Leben und Sterben einer Legende
Eine Biographie
Verlag C.H.Beck
„Don’t cry for me, Argentina“ – durch ihren frühen Tod wurde Eva Perón zur Legende. Andrew Lloyd Webber widmete ihr ein Musical, Madonna verkörperte sie im Kino. Ursula Prutsch erzählt das kurze, aber intensive Leben einer starken Frau aus einfachen Verhältnissen, die zur mächtigsten Frau Lateinamerikas wurde, und führt dabei zugleich ein in die Geschichte des modernen Argentinien.
Mit nur 33 Jahren starb „Evita“ an Krebs. Trotzdem ging die Gattin des argentinischen Präsidenten Juan Perón in die Geschichte ein. Für die einen war sie Feministin, Wohltäterin der Armen und Heilige der Arbeiter, für die anderen eine machtgierige, berechnende Aufsteigerin, die Mildtätigkeit als bloße Show inszenierte. Zur Politik Eva Peróns gehörte es auch zu polarisieren und mit Emotionen zu regieren. Dadurch prägte sie den peronistischen Populismus entscheidend mit. Ursula Prutsch legt nun die erste wissenschaftlich fundierte deutschsprachige Biographie dieser modernen Kunstikone vor.
Ursula Prutsch ist Dozentin am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert.
Gleichwohl folgen fast alle,
durch falschen Glanz und eitlen Ruhm verblendet,
absichtlich oder aus Unwissenheit jenen,
die mehr Tadel als Lob verdienen.
Niccolò Machiavelli: Discorsi (1531)
Tod im Museum
Von der Provinz in die Großstadt
Eine politische Mission
«Morgen ist San Perón»
Fälschungen, Wiedergeburten, Karrieren
Die Regenbogenreise
Die Stilikone
Eine glückliche Welt
Die Kameradin
Die Wohltätige
Krisen, Gerüchte, Enttäuschungen
Die Unterwerfung
Die Inszenierung eines langsamen Todes
Schwarze Legenden und die Odyssee eines Leichnams
Der Mythos wird global
Evita lebt – ein vorläufiges Ende
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Dank
In einer Seitenstraße der belebten Avenida Las Heras im Zentrum von Buenos Aires liegt das Museo Evita. Es ist ein schlichter Bau im spanischen Landhausstil mit blau-weißen Ornamentfliesen im überdachten Innenhof. Das Haus gehörte einmal der Stiftung Eva Perón. Wer es betritt, wer sich auf eine Zeitreise durch die Schauräume einlässt, merkt bald, dass hier keine objektive Geschichte erzählt wird, sondern ein Mythos, der mit dem Tod der Hauptfigur beginnt. Schon die Wände des ersten Raums sind mit Bildern des Trauerzuges überzogen. Eine imposante Masse dunkel gekleideter Menschen schiebt sich dort langsam an einem Band von weißen Blumen entlang und gibt der berühmten Toten ihr letztes Geleit. Eine halbe Million soll es gewesen sein. Viele tragen Regenschirme oder halten Zeitungen über den Kopf. Aus Fenstern regnen unzählige weiße Papierschnitzel herab.
Hier im Museum ist die Geschichte gleichsam aufgehoben. Die Besucher werden Teil eines Trauerrituals, werden hineingezogen in das Geschehen, das vermitteln will, wie bedeutend die Verstorbene in ihrem kurzen Leben gewesen war. Ich bin nicht die einzige, die verstehen will, welche Taten diesem Ruhm vorausgingen und warum eine privilegierte Frau, die scheinbar alles erreicht hat, im Alter von 33 Jahren an Krebs stirbt.
María Eva Duarte de Perón sei eine Workaholic gewesen, erzählte mir die 94-jährige Nélida de Miguel, eine ihrer engsten Mitarbeiterinnen.[1] Nicht selten sei die Señora erst am frühen Morgen zu Bett gegangen. Betroffen vom Elend auf dem Land und in der Stadt habe sie all ihre Kräfte eingesetzt, um einzulösen, was Politiker vor ihr verabsäumt hätten. Selbst aus der Unterschicht kommend wusste sie, was es bedeutete, am Rande der Gesellschaft zu stehen. Noch spätabends habe sie Hilfsbedürftige heimlich am Dienstboteneingang ihrer Residenz empfangen, weil Juan Perón ihre Selbstausbeutung bedenklich fand. Sie sei eine Heilige gewesen, meinte Nélida de Miguel, die Evita seit ihrem Todestag, dem 26. Juli 1952, alljährlich auf dem Friedhof von Recoleta ihre Reverenz erweist.
Dieses Bild der Heiligen zeigt auch das Museum und fügt ihm andere und bekannte Bilder hinzu: Feministin, Märtyrerin, Wohltäterin der Armen, Kameradin, Santa Evita. Deshalb erstaunt nicht, dass das Gästebuch viele Kommentare der Bewunderung birgt. Meist wurden sie von Frauen verfasst. «Ich will sein wie sie», liest sich ein Eintrag vom September 2013. Und an einer anderen Stelle: «Sie ist ein Vorbild für uns alle.» Doch ist sie das?
Als Historikerin verwunderten mich die einseitigen Zuschreibungen des Museums wenig. Da ich mich zuvor schon mit Eva Perón beschäftigt hatte, wusste ich auch, dass vieles davon nicht stimmte. Ebenso führten mir meine Forschungen im Herbst 2013 wieder vor Augen, wie gespalten die argentinische Gesellschaft noch immer ist, wenn es um die Darstellung der berühmten Präsidentengattin geht. In den meisten Darstellungen wird Evita entweder verklärt und verteidigt oder verdammt.
Zu ihrer Politik gehörte es, zu polarisieren. Ebenso, mit Emotionen zu regieren. Das Präsidentenpaar Eva und Juan Perón schuf mächtige Freunde und Feinde. Fürsprecher wurden gekauft, Gegner gehasst und gelegentlich auch bedroht, wenn sie das Projekt einer selbstbewussten Nation zu gefährden versuchten. Denn ein starkes Wir-Gefühl lässt sich gut durch ein bedrohliches «Anderes» erzeugen, das es zu bekämpfen gilt. «Ich bin fanatisch», verkündete Eva Perón immer wieder stolz. «Fanatismus ist die Klugheit des Geistes. Was spielt es für eine Rolle, wenn jemand fanatisch ist, es sei denn, er befindet sich in Gesellschaft von Märtyrern und Heiligen.»[2] Ein solcher Fanatismus schafft zwangsläufig Gegner.
«Lang lebe der Krebs» war an Hauswänden in Buenos Aires zu lesen, als sich die Nachricht von ihrem Tod verbreitete. Drei Jahre später, 1955, wurde Juan Perón ins Exil verbannt. Seine Gegner hatten gewonnen. Sie schickten sich an, den Ruf und die Legenden der First Lady zu zerstören. Nun war Evita auch offiziell eine Möchtegern-Künstlerin, eine Prostituierte, Intrigantin, Verführerin des Volkes, die Mildtätigkeit als bloße Show inszenierte. «Oh What a circus! Oh What a show», singt Antonio Banderas in der Filmversion des Musicals Evita, das Eva Perón zur internationalen Pop-Ikone machte.
Die Gräben, die der Peronismus zog, sind bis heute nicht zugeschüttet. Auch der Mythos lebt fort. Zu Mythen gehört, dass sie weitererzählt, wiederbelebt oder sogar neu erfunden werden. So beruft sich die amtierende argentinische Präsidentin Cristina Kirchner gerne auf Eva Perón. Vor ein paar Jahren erst ließ sie zwei meterhohe, weithin sichtbare Stahlplastiken auf der Fassade eines Ministeriums anbringen. Beide Darstellungen sind den Argentiniern durch Tausende von Bildern wohlbekannt: Die Vorderseite zeigt Evita im Profil mit einem Mikrophon, die Rückseite zeigt das bekannte Porträt mit der Perlenkette. Es gibt durchaus Argentinier, die eine kritische Perspektive auf die berühmteste Frau des Landes einmahnen. Allein die Touristen, die jährlich an das Grab von Evita pilgern, die vielen Schulklassen, die selbst aus Brasilien dorthin gefahren werden, machen deutlich: Der Mythos ist ein gutes Geschäft. Ist die Heldin schön und stirbt sie früh, dann ist die Chance, unsterblich zu werden, groß.
Auch deshalb endet dieses Buch nicht mit ihrem Tod, sondern mit wiederbelebten Mythen. Sie reichen bis zur Gegenwart und bieten noch immer Stoff für Romane, Filme und Musicals. Solcherart wurde Eva Perón mehrmals zu Grabe getragen und wieder auferweckt, von jeder Generation, den politischen Gegebenheiten stets etwas angepasst.
Deshalb möchte ich der Faszination nachspüren, die Evita Perón noch immer ausübt. Ich will die Gründe dafür benennen, ihre Kindheit und den Aufstieg zur Macht schildern, ihre politischen Ziele und die Umsetzung beschreiben. Dabei werden die Profiteure benannt und jene, die ausgegrenzt wurden. Das Buch zeigt die Mittel auf, mit denen diese Ziele verfolgt wurden, und beschreibt, warum die Präsidentengattin auch so umstritten war. Zu Evita gehören zudem vielfältige Frauenrollen, die sie zu verkörpern verstand. Sie reichten von der demütigen Schülerin ihres Mannes bis zur emanzipierten Frau, von der Sozialpolitikerin bis zur Stilikone.
Gerade über ihre Jugend und ihre ersten Jahre in Buenos Aires gibt es wenig verlässliche Aussagen. Das hat auch damit zu tun, dass Evita Facetten ihres früheren Lebens gezielt zu verschleiern begann, als sich ihr neues Leben an der Seite von Juan Perón auftat. In der Verzerrung ihres Lebens ging sie so weit, ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort zu fälschen. Sie spielte mit ihrer eigenen Geschichte, und der Peronismus tat viel, um verlässliche Quellen verschwinden zu lassen oder gar nicht öffentlich zu machen. Lüge und Täuschung waren Teil des Systems.
Gerade deshalb sind bei Eva Perón Wahrheiten und Mythos so dicht miteinander verwoben. Auch das macht ihre Geschichte faszinierend und deren Rekonstruktion zu einer Herausforderung. Ein Romanautor oder eine Romanautorin kann und darf dunkle Stellen in der Lebensgeschichte mit Imagination füllen. Ein Historiker darf das nicht. Deshalb eröffneten Berichte aus britischen, schweizerischen und US-amerikanischen Archiven eine spannende ergänzende Außensicht auf die Person Eva Perón und die argentinische Politik. Sie bieten neue Facetten eines Lebens, das so bekannt, weil so oft erzählt erscheint.
Dass Eva Peróns Lebensgeschichte herausragend und ungewöhnlich war, steht außer Zweifel. Denn in keinem anderen Land nahm eine Präsidentengattin eine politisch und kulturell so herausragende Rolle ein. In keinem anderen Land erfuhr eine First Lady nach ihrem Tod eine solche Verehrung wie Eva Perón. Dass sie zu Lebzeiten sehr wohl an ihrer Unsterblichkeit arbeitete, gibt sie unumwunden zu:
Ist es nicht immer leichter, eine Rolle im Theater zu spielen, als sie in der Wirklichkeit zu leben? Und in meinem Fall trifft es zu, dass ich als Eva Perón eine alte Rolle spiele, die andere Frauen in allen Zeiten schon dargestellt haben; aber als «Evita» lebe ich in einer Wirklichkeit, die vielleicht noch keine einzige Frau in der Geschichte der Menschheit gelebt hat.[3]
Los Toldos war ein kleines unscheinbares Dorf in der argentinischen Provinz, wie es viele gab. Ein paar Straßenzüge, wenig ansehnliche Häuser, schachbrettartig angelegt, ließen auf ein eintöniges Leben darin schließen. Außer einer Kirche und ein paar Geschäften bot die Siedlung, die inmitten der weiten Graslandschaft der Pampas lag, nichts Nennenswertes.
Bis in das späte 19. Jahrhundert hinein hatten dort Indianer in Zeltdörfern (toldos) gelebt, hatten Ackerbau und Viehzucht betrieben, bis die argentinische Regierung ihnen den Krieg erklärte. Mit Hilfe regelrechter Jagden auf Indianer wurden die fruchtbaren Böden in nur wenigen Jahrzehnten entvölkert. Die solcherart «geleerten» Grundstücke wurden parzelliert und europäischen Bauern als neue Heimat verkauft. Deshalb gab es unter den Bewohnern von Los Toldos Einwanderer aus Spanien und Italien. Auch einige Soldaten aus der Zeit der Indianerkriege hatten sich dort niedergelassen. Die Dorfbewohner züchteten Angus-Rinder, bauten Gemüse an und hielten die Bahnlinie instand, die Los Toldos mit der 200 Kilometer entfernten Metropole Buenos Aires, mit ihren Industrien, Webereien und Schlachthäusern verband.
In dieser Einöde erblickte María Eva Ibarguren am 7. Mai 1919 das Licht der Welt. Die Gemeinde hat das Wohnhaus der Familie zum Geburtsort erkoren und ein kleines Museum eingerichtet, doch war Eva in einem nahegelegenen Bauernhof in General Viamonte zur Welt gekommen, der ihrem Vater gehörte. Eva Perón hat alle diese Daten später fälschen lassen, hat Junín als Ort, 1922 als Jahr ihrer Geburt und Duarte als Familiennamen angegeben. Die Dokumente, die Geburt und Taufe belegen, verschwanden. Die soziale Herkunft empfand sie lange als Makel. Sie, ihr älterer Bruder Juan und ihre drei älteren Schwestern Elisa, Erminda und Blanca waren unehelich geboren. Der Vater, ein Gutsverwalter namens Juan Duarte, unterhielt zwei Familien: eine rechtsgültige mit seiner Frau Adela und einer Tochter in Chivilcoy und eine außereheliche mit seiner Geliebten Juana Ibarguren und fünf Kindern in Los Toldos. Dort lebte der 61-Jährige noch, als María Eva, die Jüngste, zur Welt kam. Weil Duarte geschäftstüchtig war, hatte ihm sein Gutsherr ein Stück Land, einen Bauernhof und ein paar Landmaschinen vermacht. Sogar ein Auto konnte er sich leisten, ein seltenes Statussymbol auf dem Land.
Uneheliche Kinder waren zu jener Zeit auf dem Land nicht selten. Zur Zeit der Indianerkriege hatten Soldaten indianische Frauen genommen, Kinder gezeugt und waren weitergezogen. Außereheliches Zusammenleben war auch mit Armut und dem Unvermögen verbunden, für eine Hochzeit aufzukommen oder die Erlaubnis dafür zu erhalten. Doch in einer traditionell katholischen Gesellschaft waren illegitime Kinder ein Makel, den man nicht vertuschen konnte, weil er auf Ausweisdokumenten festgeschrieben war. Trotzdem war Juan Duarte ein angesehener Bürger des Dorfes, dem man sogar das ehrenvolle Amt des Bezirksrichters übertrug, obwohl sein Doppelleben allen bekannt war. Die dörfliche Doppelmoral, die Mischung aus Neid und Geringschätzung bekam vielmehr Juana Ibarguren zu spüren. Vermutlich gab sie gerade deshalb ihren baskischen Namen zugunsten des Namens Duarte auf. Das machten auch ihre Kinder. In das Taufregister wurden alle jedoch noch als «Ibarguren» eingetragen.[1]
Die finanziellen Zuwendungen Juan Duartes an die Geliebte hatten bis zu dem Moment gereicht, als er sich nach 18 Jahren entschloss, in sein altes Leben nach Chivilcoy zurückzukehren. Seine jüngste Tochter war vier Monate alt, als er ging. Er war Witwer geworden und blieb in Chivilcoy.[2] Die Duartes in Los Toldos rutschten rasch in die Armut ab. Sie verließen ihr kleines Haus an der Hauptstraße und zogen in eine ärmliche Unterkunft im schlechtesten Viertel, das an der Bahnlinie gelegen war. Die Mutter hielt die Familie mit Näharbeiten über Wasser und tat alles, um den Status ihrer Kinder zumindest bei der Kleidung zu verbergen. Zu Beginn des Jahres 1926 kam Juan Duarte bei einem Autounfall ums Leben. Seine ehemalige Geliebte und die Kinder machten sich nach Chivilcoy auf. Dort waren sie ungebetene Trauergäste. Nach einigen Wortgefechten erwirkten sie die Erlaubnis, das Haus der rechtmäßigen Familie betreten und den Sarg des Toten für ein paar Minuten alleine sehen zu dürfen. Beim Gang zum Friedhof war die Rangordnung freilich unveränderbar. Die Duartes aus Los Toldos hatten sich in die Menschenschlange einzugliedern, die dem Trauerzug folgte, und das nur bis zum Friedhofstor.
Der Regisseur Alan Parker lässt seine Verfilmung des Musicals Evita mit dieser Szene beginnen und macht sie noch dramatischer, indem der jüngsten Tochter verwehrt wird, sich über den toten Vater zu beugen. Sie reißt sich von der Hand ihrer Mutter los und gibt dem Vater einen Abschiedskuss. Die Botschaft und das Motto, das den Film durchzieht, werden damit deutlich. Unehelich geboren zu sein und ohne Vater aufzuwachsen, würde ihren Lebensplan und ihr Verhalten prägen. Welches Bild die damals 7-jährige Eva überhaupt von ihrem Vater hatte und wie sie sich an das Begräbnis erinnerte, ist nicht mehr zu sagen. Ihre Autobiographie lässt Kindheit und Erwachsenwerden bewusst im Dunkeln. Da ihre älteren Geschwister die Demütigung verstanden und wohl auch als solche empfanden, blieb sie davon bestimmt nicht unbeeinflusst. Erminda, die zweitälteste Schwester, verfasste 1972 eine stark verklärende Autobiographie. Darin erzählt sie, dass Vater und Mutter glücklich verheiratet waren. Dass die Kinder den Eltern jeden Abend einen Kuss gaben.[3]
1930 zog Juana Duarte mit ihrer Familie nach Junín, wo Elisa dank ihres Vaters eine Stelle bei der Post erhalten hatte. Die Mutter eröffnete einen kleinen Imbiss, den vor allem Männer frequentierten. Mittlerweile hatte die Weltwirtschaftskrise auch die argentinische Provinz erreicht. Anstellungen waren schwerer zu finden, der soziale Aufstieg war mühsamer, weshalb Juana Duarte ihre Tochter Blanca mit einem Anwalt und Elisa mit einem älteren Major verkuppelte. Sohn Juan arbeitete als Bote für eine Drogerie. María Eva wurde in die Sekundarstufe eingeschult. Die dunkelhaarige Elfjährige mit den großen braunen Augen galt als hübsch, still und sensibel. Sie mochte Lyrik, machte in einem Schulspiel mit, fiel durch ihre schulischen Leistungen allerdings nicht besonders auf. An Tagen, an denen die Eintrittskarten billiger waren, ging sie ins Kino. Das Museo Evita und Bildbände, die in Buenos Aires verkauft werden, zeigen ein paar Fotos aus diesen Jahren, auf denen eine dünne Halbwüchsige mit dunklem Pagenkopf mit ihren Geschwistern auf den Straßen von Junín oder bei Landpartien abgebildet ist.
In Junín gab es zwei Filmtheater, die seine Bewohner in die Welt von Deanna Durbin, Greta Garbo und Norma Shearer verführten. Die halbwüchsige María Eva hütete auch ein paar Ausgaben von Sintonía, einer begehrten, bebilderten Filmzeitschrift. Dort las sie Kritiken und Berichte von Streifen, die in Produktion waren und bald gezeigt würden, und schnitt die Fotos aus. Sie tauchte in das schillernde Leben der Stars mit ihren Moden, Autos und Parfüms ein. Wie viele junge Frauen träumte sie von Schauspielerei und frühem Ruhm. Doch wollte sie der heimatlichen Enge nicht nur durch den Konsum von Magazinen und Filmen entfliehen. Als sie aus Junín wegging, war sie noch keine 16 Jahre alt.
Über diesen Aufbruch nach Buenos Aires gibt es unterschiedliche Berichte. Nach der einen Version war es der Tangosänger Agustín Magaldi, der seine junge Geliebte in die Hauptstadt mitnahm und finanziell ein wenig unterstützte. Eine andere, von Joseph Page vertretene Variante erklärt, dass María Eva Ibarguren mit Magaldi und seiner Frau nach Buenos Aires ging, wo Evas Bruder gerade seinen Militärdienst absolvierte. Evitas Schwester Erminda behauptete, dass die ambitionierte Jugendliche von ihrer Mutter und einem Freund begleitet wurde. Eine vierte Version, die Felipe Pigna vertritt, besagt, dass sie allein in die Hauptstadt reiste. Magaldi gab zwar im Kristallpalasttheater von Junín Gastspiele, doch er schien zwischen 1929 und 1936 in der Stadt nicht aufgetreten zu sein. Allerdings verschaffte er der jungen Argentinierin eine Unterkunft bei einer Freundin.[4] Welche dieser Versionen nun stimmt, ist von untergeordneter Relevanz. Im Frühjahr 1935 richtete sich Eva in Buenos Aires ein, um zu bleiben. Sie sprach bei kleinen Theatern vor und wartete beharrlich in den Vorzimmern von Radiolandia und Sintonía, den beliebtesten Fachzeitschriften für Radio und Film. Die Aussicht, dort erwähnt zu werden, gab dem großen Wunsch, ein Star zu werden, ein wenig Nahrung.
Das Buenos Aires der dreißiger Jahre war eine boomende Metropole mit eleganten Boulevards und Stadthäusern nach Pariser Vorbild. Reiche Viehbarone hatten prächtige Palais im historistischen Stil errichten lassen. Manche waren sogar in Frankreich erworben, vor Ort auseinandergenommen und auf Schiffen nach Argentinien verfrachtet worden, wo man sie originalgetreu wiederaufbaute. Am Ufer des Rio de la Plata, dem die Stadt ihren Rücken kehrt, an den langgezogenen Docks, wurde Weizen, Mais und Gefrierfleisch verladen. Zweieinhalb Millionen Einwohner zählte Buenos Aires damals. Es gehörte somit neben New York, Chicago und Rio de Janeiro zu den größten Städten des amerikanischen Kontinents. Eine Million ihrer Bewohner war zu jenem Zeitpunkt noch in Europa geboren; der italienische Einfluss war weder überseh- noch überhörbar. Er bereicherte die fleischhaltige Küche der Porteños, der Bewohner von Buenos Aires. Die Sprachmelodie des Italienischen prägt das argentinische Spanisch bis heute.
Ein Netz von Tramways spannte sich durch die rasch wachsende Stadt; bald nach New York konnte sie sich eine U-Bahn leisten. Es war die erste in Lateinamerika. Als María Eva Ibarguren nach Buenos Aires kam, wurde gerade am dreißigstöckigen Kavanagh-Gebäude gebaut, dem höchsten Wohnhaus Südamerikas, während Stadtplaner schöne Häuser aus der Kolonialzeit schleifen ließen, um der breiten Avenida 9 de Julio mit ihrem markanten Obelisken Platz zu machen. Die neue Prachtstraße wurde von Kinos, Cafés, Buchhandlungen und dem prächtigen Teatro Colón gesäumt. Auf Dächern warben Leuchtreklamen für amerikanische Produkte. Mit den Lichtern der Lokale boten sie allabendlich ein buntes Bild. Das Buenos Aires der dreißiger Jahre verkörperte eine «periphere Moderne», die Techniken, Moden und Kulturen aus anderen Weltteilen übernahm und in ihr pulsierendes Leben integrierte.[5]
Eine selbstbewusste Arbeiterschaft, die gerade die 48-Stunden-Woche und höhere Löhne erkämpft hatte, konnte sich das Kino leisten. Sie bevorzugte die heimischen Komödien, während die Mittel- und Oberschicht Filme aus den USA und Europa genoss, die in Originalversion liefen. In den zwanziger Jahren hatte auch eine Landflucht der cabecitas negras, der Schwarzköpfe, eingesetzt. Sie waren arme Tagelöhner indianischen Ursprungs, die in der Großstadt zu Hungerlöhnen Dienste aller Art verrichteten und in Elendsquartieren hausten. Sie waren nicht von anarcho-syndikalistischen und sozialistischen Ideen aus Europa beeinflusst und nicht gewerkschaftlich organisiert. Sie waren entwurzelt, brachten aber ihren katholischen Glauben, vermengt mit Mystizimus mit. Gerade sie würden später die Anhänger von Juan und Eva Perón sein.
Freilich sind Tango und Milonga untrennbar mit dem Leben in Buenos Aires und seiner Bewohner verbunden. Um die Jahrhundertwende waren Tangos viel mehr gesungen worden, mit anzüglichen Texten und kryptischen Worten, die man selbst außerhalb von Buenos Aires nicht mehr verstand. Die Kultur des Tango, seine Lyrik der Trauer und Nostalgie, der verlorenen Zeit und Liebe, gehörte zum Rotlichtmilieu der Stadt. Letzteres boomte, weil weitaus mehr junge europäische Männer auf der Suche nach Arbeit nach Buenos Aires gekommen waren als Frauen. Deshalb ist der Aufstieg von Buenos Aires auch eng mit der Prostitution vieler jüdischer Frauen aus Schtetln der heutigen Ukraine und des heutigen Polen verbunden. Schlepper hatten die Mädchen mit lukrativen Heiratsangeboten in ihre Fänge gelockt und von Odessa aus über den Atlantik verschifft, nach New York, Rio de Janeiro oder Buenos Aires. Der Ausdruck «Polin» war ein Synonym für billige Prostituierte. Das große Elend dieser «weißen Sklavinnen» störte freilich das Bild einer modernen, weltoffenen Stadt.
Der Tango war in den zwanziger Jahren nach Paris gelangt und dort zum Modetanz erkoren worden. Weil Frankreichs Kultur auch in Argentinien den Ton angab, kam er, nun französisch geschönt, nach Argentinien zurück. Tangos waren beliebte musikalische Untermalungen in Filmen. Sie liefen im Radio und fanden in Carlos Gardel ihren großen Interpreten. Er war Argentiniens Aushängeschild in Hollywood. Somit war der Tango aus der städtischen Subkultur verpönter Erotik und zwielichtiger Milieus zu einem Symbol für das ganze Land aufgestiegen. 1935 kam Carlos Gardel, der Nationalheld, bei einem Flugzeugabsturz in Kolumbien ums Leben. Als der Leichnam Monate später Buenos Aires erreichte, wurde er im Lunapark-Stadion aufgebahrt; denn dort war die Masse der Trauernden noch am ehesten zu fassen.
Vielleicht erwies auch María Eva Ibarguren ihm die letzte Ehre. Sie nannte sich jetzt Eva Duarte, hielt sich aber nur mühsam über Wasser. Im Frühjahr 1935 ergatterte sie ihre erste Rolle in einer Theatertruppe, die sich Komödien verschrieb. Sie spielte ein Zimmermädchen, das gerade ein paar Worte sprach und dann gleich wieder von der Bühne verschwand. Das Jahr verging mit ähnlichen Auftritten, mit geringen Gagen und noch geringerer Aufmerksamkeit seitens der Presse. Sie teilte dieses Los mit vielen anderen Schauspielern, die nur nach Aufführungen bezahlt wurden und in spielfreien Wochen gar nicht. Eva Duarte ernährte sich schlecht und überdeckte den Hunger mit Keksen und Matetee. Mitte des Jahres 1936 gehörte sie dank Piarina Dealessi einem festen Ensemble an, die Präsenz auf der Bühne blieb dennoch dürftig. Die Truppe probte das Stück Der tödliche Kuss des franko-kanadischen Dramatikers Loic de Gouradiec. Es war ein Aufklärungsdrama, das vor ansteckenden Geschlechtskrankheiten warnte. Deshalb verschaffte es dem Ensemble einige Gastspiele in der Provinz.
Ihre Hartnäckigkeit war offenbar größer als ihr Talent: Eva Duarte als junge Schauspielerin.
Film- und Radioarbeit waren weit besser bezahlt. Ihren ersten Filmauftritt hatte Eva Duarte 1937, wenn auch nur für eine knappe Minute. In der Komödie ¡Segundos Afuera! hindert sie einen Mann daran, von einer Reling ins Meer zu springen. Als sie im Sommer des Jahres eine kleine Hörspielrolle bei Radio Belgrano erhielt, war dies ein Aufstieg. Radio Belgrano war der Marktführer des Landes. Sein Direktor Jaime Yankelevich, Sohn bulgarischer Einwanderer, konnte sich zu jenen zählen, die es durch Fleiß nach oben geschafft hatten. Zudem war er patriotisch argentinisch. Für Swing und Jazz, die in Argentinien längst Einzug gehalten hatten, hatte Yankelevich nichts übrig und ließ deshalb seine Orchester bevorzugt Tangos und Milongas spielen.
Radio Belgrano engagierte die bekanntesten Orchester. Es nahm die beliebtesten Schauspieler des Landes unter Vertrag und bot ein ideales Sprungbrett für eine Karriere, weit über Buenos Aires hinaus. Dafür sorgte die Bedeutung des Rundfunks. 80 Prozent der argentinischen Haushalte besaßen einen Radioapparat. Damit nahm Argentinien nach den USA und Hitler-Deutschland weltweit den dritten Rang ein. Radios standen in Küchen und Wohnzimmern, in Fabriken, Nähstuben und Metzgereien, in Schusterwerkstätten und Warenhäusern. Radiohören war ein gemeinschaftlicher Akt. Er zog Gespräche über Politik und Folgen der neuesten novelas nach sich. Ein gutes Engagement beim Sender versprach nationale Bekanntheit. Aber auch bei Radio Belgrano hatte man für Eva Duarte zunächst nur eine Nebenrolle im Stück Weißes Gold. Sie verdiente 180 Pesos im Monat. Das war ein Viertel dessen, was Radiostars wie Azucena Maizani einstrichen.
Ein Jahr später, 1938, lernte sie den Chilenen Emilio Kartulowicz kennen. Er war Herausgeber der großen Filmzeitschrift Sintonía. Die kurze Beziehung mit Kartulowicz verschaffte ihr Zugang zum papierenen Stoff ihrer Jungmädchenträume. Sintonía zeichnete ein seichtes, aber immerhin doppelseitiges Porträt von Eva Duarte als frischem Wind in einer artifiziellen, make-up-bedeckten Schauspielerinnenwelt.[6] Diese Öffentlichkeit verschaffte ihr weitere Aufträge in Hörspielen. Die Gagen waren nicht höher, die Qualität der Stücke aber besser. Eva Duarte gehörte nun einer kleinen Theatertruppe namens Teatro del Aire an. Sie führten ein Hörspiel von Héctor Pedro Blomberg auf, das Eva Duarte produzierte. Sintonía hatte die Produktion unterstützt, sich aber bald zurückgezogen. Eva sei dauernd verschuldet gewesen und habe sich von Freunden Geld geliehen, schrieb ein Kollege aus jener Zeit.[7] Eine Zeit lang musste sie auch ihren Bruder Juan erhalten, weil er Gelder veruntreut hatte und deshalb seine Arbeit verlor.
Die Radiostimme der jungen Schauspielerin war melodiös. Doch an Wandelbarkeit, an künstlerischem Talent habe es ihr gefehlt, gestehen sogar diejenigen ein, die sie in überaus günstigem Licht präsentieren. Eine Radiostimme mag faszinieren, aber sie sagt nichts über das Gesicht, den Körper und die Ausstrahlung einer Interpretin aus. Vielleicht bewog sie dieses Manko, in der Redaktion der Modezeitschrift Damas y Damitas vorzusprechen. Ihre kleinen Radiorollen beeindruckten die Sekretärin Vera Pichel vermutlich wenig, die Möchtegernmodels im Vorzimmer der Macht abzuwimmeln pflegte. Doch die Hartnäckigkeit von Eva Duarte sei außergewöhnlich gewesen, auch die Art, mit der sie Aufmerksamkeit einforderte. Sie wartete nicht ergeben in den Räumen der Redaktion, sie rief an und verlangte einen Termin, wie Vera Pichel sich erinnerte:
Ich bin Schauspielerin bei Radiotheatern, sagte sie, ich heiße Eva Duarte und ich brauche ein Foto auf dem Cover Ihrer Zeitschrift, damit ich Leiterin einer Theatergruppe werde. Die Coverfotos gehörten aber nicht zum Aufgabenbereich der Redaktionssekretärin, und deshalb bot ich ihr an, mit dem Direktor zu reden. Eva insistierte: Nein, ich habe nicht viel Zeit und ich vertraue den Direktoren nicht. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen […]. Und wissen Sie, warum ich zu Ihnen gekommen bin? sagte sie […]. Weil eine Frau, die arbeitet, eine andere Frau versteht, – und Sie müssen mich verstehen. Das müssen wir unter uns regeln. Da gibt es keinen Direktor, der was taugt. Er würde es niemals gestatten.[8]
Vera Pichel wusste aus ihrer Entscheidung, Eva Duarte anzuhören und in das Büro des Redakteurs vorzulassen, später geschickt Kapital zu schlagen. Wie andere Wegbegleiter und flüchtige Bekanntschaften schrieb auch sie ihre Geschichte nieder. Die Schilderungen ähneln einander: Eva Duarte sei eine sehr blasse und dünne Erscheinung gewesen, mit großen dunklen Augen und dunklen Haaren, keine selbstsichere Persönlichkeit, sondern nervös und zurückhaltend, zielstrebig aber sehr wohl. Die Schauspielerin Pierina Dealessi erinnerte sich an die erste Zeit von Eva Duarte in Buenos Aires:
Evita war ein durchsichtiges Ding, sehr dünn, feingliedrig, mit schwarzem Haar und langgezogenem Gesicht. Abgesehen vom Hunger, der Misere und ihrer Nachlässigkeit hatte sie immer kalte und feuchte Hände. Als Schauspielerin war sie sehr lasch. Sehr kalt. Ein Eisblock. Keine von diesen jungen Frauen, die Leidenschaften erwecken. Sie war sehr unterwürfig und schien schüchtern zu sein. Nach innen gekehrt. Evita war eine Deprimierte.[9]
Ihre Hartnäckigkeit brachte sie Ende 1939 endlich auf das Titelblatt von Damas y Damitas. Das Foto schoss der polnische Fotograf Sivul Wilensky. Eva Duarte trägt einen weißen Hosenanzug mit Bundfaltenshorts. Statt der Bluse verwendet sie ein großes dunkles, Tuch, das sie geschickt über ihren Oberkörper drapiert. Für diese Zeit war es gewagt, ihr Blick allerdings verlegen. Ein paar Wochen später posierte sie bereits keck für Guión in einem retouchierten Bild, das ihre Formen viel üppiger erscheinen lässt, für einen blauen Badeanzug mit weißen Punkten, aber noch immer nicht für eine große Rolle. 1940 wechselte Eva Duarte in die Filmbranche, um nach drei kleinen Rollen[10] bald zum Radio zurückzukehren. Es war nicht ungewöhnlich, dass Hörspiele von Firmen gesponsert wurden. So nahm sie eine Seifenfirma mit dem ungewöhnlichen Namen Jabón Radical (Radikale Seife) unter Vertrag. Ihren Bruder Juan brachte Eva dort als Vertreter unter. In den USA sponserte vor allem der Seifenhersteller Lux solche Hörspiele, woraus sich der Begriff «Seifenoper» herleitet.
In dieser Zeit entstand ein ungewöhnliches Titelbild, auf dem Eva Duarte mit einem Schauspielerfreund im Fußballdress von Boca Juniors den Ball anstößt, allerdings in Sandaletten.
Die Aufnahme ist sympathisch provokant. Denn Frauenfußball war damals nicht erlaubt.
Trotz wechselnder Rollen und Posen vermochte sich Eva Duarte schauspielerisch nicht zu entwickeln. «Ich wußte gar nicht, wo ich anfangen sollte, denn als Schauspielerin war sie ziemlich schlecht», erzählte 1942 der Regisseur eines Hörspiels namens Amanecer (Morgengrauen). Er hatte ihr die Hauptrolle angeboten. «Aber sie war bemüht, gutmütig, sehr gewissenhaft […]. Sie kam bereits eine Stunde vor Beginn des Programms, um zu proben, und zog sich nach dem Ende der Sendung gleich wieder zurück. Sie sprach nie mit jemandem.»[11] Trotz dieses Fleißes konnte Eva Perón ihr Image als wenig talentierte Künstlerin nicht verbessern. Ihre Filmauftritte in jenen Jahren waren zu kurz, um dieses Urteil revidieren zu können.
Mit solchen Bildern wie dem Foto von Sivul Wilensky schaffte es Evita Ende 1939 in die Zeitschrift Damas y Damitas.
Schließlich schaffte Beharrlichkeit, was das mangelnde Talent nicht vermochte. Sintonía, Antena und Radiolandia porträtierten sie. Ihre zarte Erscheinung und die angestrengte Ernsthaftigkeit beflügelten den Hörfunk-Dramaturgen Héctor Blomberg, ihr Rollen berühmter Frauen zu geben, deren hart erkämpfte Lebenswege und Leiden am besten durch Eva Duarte verkörpert schienen. 1943 war sie Gründungsmitglied einer Gewerkschaft von Radiokünstlern, die sich dem Engagement für höhere Gagen verschrieb. Diese neue Rolle machte sie offener und sicherer. Trotzdem blieb ihre finanzielle Lage prekär. Eines Tages sei sie mit zwei jungen Kollegen durch die Straßen gegangen. Sie klebten Werbeplakate für den Militär Juan Perón, erinnerte sich der Schauspieler Marcos Zucker. Da habe er verstanden, dass sie die Nähe aufstrebender Politiker und Militärs suchte.[12] Denn diese versprachen materielle Sicherheit, väterlichen Schutz und waren am ehesten imstande, Pforten zum ersehnten Künstlerolymp zu öffnen.
Am 15. Januar des Jahres 1944 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,4 die Andenregion um Mendoza. Es machte die Stadt San Juan mit ihren kolonialen Lehmziegelhäusern binnen Minuten dem Erdboden gleich und ließ Tausende Kinder als Waise zurück. Eine Spendengala im Lunapark-Sportstadion von Buenos Aires sollte helfen, die Not der Bewohner ein wenig zu lindern. Das Benefizkonzert war ein Aufgebot der heimischen Stars. Agustín Magaldi sang, der neue Staatssekretär für Arbeit, Juan Perón, hielt eine Rede. Auch Eva Duarte war geladen oder lud sich selbst ein. General Aníbal Imbert, den sie kannte, stellte sie seinem Kollegen Juan Perón vor.[13] Die Begegnung war der Beginn einer Symbiose auf den Bühnen der Macht, obwohl es zwei Jahre dauern sollte, bis Eva Duarte als Eva Perón auch die Bühne der Politik betreten würde.
Ein halbes Jahr vor dem Erdbeben, am 4. Juni 1943, hatte sich Juan Perón mit einer Gruppe von Offizieren an die Macht geputscht. Sie hatten die Regierung gestürzt, weil sie korrupt gewesen war, weil sie Inflation und Spekulation nicht in den Griff bekam und die Not vieler Argentinier nicht zu lindern verstand.
Juan Domingo Perón stammte aus Lobos in der Provinz Buenos Aires. Sein Vater träumte von einem großen Stück Land, dessen Besitz er sich durch Schafzucht erarbeiten wollte. Mit seiner Familie zog er nach Patagonien. Dort, an der Grenze zum Indianergebiet, bei Tagelöhnern, habe er verstanden, was ländliches Elend bedeute, erklärte Juan Perón später gerne. Wie seine spätere Frau Evita war auch er unehelich geboren und wie sie empfand er ein tiefes Unbehagen gegenüber der Oberschicht. Der Vater, Mario Perón, erkannte Juan, der einer außerehelichen Beziehung entstammte, schließlich als eigenen Sohn an.[1]
Wie viele junge Männer der unteren Mittelschicht besuchte Juan Perón eine Schule für Kadetten, weil sie gute Aufstiegschancen bot. Er schloss sie mit dem Grad eines Leutnants ab. Perón war ein ausgezeichneter Fechter und Skifahrer und galt als Workaholic. 1930 unterrichtete er bereits Militärgeschichte an der Militärhochschule in Buenos Aires, trainierte sein rhetorisches Talent und schrieb Texte über Militärstrategien. Besonders faszinierte ihn ein Werk des preußischen Generals Colmar von der Goltz mit dem Titel Das Volk in Waffen aus dem Jahr 1883. Goltz hatte die These vertreten, dass ein Land Frieden und Sicherheit nur erhalte, wenn es stets in militärischer Bereitschaft sei. Die Menschheit befinde sich stets im Kriegszustand. Deshalb gelte es, gerüstet zu sein. Diese Gedanken sollten Perón ein Leben lang begleiten.
1939, nach dem Tod seiner ersten Frau Aurelia Tizón, ging Perón nach Italien. Einige Monate verbrachte er bei den italienischen Gebirgsjägern und wechselte dann als Militärattaché nach Rom. Dort studierte er Benito Mussolinis Politik und war fasziniert davon, wie der Duce die Arbeiterschaft zu einer verlässlichen Stütze des faschistischen Regimes erhob. Geredet haben die beiden vermutlich aber nie miteinander. 1940 reiste Perón noch quer durch Europa. Als er im Dezember nach Argentinien zurückkehrte, war er 45 Jahre alt, verwitwet und kinderlos. Er galt als gutaussehend und war für argentinische Verhältnisse großgewachsen. Das schwarze Haar war, der Mode gemäß, mit Brillantine zurückgekämmt, das Lächeln ein Hollywood-Lächeln, der Teint glatt. Es war eine Art von Make-up, das aufzutragen Perón sich angewöhnt hatte, um eine Hautkrankheit zu kaschieren. Die Streitkräfte schickten ihn in die Andenregion, nach Mendoza, wo er Gebirgstruppen befehligte. Dort lernte er zwei Kameraden kennen, die ihn jahrelang begleiten würden: General Edelmiro Farrell und Oberst Domingo Mercante.
Perón gehörte einer Geheimloge von Offizieren mittlerer Ränge an, dem Grupo de Oficiales Unidos (GOU). Als diese Organisation 1943 putschte, rief sie eine Nationale Revolution aus. Ihre Mitglieder wollten ein modernes Argentinien errichten, das gleichzeitig traditionelle Wertordnungen hochhielt, ein Argentinien, das im Weltkrieg neutral blieb und in seinem Inneren Familie, Vaterland und Katholizismus verteidigte. Vom Ausland, von den Briten und Amerikanern, wollte es unabhängiger werden und sich auf das Eigene konzentrieren, auf die Kultur der Gauchos und Milongas. «Argentinien den Argentiniern», brachte es Juan Perón auf den Punkt. Dieser Anspruch konnte, so dachten die Offiziere, nur durch eine Diktatur eingelöst werden.
Die neue Führung rief den Ausnahmezustand aus und handelte sich gleich den Vorwurf ein, faschistisch zu sein. Dies war nicht unberechtigt. Denn Perón und seine Kameraden konnten Franco-Spanien, Mussolini-Italien und Hitler-Deutschland viel abgewinnen, wenn es auch Nuancen in den Vorlieben gab. Die katholischen Nationalisten unter ihnen hingen Francisco Franco an, weil er eine ständisch geordnete und wehrhafte Gesellschaft anstrebte, die ihre Kraft aus der Familie, Gott und dem Vaterland schöpfte. Sie glaubten an die Reinheit des Blutes, der spanischen Sprache und Kultur. Die «edelsten Werte» des alten Mutterlandes wollten sie nach Argentinien transferieren und den eigenen Bedürfnissen anpassen, damit es in Lateinamerika eine kulturelle Vormachtstellung durchzusetzen vermöge.[2] Juan Perón faszinierte darüber hinaus Mussolinis Faschismus, dessen Sozialpolitik und das Ziel, Besitzende und Arbeitende miteinander zu versöhnen, damit Harmonie den Klassenkampf ersetze. Aus dem Faschismus bezogen die Offiziere das Modern-Revolutionäre, den Nationalismus, alles Anti-Liberale und Anti-Marxistische.
Die Ideologie des Nationalsozialismus spielte in dieser katholisch geprägten Welt eine untergeordnete Rolle. Doch alle Offiziere schätzten deutsches Organisationstalent, deutsche Soldatentugenden und die Militärmaschinerie der Blitzkriege. Deutsche Offiziere waren gern gesehene Referenten in Militärakademien, deutsche Waffen waren beliebt. Der Justizminister schrieb unter dem Pseudonym Hugo Wast zudem wüste, antisemitische Romane. Argentinien beherbergte damals viele jüdische Flüchtlinge aus NS-Deutschland, die zwar nicht um ihr Leben fürchten, nun dennoch erneut in einer Diktatur leben mussten. Juan Perón war kein Antisemit, aber er kritisierte das Dritte Reich nie öffentlich. Im Gegenteil: Er und seine Mitstreiter glaubten lange und fest an einen deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg, selbst dann noch, als die deutsche Niederlage schon deutlich absehbar war. Sie leiteten daraus ihre eigene Stärke und die Hoffnung ab, die erste Macht in Südamerika zu sein.
Deutschland unternimmt eine riesige Anstrengung, um den Europäischen Kontinent zu einigen. Die größte und best-ausgestattete Nation wird die Schicksale des neu gestalteten Kontinents regieren. In Europa wird das Deutschland sein. In Nordamerika wird es für einige Zeit die USA sein. Aber in Südamerika gibt es keine Nation, die stark genug ist, um ihre Vormachtstellung kritiklos zu erkämpfen. Es gibt nur zwei Nationen, die diese Aufgabe erfüllen können: Argentinien oder Brasilien. Unsere Mission ist es, unsere Vormachtstellung möglich und unhinterfragbar zu machen. Wir müssen uns bewaffnen, immer bewaffnen, alle Schwierigkeiten überwinden. Hitlers Kampf in Frieden und Krieg wird unser Führer sein. Unser erster Schritt wird es sein, Allianzen zu bilden. Wir haben schon Paraguay, Bolivien und Chile, es wird leicht sein, auf Uruguay Druck auszuüben. Dann wird es für die fünf geeinten Nationen einfach sein, Brasilien zu gewinnen, wegen seiner Regierungsform und der großen deutschen Minderheit. Wenn Brasilien gefallen ist, gehört der Kontinent uns. Eine eiserne Diktatur war in Deutschland notwendig, um die Leute Verzicht zu lehren, damit das beachtliche Programm umgesetzt werde. Dasselbe wird in Argentinien getan. Dem Beispiel Deutschlands folgend wird den Menschen durch das Radio, die kontrollierte Presse, das Kino, die Bücher, die Kirche und die Bildung ein Geist eingeimpft, der zur Verwirklichung dieses heroischen Programms geeignet ist.[3]
Diese kriegerischen Worte, die Perón an der Universität von La Plata zu Gleichgesinnten sprach, überzeugten die US-Geheimdienste, dass sie es mit einem gefährlichen Faschisten zu tun hatten. Dass Perón realistisch genug war, die Nachbarländer nicht zu überfallen, sondern durch Bündnisse an sich zu binden, verstanden auch die USA. Doch wie unverhohlen seine Bewunderung für Hitler als Strategen und für «deutsche Tugenden» war, geht aus seiner Rede deutlich hervor. Der Inhalt fand auch seinen Weg in die amerikanische Presse. Ein Journalist schrieb entsetzt, dass es Perón wohl egal sei, wer den Krieg gewinne, die Alliierten oder die Achsenmächte.[4]
Das Argentinien jener Jahre hatte gerade einmal 16 Millionen Einwohner. Es war ein Agrarstaat mit vielen Kleinbauern, ärmlichen Pächtern und einflussreichen Großgrundbesitzern, deren Besitz oft die Größe der Schweiz übertraf. Das wenig bevölkerte Land bot einen krassen Gegensatz zur Metropole Buenos Aires. Abgesehen von den Eliten waren die Streitkräfte seit der Unabhängigkeit von Spanien ein Macht- und Ordnungsfaktor im Land. 1912 wurde das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt. Doch Politik wurde noch immer von wohlhabenden Unternehmern und Großgrundbesitzern gemacht. Persönliche Beziehungen bestimmten die Entscheidungen; Korruption und Vetternwirtschaft waren Teil des Systems. Das Los der Unterschichten war den Eliten kein Anliegen.
Perón wollte es anders machen. Er bekam das unbedeutende Staatssekretariat für Arbeit und Wohlfahrt übertragen und baute es aus. In bildhaften Reden im Stil der Zeit gab er sich visionär. Vor Eisenbahnarbeitern sprach er von einer «Revolution der Armen», weil das Land die wichtigen Männer satt habe. Die Tage der Kapitalisten, der ausländischen Ausbeuter seien gezählt. Nun würde endlich die Zeit der einfachen arbeitenden Menschen anbrechen, erklärte er: «Wir sind ein würdiges und stolzes Land; und kein Landeskind sollte jemals wieder hinnehmen müssen, dass die argentinischen Arbeiter zu schäbigen Leuten gemacht werden, nur damit eine Gruppe priviligierter Menschen ihren Luxus, ihre Autos und ihre Exzesse beibehalten kann». Von den Armen müsse man lernen, das war die Botschaft. Sie hatten Würde. Sie waren solidarisch.[5]
Perón gehörte zur progressiveren Gruppe der Militärs. Er richtete seine Reden an die Arbeiterinnen der Packstationen, die Fleisch in Akkordarbeit in eisigen Hallen zerlegten. Die Kühlhallen von Swift and Armour beschäftigten Tausende von Frauen in Berisso, einer ärmlichen Vorstadt. Die Frauen waren aus Polen oder Russland, aus Litauen und Italien. Dazu kamen Arbeiterinnen indianischer Herkunft aus dem Hinterland. Sie hatten keine Ahnung vom marxistischen Klassenkampf. Ihre Lesefähigkeiten waren gering. Sie alle hatten Mühe, sich überhaupt miteinander zu verständigen, und kaum Kraft oder Mut, nach zehn oder zwölf Stunden am Fließband noch an Streiks zu denken. Was sie wollten, war das Recht auf Pausen mit heißem Matetee, mehr Lohn, weniger Akkord und Stühle für diejenigen, die Venenprobleme hatten. «Es war ein riesiges Areal mit etwa 1200 Frauen. Es war wie ein Dorf, ein ganzes Stadtviertel. Man konnte es überblicken und eine Masse von weiß gekleideten Menschen arbeiten sehen; das war schön, ein richtiges Spektakel», erzählte Doña María Roldán.
Als ich dort zu arbeiten anfing, kam das Fleisch noch an deinen Tisch, in großen Teilen, von Männern herangezogen. Später kamen die Stücke am Fließband daher. Es war an der Decke befestigt. Du musstest es mit einem Haken herunterholen und dann das Messer verwenden. Es war nicht schwer zu lernen. Hunger, Not und der Wunsch, einen Peso nach Hause zu bringen, zwang dich, es in zwei Tagen zu lernen. Es war eine harte Arbeit. Vor allem konnte man sich leicht schneiden. Ich schnitt mir in diesen Finger und die Narbe habe ich nun mein Leben lang. Es gab schlimme Unfälle, Flüchtigkeitsfehler, gebrochene Glieder. Der Arbeitstag begann um sechs Uhr morgens. Wir hörten zu Mittag auf. Waren um ein Uhr wieder zurück und gingen schließlich um sieben oder acht Uhr nach Hause.[6]