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Bryan Gilliam

RICHARD
STRAUSS

MAGIER DER TÖNE

 

EINE BIOGRAPHIE

 

 

Aus dem Englischen
von Ulla Höber

 

 

 

C.H.BECK

 

Zum Buch

Richard Strauss (1864–1949) ist bis heute einer der meistgespielten Opernkomponisten. In seiner glänzend geschriebenen Biographie schildert der Strauss-Experte Bryan Gilliam das Leben und Werk des Komponisten, der seinen eigenen Weg in die Moderne beschritt. Gilliam zeigt, wie Strauss in seinen Opern und symphonischen Werken, seiner Kammermusik und seinen Liedern eine völlig neue musikalische Sprache entwickelte. Er lässt das Umfeld der Familie, der Mentoren und Freunde von Strauss lebendig werden und beschreibt die lange Karriere des Komponisten zwischen München, Berlin und Wien. Einzigartig an seinem Schaffen war auch die Zusammenarbeit mit bedeutenden Schriftstellern, allen voran mit Hugo von Hofmannsthal, seinem wichtigsten Librettisten. Daneben tritt Strauss in diesem Buch als international begehrter Dirigent, als Theaterleiter und als Vorkämpfer für die Rechte von Komponisten auf. Nicht zuletzt beleuchtet Bryan Gilliam die Rolle von Strauss in der Welt der Politik und seine Nähe zum nationalsozialistischen Regime. So entsteht das Bild eines schillernden Künstlers, der aus dem heutigen Musikleben nicht wegzudenken ist.

Über den Autor

Bryan Gilliam ist Frances Hill Fox Professor an der Duke University in Durham (North Carolina). Er hat zahlreiche Arbeiten zur deutschen Musiktradition des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts veröffentlicht und ist ein international renommierter Richard-Strauss-Forscher.

Für Vivian

Inhalt

Einleitung

ERSTES KAPITEL
Musikalische Entwicklung und frühe Karriere

ZWEITES KAPITEL
«Hinaus und fort nach immer neuen Siegen»: Die Tondichtungen

DRITTES KAPITEL
Der Aufstieg eines Opernkomponisten

VIERTES KAPITEL
Nach dem Kaiserreich und vor dem Dritten Reich: Strauss in den zwanziger Jahren

FÜNFTES KAPITEL
Nach Hofmannsthal: Persönliche und politische Krisen

SECHSTES KAPITEL
«Nun der Tag mich müd gemacht»: Der Krieg und seine Folgen

Dank

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Personen- und Werkregister

Einleitung

Richard Strauss stellt in der Musik der Moderne eine einzigartige Herausforderung dar. Seine Neigung, das Banale mit dem Erhabenen zu vermischen, das Außerordentliche durch das Alltägliche zu durchbrechen, passt nicht in unsere Klischees von einem Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Tatsächlich kommt bei Strauss eine grundsätzliche Dichotomie zum Ausdruck, die in dem vorliegenden Buch über den Menschen Strauss und seine Musik immer wieder im Zentrum stehen wird. Seine Welt bestand aus zwei unterschiedlichen, sich aber häufig überschneidenden Sphären, seinem Berufsleben und seinem Familienleben. Jenseits dieser beiden Sphären interessierte sich Strauss für wenig anderes: Er hatte keine Zeit für Wagnersche Affären, keinen Raum für Bruckners religiöse Frömmigkeit, keine Geduld für die Verunsicherung, die Mahler verfolgte, kein Verständnis für die Eifersucht, die Schönberg plagte. Während andere Komponisten ihren kreativen Funken aus dem Kampf oder dem tragischen Leiden schlugen, gönnte sich Strauss nichts dergleichen. Er betrachtete Disziplin, Ordnung und Stabilität nicht als Hindernisse, sondern eher als Katalysatoren für seine Kreativität. Über Wagner, dessen Musik er fast sein ganzes Leben lang bewunderte, sagte er einmal, dass der Kopf, der Tristan und Isolde komponiert habe, gewiss so kühl wie Marmor war. Diese Betonung der Technik gegenüber dem Gefühl sagt uns weit mehr über Strauss als über Wagner.

Hans von Bülow nannte den jungen Strauss einmal Richard III. (der Erste war Wagner, und es konnte keinen Zweiten geben); aber die hartnäckige Fokussierung auf die Wagner-Nachfolge hat den Blick für die Tatsache verstellt, dass das Vorbild für den Menschen Strauss viel eher Johannes Brahms war, den er in einer entscheidenden Phase seines Lebens kennenlernte. Brahms, der zur gleichen Zeit berühmt wurde, als der Liberalismus in Wien an Einfluss gewann, gab sich gerne bürgerlich. Seine Wohnung war sauber und ordentlich, seine Bücher, Manuskripte und gedruckten Partituren waren mit bemerkenswerter Akkuratesse geordnet. Brahms war in den 1830er Jahren geboren, und so stand seine Rolle als Bürger-Künstler im Einklang mit seiner Zeit; aber für einen schöpferischen Menschen der Generation von Strauss barg die Dualität von Künstler und Bürger immer mehr Konflikte. Eben hier unterschied sich Strauss von seinen Zeitgenossen, denn ganz im Gegenteil konnte er einen solchen Konflikt nicht erkennen und öffnete sich bereitwillig einer neuen bürgerlichen Generation. Die Kulturindustrie, die zu Brahms’ Zeit noch in ihren Anfängen steckte, blühte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und keiner verstand das besser als Strauss, der erfolgreichste Komponist seiner Zeit.

Auf der einen Seite ist Strauss bis heute einer der am häufigsten aufgeführten und am meisten aufgezeichneten Komponisten des 20. Jahrhunderts und scheint daher leicht zugänglich zu sein. Doch auf der anderen Seite begegnen wir unweigerlich einem zurückgezogenen, widersprüchlichen Menschen, der sich unserem Verständnis scheinbar entzieht. War Strauss tief in innere Gegensätze verstrickt, oder trug er lediglich verschiedene Masken? Wie soll man es begreifen, dass er in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft Werke geschaffen hat wie die Symphonia domestica mit ihrer biederen Darstellung des Familienlebens und Salome, eine Oper, die orientalische Exotik mit sexueller Maßlosigkeit verbindet? Wie bringen wir den begeisterten bayerischen Kartenspieler mit dem Homme de Lettres zur Deckung, der ganz selbstverständlich Goethe zitierte? Was sollen wir von einem Komponisten halten, der in seinem Krämerspiegel warnte, die Kunst sei anfällig für unverhohlene Geschäftsinteressen, der jedoch selber in dem New Yorker Kaufhaus Wanamaker Konzerte dirigierte? Und wie soll man einen Künstler verstehen, der behauptete, Wagner zu folgen, ihn jedoch in der Praxis offenbar zurückwies?

Der meisterhafte Skatspieler Strauss ließ sich weder am Spieltisch noch im Leben in die Karten schauen. In der Öffentlichkeit gab er sich distanziert und gleichgültig wie ein Phlegmatiker, in seiner Musik hingegen extrovertiert und sanguinisch. Der Komponist, der in seinen Werken scheinbar so viel von sich preisgibt, verabscheute jede Selbstentblößung jenseits des Reichs der Musik. Strauss hegte eine Abneigung gegen die neoromantische Stilisierung des Künstlers, der sich vom weltlichen Treiben abgrenzt, und pflegte das Bild eines Komponisten, der sein Komponieren als alltägliche Arbeit auffasst, als ein Mittel, um lediglich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber so aufrichtig dieses Image in gewisser Hinsicht gewesen sein mag, es war gleichwohl eine Pose, eine Maske, die für andere so real war, dass Strauss hinter ihr verschwinden konnte, und so fand der Künstler die erforderliche Abgeschiedenheit für seine kreative Arbeit. Kurz gesagt: Niemand kannte das Paradoxon von Mensch und Künstler, das Paradoxon des Bürger-Künstlers, besser als Strauss selbst. Schließlich dirigierte er, wie Erinnerungen und filmische Aufnahmen belegen, die bewegendsten Passagen seiner Musik gerne mit minimalen Gesten und einer Mimik, die keinerlei Gefühlsregung verriet.

Als Künstler der Moderne erkannte Strauss, dass eine einheitliche Ausdrucksweise in der zeitgenössischen Kunst nicht aufrechterhalten werden konnte. Vom Don Juan bis zum Rosenkavalier und darüber hinaus schuf Strauss mit Lust Augenblicke der Erhabenheit, nur um sie sogleich wieder zu unterwandern – bisweilen auf höchst verstörende Art und Weise. Anders als Mahler oder Schönberg, die beide einer romantischen Auffassung von Musik als einer transzendierenden, erlösenden Kraft anhingen, setzte sich Strauss offensiv mit dem Problem der Moderne auseinander und kam zu seinen eigenen, eigenwilligen Schlussfolgerungen. So instrumentalisierte er paradoxerweise die musikalische Sprache Wagners, um die metaphysische Philosophie hinter eben dieser Sprache zu kritisieren. Seine Hinwendung zu Nietzsche erfolgte aus dem elementaren Wunsch, Schopenhauers Metaphysik zu entlarven, insbesondere die Verneinung des Willens (dieses ursprünglichen, unerkennbaren Lebenstriebes) durch die Musik.[1] Alles Leben bedeutet nach Schopenhauer Leiden, und jener ursprüngliche metaphysische Trieb kann entweder durch ästhetische Kontemplation zur Ruhe kommen oder durch eine asketische, Parsifal-artige Heiligkeit gänzlich negiert werden. Strauss war weder an Heiligkeit noch an Erlösung durch Musik interessiert. Er hielt sich vielmehr an Nietzsche, der Schopenhauers fatalistischen «Willen zum Leben» in die Feier des «Willens zur Macht» verwandelte. Mit einem Wort: Nietzsche suchte genau das Leben zu bejahen, das Schopenhauer negieren wollte, und er lieferte Strauss in den 1890er Jahren ein probates Rüstzeug für seinen lebenslangen fröhlichen Agnostizismus.

In einem Aufsatz, den er kurz vor seinem Tod schrieb, klagte Strauss (in unverkennbar nietzscheanischer Begrifflichkeit), dass dieser Aspekt der Moderne – die Erkenntnis einer unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv – in seinen Werken aus den 1890er Jahren weitgehend unbemerkt geblieben sei.[2] In diesem Aufsatz verweist Strauss auf eine solche Dichotomie im III. Akt von Guntram, doch kann man sie ebenso gut in Tondichtungen wie Also sprach Zarathustra finden. Tatsächlich schrieb Strauss in einer Skizze zur Anfangssequenz dieses symphonischen Werkes: «Die Sonne geht auf. Das Individuum tritt in die Welt oder die Welt ins Individuum.»[3] In seinem späten Aufsatz ist auch die Enttäuschung darüber erkennbar, dass sich für eine jüngere Generation von Komponisten eine andere Auffassung von Moderne herauskristallisiert hatte, die vor allem den technischen Fortschritt hochschätzte und die Entwicklung des musikalischen Stils als zwangsläufigen linearen Prozess auf der Achse Tonalität – Atonalität betrachtete. Diese Schönberg’sche Vorstellung von einer organischen, einheitlichen Stilentwicklung mit ihren offensichtlichen Wurzeln in der deutschen Romantik war Strauss fremd. Er erkannte im modernen Leben viel eher eine tiefgreifende Zerrissenheit und konnte keinen Grund sehen, warum die Musik davon ausgenommen sein sollte. Strauss ging mit dem musikalischen Stil auf eine ahistorische, oft kritische Art und Weise um, die durchaus Tendenzen des späten 20. Jahrhunderts vorwegnahm. Es scheint sich bei ihm bereits anzudeuten, was Fredric Jameson den postmodernen «Zusammenbruch der (…) Ideologie des Stils» genannt hat.[4] Für Schönberg und seine modernistischen Anhänger war das Komponieren zeitgenössischer Musik im Modus der Tonalität, den man für abgenutzt und todgeweiht hielt, implizit gleichbedeutend mit ästhetischer Unmoral. Diese moralisierende Ästhetik hielt sich bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg und konnte mit bemerkenswerter Inkonsistenz in einem politischen Diskurs auftauchen und wieder verschwinden: Komponisten wie Strawinsky oder Webern, die sich großer ästhetisch-moralischer Wertschätzung erfreuten, vergab man demnach diverse politische Sünden, oder man stellte ihre Ansichten vollkommen falsch dar.

Musikhistoriker suchen oft nach einer inneren Einheit im Repertoire eines Komponisten und dann auch nach dem weiteren Zusammenhang zwischen diesem Repertoire und der Epoche des Künstlers. Wissenschaftler, die die Musikdramen von Wagner oder die Symphonien von Mahler in dieser Weise erforscht haben, wurden reich belohnt. Doch das umfangreiche Œuvre von Strauss – das uns einen Komponisten zeigt, der sich gleichermaßen in großen Konzertsälen, in Kammermusiksälen, im Ballett, im Kino und im Opernhaus zu Hause fühlte – verweigert sich den Kulturwissenschaftlern unter den Biographen in dieser Hinsicht zunächst. Strauss hat einmal behauptet, sein Werk werde von «den Geboten des Gegensatzes» zusammengehalten,[5] und tatsächlich gibt es bei ihm kaum zwei aufeinanderfolgende Werke im selben Modus des Tragischen oder Komischen. Vor Ein Heldenleben steht der antiheroische Don Quixote, und auf die hypersymbolische Frau ohne Schatten folgt die leichte Sexkomödie Intermezzo. Doch wenn man diese Gegensätze genauer betrachtet, entdeckt man reizvolle Zusammenhänge: Die beiden genannten Tondichtungen untersuchen und kritisieren die verschiedenen Erscheinungsformen des Heldentums, während die beiden erwähnten Opern menschliche Beziehungen auf alltäglicher und auf metaphysischer Ebene analysieren. Wenn es denn eine wirkliche Kontinuität im kompositorischen Werk von Strauss gibt, dann liegt sie in seinem Bestreben, auf die Abgründe und Zweideutigkeiten des Alltagslebens, ja sogar des scheinbar Banalen hinzuweisen. Das sublime Schlussterzett im Rosenkavalier basiert schließlich auf einer trivialen Walzermelodie, die an einer früheren Stelle der Oper zu hören war.

Doch jenseits aller Gegensätze, Paradoxa und Unstimmigkeiten kann man in den Kompositionen von Strauss in der Tat eine bestimmte Kohärenz finden. Am Anfang seines Schaffens stehen vor allem Lieder und rein instrumentale Werke: zunächst Klavier- und Kammermusik, in den 1880er Jahren dann Orchestermusik. Gegen Ende des Jahrzehnts beschäftigt er sich mit dem erzählerischen Potenzial der symphonischen Musik, und zur Zeit der Jahrhundertwende wendet er sich nach einer intensiven Erkundung der Tondichtung der Bühne zu. Die Oper bleibt von da an für die kommenden Jahrzehnte seine Hauptbeschäftigung. Nach Capriccio (1941) nimmt der betagte Strauss jedoch Abschied vom Theater und kehrt zu den Gattungen der Instrumentalmusik aus seinen Jugendjahren zurück. Und natürlich sind da außerdem die Lieder, die sich in vielen entscheidenden Momenten durch Strauss’ gesamtes künstlerisches Leben ziehen, von den unbefangenen jugendlichen Liedern bis zu den hochgestimmten Orchesterliedern vom Ende seines Lebens.

Das ideale Abbild von Strauss wäre kein Gemälde, keine Zeichnung oder Skulptur. Es wäre viel eher ein Mosaik: von weitem kohärent, aber bei näherer Betrachtung aus kontrastierenden Fragmenten zusammengesetzt. Diejenigen, welche diese Nahansicht wählten, sind denn auch zu ganz widersprüchlichen Einschätzungen gelangt: Strauss sei großzügig gewesen, kleinlich, volksnah, elitär, visionär, provinziell, geschmacklos, kultiviert. Er war ein vielschichtiger Mensch, der sich der Welt darzubieten schien, ohne einen Filter dazwischen zu schieben. Doch gerade das war womöglich der ultimative Filter: der Anschein, unprätentiös zu sein. In Ariadne auf Naxos schrieb Strauss unwiderstehliche Musik zu den Worten: «Musik ist eine heilige Kunst»; aber er war auch der Komponist, der gleichzeitig darauf bestand, dass die Musik im Kapitalismus eine Ware sei, wohl wissend um die schockierende Wirkung einer solchen Aussage.

Strauss hätte vermutlich letzten Endes gesagt, dass es nicht seine Aufgabe sei, ein in sich schlüssiges Bild seiner selbst zu schaffen. Als Stefan Zweig, der ihm das Libretto zu einer seiner Opern schrieb, einmal anregte, Strauss könne doch seine Autobiographie schreiben, lehnte dieser ab: «Ich skizziere Kritisches, ich gebe Wegweiser, die später die Schriftgelehrten näher ausführen mögen».[6] Der Komponist fordert uns also auf, durch seine Musik zu entdecken, was es über ihn zu entdecken gibt: das Billige und das Kostbare, das Alltägliche und das Erhabene. Die Lösung ist vielleicht nicht, solche Widersprüche zu versöhnen oder aufzulösen, sondern vielmehr, sie dialektisch zu betrachten. Die folgenden sechs Kapitel beschäftigen sich mit Strauss’ früher musikalischer Entwicklung, seinem Hervortreten als Komponist von Tondichtungen in den 1880er und 1890er Jahren, seiner Hinwendung zur Bühne zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit den Erfolgen und Fehlschlägen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, den turbulenten 1930er Jahren (einer Zeit der künstlerischen und politischen Krisen) und natürlich mit der Periode während des Zweiten Weltkriegs und der Zeit danach.

ERSTES KAPITEL

Musikalische Entwicklung und frühe Karriere

Wenn man die Strauss-Villa in Garmisch, das Wohnhaus des Komponisten, betritt, begegnet man einem Paradox. Das Haus, das 1908 mit den Tantiemen aus der aufsehenerregenden Oper Salome gebaut wurde, war Strauss’ Zufluchtsort. Hier kehrte er, müde von seinen Weltreisen, zurück in die Normalität. Doch das Garmischer Haus dieses Mannes, der alle wichtigen europäischen Städte gesehen, der Nord- und Südamerika sowie den Nahen Osten bereist hatte, ist in seiner Ausstrahlung alles andere als weltläufig. Es ist ein urbayerisches Landhaus. Jeder Winkel dieses Ruhesitzes in den Bergen ist von süddeutschem Flair erfüllt. An den Wänden hängen Gemälde aus der Gegend und bayerische Volkskunst. Religiöse Symbole aus Süddeutschland, bayerische Uhren und andere regionale Artefakte fallen ebenso stark ins Auge. Kann dies das Wohnhaus eines Mannes gewesen sein, der 1882 freudig Bayern verließ, um nach Preußen zu gehen? Der zwei Jahre darauf eine Oper komponierte, die sich über Philistertum und Provinzialität in München lustig macht? Welche Stadt könnte ihn angesichts seiner langen internationalen Karriere überhaupt für sich vereinnahmen? Berlin, wo er in den zwanzig produktivsten Jahren seines Lebens Kapellmeister an der Hofoper und am Hoforchester war? Dresden, die «glückliche Stadt» des Komponisten, die mehr Premieren von Strauss-Opern erlebte als jeder andere Ort? Wien, wo er von 1919 bis 1924 zusammen mit Franz Schalk Direktor der Staatsoper war und wo er sein eindrucksvolles herrschaftliches Wohnhaus in unmittelbarer Nähe des Belvedere baute? Oder seine Heimatstadt München? Und wie sieht es mit der Schweiz aus, wo er in der Nachkriegszeit seine letzten Jahre in diversen Hotels in Zürich, Luzern und Montreux verbrachte?

Strauss kam 1864 als Bayer zur Welt, als Untertan des Schlösser bauenden Königs Ludwig II., der genau drei Monate vor der Geburt des Komponisten gekrönt wurde. Die Unabhängigkeit Bayerns näherte sich damals ihrem Ende. Sieben Jahre später sollte in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges ein widerstrebender Ludwig seine politische Macht an Wilhelm I., König von Preußen und deutscher Kaiser, abtreten. Doch auch nach der deutschen Reichsgründung war Ludwigs Wirken in Bayern durchaus spürbar, und indirekt sollte es das Leben von Richard Strauss wie auch von seinem Vater Franz Strauss prägen. Der exzentrische Ludwig war der berühmteste Mäzen Richard Wagners. Er holte den tief verschuldeten Komponisten nach München, der dort, wenn auch nur kurz, unter dem Schutz des Königs seinen Wohnsitz aufschlug. Obwohl Wagner letztlich nicht länger als achtzehn Monate in München verbrachte, wirkte seine Präsenz in der bayerischen Hauptstadt noch viele Jahrzehnte lang fort. Jedenfalls sollte die Aura Wagners für den jungen Künstler Richard Strauss eine zentrale Rolle spielen.

Franz Strauss, Richards Vater, verabscheute Wagner, obwohl er bei den Premieren von Tristan und Isolde, Die Meistersinger, Das Rheingold, Die Walküre und Parsifal das Solohorn spielte. Wagner und der Dirigent Hans von Bülow waren verblüfft darüber, dass ein derart gefühlloser Musiker die schwierigen Hornpartien mit solcher Kunstfertigkeit und solch großem Nuancenreichtum spielen konnte.[1] In der Tat, nur sein Talent war noch bemerkenswerter als sein Jähzorn, was Wagner und Bülow (der ihn den «Joachim auf dem Waldhorn» nannte) bald anerkannten. In der späteren Erinnerung an seinen Vater beschrieb Richard Strauss diesen als einen «sogenannte(n) Charakter»,[2] dessen Persönlichkeit trotzdem von großer Bedeutung war, denn Vater Franz war für den jungen Strauss der erste und wichtigste Musiker überhaupt, und die Macht seines Einflusses kann kaum überschätzt werden. Franz kannte eigentlich nichts als Mühsal und Not, bevor er 1863 mit 41 Jahren Josephine Pschorr heiratete. Ein Jahr später brachte sie einen Jungen zur Welt – einen «gesunden, kugelrunden, hübschen Knaben», wie ihn der begeisterte Vater beschrieb.[3] Wenn der väterliche Überschwang hier größer war als für einen frischgebackenen Vater üblich, so war das nur zu verständlich: Schließlich hatte Franz zwischen 1852 und 1854 seine erste Frau und zwei Kinder verloren, die an Tuberkulose und Cholera gestorben waren. Die Geburt von Richard stellte für Franz Strauss eine zweite Chance dar, eine Familie zu gründen. Drei Jahre später kam auch die Tochter Johanna zur Welt.

Franz Strauss wurde 1822 als uneheliches Kind geboren. Obwohl sein Vater Urban ihn als seinen Sohn anerkannte und ihm seinen Familiennamen gab, heiratete er die Mutter, Kunigunda Walter, nicht und übernahm auch keine Verantwortung für die Erziehung. Nach fünf Jahren wechselte er den Wohnort und heiratete schließlich eine andere Frau, mit der er fünf Kinder hatte; mit seinem illegitimen Sohn hielt er keinen Kontakt. Die väterliche Leerstelle sollten Kunigundas Brüder füllen, Johann Georg, ein freischaffender Musiker, und Franz Michael, Türmer in Nabburg in der Oberpfalz, etwa achtzig Kilometer östlich von Nürnberg. Für die vielseitige Familie Walter war das Musizieren ein wesentlicher Teil des Lebens. Johann war ein versierter Hornspieler, und der Türmer Franz Michael musste nicht nur stündlich das Trompetensignal spielen, sondern war auch für das Orchester der Pfarrei von Nabburg verantwortlich. Die beiden Onkel verbesserten ihr knappes Einkommen als Musikanten, die zu allen Gelegenheiten spielten, und beherrschten daher notgedrungen eine beachtliche Vielzahl von Instrumenten.

Musikalische Vielseitigkeit war der Schlüssel zum Überleben, und sie gaben diese Lebenserfahrung an Franz weiter, der als kleiner Junge schon Gitarre, Geige, Klarinette und verschiedene Blechblasinstrumente spielen lernte. Sein Onkel Johann brachte ihm auch die Grundlagen der Theorie und der Komposition bei. Im Alter von zehn Jahren begleitete er bereits seine Onkel zu den vielen Hochzeiten, Volks- und Tanzfesten, auf denen sie spielten, und verdiente außerdem Geld mit privaten Musikstunden. Mit fünfzehn bekam er mit der Hilfe seiner Onkel eine Anstellung bei Herzog Maximilian, dem Cousin von König Ludwig I. Als Musiker am Hof des Herzogs spielte er Gitarre, aber gleichzeitig wurde er immer besser am Waldhorn, dem Lieblingsinstrument seines Onkels Georg. Zehn Jahre später wurde Franz Strauss dann als Hornist und gelegentlicher Geiger Mitglied des Münchner Hoforchesters. Es war jedoch das Waldhorn, das ihm den Weg aus der Armut ermöglichen sollte.

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1 – Franz Strauss, der Vater, musikalische Mentor und weltberühmte Hornist, um 1890

Franz war ein hervorragender Musiker und dabei so brillant wie zäh und hartnäckig. Der Verlust seiner Frau und seiner Kinder in den frühen 1850er Jahren traf ihn schwer, doch er war umso härter entschlossen sich durchzusetzen: 1847 trat er dem Hoforchester bei, bald stieg er zum Solohornisten auf. 1871 wurde er zum Professor an der Königlichen Musikschule ernannt, nur zwei Jahre darauf erhielt er den Ehrentitel eines Kammermusikers. Durch die Heirat mit Josephine Pschorr, der er sieben Jahre lang den Hof gemacht hatte, erreichte er etwas, was weder seine Mutter noch seine Onkel je für möglich gehalten hätten, den Aufstieg in die Mittelschicht. Das Vermögen der Pschorrs kam aus der Bierbrauerei, doch die große Familie liebte die Musik. Das Musizieren war ein wichtiger und fester Bestandteil des Familienlebens, allerdings nur als Zeitvertreib. Nie zuvor hatte es in der Familie einen Berufsmusiker gegeben, und der Vater, Georg Pschorr, hatte anfangs zwiespältige Gefühle gegenüber einer solchen Verbindung. Möglicherweise gab es auch einen tieferliegenden Grund für die Ambivalenz des Vaters, einen Grund, der wahrscheinlich nicht offen diskutiert worden wäre: Josephine hatte ein Nervenleiden, das sich mit zunehmendem Alter verschlimmerte. Es ist durchaus denkbar, dass sich Georg Pschorr fragte, ob eine Beziehung zwischen dem starken, direkten Franz und der stillen, nervösen Josephine gut gehen würde.

Doch der beharrliche Strauss setzte sich durch, nahm schließlich den skeptischen Brauereikönig für sich ein und wurde 1863 mit echter Wärme in der Familie willkommen geheißen. Franz und Josephine zogen in eine Wohnung, die auf der Rückseite der Pschorr-Brauerei am Altheimereck 2 im zweiten Stock gelegen war. Dort kam ein Jahr darauf Richard zur Welt. So wuchs der spätere Komponist im Herzen der bayerischen Hauptstadt auf, die zu dieser Zeit etwa 150.000 Einwohner hatte. In seinen Jugendjahren konnte er von allem profitieren, was eine Großstadt zu bieten hatte – Theater, Konzertsäle, Museen –, und natürlich lernte er durch seinen Vater bald die wichtigsten Musiker in München kennen. Seine früheste Begegnung mit der Musik außerhalb des Familienkreises war die Militärmusik, aber anders als die martialische Musik, die den jungen Gustav Mahler faszinierte, der in Iglau (Mähren) in der Nähe von Militärbaracken aufwuchs, kam diese Musik vom mittäglichen Wachwechsel am Marienplatz. Diesen beobachtete der dreijährige Strauss gerne am Fenster des Stadthauses seiner wohlhabenden Urgroßmutter. Auf dem Heimweg machte er dann das Trommelspiel nach, und zum großen Erstaunen seines Vaters spielte er manchmal am Klavier eine Militärmelodie aus dem Gedächtnis. Vier Jahre später besuchte er zum ersten Mal die Oper, sah die Zauberflöte und den Freischütz, und mit acht begann er, regelmäßig in Symphoniekonzerte zu gehen, und beobachtete dabei aufmerksam seinen Vater, der die Hornisten anführte.

Obwohl Hans von Bülow den frühreifen jungen Strauss bald zu Wagners legitimem Nachfolger erklärte, war dessen musikalische Erziehung eine ganz andere als die des älteren Komponisten, dessen Wurzeln in der Welt des Theaters lagen. Von Beginn an folgte Wagners Musik einem dramatischen Impuls. Strauss wurde hingegen von einer streng konservativen Tradition geprägt, deren Schwerpunkte Instrumentalmusik und Lieder waren. Das ließ in keiner Weise die Karriere eines Komponisten erwarten, der am Ende fünfzehn Opern schrieb und damit sogar noch Wagner übertraf. Die bürgerliche Erziehung von Strauss, seine klassische Ausbildung und ein Familienleben, in dem Hausmusik eine zentrale Rolle spielte, lassen viel mehr Ähnlichkeiten mit Wagners vermeintlichem Antipoden Felix Mendelssohn Bartholdy erkennen. Als Heranwachsendem war Strauss ganz sicher Mendelssohn lieber als Wagner, und seine Liebe zu Ersterem blieb noch lange erhalten, nachdem er bereits die Rolle des «Zukunftsmusikers» übernommen hatte.

Wie Mendelssohn war Strauss ein bemerkenswertes Wunderkind. Mit drei Jahren begann er Klavier zu spielen, ein Jahr später fing er bei August Tombo, Harfenist des Münchner Hoforchesters, mit regelmäßigem Unterricht an. Wie Mendelssohn hatte Strauss einen musikalisch außergewöhnlich gebildeten Vater, der sowohl sehr eigensinnig als auch erzkonservativ war: Beide, Abraham Mendelssohn und Franz Strauss, konnten nicht einmal den späten Beethoven tolerieren. Franz Strauss wünschte wie Abraham Mendelssohn, wenn auch aus anderen Gründen, dass sein Sohn mit Literatur, Geschichte, Griechisch und Latein eine solide Allgemeinbildung erhielt, die ihm eine breitgefächerte, sichere Grundlage bot. Ein Konservatorium zu besuchen, was der Junge sich wünschte, kam nicht in Frage, zum großen Verdruss von Richard, denn der Vater wusste nur zu gut, was es bedeutete, für seinen Lebensunterhalt allein von der Musik abhängig zu sein. Er war fest entschlossen, seinen Sohn nicht zu früh und unreif ganz der Welt der Musik zu überlassen, so wie es ihm selbst ergangen war. Richard kam mit zehn Jahren auf das Ludwigsgymnasium, doch hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits als frühreifer Musiker Anerkennung gefunden. Seine ersten beiden Kompositionen, die Schneiderpolka für Klavier und das Weihnachtslied für Sopran, beide im Alter von sechs Jahren geschrieben, deuten die zwei Linien seiner frühen Karriere als Komponist an: Instrumentalmusik und Lieder.

Franz Strauss wollte die künstlerischen Fähigkeiten seines Sohnes fördern und den Jungen zugleich auf das moderne bürgerliche Leben vorbereiten. So musste sich der Musiker Richard in der Abgeschiedenheit eines strengen Privatunterrichts entwickeln, während er seine intellektuelle Ausbildung im Gymnasium erhielt. Parallel zum Eintritt ins Gymnasium bekam er intensiveren Klavierunterricht bei Carl Niest und, wichtiger noch, Kompositionsunterricht bei Friedrich Wilhelm Meyer, bei dem er Harmonie- und Formenlehre, Kontrapunkt und schließlich Instrumentation lernte. Als Assistent des Hofkapellmeisters Franz Lachner spielte Meyer in der Münchner Musikszene keine große Rolle. Hier dirigierte er die Opern, die Lachner nicht interessierten: Auber, Donizetti, Boieldieu und dergleichen. Jahre später beschrieb sein berühmtester Schüler den nicht übermäßig begabten Meyer als einen «einfache(n) und edel denkende(n) Mann».[4] Aber warum wählte Franz Strauss für seinen brillanten Sohn jemanden, der so wenig brillant war? In den 1870er Jahren hatte Franz Strauss sicherlich so großen Einfluss in München, dass er nahezu jeden der bedeutendsten Musiker in der Stadt hätte engagieren können. Doch er wollte die Kontrolle über die Fortschritte seines Sohnes behalten; er wollte einen konservativen Lehrer, der sich seinen Wünschen beugte und der sich außerdem voll und ganz der Entwicklung seines Schülers widmen konnte. Der kinderlose Meyer, der Richard fast wie seinen Sohn behandelte, war ideal – obwohl er der Musik von Wagner und Liszt nicht abgeneigt war.

Von Meyer sind keine veröffentlichten Werke bekannt, und das handschriftlich Überlieferte ist nicht sonderlich originell. Was Franz Strauss gleichwohl vor allem an Meyer schätzte, war dessen Misstrauen gegenüber Theoretikern und Abhandlungen als Quellen des Kompositionsunterrichts. Als Ikonoklast und Autodidakt war Franz in der Welt der Musik ohne eine methodisch angeleitete, akademische Ausbildung zu großem Erfolg gelangt, und er wollte seinem Sohn diese Art von musikalischer Unabhängigkeit weitergeben. Man muss sagen, dass ihm das im Großen und Ganzen auch gelungen ist, denn unverkennbar kann man die Stimme des Vaters in einem Brief des vierzehnjährigen Strauss an Ludwig Thuille heraushören. Dieser hatte sich bei Strauss nach einem Kompositionslehrbuch erkundigt, und Richard teilte ihm bereitwillig seine Meinung beziehungsweise die seines Vaters mit:

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2 – Richard Strauss und seine Schwester Johanna im Jahre 1873

In Betreff der Erlernung der Instrumentalmusik kann ich Dir nur den guten Rath geben, dieselbe nicht aus einem Buche zu lernen, da dies, wie mir mein Papa sagte, das allerschlechteste sei. Ich rathe Dir daher, kein Buch zu kaufen, da meinem Papa selbst nur eines von Hector Berlioz bekannt ist, der selbst ein rechter Klexer und Batzer ist, sondern Herrn Pembaur um eine Tabelle über den Umfang und die beste Lage der verschiedenen Instrumente zu bitten und das Übrige, d.h. die Anwendung und Auftragung derselben aus den Partituren der alten großen Meister zu lernen, welche Dir Herr Pembaur, wenn Du bittest die Nagiller an Deinem Lehrer etwas zu pochen, schon leihen wird.[5]

Wir wissen aus einem anderen Brief an Thuille, dass Richard Strauss durchaus ein Lehrbuch benutzte, Ernst Friedrich Richters Grundzüge der musikalischen Formen (1852), ein kurzes, 52-seitiges Theoriehandbuch, das nur als Einführung gedacht war und als Grundlage für freie Studien – eben jene Art von Studien, die Meyer und auch Strauss’ Vater förderten. Interessant ist, dass ein veränderter Richard Strauss ein Jahr vor dem Tod seines Vaters dem «Klexer und Batzer» seine Ehrerbietung erwies, indem er 1904 bei Breitkopf und Härtel eine erweiterte deutsche Ausgabe von Berlioz’ Abhandlung über die Instrumentation veröffentlichte.

Unter allen Kindheitsbekanntschaften von Strauss war Ludwig Thuille die einflussreichste und seiner frühen musikalischen Entwicklung am förderlichsten. Nur wenig älter als Strauss, erwies sich Thuille als lebenswichtiges Ventil für einen Jungen, der damals kaum Freunde hatte, mit denen er ausführlich über Musik sprechen konnte. Obwohl die beiden zum ersten Mal 1872 im Alter von acht und elf Jahren aufeinandertrafen, lernten sie sich erst fünf Jahre später wirklich kennen, als Pauline Nagiller, eine verwitwete Freundin von Strauss’ Mutter, Thuilles Vormund wurde. Ludwig war sehr früh Waise geworden, und bevor Nagiller ihn in Innsbruck zu sich nahm, wurde er von einem Großonkel aufgezogen. Franz Strauss identifizierte sich zweifellos mit dem Waisenjungen, behandelte ihn wie ein Familienmitglied und half ihm auf seinem beruflichen Weg. 1879 wurde Thuille in die Königliche Musikschule Münchens aufgenommen, wo Franz Strauss Horn lehrte, und studierte dort Theorie und Komposition bei Joseph Rheinberger. Thuille wurde schließlich als Theoretiker einflussreicher denn als Komponist und entwickelte sich zu einem führenden Mitglied der sogenannten Münchner Schule. 1903 wurde er Rheinbergers Nachfolger, und kurz darauf erarbeitete er zusammen mit Rudolf Louis eine Harmonielehre (1907), die Jahrzehnte lang als wichtiger theoretischer Text ihre Stellung behauptete. Thuille starb jedoch im Jahr der Veröffentlichung mit 46 Jahren an einem Herzinfarkt.

Der junge Ludwig war ein häufiger Gast bei der Familie Strauss. Er spielte oft mit, wenn Hausmusik gemacht wurde, und die beiden Jungen gingen gerne miteinander ins Konzert. Anfangs, als Thuille von 1877 bis 1879 in Innsbruck das Gymnasium besuchte, waren sie längere Zeit getrennt, aber sie schrieben sich viele Briefe und kritisierten, immer konstruktiv und oft sehr ausführlich, die Kompositionen des anderen. Leider sind die Briefe von Thuille aus der Innsbrucker Zeit nicht erhalten, aber die zahllosen Briefe von Strauss sind fast so etwas wie ein Tagebuch des Komponisten aus seiner Kindheit, denn sie berichten über sein Komponieren, seine Konzertbesuche und seine Auftritte. Strauss’ Konzertkritiken sind bisweilen recht lang, oft zitiert er musikalische Passagen aus dem Gedächtnis. In diesen Kritiken zeigt sich, welch tief empfundene Hochachtung der Junge vor den klassischen Meistern hatte: vor Haydn, Beethoven, Schubert und besonders vor Mozart. Aber auch Mendelssohn und Schumann gefielen ihm ziemlich gut, Letzterer zeige einen «unvermeidliche(n) Hang zu Figurenreiterei».[6] Sein Respekt vor Weber, Spohr, Lachner, Lortzing und Marschner ist kaum überraschend, aber seine jugendliche Begeisterung für Boieldieu und Auber amüsierte den älteren Thuille.

Später waren Strauss diese frühen Vorlieben peinlich, und er ärgerte sich oft, wenn er Auszüge dieses Briefwechsels in gedruckter Form zu sehen bekam. Noch peinlicher waren ihm seine häufigen negativen Kommentare zu Wagner, zum Beispiel dass er erklärt hatte, man werde den Bayreuther Meister in zehn Jahren längst vergessen haben. Aber hinter derartigen naiven Übertreibungen sollte man keine Unkenntnis vermuten. Schon mit vierzehn konnte Strauss seinem Freund Verse voller Alliterationen im Stil von Wagner schreiben: «Nach langem und sehnlichen, saueren Warten/hielt in Händen ich endlich die neidliche Post;/ich wartete weilend auf Walhalls Zinnen/vor Sehnsucht verzehrte mich beinah der Rost».[7] Trotz der Tatsache, dass in diesen Briefen viele Spitzen gegen Lohengrin (den Strauss «Lohengelb» nennt) und gegen den Ring zu finden sind, verweist die Exaktheit der musikalischen Details auf ein ungewöhnliches Verständnis von Wagner. In der Tat beschreibt Strauss in einem Brief eine gefährliche Bergtour mit der Familie, und diese löste offenbar ein frühes Interesse an Wagnerscher Tonmalerei aus; vielleicht lässt sich hier sogar schon eine künftige alpine Symphonie vorausahnen: «Am nächsten Tage habe ich die ganze Partie auf dem Klavier dargestellt. Natürlich riesige Tonmalereien und Schmarrn (nach Wagner). Neulich war ich in der Götterdämmerung.»[8]

In der Beziehung zwischen Strauss und Thuille mischten sich Freundschaft und Rivalität. Später tauchten zwangsläufig Eifersüchteleien auf, weil die beiden in vielerlei Hinsicht verschieden waren. Thuille war vorsichtiger und introvertierter als sein jüngerer Weggefährte, er war auch weniger begabt und wusste das. Dem reifer werdenden Thuille fiel es immer schwerer, den brillanten, heiteren und lebhaften Strauss, der in einer so wohlhabenden, stabilen Familie zu leben schien, ohne einen gewissen Neid zu betrachten. Strauss seinerseits bewunderte seinen älteren Freund rückhaltlos als Musiker und Komponisten und war sich der Eifersucht von Thuille nicht bewusst. Neben anderen Werken widmete er ihm seinen Don Juan, und noch 1902, als er gerade die Symphonia domestica komponierte, sandte er ihm ein Fugenthema mit der Bitte, der Freund möge ihm dieses Thema «schulgerecht beantworten» und einen «schönen 2stimmigen Contrapunkt (…) erfinden»[9]. Als Erwachsener schlug Thuille die Laufbahn an der Musikakademie ein, die sich Richard Strauss ursprünglich gewünscht hatte. Obwohl Thuille Opern, Kammermusik und Symphonien komponierte, verdiente er seinen Lebensunterhalt durch den Kompositionsunterricht. In Strauss erkannte er den jüngeren, talentierteren Komponisten – dessen Karriere sich exponentiell beschleunigte.

Die Werke von Strauss aus den 1870er Jahren waren meist kurz und hatten einen Bezug zu bestimmten Familienmitgliedern: Lieder, Stücke für Soloklavier und Kammermusik. Die meisten dieser frühen Lieder komponierte er für seine Tante Johanna Pschorr, eine gute Mezzosopranistin, die sie bei Hauskonzerten in der Familie vortrug. Viele dieser Werke sind verloren gegangen, aber die erhaltenen zeigen einen jungen Komponisten, der sich sicher in die Liedtradition des frühen 19. Jahrhunderts einfügt. Es ist nicht leicht, angesichts der vielen Cousins von Strauss und ihrer jeweiligen Instrumente den Überblick zu behalten. Richard spielte besonders gerne Kammermusik mit Ludwig Knözinger, Karl Streicher und Karl Aschenbrenner. Dieses Musizieren förderte sein eigenes Komponieren, obwohl er viele Jahre später anmerkte, dass er vermutlich allzu sehr stimuliert worden sei, er habe während der 1870er Jahre viel zu viele Stücke geschrieben. Tatsächlich verfügte er später in seinem Testament, dass diese Werke nach seinem Tod weder veröffentlicht noch aufgeführt werden durften.

Gegen Ende der 1870er Jahre interessierte sich Strauss zunehmend für Orchestermusik, was wahrscheinlich damit zusammenhing, dass sein Vater 1875 das Orchester Wilde Gung’l übernommen hatte. Dieses Amateurorchester, das Franz Strauss bis 1896 leitete, trug dazu bei, dass Richard in die Welt der symphonischen Komposition eingeführt wurde. Er besuchte die Proben und trat dem Ensemble 1882 als erster Geiger bei. In der Wilden Gung’l konnte Strauss, über den Unterricht bei Meyer hinaus, Instrumentation in der Praxis erlernen, wobei der Vater ihm half, seinen Weg zu finden; einige seiner frühesten Orchesterwerke schrieb Richard Strauss für dieses Ensemble, das bis heute existiert. Sein erstes Orchesterstück, die Konzertouvertüre h-Moll von 1876, wurde mit Meyers Unterstützung orchestriert, aber den im selben Jahr noch vollendeten Festmarsch instrumentierte der zwölfjährige Komponist ganz allein. Einige Ouvertüren und Märsche folgten, 1880 sogar eine Symphonie in d-Moll. Aber die bekanntesten Werke von Strauss aus den frühen 1880er Jahren waren die Serenade op. 7 (1881), die Klaviersonate op. 5 (1880/81), die Fünf Klavierstücke op. 3 (1880/81) und die Konzerte für Violine (1882) und Horn (1883).

Strauss erhielt 1882 am Ludwigsgymnasium sein Reifezeugnis und schrieb sich, dem Wunsch seines Vaters entsprechend, an der Universität München ein, letztendlich allerdings nur für das Wintersemester 1882/83. Ein wichtiges Ereignis im Sommer nach dem Schulabschluss war die Reise nach Bayreuth mit seinem Vater, der dort in der Uraufführung von Wagners Parsifal das Solohorn spielte. Inzwischen hatte Strauss alle wichtigen Opern von Wagner gehört, und obwohl er nach außen hin das Gegenteil behauptete, faszinierte ihn Wagners Musik immer mehr. Schon im Herbst 1880 hatte er heimlich und zur großen Bestürzung seines Vaters die Partitur des Tristan studiert. Aber Franz wusste, dass er seine Kontrolle über den ungeduldigen jungen Komponisten nicht unbegrenzt aufrechterhalten konnte: Richard brannte darauf, sich in der Welt der Musik zu etablieren, und dem Vater war klar, dass sein Sohn in den frühen 1880er Jahren musikalisch gewaltige Entwicklungssprünge machte. Es war also zu spät, er musste zulassen, dass Richard die Universität verließ, um etwas anderes anzufangen. Doch so kurz Strauss’ Studium an der Universität auch gewesen sein mag, es war doch von einiger Bedeutung für ihn, denn es markierte den Beginn einer intellektuellen Entwicklung. In diesem einzigen Semester an der Ludwig-Maximilians-Universität studierte er Shakespeare, Kunstgeschichte, Philosophie und Ästhetik – Studien, die seine künstlerische Entwicklung in den kommenden zehn Jahren direkt beeinflussen sollten. In dieser Zeit begann er sich auch für Schopenhauer zu interessieren, dessen Schriften er mit seinem Kommilitonen Arthur Seidl und mit Friedrich Rösch, einem früheren Klassenkameraden, ausführlich diskutierte.

Gleichzeitig machte Strauss sich allmählich einen Namen, denn noch vor dem Verlassen des Gymnasiums war seine erste Symphonie von Hermann Levi im Odeon uraufgeführt worden und hatte positive Kritiken erhalten. Wichtiger noch war 1882 die Uraufführung der Bläserserenade op. 7, ein Werk, das Hans von Bülow bewog, seine anfangs negative Einschätzung des Komponisten zu revidieren. Bülows Freund Eugen Spitzweg vom Aibl Verlag in München war der erste Verleger von Strauss. 1881 hatte er Bülow gebeten, ihm seine Meinung über die Fünf Klavierstücke (op. 3) und die Stimmungsbilder (op. 9) mitzuteilen. Bülow war nicht sehr beeindruckt gewesen: «Klavierstücke von Richard Strauss haben mir gründlichst mißfallen (…) Vermisse alle Jugend in der Erfindung. Kein Genie nach meiner innigsten Überzeugung, sondern höchstens ein Talent (…) Schade, daß der Klaviertext so holperig, so vieler praktischer Verbesserungen bedürftig.»[10] Aber die im November 1881 vollendete Serenade bewirkte, dass er seine Meinung änderte, und zwar so sehr, dass er das Werk bei einem Auftritt mit dem Meininger Orchester in Berlin ins Programm aufnahm.

Strauss machte seine erste Reise als Komponist, als er im Dezember 1882 zur Uraufführung seines Violinkonzerts nach Wien fuhr. Es wurde als Arrangement für Violine und Klavier von seinem Cousin und Geigenlehrer Benno Walter und von Eugenie Menter am Klavier aufgeführt. Der achtzehnjährige Strauss wünschte sich sehnlich, ein Stück Wiener Kulturleben kennenzulernen; zu dieser Zeit genoss die Wiener Hofoper unter Wilhelm Jahn als Direktor einen beispiellosen Ruf. Jahn hatte klugerweise das deutsche Repertoire an Wagners Freund und Fürsprecher Hans Richter übergeben. Strauss gelang es tatsächlich, am Tag nach seiner Ankunft in der österreichischen Hauptstadt eine Aufführung von Tannhäuser mit Richter zu sehen. Am nächsten Tag hörte er noch einmal Richter, der die Wiener Philharmoniker dirigierte, diesmal bei einer Matinee, in der auch die Serenade in D-Dur von Brahms auf dem Programm stand. Diese Gegenüberstellung von Wagner und Brahms erscheint umso bedeutungsvoller, wenn man sich klarmacht, wie scharf damals in Wien die Frontlinien zwischen der «Musik der Zukunft» und der «konservativen Romantik» gezogen wurden. Man wüsste gerne, wie Strauss auf die beiden unmittelbar aufeinander folgenden Veranstaltungen reagierte, weit weg von Zuhause und von seinem streitsüchtigen Vater, der Brahms ebenso wenig mochte wie Wagner. Doch bei aller Reizbarkeit war Franz mit den Gepflogenheiten der Musikszene vertraut und bestand darauf, dass sein achtzehnjähriger Sohn zahlreiche Höflichkeitsbesuche machte. Es gelang Richard zwar nicht, Eduard Hanslick zu treffen, den berühmten Musikkritiker der Neuen Freien Presse und Inbild des musikalischen Mainstream im liberalen Wien, aber er kam mit Richter, Wilhelm Jahn und dem Musikkritiker Max Kalbeck zusammen, der sich bereit erklärte, am Tag vor der Uraufführung des Violinkonzerts einen kurzen Artikel über Strauss zu schreiben. Einige Tage danach freute sich Strauss über eine positive Besprechung, die Hanslick selbst verfasst hatte. Es sei das einzige Lob von Hanslick geblieben, sagte Strauss Jahre später. Alles in allem genoss es der junge Künstler, weit weg von Zuhause zu sein und sich in der Wiener Gesellschaft zu bewegen, obwohl er behauptete, Wien sei am Ende eine ganz normale Stadt, nicht viel anders als München.

Es war jedoch weniger diese Fahrt nach Wien als die Reise nach Berlin im Winter 1883/84, die einen enormen Einfluss auf die Karriere des sich rasch weiterentwickelnden Komponisten hatte. Dieser längere Aufenthalt, eine Art nachgeholte Abiturreise nach dem Abschluss des Gymnasiums, war ein Schlüsselereignis im Leben des jugendlichen Komponisten, der an der Schwelle zur Unabhängigkeit stand. Franz Strauss versprach sich viel von dieser Reise in die Hauptstadt des jungen Kaiserreichs, versorgte seinen Sohn mit diversen Empfehlungsschreiben und überredete andere Größen der Münchner Musikszene wie zum Beispiel Levi, das Gleiche zu tun. Der junge Strauss war begeistert und charmant und nutzte alles, was Berlin zu bieten hatte. Er erlebte einige der besten Theateraufführungen in Deutschland und besuchte Opern und Konzerte mit Musikern, die zu den größten der Welt gehörten. Doch diese drei Monate zwischen dem 21. Dezember 1883 und dem 29. März 1884 erweiterten nicht nur seinen kulturellen Horizont: Sie boten Strauss auch die Gelegenheit, sein Werk bekannt zu machen und wichtige, einflussreiche Künstler und Intellektuelle kennenzulernen, von denen einige unmittelbar auf seinen Werdegang einwirken sollten.

Konzertouvertüre11