist er zu Schiff gereist, dem im Zweifelsfall schnelleren und komfortableren Verkehrsmittel. Stageira hatte ja einen Hafen.
Wo er nach seiner Ankunft in Athen gewohnt hat, wissen wir nicht, sicher nicht von Anfang an in der Akademie. Vermutlich hat Proxenos dafür gesorgt, dass er zunächst bei Freunden in Athen Unterkunft fand. Aristoteles wird sich mit der ihm eigenen Wissbegierde Athen genau angesehen haben. Aber wie sah Athen im Jahre 367 aus? Es hatte seit der perikleischen Glanzzeit (460–429) sein Gesicht verändert. Jedoch kann keine Rede davon sein, dass mit der verheerenden Niederlage im Peloponnesischen Krieg im Jahre 404 zugleich auch die attische Demokratie zu Grabe getragen worden sei. Athen hatte zwar im Vergleich zu Sparta und Theben erheblich an Macht verloren. Auf die jetzt kurzlebigen militärischen Auseinandersetzungen hatte Athen nur begrenzten Einfluss. Aber es traten Entwicklungen ein, die frappante Analogien zur Nachkriegssituation unserer eigenen Zeit aufweisen: Athen erholte sich nach der Niederlage wirtschaftlich erstaunlich schnell und nachhaltig. Die politischen Organe und Einrichtungen der Demokratie gelangten wieder zur Geltung, die Polis kam ihren kultischen Verpflichtungen in vollem Umfang nach und durch die Errichtung neuer Gebäude zeigte die demokratisch verfasste Bürgergemeinde wiedergewonnenes Selbstbewusstsein.[8] Ein neuer Emanzipationsprozess des Bürgertums hatte dann aber eine Verbreiterung der Schere von Arm und Reich und ferner eine Lockerung religiöser Bindungen zur Folge; neue Tempel von Bedeutung wurden nicht mehr gebaut. Stattdessen blühten Bildungs- und Kultureinrichtungen, zu denen auch die Rhetorenschule des Isokrates und letztlich auch die platonische Akademie zu rechnen sind.
Im Dionysostheater am Südostabhang der Akropolis wurden weiter Tragödien aufgeführt; sie hatten ihren Platz im kultischen Rahmen des Dionysosfestes uneingeschränkt bewahrt. Es ist eine weit verbreitete Fehleinschätzung, dass die griechische Tragödie mit dem fast gleichzeitigen Tod des Euripides und des Sophokles 406/5 und der bald darauf eingetretenen Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg ihre produktive Kraft eingebüßt hätte und ihrer kultischen und politischen Funktion beraubt worden sei. Die Tragödie war keineswegs tot, sondern gelangte im 4. Jahrhundert zu neuer Blüte. Ein paar Jahre bevor Aristoteles attischen Boden betrat, war im Jahre 386 durch ein offizielles Dekret die Wiederaufführung von Werken der sogenannten alten Tragödie legitimiert worden. Es entstanden auch viele neue (uns leider ganz verlorene) Dramen. Wir kennen etwa 40 Tragödiendichter des 4. Jahrhunderts mit Namen, unter denen Astydamas mit 140, Karkinos sogar mit 160, Theodektes mit 50 und Aphareus mit 35 Stücken hervorragen. Da wir kaum über Datierungsmöglichkeiten verfügen, können wir nicht wissen, was Aristoteles bald nach seiner Ankunft wohl in Athen gesehen haben mag, falls er überhaupt schon Zutritt zu den Dionysien gehabt hatte. Aber natürlich ging er später immer wieder zu den Großen Dionysien ins Theater; in seinem Werk (Poetik und Rhetorik) werden auch zahlreiche Dichter, Stücke und vereinzelt sogar Schauspieler seiner Zeit genannt.[9] Neu gegenüber der klassischen Zeit war das Bewusstsein von einer durch Aischylos, Sophokles und Euripides geprägten großen Tradition, der gegenüber man bestehen wollte, und vor allem aber sah man in der Tragödie nicht länger das Korrelat zur athenischen Demokratie, nicht mehr ein Organ des Durchspielens politischer Möglichkeiten; man verstand sie nicht mehr als Organ, das dazu diente, verschiedene politische Handlungskonzepte ins Bild zu setzen, sondern sah sie als Ausdruck einer kulturellen Manifestation griechischen Geistes an.
Zudem war in der Rhetorik eine in die Öffentlichkeit wirkende Macht erwachsen, die vor allem in Gestalt des jetzt fast 70-jährigen Redners Isokrates Aristoteles sogleich entgegentrat. Isokrates hatte schon vor einigen Jahren (etwa 390) eine einflussreiche Rhetorenschule gegründet und dürfte mit seiner makedonenfreundlichen Gesinnung Aristoteles vermutlich zugesagt haben. Aber da Aristoteles sich als Schüler Platons verstand und dessen Verdikt einer nicht philosophisch untermauerten Rhetorik teilte, lagen die Unterschiede klar zu Tage. Aristoteles hat sich dann später in seiner Rhetorik ausführlich und kritisch mit Isokrates auseinandergesetzt. Demosthenes hingegen, der große athenische Staatsmann, Makedonengegner und Rhetor, konnte bei der Ankunft des Aristoteles noch nicht öffentlich präsent sein; er ist im gleichen Jahr wie Aristoteles geboren (und gestorben).
Alles in allem: Aristoteles konnte sich gleich nach seiner Ankunft in Athen einen Eindruck davon verschaffen, wie eine große Polis in ihren einem jungen Mann aus der ‹Provinz› bis dahin unbekannten Dimensionen funktionierte.
Bald nach seiner Ankunft in Athen wird Aristoteles sich in die Akademie Platons begeben haben. Er musste die Stadt verlassen, das große Dipylon-Tor passieren, um dann auf der geschichtsträchtigen ‹Gräberstraße› – rechts und links die staatlichen und privaten, zum Teil sehr aufwändigen Grabmonumente – nach 1,6 km einen wunderbaren, schon etwa einhundert Jahre zuvor von dem athenischen Politiker Kimon angelegten lieblichen Hain mit schattigen Plätzen, Laubengängen und vielen schönen Bäumen zu erreichen. Diese Gegend galt von alters her als dem Heros Akademos (ursprünglich Hekademos) heilig und war nach ihm benannt worden, so wie der benachbarte Bezirk Kerameikos – das Töpferviertel – nach dem Heros Keramos heißt. Es gab dort schon seit dem 5. Jahrhundert eine Statue der Nymphe Akademeia.[10] Von diesen örtlichen Gegebenheiten leitet sich das Wort «Akademie» ab. Heute liegt die Gegend in einem wenig anmutigen Vorstadtquartier. Neuerdings hat man wieder einen kleinen Park angelegt, ein dürftiger Abglanz des einzigen Haines, der von Touristen jedoch kaum besucht wird.
Auf diesem Gelände hatte Platon, der nicht unbegütert war, ein Grundstück erworben oder geschenkt bekommen (die Quellen schwanken in dieser Frage) und dann ein Haus – in dem er als Junggeselle auch wohnte –, mehrere andere Gebäude und wohl auch eine Bibliothek errichten lassen. Ganz klar wird die Anordnung der Gebäude nicht, weil die Ausgrabungen bis heute unvollständig und im Ergebnis unbefriedigend sind. Die Situation ist so unübersichtlich und überraschend, dass man neuerdings den Bau im Süden des Geländes, der früher als das Gymnasion angesehen worden war, als Bibliothek erkannt hat. Diese Bibliothek war ausgestattet mit einem Lesesaal, der über ca. 40 Arbeitsplätze in Form von gemauerten Sockeln verfügte, auf denen jeweils eine Arbeitsplatte zum Ausbreiten der Papyrusrollen montiert war.[11] Neben einem Bücherdepot lässt sich zudem ein Vortragssaal rekonstruieren, den eine Statuengruppe der neun Musen mit einem Altar der Musen zierte. Hinzu kamen zwei mit sogenannten Klinen (Speisesofas) ausgestattete Räume für gemeinsame Mahlzeiten des engeren Schülerkreises.
Als Aristoteles den Boden der schon 20 Jahre bestehenden, aber wohl erst nach und nach gewachsenen Akademie betrat, war Platon gar nicht da. Er war gerade auf der zweiten von drei Reisen nach Sizilien, weil die Machthaber in Syrakus die Nähe des großen Philosophen suchten. Platon hatte sich drängen lassen müssen und seine Skepsis war berechtigt. Jedes Mal musste er erleben, dass die Herrschenden (jetzt Dionys II.) nicht wirklich bereit waren, sich der Philosophie zu öffnen, um in ihrem Herrschaftsbereich größere soziale Gerechtigkeit walten zu lassen.
Während Platons Abwesenheit hatte vielleicht (die Bezeugung ist nicht ganz sicher) der als Astronom und Mathematiker berühmt gewordene, gerade erst ca. 33-jährige Eudoxos von Knidos (ca. 400 – ca. 347) die Schule stellvertretend geleitet. Aristoteles traf sogleich auf eine ganze Reihe von Schülern aus Platons nächstem Umfeld, unter denen Speusipp (ca. 410 – ca. 339) und Xenokrates (ca. 397–315) hervorragten.
Der zu dieser Zeit also schon 43-jährige Speusipp war der Neffe Platons – ein Sohn seiner Schwester Potone –, Xenokrates, gerade 30 Jahre alt, war ein besonders enger und vertrauter Weggefährte Platons. Es sind zwei weitgehend übereinstimmende, allerdings unvollständige Listen von 17 bzw. 19 Platonschülern überliefert,[12] von denen die meisten älter als Aristoteles, einige gleich alt waren. Sie bildeten den engeren Kreis, der wohl auch in der Akademie wohnte, zu dem bald auch Aristoteles gehörten sollte. Die Älteren unter ihnen waren bereits mit eigenen Schriften und Vorträgen hervorgetreten.
Für die auf dem Akademiegelände wohnenden Schüler hatte Platon eine «Nachtuhr» erfunden, die ähnlich einer Wasserorgel durch eine mit Wasserdruck betriebene Pfeife am Ende einer seitlich montierten Röhre einen durchdringenden Pfiff von sich gab, mit dem Platon in früher Morgenstunde (er war Frühaufsteher, vgl. Gesetze VII 808 A ff.) seine Schüler zu wecken pflegte. Der technisch-handwerklich überaus begabte Klassische Philologe Hermann Diels (1848–1922) hat diese «Nachtuhr» auf der Grundlage eines Textes des Peripatetikers Aristokles von Messene (Ende des 1. Jh.s v. Chr.) mit Hilfe seines Sohnes, des Chemikers Otto Diels (Nobelpreisträger für Chemie 1950), nachgebaut und in einer Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 18.11.1915 vorgeführt, wobei der laut vernehmbare Pfiff die anwesenden Gelehrten erstaunt und amüsiert haben soll. Auf derselben Sitzung hat übrigens Albert Einstein zentrale Aspekte seiner Relativitätstheorie vorgetragen.[13]
ABB. 7: Das Akademiegelände während der Ausgrabung
Aristoteles war zunächst natürlich einige Jahre lang nur Schüler, ehe er mit Vorträgen und Schriften hervortreten konnte. Platon hatte in seinem zu dieser Zeit gerade fertiggestellten Hauptwerk Politeia (Staat) ein Erziehungsprogramm für angehende Philosophen entworfen, das erst einmal ein intensives Studium der Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und Grammatik vorsah (Rep. VIII 525 D-535 A). Platon wollte damit ein Verharren an den bloßen Erscheinungen vermeiden und den Blick sofort auf allgemeingültige Begriffe und Sätze lenken. Dabei war ihm die Mathematik der große Vergewisserungsbereich für die Konzeption der Ideenlehre. Nun kann man gewiss davon ausgehen, dass Platon das für das utopische Staatsmodell der Politeia gedachte Erziehungsprogramm nicht 1:1 in die Realität hätte umsetzen wollen. Aber die Richtung ist deutlich und galt grundsätzlich auch für die Lehrjahre des Aristoteles. Im Übrigen hat Aristoteles unermüdlich in der Bibliothek gelesen. Schon bald bekam er den Spitznamen: «Der Leser»
ABB. 8 a, b, c: Der Lesesaal im Bibliotheksgebäude der Akademie (Rekonstruktion von Wolfram Hoepfner)
Nach einigen Jahren war er dann so weit. Er nahm an Diskussionen mit anderen Mitgliedern der Akademie teil und konnte auch bald eigene Vorlesungen halten. Ihm stand ein Hörsaal zur Verfügung, dessen Ausstattung aus Andeutungen in seinen Schriften erkennbar wird.[14] Danach gab es dort eine weiße Tafel für Aufzeichnungen und zwei Wandgemälde, die Szenen aus platonischen Dialogen (Protagoras und Phaidon) wiedergaben.
Man muss sich das Leben in der Akademie vielfältig vorstellen. Es gab Diskussionen im engsten Kreis der Vertrauten, gelegentlich auch im Garten der Akademie, dann aber auch im großen Vortragssaal, zu dem Hörer aus der Stadt kamen. Der Unterricht selbst war kostenlos. Platon setzte sein privates Vermögen ein.
Platon war weltoffen und tolerant. Unter seinen engeren Schülern waren nur wenige Athener. Wie die Herkunftsnamen in den Listen der Platonschüler belegen, kamen die Auswärtigen aus der Peloponnes, aus Thrakien, Phrygien, Mysien, der Troas, der Schwarzmeergegend, aus Syrakus und mit Amphipolis auch aus dem östlichen Teil Makedoniens. Diese Schüler genossen entsprechend der autonomen Struktur der griechischen Polis keine vollen Bürgerrechte in Athen. Sie waren (wie Aristoteles selber) «Metoeken» – steuerpflichtige «Mitbewohner» mit einem geringeren Rechtsstatus.
Tolerant zeigte sich Platon vor allem in der Respektierung anderer Meinungen. Alle Platonschüler, die wir kennen, wichen in entscheidenden Fragen von Platon ab. Speusipp räumte dem Einzelnen vor dem Allgemeinen den ontologischen Vorrang ein; Xenophanes leugnete die Differenz zwischen Ideenzahlen und mathematischen Zahlen, auf die Platon großen Wert legte. Der schärfste Kritiker war aber Aristoteles. Er hatte sich von Anfang an von der Ideenlehre als einer unnötigen Verdoppelung der Welt distanziert, wonach es von allen Einzeldingen eine immaterielle Idee gibt. Er konnte sogar in einer seiner frühen, in der Akademie entstandenen Schriften die Ideenlehre Platons in Bausch und Bogen als «Trällerei» oder «Grillengezirpe» bezeichnen (Anal. Post. II 22, 83 a 33) ohne deshalb die Akademie verlassen zu müssen. Gewiss war dieser Aristoteles für Platon unbequem, aber Platon ertrug ihn nicht nur, sondern ließ sich von ihm auch anregen.
Natürlich hat Platon seine Philosophie in der Akademie zur Diskussion gestellt. Dies gilt auch für seine der reinen Mündlichkeit vorbehaltene, in den Dialogen nicht explizierte Prinzipienlehre, die schon von Aristoteles so genannte «ungeschriebene Lehre» Physik III 2, 209 b15), die in der Platonforschung der Gegenwart eine außerordentliche, auch kontroverse Rolle spielt.[15] Es handelt sich dabei um eine Letztbegründung allen Seins in der Reduktion auf zwei letzte Prinzipien, die den Ideen gegenüber ontologisch noch höherrangig sind, auf die «Eins»
und die «unbegrenzte Zwei»
als Prinzip der Vielheit, wobei die «Eins» zugleich «das Gute selbst» darstellt, der ontologische Aspekt also mit dem agathologischen – das Wesen des Guten betreffenden – zusammenfällt. Berühmt geworden ist die Anekdote, die der Aristotelesschüler und Musiktheoretiker Aristoxenos unter Berufung auf Aristoteles berichtet. Danach hatte Platon eine auch für eine breitere Öffentlichkeit zugängliche Vorlesung Über das Gute gehalten. Die meisten Hörer seien in der Erwartung gekommen, sie würden etwas über die üblichen Güter wie Reichtum, Gesundheit, Kraft und Glück erfahren. Als Platon aber über Zahlen, Mathematik und Geometrie sprach und schließlich ausführte, das Gute sei die Eins, da seien die meisten Hörer enttäuscht, ja geradezu entrüstet gewesen. Das war die Reaktion nicht der eigentlichen Platonschüler, sondern der philosophisch unvorbereiteten Hörer. Es wird ferner berichtet, dass einige Schüler Platons, darunter auch Aristoteles, von dieser Vorlesung wörtliche Nachschriften angefertigt hätten. Aristoteles hat diese Konzeption Platons in einer umfangreichen, drei Bücher umfassenden, doch bis auf ganz wenige Fragmente verlorenen Schrift Über das Gute referiert und diskutiert.[16]
Platon hatte diese Lehre streng von der Schriftlichkeit ausgeschlossen, weil in der leichten Handhabung bloße Formeln unverstanden zu Floskeln herabsinken können. Die meisten Platonschüler haben die ontologische Grundkonzeption Platons nicht unkritisch rezipiert. So hat man immer wieder nach Spuren der Antwort Platons in seinen Dialogen auf die Kritik seiner Schüler gesucht. Dafür ist vor allem der Dialog Parmenides in Anspruch genommen worden, der in der Tat Diskussionen über Platons Ideenlehre widerspiegeln dürfte. In komplizierter Fiktionalität werden Einwände gegen die Ideenlehre diskutiert, die vor allem den möglichen oder nicht-möglichen Zusammenhang von Idee und Erscheinung und damit von Einem und Vielem betreffen. Im zweiten Teil des Dialoges wird eine dialektische Übung vorgeführt, die in acht Hypothesen die Folgerungen aus der Annahme zieht, dass «Eines» ist (Hypothese 1–4) oder dass «Eines» nicht ist (Hypothese 5–8). Gesprächspartner sind in diesem Teil des Dialoges der alte Parmenides und ein junger Mann namens Aristoteles, der als bloß Antwortender eine ganz blasse Figur bleibt. Ein großer Teil der Forschung sieht in ihr unseren Aristoteles,[17] jedoch zu Unrecht. Denn Platon sagt ausdrücklich, dass dieser Aristoteles zu den «Dreißig» gehört, die – nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg – im Jahre 404 in Athen vorübergehend die Macht an sich rissen. Es handelt sich also um eine Figur aus der Lebenswelt des Sokrates wie alle anderen Dialoggestalten Platons auch. Im Übrigen war der Name Aristoteles keineswegs singulär. Diogenes Laertius (V 1, 35) nennt acht Träger des Namens Aristoteles, darunter auch den im Parmenides erwähnten athenischen Politiker, ferner zwei weitere Philosophen, einen Redner, drei Grammatiker und einen Turnlehrer. Platon hätte aber im Parmenides den Politiker Aristoteles nicht mehr unbefangen einführen können, nachdem sich der Philosoph gleichen Namens in der Akademie profiliert hatte. Da nun auch ganz andere Überlegungen zur chronologischen Abfolge der platonischen Dialoge eine frühere Datierung des Parmenides nahelegen,[18] dürfte der Dialog vor dem Eintritt des Aristoteles in die Akademie verfasst, gleichwohl von Diskussionen in der Akademie beeinflusst sein, nur nicht von Einwänden unseres Aristoteles. Eine kritische Diskussion der Lehre Platons war also in der Akademie schon im Gange, bevor sich Aristoteles an ihr beteiligte.
Als Aristoteles in die Akademie eintrat, lag das uns erhaltene Werk Platons erst etwa zur Hälfte vor. Auch gehörten Aristoteles und andere prominente Mitschüler der Akademie schon an, als Platon die Dialoge Sophistes, Politikos, Philebos, Timaios, Kritias und vor allem das große Alterswerk Gesetze verfasste.
Auch einige seiner Schüler haben Dialoge geschrieben, darunter Aristoteles. Der grundlegende Unterschied ist, dass Platon nur Dialoge geschrieben hat, während bei den anderen Akademiemitgliedern Abhandlungen, zumeist als Lehrschriften, die weitgehend auf Vorlesungsskripten basierten, hinzukamen und dann so im Mittelpunkt ihres Œuvres standen, dass die Dialoge zunehmend einen popularisierenden Charakter gewannen. Ihre ‹eigentliche› Lehre und Philosophie steckte dann aber in den Abhandlungen. Platon hingegen – und darin ganz dem sokratischen Primat der Mündlichkeit verpflichtet – misstraute der Schriftlichkeit und damit der Fixierung der Philosophie nach außen hin so sehr, dass er seine Philosophie schriftlich nur in der Form des Dialoges und damit eines Abbildes der Mündlichkeit explizierte. Platon ist damit zum Schöpfer des literarischen Dialoges als eigenständiger Kunstform geworden. Der Dialog als Schriftwerk war dazu bestimmt, nach außen zu wirken, und stellte so eine Brücke zwischen den innerakademischen Vorträgen, Forschungen, Diskussionen einerseits und der Außenwelt andererseits dar.
Keiner der Dialoge aus dem Kreise der unmittelbaren Platonschüler ist erhalten geblieben. Es gibt nur ganz wenige Splitter wörtlicher Überlieferung in Form von Zitaten späterer Autoren. Meist sind es mehr oder weniger genaue Berichte, die der Dialogform entkleidet sind und die Abgrenzung zwischen den einzelnen Dialogpartnern verwischen, so dass man die Namen der Dialogpartner meist gar nicht kennt und überhaupt die Lebendigkeit des Dialoges nur ungefähr erahnbar ist.
Besonders beliebt waren offenbar die Dialoge des Herakleides Ponticus wegen der Lebendigkeit ihrer Szenerie und der Phantastik der darin behandelten Themen. Am stärksten hat sein Dialog Über die Scheintote gewirkt. Einer der Gesprächspartner in diesem Dialog war Empedokles, der mit einer Gruppe von Ärzten am Lager einer seit Tagen im Koma liegenden Frau über das Wesen des Scheintodes diskutiert. Empedokles, mit wunderbaren Kräften begabt, gelingt es, die Frau wieder zum Leben zu erwecken, und sie berichtet nun, was ihre Seele auf ihrer ekstatischen Fahrt in das Jenseits erlebt hat. Im Hintergrund steht natürlich das in der Akademie diskutierte Problem der Unsterblichkeit der Seele, das auch Platon in einigen Dialogen (Phaidon, Phaidros) mit mythischen Bildern poetisch ausgestaltet hat. Herakleides hat eine ganze Reihe lebendiger Dialoge geschrieben, wie viele, lässt sich indes nicht mehr feststellen, weil die überlieferten Titel der Schriften nicht verraten, ob es sich dabei um einen Dialog oder eine Abhandlung handelt. Ähnliches gilt für Speusipp und Andere, während Xenokrates keine Dialoge geschrieben zu haben scheint.
Für Aristoteles sind es 18 oder 19 Dialoge, die aufgrund der Titelangaben in den Schriftenverzeichnissen erschlossen werden können. Die Vita des Diogenes Laertius enthält ein ausführliches Verzeichnis der Titel seiner Schriften einschließlich der Dialoge. Auf der Grundlage der in diesem Verzeichnis erhaltenen Buchangaben (d.h. der Anzahl der Papyrusrollen) lässt sich für die Dialoge des Aristoteles ein Umfang von über 1000 Seiten im Format einer modernen Ausgabe errechnen, also etwa drei stattliche Bände. Das entspricht mehr als einem Drittel des ganzen platonischen Werkes, aber nur etwa 10 % des aristotelischen Corpus insgesamt. Aristoteles hat also schneller geschrieben als Platon, aber dessen Intensität der künstlerischen Gestaltung des Dialoges nicht erreicht, vielleicht auch gar nicht erreichen wollen. Denn Aristoteles wollte die Tradition des sokratisch-platonischen Dialoges nicht gleichsam epigonal fortsetzen, wie es spätere Akademiker noch nach Platons Tod wirklich taten. Bei ihnen handelt es sich um die Verfasser der sog. Spuria, d.h. der unter Platons Namen überlieferten Dialoge wie Axiochos, Eryxias, Sisyphos, die im Anhang der tetralogischen Ordnung des platonischen Werkes (dessen als echt angesehene Texte seit den ersten antiken Ausgaben in neun Vierergruppen eingeteilt werden) stehen und in denen nach wie vor Sokrates der Hauptunterredner ist. Aristoteles hat hingegen von Anfang an eine Aufsehen erregende Neuerung eingeführt: Er hat sich selber zum Dialogpartner gemacht – ein Zeichen hohen Selbstbewusstseins, mit dem er in der Akademie allein stand. Niemand ist dieser Neuerung gefolgt; erst 400 Jahre später hat Cicero sie aufgegriffen, der sich dafür ausdrücklich auf Aristoteles beruft.[19]
Mit dieser Neuerung hat Aristoteles der Gattung Dialog eine ganz neue Wendung gegeben. Platon konnte (dem nicht mehr lebenden) Sokrates Gedanken in den Mund legen, die über das hinausgehen, was Sokrates hätte sagen können. Das war aber nicht mehr möglich, wenn der Hauptunterredner im Dialog zugleich der Autor ist. Der fiktive Aristoteles kann nur das sagen, was der wirkliche Aristoteles denkt. Die Neuerung des Aristoteles, als Dialogperson selber aufzutreten, bedingt also einen geringeren Grad an Fiktionalität, eine direktere Fixierung der Aussage – die nicht mehr quasipoetisch in der Schwebe bleiben kann – und eine stärkere Bindung der verteidigten und kritisierten Positionen an die unmittelbare Realität.
Aristoteles hat verschiedene Typen des Dialoges ausgearbeitet.[20] Sicher ist, dass er in größeren Dialogwerken die von Cicero ausdrücklich als aristotelisch bezeichnete Methode des in utramque partem disserere (in Rede und Gegenrede konträre Standpunkte vertreten) eingeführt hat, wodurch der Dialog Thesencharakter gewann und zu einer zusammenhängenden Darlegung verschiedener Standpunkte führte. Ob dabei in jedem Fall Aristoteles selber als Vertreter einer These aufgetreten ist, wissen wir nicht. Darüber hinaus soll Aristoteles auch das literarische Verfahren praktiziert haben, den einzelnen Büchern größerer Dialoge gesonderte Prooemien (Vorreden) voranzustellen, wie wir es aus Ciceros Dialogen kennen.
Grundsätzlich konnte Aristoteles in allen Phasen seines Lebens Dialoge schreiben, denn die Tradition des philosophischen Dialoges riss mit Platons Tod nicht ab. So hat der Aristotelesschüler Klearchos einmal Aristoteles zur Dialogfigur gemacht; der aus Megara stammende Stilpon schrieb einen Dialog mit dem Titel Aristoteles; Praxiphanes, ein Schüler Theophrasts, ließ Platon im Dialog auftreten. Es spricht aber doch alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass die meisten Dialoge des Aristoteles in seiner Zeit an der Akademie entstanden sind. Hier war der Dialog in ein natürliches Umfeld eingebettet; hier hatte Aristoteles ein Publikum und eine lebendige Konkurrenz, die in der unruhigen Zeit seiner Abwesenheit von Athen fehlte. Und während seines zweiten Aufenthaltes in Athen wird Aristoteles zum Schreiben von Dialogen kaum noch Zeit gehabt haben.
Von den überlieferten Titeln seiner Dialoge sind vier mit Titeln platonischer Dialoge identisch: Symposion, Sophistes, Politikos, Menexenos. Über den aristotelischen Menexenos weiß man nichts; es ist kein Fragment enthalten. Die beiden Dialoge Sophistes und Politikos sind wohl als Reaktionen auf die gleichnamigen Dialoge Platons geschrieben worden. Genaueres lässt sich angesichts der ganz wenigen Fragmente kaum sagen. Im Sophistes hat Aristoteles die für Platon zentrale ontologische Problematik (Schein, Sein, Nicht-Sein, wahre – falsche Rede) offenbar ganz ausgeklammert, dafür aber Begriff und Sache der Sophistik geschichtlich entwickelt und zur Dialektik und Rhetorik abgegrenzt. Aus dem Politikos ist – selten genug – ein wörtliches Zitat überliefert: «Das Gute ist das genaueste Maß von allem» (Frgm. 79 R3). Das klingt platonisch, ist aber als Zitat aus dem Kontext herausgerissen und meint offenbar, dass der gute Politiker sich genau an das Gute zu halten hat und von dieser Norm nicht abweichen darf, mithin weder Macht noch Gewinnstreben oder Ähnliches in seine Handlungen einfließen lassen darf. Das ist aristotelisch. Der relativ umfangreiche Dialog (zwei Bücher) enthielt wohl auch eine Diskussion der Regierungsformen (Königtum, Tyrannis, Demokratie usw.) im Hinblick auf den Politiker. Mit dem Symposion (Nebentitel: Über die Trunkenheit) bleibt Aristoteles dem gleichnamigen Werk Platons ganz fern. Es ist im Unterschied zu Platon (und Xenophon) gar kein literarisches Symposion, sondern eine Art Meta-Symposion mit Anweisungen über Weingenuss, Bekränzung, Körperpflege, Auswirkungen des Betrunkenen auf die menschliche Physis und auf sein Verhalten im Hinblick auf das Symposion.[21]
Erkennbar als Gegenstück zu Platons Phaidon ist der Dialog Eudemos konzipiert, in der Gemeinsamkeit der Fragen nach Eigenart, Schicksal und Unsterblichkeit der Seele, verfasst zwischen 353 und 347 (354/3 war Eudemos von Zypern, nach dem der Dialog benannt ist, verstorben). Ob Eudemos als Hauptunterredner König Philipp II. als Gesprächspartner hatte und demgemäß das (fiktive) Gespräch am makedonischen Königshof stattfand,[22] muss Hypothese bleiben. Es entspräche dann der Dialog dem geläufigen Typ von Anekdoten, wonach ein Weiser (Eudemos) einem Herrschenden (Philipp II.) zu verstehen gibt, dass das wahre Glück nicht im irdischen Prunk, sondern in einer Lebenshaltung besteht, die ein «besseres Leben» der Seele im Jenseits erhoffen lässt. Doch lässt sich gegen diese Konstruktion einwenden, dass eine solche Dialogszenerie angesichts der Bindungen des Aristoteles an den makedonischen Hof und der gerade beginnenden Eroberungszüge Philipps einiger maßen riskant gewesen wäre. Die wenigen Fragmente erlauben keine sichere Entscheidung, zeigen aber, dass Aristoteles in diesem Text sowohl populäre als auch in der Akademie diskutierte Topoi über die Seele in reicher Metaphorik und mythischen Bildern behandelt hat, und zwar hinsichtlich der Darstellungsweise gattungsbedingt in methodischer Differenz zu der Lehrschrift Über die Seele, die mit dem Konzept der Seele als Inbegriff all ihrer Funktionen auch in biologischer Hinsicht abweicht von der Sichtweise Platons, der so stark die Konflikte betonte, die mit dem Gegensatz von Leib und Seele verbunden sind.
Jedenfalls zeigen die Dialoge, dass Aristoteles umfassend bestrebt war, alle in der Akademie diskutierten Themen und Probleme auch nach außen hin in der für ein breiteres Publikum angemessenen Form darzustellen. Wie einst Platon selber, so wird auch er mit kleinen Dialogen und gängigen Themen angefangen haben, wie sie die Dialogtitel Über Liebe, Über Lust, Über Reichtum anzeigen, von denen jedoch außer den Titeln fast nichts überliefert ist. Etwas mehr weiß man von dem vielleicht frühesten Dialog Gryllos, den Aristoteles um 360 als knapp 25-Jähriger verfasst hat. Gryllos (oder Grylos) war ein Sohn des Sokratesschülers Xenophon und fiel bei einem Reitergefecht am Vorabend der Schlacht von Mantineia im Jahre 362. Sein Tod hat, zumal der Vater Xenophon noch lebte, in Athen eine Welle von literarisch konstruierten, also fiktiven Lob- und Grabreden ausgelöst (Frgm. 68 R3), so dass der Tod des Gryllos nachgerade ein rhetorischer Topos wurde. Auch der Redner Isokrates hat eine (verlorene) Lobrede auf Gryllos verfasst. Aus diesem Anlass hat sich Aristoteles ein erstes Mal mit Isokrates auseinandergesetzt. Denn das Thema des Dialoges ist die Rhetorik, genauer: die Frage, ob die Rhetorik eine auf Regeln beruhende, erlernbare Kunst sei oder nicht. Wahrscheinlich trat Aristoteles nur in einem Rahmengespräch auf, während er das Pro und Contra durch möglicherweise gar nicht individualisierte Dialogpersonen darstellte. Aristoteles griff damit ein Thema auf, das ihm von Anfang an in der Akademie (und auch außerhalb) entgegentrat und das Platon im Gorgias und im Phaidros behandelt hatte. Für den jungen Aristoteles war dies in erster Linie, wie ausdrücklich bezeugt ist (Frgm. 69 R3), eine Argumentationsübung. Gern wüsste man mehr über den immerhin vier Bücher umfassenden Dialog Über die Gerechtigkeit. Auch die engsten Vertrauten Platons, Speusipp und Xenokrates, haben Dialoge über das gleiche Thema verfasst, aber jeweils in nur einem Buch. Angesichts des bezeugten Umfangs dieses Dialoges ist die Annahme unausweichlich, dass darin eine große Auseinandersetzung mit Platons Staat und damit der platonischen Konzeption der Gerechtigkeit vorgetragen wurde. Leider sind für den Dialog Über die Gerechtigkeit nur ein paar belanglose Anekdoten überliefert, doch wird Aristoteles natürlich die zentralen Fragen der Gerechtigkeit behandelt und vor allem die platonische Konzeption einer transzendent verwurzelten Gerechtigkeit als Zusammenwirken der Seelenteile im Einzelnen kritisch hinterfragt haben. Wie das dialogisch gestaltet war, wissen wir angesichts der dürftigen Überlieferung nicht.
Besonders interessant muss der Dialog Über das GebetPhaidrosAlkibiades IIMetaphysik