Martin Aust
DIE RUSSISCHE REVOLUTION
Vom Zarenreich zum Sowjetimperium
C.H.Beck
Wer von der Russischen Revolution spricht, der meint in der Regel die bolschewistische Oktoberrevolution. Doch handelte es sich tatsächlich um eine Vielzahl von Revolutionen. Diese waren geprägt von den sozialen und nationalen Verwerfungen des alten Reiches, die ihre volle Sprengkraft im Chaos des Ersten Weltkriegs entfalteten. Von Region zu Region zeigten sie daher ein anderes Antlitz. Nur wer das Zarenreich als Imperium sieht und die Komplexität des Vielvölkerstaates berücksichtigt, wird auch der Vielfalt der Russischen Revolutionen gerecht werden und den Übergang zum Sowjetimperium verstehen. Denn die neue Ordnung der Bolschewiki schloss nicht nur eine soziale Revolution ab. Sie schuf eine völlig neue Nationalitätenpolitik. Die junge Sowjetunion war die größte Nationsbildnerin der Welt, zertrümmerte das Potential ihrer neuen Nationalitätenpolitik jedoch schließlich selbst im stalinistischen Terror.
Martin Aust ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn.
Vorwort
Einleitung
1905–1907: Russlands erste Revolution
1. Russland um 1900
2. Vom Blutsonntag zum Oktobermanifest
3. Zuckerbrot und Peitsche
4. Russland am Vorabend des Ersten Weltkriegs
1914–1915: Russland im Ersten Weltkrieg
1. Russlands Weg in den Krieg
2. Äußere und innere Fronten
1916–1917: Aufstand und Revolutionen
1. Prolog der Revolution
2. Die Februarrevolution
3. Revolutionen im Raum des Imperiums
4. Die Revolution im Sommer 1917
5. Die Oktoberrevolution
1918–1921: Bürgerkrieg und Weltkrieg
1. Bellum omnium contra omnes 1918
2. Die Bol’ševiki auf dem Weg zum Sieg 1919
3. Regionen und Gewalt im Bürgerkrieg
4. Postimperiale und neoimperiale Konstellationen in der Ukraine und der Mongolei
5. Bilanz des Bürgerkriegs
1921–1928: Das sowjetische Momentum der Weltgeschichte
1. Die neue Nationalitätenpolitik der Bol’ševiki
2. Die Oktoberrevolution in der Welt
Schluss
Anmerkungen
Vorwort
Einleitung
1905–1907: Russlands erste Revolution
1914–1915: Russland im Ersten Weltkrieg
1916–1917: Aufstand und Revolutionen
1918–1921: Bürgerkrieg und Weltkrieg
1921–1928: Das sowjetische Momentum der Weltgeschichte
Schluss
Zur Transliteration kyrillischer Buchstaben
Quellen
Literaturverzeichnis
Internetressourcen
Karten
Personen- und Ortsregister
Bildnachweis
Jakob und Kaja
1989 erklärte François Furet die Französische Revolution von 1789 endgültig für beendet. Im Lauf von 200 Jahren habe sich das ideologische Potential von 1789 erschöpft. Die Revolution lasse sich nicht mehr für die Gegenwartsdebatten von 1989 instrumentalisieren.[1] Aus dem revolutionären Russland des Jahres 1917 führen keine geradlinigen Verbindungslinien in das Russland Putins 100 Jahre danach. Jedoch lässt sich beobachten, dass große Fragen des Jahres 1917 erneut virulent sind. Die Russischen Revolutionen 1917, die im Februar das Ende der Zarenherrschaft und im Oktober die Bol’ševiki an die Macht brachten, waren vieles. Sie waren soziale Revolutionen, in denen es nicht zuletzt um blanke Fragen der Versorgung der Menschen im Alltag ging. Das Gewicht, das Menschen heutzutage in Russland Versorgung und Konsum in der Einschätzung ihrer Lage beimessen, kommt in der reduktionistischen Formel von Kühlschrank vs. Fernseher zum Ausdruck. Wie die Menschen Russlands Situation und seine Politik einschätzen, hängt demnach nicht allein von der Staatspropaganda im Fernsehen, sondern verkürzt gesprochen auch davon ab, wie der Kühlschrank gefüllt ist, welche Grundversorgung und Konsummöglichkeiten das Leben bietet.
Nach dem Ende der Monarchie standen 1917 die großen Verfassungsfragen von Staat und Gesellschaft auf der Tagesordnung: Wie weit sollte die Partizipation der Gesellschaft an der Politik gefasst und in welche Verfassungsform sollte sie gegossen werden? Die verfassunggebende Versammlung, die die Revolutionäre wählen ließen, jagten die Bol’ševiki in den frühen Januartagen 1918 auseinander. Heutzutage lässt sich Opposition gegen Putins inszenierte Demokratie und seine Machtvertikale allein in einigen Nischen des Internets und in der Emigration vortragen. Parteien und Politiker, die offen für eine neuerliche Demokratisierung Russlands eintreten, sind entweder marginalisiert oder müssen mit Repressionen rechnen. In einem Russland nach Putin wird die Frage nach dem politischen Verhältnis von Staat und Gesellschaft erneut auf der Agenda stehen.
Die Revolutionen 1917 waren auch von der Frage geprägt, wie die Revolutionäre sich zum imperialen Erbe des Zarenreiches verhielten. Welchen Status sollten die zahlreichen Regionen und verschiedensten Nationsbildungsprojekte in einem neuen Russland erhalten? Die Bol’ševiki begriffen sich als Kämpfer gegen den Imperialismus in der Welt. Aus der Hinterlassenschaft des zarischen Vielvölkerreiches schufen sie entgegen ihrem eigenen Willen und ihren erklärten Absichten ein Imperium neuen Typs, das sie freilich so nicht nannten. In der Russländischen Föderation stellt sich abermals die Frage nach dem Umgang mit dem nun doppelten imperialen Erbe des Zarenreiches und der Sowjetunion.
Für den Staat wird der 100. Jahrestag von 1917 eine Herausforderung werden. Die offizielle Geschichtspolitik in Putins Russland hat verschiedene Versatzstücke zarischer und sowjetischer Vergangenheit besonders eigenwillig zu einem russländischen Identitätsangebot kombiniert. Amtseinführungen des Präsidenten begleitet im Moskauer Kreml’ eine Palastgarde in Uniformen, die den Empire-Stil Russlands nach dem Sieg über Napoleon 1812–14 zitieren. Der bedeutendste offizielle Feiertag des Landes jedoch ist der Tag des Sieges am 9. Mai, an dem ganz Russland des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland gedenkt. Putin hatte keine Skrupel, einerseits den nach Russland umgebetteten Gebeinen des Generals der Weißen, Denikin, einen Besuch abzustatten, der im Bürgerkrieg gegen die Bol’ševiki gekämpft hatte, und andererseits das Ende der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Dieser Spagat lässt sich allein mit einer ideologiefreien Präferenz imperialer Größe durchhalten. Staatlichkeit, Machtentfaltung und internationale Geltung erscheinen dabei als Konstanten hinweg über Umbrüche wie die Revolution.
2014 hat in Carskoe Selo, der alten Zarenresidenz bei St. Petersburg, ein Museum über den Ersten Weltkrieg seine Pforten geöffnet. Der Vorgänger dieses Museums war 1915 im Zarenreich gegründet worden, um soldatischen Mut und Heroentum zur Schau zu stellen. Die Ausstellung vermittelt auch heute unterschwellig die Botschaft, dass ganz Russland geeint und entschlossen diesen Weltkrieg gekämpft hätte, bis die Bol’ševiki die Macht an sich rissen und dem Krieg ein abruptes Ende bereiteten. Das gleiche gilt für die Präsentation der Revolution im Staatlichen Museum der Politischen Geschichte Russlands in St. Petersburg. Die Oktoberrevolution heißt hier nicht mehr wie zu Sowjetzeiten die Große Oktoberrevolution. Die Ausstellung bezeichnet sie als bewaffneten Aufstand und Machtergreifung der Bol’ševiki. Der 100. Jahrestag der Russischen Revolutionen 2017 stellt sich als eine geschichtspolitische Herausforderung dar. In seiner Ansprache an die Föderale Versammlung Russlands am 1. Dezember 2016 ist Putin nicht auf die Einzelheiten der Revolutionen des Februars und Oktobers 1917 eingegangen. Stattdessen hat er eine Verbindung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit des Jahres 1917 hergestellt, die ganz auf die Erfahrung von Unordnung, Chaos und Anarchie abhebt. Demzufolge besäßen die Menschen in Russland ein Einfühlungsvermögen für die Furcht vor Umstürzen, Chaos und Anarchie, das sich aus den Erfahrungen von 1917 speist. Die Revolutionen im Februar und Oktober 1917 seien eine schwere Erschütterung und eine Zeit der Leiden und Prüfungen gewesen, eine Tragödie, die jede Familie in Russland betraf. In seiner Ansprache forderte Putin eine objektive wissenschaftliche Analyse der Revolution. Zugleich zog er den Schluss, dass 1917 eine Lehrstunde der Geschichte gewesen sei. Die Erschütterungen von 1917 zeigten, so Putin, die fundamentale Notwendigkeit eines vereinten Volkes und geeinten Russlands.[2]
Wissenschaftlich betrachtet ist das Jubiläum ein willkommener Anlass, den reichen Ertrag der jüngeren Forschungen über Imperium, Nationen und Regionen Russlands und der Sowjetunion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in eine Gesamtdarstellung der Revolutionsgeschichte aufzunehmen. Bislang sind überblicksartige Revolutionsgeschichten Russlands stark auf die Zentren Petrograd und Moskau und Politik und Gesellschaft in den Zentralregionen Russlands fokussiert. Dieses Buch stützt sich auf eine faszinierende Forschungsfülle der Russlandhistoriographie über die Vielfalt des Imperiums der letzten 20 Jahre sowie erste globalgeschichtliche Verortungen der Jahre 1905 und 1917 und lässt sie in der Revolutionsgeschichte aufgehen. Der Titel Die Russische Revolution ist dabei ein Zugeständnis an eine sprachliche Konvention. Die Russische Revolution ist genauso wie die Französische Revolution 1789 zu einem allgemein gebräuchlichen Begriff geworden, der im einen wie im anderen Fall die Vielzahl sozialer und regionaler Revolutionen und ihre jeweils eigenen Chronologien nicht abbildet, sondern bestenfalls noch wie ein zip-Ordner gebündelt mit sich transportiert.
Im Text werden russische Personen- und Ortsnamen in wissenschaftlicher Transliteration wiedergegeben. In wörtlichen Zitaten aus deutschen Texten finden sich jedoch auch Personen- und Ortsnamen in anderen Transkriptionen. Zeitangaben zu Ereignissen, die allein die Geschichte Russlands betreffen, folgen bis zum 1.2.1918 dem bis dahin in Russland gebräuchlichen julianischen Kalender. Zwischen Daten des julianischen und gregorianischen Kalenders lag im frühen 20. Jahrhundert eine Differenz von 13 Tagen.
Die Arbeit an diesem Buch hat mich über die Jahre zu vielfachem Dank verpflichtet. Er gilt zuerst Sebastian Ullrich beim Verlag C.H.Beck, der das Buchprojekt über die Jahre mit Interesse und Engagement in vielen Gesprächen gefördert und begleitet hat. Für das aufmerksame und sorgfältige Lektorat danke ich Simone Gundi. Mein Dank gilt Studierenden in München, Regensburg, Basel und Bonn, die das Entstehen des Buches in Vorlesungen und Seminaren mit inspiriert haben. Meine Münchner Hilfskräfte Mariya Heinbockel, Lydia Heidebrecht und Christian Leu haben in der Anfangsphase wertvolle bibliographische Recherchen und Hilfen bei der Literaturbeschaffung geleistet. Für Unterstützung auf der Zielgeraden in Bonn danke ich Vera Gewiss, Alice Lichtva, Ines Skibinski, Viktoriya Shavlokhova, Alexander Saß und Alexander Lang.
Zahlreiche Kolleginnen, Kollegen und Freunde haben mir Gelegenheit gegeben, das Buchprojekt auf Veranstaltungen vorzustellen und es in vertieften Gesprächen zu diskutieren. Ich danke Benjamin Schenk für einen Vortragstermin in seiner Baseler Vorlesung und für ein Semester als Gastprofessor in Basel, das ganz im Zeichen der Revolutionsgeschichte stand. Hans-Jürgen Bömelburg, Thomas Bohn, Peter Haslinger und Stefan Rohdewald danke ich für eine Einladung in das Gießener Colloquium der Osteuropäischen Geschichte. Tatiana Linkhoeva, Andreas Renner, Ulf Brunnbauer und Martin Schulze Wessel sei herzlich gedankt für die Einladung zur Jahrestagung 2016 der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien. Mit Janine Calic verbinden mich zahlreiche Gespräche über Herausforderungen des Schreibens, die wesentlich zum Fortschritt des Buches beigetragen haben. Jane Burbank, Tatjana Borisova und Daniel Schönpflug sei herzlich gedankt für einen fruchtbaren Austausch bei einem Mittagessen in Berlin. Alexander Kluge danke ich für sein Interesse an der Geschichte Russlands und die Gespräche mit ihm. Ricarda Vulpius, Franziska Davies, Ekaterina Makhotina, Nora Mengel, Zhanna Nemtsova, Rudolf Jaworski, Michael Kleineberg, Reinhard Frötschner, Tobias Grill, Fabian Klose und Ingo Mannteufel danke ich für ihre Begleitung und ihre Gedanken in verschiedenen Phasen der Arbeit am Buch. Meinen Eltern und meinem Bruder Helmut sei gedankt für ihr beständiges Interesse am Fortschritt und Abschluss des Buches. Die Verantwortung für verbliebene Unzulänglichkeiten und eventuelle Fehler im Buch liegt allein bei mir. Entstanden ist dieses Buch an Schreibtischen in München, Kiel, Hannover, Berlin, Basel, Bonn und St. Petersburg sowie in diversen ICEs. Gewidmet ist es Jakob und Kaja, die hoffentlich nie Krieg, Revolution und Bürgerkrieg werden erleben müssen.
Bevor Historikerinnen und Historiker Gelegenheit hatten, quellengesättigte Geschichten der Russischen Revolution zu schreiben, haben die Protagonisten der Umbrüche von 1917 ihre Interpretationen der Zeitläufte in Augenzeugenberichten, Memoiren und der Publizistik formuliert. Ihre Narrative prägten auf lange Sicht die Vorstellung von der Russischen Revolution. Zugleich reproduzierten diese Texte die Antagonismen der Revolutionszeit. Sie dienten dazu, eigenes Handeln zu rechtfertigen und die Fehler, Irrtümer und Versäumnisse anderer anzuklagen.
Nadežda Krupskaja stilisierte ihren Mann in ihren Erinnerungen an Lenin zum allzeit souveränen und stets auf das große Ziel einer neuen Ordnung fokussierten Berufsrevolutionär. Ihrem Text nach zu urteilen hätte keine noch so hohe Hürde Lenin im Lauf zur Revolution aufhalten können. Sich selbst porträtiert sie in diesen Erinnerungen in einer doppelten Rolle. Nadežda Krupskaja erscheint in ihrem Text zum einen als vorausschauend fürsorgliche Ehefrau, die sich um nichts anderes als das Wohl ihres Mannes kümmert und sich ganz in den Dienst seiner ambitionierten Ziele stellt. Zum anderen beschreibt sie sich als emanzipierte Frau, die die Initiative ergreift und sich neue Aufgaben im Vorhaben der Revolution sucht. So wurde sie im Sommer 1917 für die Bol’ševiki in das Bezirksparlament des Petrograder Stadtteils Vyborg gewählt, das sie als politische Schule beschreibt: «Und für mich, die ich lange Jahre in der Emigration zugebracht hatte, die ich mich nicht dazu entschließen konnte, auch nur auf kleinen Versammlungen zu sprechen, die ich niemals zuvor in der ‹Prawda› auch nur ein paar Zeilen veröffentlicht hatte, war eine solche Schule unbedingt notwendig.»[1]
Nachdem Trockij in den 1920er Jahren Stalin im Machtkampf um die Führungsposition in der jungen Sowjetunion unterlegen war, verwandte er einen erheblichen Teil seiner publizistischen Energie darauf, Stalins Verrat der Revolution zu geißeln. Er habe die Revolution der Arbeiterklasse entrissen, um sie in die machthungrigen Hände einer neuen sowjetischen Bürokratie zu legen. Vladimir D. Nabokov wiederum, der 1917 nach dem Ende der Monarchie in der Februarrevolution der Provisorischen Regierung angehört hatte, sah im Oktober 1917 nicht so sehr die demagogische und skrupellose Kraft der Bol’ševiki am Werk. Ihn erzürnten vielmehr auch im Rückblick Hemdsärmeligkeiten und dilettantische Fehler der Provisorischen Regierung. In seinen Augen hatte sie es im Sommer 1917 versäumt, die Bol’ševiki zu bändigen und die Errungenschaften der Februarrevolution abzusichern. Ein anderer prominenter Kopf der Provisorischen Regierung wies solche Vorwürfe wiederum entschieden von sich. Aleksandr Kerenskij, ihr letzter Ministerpräsident, beschreibt sich in seinen Memoiren als Opfer von Verrat, gezielten Verleumdungen und ungünstigen Verhältnissen.[2] Noch in den 1950er Jahren beteiligte sich Kerenskij mit großem Aufwand an der Übersetzung und Edition einer dreibändigen Dokumentensammlung in den USA. Diese vereinigte Gesetze, Gesetzesentwürfe, Verordnungen, Erlasse und Korrespondenzen der Provisorischen Regierung und sollte sie als handlungsfähigen und dynamischen Staatsapparat zeigen.[3] Der erste Außenminister der Provisorischen Regierung, der Liberale und Historiker Pavel Miljukov, hielt 1920 fest, dass die Zeit für abgewogene Memoiren noch nicht reif sei. Bis auf weiteres könne man als Protagonist des Jahres 1917 lediglich die Fakten für sich sprechen lassen. Er warnte vor übereilten Schlüssen: «Als ein Historiker von Beruf wollte und konnte der Verfasser nicht die Fakta den Schlüssen anpassen.»[4]
Die Bol’ševiki spannten die Revolution alsbald in ihre neue Schreib- und Erinnerungskultur ein, in der der neue Mensch und homo sovieticus sich memoirenschreibend seiner Identität als entschlossener Revolutionär vergewissern sollte. Die russische Emigration hielt demgegenüber die Schrecknisse der Revolution fest und verklärte die Vergangenheit des untergegangenen Zarenreiches. Im Roten Archiv und im Archiv der Russischen Revolution sind diese widerstreitenden Erinnerungsprojekte überliefert.[5]
Doch nicht nur Texte, auch Bilder transportierten rasch Sichtweisen der Russischen Revolution. Die visuellen Assoziationen nachfolgender Generationen mit der Revolution hat insbesondere Sergej Eisenstein mit seinem Film Oktober von 1927 geprägt. Obschon an vielen Schauplätzen der Revolution in Leningrad gedreht, ist Eisensteins Oktober nicht mit einem Historienfilm zu verwechseln. Vielmehr visualisiert er grundsätzliche Kräfte sowie maßgebliche Akteure und Akteursgruppen der Revolution. Lenin und Kerenskij, Soldaten und Matrosen, Arbeiter und Bauern, Kosaken, Eisenbahner, Deputierte des Rätekongresses und das einfache Volk vollführen ein Schauspiel, in dem die Revolution den Krieg und das Gute das Böse besiegen. Der Film Oktober zeigt – abweichend vom realen Geschehen 1917 – einen Lenin, der das Volk instruiert, im Oktober 1917 das Winterpalais zu stürmen, um die Provisorische Regierung aus dem Weg zu räumen, der zum Frieden und zur Herrschaft der Werktätigen führt.
Verblüffenderweise ergeben sich frappierende Ähnlichkeiten zwischen den Schauplätzen und Akteursgruppen in Eisensteins Film und den Gliederungspunkten vieler gängiger geschichtswissenschaftlicher Gesamtdarstellungen der Revolution von 1917. Ein Großteil der Überblickswerke verdichtet das Geschehen ebenso in Petrograd, wie es Eisenstein in seinem Film tat. Die Bezeichnungen der Akteursgruppen in einem Sequenzprotokoll des Filmes decken sich mit den Kapitelüberschriften in historischen Revolutionsdarstellungen. Überblickswerke zur Revolution hatten lange Zeit einen starken politik- und sozialgeschichtlichen Schwerpunkt. Im Film und in Büchern ringen Revolutionäre unterschiedlichster ideologischer Couleur und soziale Großgruppen wie Soldaten und Matrosen, Bauern und Arbeiter um den Ausgang der Revolution. Der Fokus liegt auf dem Geschehen in den urbanen Zentren und in Petrograd zumal. Freilich folgte die Geschichtsschreibung außerhalb der Sowjetunion dem Film nicht in der glorifizierenden Zeichnung Lenins und der zum Volksereignis stilisierten Verhaftung der Provisorischen Regierung. Doch der politikgeschichtliche, revolutionstypologische und sozialwissenschaftliche Ansatz vieler Revolutionsgeschichten setzte just jene Figuren und Gruppen in Bezug zueinander, die auch Eisenstein in seinem Film auftreten lässt.[6]
Der Blick in die weit verästelte Forschung der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte zeigt demgegenüber eine ganz andere Revolution.[7] Sie ist so facettenreich, dass es sich verbietet, von der Revolution im Singular zu sprechen.[8] In jeder Region des alten Zarenreiches durchlebten soziale und nationale Gruppen unter verschiedenen ökonomischen und politischen Bedingungen ihre jeweils eigene Revolution. In den letzten 25 Jahren haben Historikerinnen und Historiker eine schier unzählbare Vielfalt lokaler Variationen der Revolution dokumentiert.[9] Revolutionsgeschichten haben sich inzwischen sehr vielen erdenklichen Aspekten des großen Umbruchs Russlands im frühen 20. Jahrhundert zugewandt. Revolutionsgeschichte ist als Gewaltgeschichte geschrieben worden. Ideologische Legitimationen von Gewalt und Eigenlogiken von Gewaltausübung sind dabei ebenso in den Blick gekommen wie Gewalterfahrungen.[10] Mit der Bestialität der Gewalt kontrastiert eine Revolutionsgeschichte der Hoffnungen. Sie beinhaltet sowohl die Aussicht auf die Befreiung von Armut, Krankheit und Not als auch Zukunftsvisionen an einem hellen Erwartungshorizont. Die Weltrevolution des Proletariats und die vollkommene menschliche Beherrschung des Universums gehören in diesen Zusammenhang. Futuristische biologische Szenarien strebten die Wiedererweckung der Toten und die Unsterblichkeit der Lebenden an.[11]
Die Kulturgeschichte der Revolution richtet ihren Blick auf den Wandel symbolischer und künstlerischer Formen sowie sozialer Praktiken. Das Projekt des Neuen Menschen – urban, gebildet, sportlich, den Niederungen alltäglichen Mittelmaßes entstiegen, in seiner Arbeit und Zeiteinteilung präzise wie eine Maschine – ist ein futuristisches Vorhaben, welches das erste Drittel des 20. Jahrhunderts auch in Russland prägte. Arbeit und Freizeit, Kunst und Sport, Raum- und Zeitvorstellungen waren allesamt von diesem Wandel geprägt. Auch in der Geschichte der Geschlechterverhältnisse und der Frauenbewegung erscheint 1917 als eine wichtige Etappe. Die Revolution erweiterte zunächst die sozialen Handlungsräume von Frauen. Gleichzeitig blieb die hohe Politik eine Männerdomäne. Der Stalinismus reetablierte wiederum Geschlechterstereotype.[12] Seine bolschewistische Redaktion der Revolutionserfahrungen bündelte die Vielfalt der Visionen alsbald in einem Narrativ, in dem Individuen sich idealtypische Rollenvorstellungen vom Parteimitglied, vom Arbeiter und Bauern im Kollektiv der Revolution zu eigen machen sollten.[13]
Doch damit ist die Bandbreite der jüngeren Revolutionsforschung noch lange nicht ausgeschöpft. Die Religionsgeschichte ist in die Revolutionsgeschichte zurückgekehrt. Religiös motivierte Kritik an der orthodoxen Kirche im späten Zarenreich wurde als Faktor der Systemkritik am Zarenreich und damit auch der Revolution benannt.[14] Gruppen, die die Revolution religiös begründeten und daraus Wandlungen für geistiges Leben und kirchliche Organisation ableiteten,[15] sind genauso wie die Repressionen der Bol’ševiki gegen Kirchen und Konfessionen untersucht worden.[16] Die Sozialgeschichte der Revolution wiederum fragt nach Erfahrungen von Gruppen, die bislang in der Revolutionsgeschichte nicht vorkamen. Familien, Kinder und Jugendliche sind hier zu nennen.[17] Ungebrochen ist die Aufmerksamkeit für Außenwahrnehmungen der Revolution. In vielen Weltregionen mobilisierte die Russische Revolution ideologische Lager von links bis rechts, die aus Russland wahlweise Befreiung und den Aufbruch in eine Zukunft jenseits von Kapitalismus und Kolonialismus erwarteten oder Unterdrückung und das Ende des Abendlandes befürchteten.[18]
Schließlich hat die jüngere Geschichtsschreibung die Revolutionsgeschichte auch aus ihrer russozentrischen Fokussierung auf die Zentren befreit. Historikerinnen und Historiker haben ihre Blicke zunehmend auf die Regionen des alten Zarenreiches gerichtet und konkurrierende Nationsbildungsprojekte betrachtet. Dabei macht die Geschichte der Revolution sichtbar, wie aus dem zarischen Vielvölkerreich ein Imperium neuen Typs wurde. Die Bol’ševiki und Lenin waren angetreten, ein Reich, das sie als Völkergefängnis betrachteten, von dem zu befreien, was sie großrussischen Chauvinismus nannten. Daraus resultierte eine neue Nationalitätenpolitik in der jungen Sowjetunion, die Nationen als Container begriff, in denen sich der Sozialismus leichter zu den übrigen Nationalitäten in der Sowjetunion transportieren ließe. Unter der Hand griffen die Bol’ševiki dabei auf Expertenwissen und Herrschaftstechniken aus dem zarischen Imperium zurück. Die Geschichte der Revolution in Russland, angefangen bei der ersten Revolution 1905 über den Sturz der Zarenherrschaft im Februar 1917, den Coup der Bol’ševiki im Oktober 1917 und den Bürgerkrieg 1918–1921 bis hin zur sowjetischen Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre, erscheint als Metamorphose eines Imperiums.[19]
Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Perspektiven der Geschichtsschreibung auf Russland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts scheint es gewagt, die Geschichte der Revolution auf knappem Raum zu schreiben. Eine kurze Synthese der Russischen Revolution wird nicht alle Revolutionsgeschichten in sich aufheben können. Es sei denn, sie versteht sich als Kaleidoskop, das auf eine narrative Verknüpfung aller Dimensionen der Revolutionsgeschichte verzichtet. Mit Blick auf die Vielfalt der Imperien-, Nationen- und Regionalgeschichten Russlands im frühen 20. Jahrhundert behandelt diese Revolutionsgeschichte die Metamorphose des Imperiums. Dabei erschöpft sie sich nicht im Abgleich von Kontinuität und Wandel zweier Zeiten, die vom Jahr 1917 getrennt werden. Die Metamorphose ist vielmehr als ein von Einschnitten und Brüchen, aber auch Kontinuitäten gekennzeichneter Prozess im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu begreifen.
Die Metamorphose des Imperiums ist mehr als eine lineare Abfolge politischer Organisation vom Imperium zum Nationalstaat. Teile der jüngeren Historiographie haben das Projekt der Nation gleich in doppelter Hinsicht als Motor von Untergang und Ende des Zarenreiches ausgemacht. Demzufolge hätten zunächst die Eliten im Zarenreich eine nationale Russifizierung des Reiches angestrebt, bevor dann das Konzept der Nation und konkrete Nationsbildungsprojekte das Ende des Imperiums besiegelten.[20] Gewiss orientierten sich erhebliche Teile der russischen Eliten im späten Zarenreich am Projekt einer großen russischen Nation, die Russen, Ukrainer sowie Belarusen umfassen und das Imperium führen sollte. Daraus resultierten Tendenzen zur Homogenisierung des Reiches im Militär, in der Bürokratie und dem Bildungswesen. Es schießt jedoch über das Ziel hinaus, die Revolution 1917 als kulturelle Widerstandsbewegung gegen die russische Nationalisierung und Zivilisierung des Reiches aufzufassen.[21] Ebenso bleibt es fragwürdig, ob das Ende des zarischen Imperiums als Geschichte eines imperialen Zauberlehrlings geschrieben werden kann, der nationale Geister rief, derer er in Gestalt nationaler Sezessionen aus dem Imperium nicht mehr Herr wurde. Die Gegenüberstellung von Imperium und Nation schreibt allzu oft eine Modernisierungsgeschichte fort, in der die Imperien als Atavismen der Geschichte und die Nationen als Motoren der Modernisierung erscheinen.
Jüngst verbreitete sich demgegenüber die Einsicht, das 19. Jahrhundert nicht als Jahrhundert der Nationsbildungen zu überzeichnen. Die Mehrzahl der Menschen auf der Welt war im 19. Jahrhundert und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Untertan eines Imperiums.[22] Erst der Zerfall der Imperien und die Dekolonisation ließen das 20. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Nationen werden.[23] Imperien haben sich als langlebige und durchaus wandlungsfähige Herrschaftsgebilde erwiesen. Dynastien standen an der Spitze einer imperialen Herrschaft über große und disparate Räume sowie Menschen unterschiedlichster Sprachen, Religionen und Wirtschaftsweisen. Die imperiale Herrschaft stützte sich auf eine horizontale Integration lokaler Herrschaftseliten und das Militär. Eine vertikale Durchdringung und Integration ganzer Gesellschaften strebte sie bis in das 19. Jahrhundert hinein nicht an. In der Expansion in außereuropäische Räume brachten europäische Imperien verschiedene Formen kolonialer Unterwerfung und Ausbeutung hervor. Ob kolonial oder nichtkolonial: imperiale Herrschaft strebte danach, die Kommunikationen und Ressourcenflüsse im Reich stets zwischen einer jeweiligen Region und dem Zentrum zu kanalisieren. Ein autonomer Austausch unter den Regionen war in einer idealtypischen imperialen Herrschaft nicht vorgesehen. Politik, Militär, Ökonomie und Kultur erscheinen als Ressourcen imperialer Macht. Ressourcenflüsse dienten dem Gewinn des Zentrums. Das Militär stand bereit, Erhebungen im Imperium niederzuschlagen. Imperiale Ideologien wie die Auserwähltheit einer Dynastie, die Größe und Vielfalt des Reiches und seine zivilisatorische Mission stellten Identifikationsangebote für die imperialen Eliten dar. Zugleich blieb das Zentrum aber darauf angewiesen, dass Menschen sich mit dem Imperium identifizierten und ihr Wissen und Können in den Dienst des Reiches stellten.[24]
Vor diesen Hintergründen kann es im Folgenden freilich nicht allein darum gehen, das Imperium und die Nationen und Regionen in ihm als einen neuen Betrachtungsraum der Revolutionsgeschichte zu benennen. Imperiale Herrschaftstechniken und Raumerfahrungen des Imperiums werden zu kausalen, aber auch kontingenten Faktoren der Revolution. Die Metamorphose des Imperiums vollzog sich in mehreren revolutionären Schüben und zugleich kontinuierlichen Wandlungsprozessen von der ersten Revolution in Russland bis in die 1920er Jahre nach der Gründung der Sowjetunion 1922. Nach der Revolution von 1905 nahm das Zarenreich eine völlig neue Gestalt an. Zwar lebte Nikolaus II. ungebrochen in der Vorstellung, vom Bund zwischen Zar und Volk getragen Russland autokratisch regieren zu können. Doch die Einrichtung eines Parlamentes, der Duma, die legale Bildung von Parteien und die Lockerung der Zensur verliehen der Politik des Zarenreiches ein neues, öffentliches Gepräge. Ein Abgeordneter der Duma beschrieb die Zusammenkunft des ersten Parlamentes als die wahre ethnographische Karte des Imperiums.[25] Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war vollkommen offen, in welche Richtung sich dieses Imperium entwickeln würde. Reaktionäre und antisemitische Trägerschichten am Hof, in der Bürokratie und in sogenannten Schwarzhundertschaften versuchten, dem Rad der Zeit in die Speichen zu greifen. Gleichzeitig schritten jedoch gesellschaftliche Selbstorganisation und Nationsbildungsprojekte in vielen Regionen des Reiches voran und erhielten nach 1905 neue Spielräume.[26] Die Übersetzung der Bibel in das Ukrainische, die der Staat jahrzehntelang unter Verschluss gehalten hatte, konnte nun erscheinen und ist ein Beispiel von vielen.[27]
Das Zarenreich im Ersten Weltkrieg nahm innerhalb weniger Monate wiederum eine andere Gestalt an. Im rückwärtigen Heeresgebiet übertrug das Militär seine an Ethnizität und Religion orientierten Kriterien von Loyalität und Unzuverlässigkeit auf die Zivilbevölkerung. Diskriminierungen und Deportationen vor allem, aber nicht nur von Juden und deutschen Untertanen waren die Folge.[28] In der Organisation der Flüchtlingshilfe griff der überforderte Staat immer stärker auf nationale Hilfskomitees zurück und beförderte damit ungewollt Nationsbildungsprozesse im Imperium.[29]
Manches, was auf den ersten Blick in der sowjetischen Geschichte als neu erschien, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Weiterentwicklung von Ansätzen aus dem späten Zarenreich oder dem revolutionärem Russland nach dem Februar 1917. Unbarmherzige Getreiderequirierungen galten lange Zeit als Kennzeichen bolschewistischer Härte im Bürgerkrieg. Sie gehen jedoch auf Praktiken zurück, die die zarische Armeeführung im Ersten Weltkrieg entwickelt hat.[30] Die permanente Rhetorik einer Bedrohung durch innere Feinde und Saboteure sowie die Ausprägung eines Persönlichkeits- und Führerkultes, wie sie im Stalinismus anzutreffen sind, begegnen bereits im Russland unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Hier zeichnen sich deutliche Entwicklungslinien zwischen der späten zarischen und der jungen sowjetischen Geschichte ab.[31] Bei bestimmten Herrschaftspraktiken lassen sich sogar die Träger eines Wissenstransfers aus dem Zarenreich in das revolutionäre Sowjetrussland benennen. Dazu zählen etwa Militärs der Armee des Zaren, die sich nach 1917 den Bol’ševiki und der Roten Armee anschlossen.[32] Die detaillierte Unterteilung der jungen Sowjetunion in Republiken, Gebiete und Kreise verdankt sich wiederum nicht zuletzt dem ethnographischen Wissen, das im Zarenreich sozialisierte und ausgebildete Akademiker den Bol’ševiki zur Verfügung stellten.[33] So erscheint die Zeit der Revolutionen eingebettet in ein großes Laboratorium des Umgangs mit ethnischer und nationaler Vielfalt.[34]
Die Nationalitätenpolitik der jungen Sowjetunion erwies sich dabei zunächst als sehr innovativ. Sie territorialisierte Nationsbildungen wie anfänglich die ukrainische, die belarusische, die armenische und die azerbajdžanische in eigenen Sowjetrepubliken. Im Lauf der Sowjetgeschichte stieg die Zahl der national begriffenen Unionsrepubliken auf 15. Die Sowjetunion grenzte sich damit doppelt ab: diachron vom Zarenreich, in dem nach Lenins Lesart der großrussische Chauvinismus die übrigen Nationen in ein Völkergefängnis gesperrt habe, und synchron von den Kolonialreichen der Briten und Franzosen, die versuchten, die hierarchische Differenz zwischen europäischen Kolonialherren und den Kolonialisierten in Afrika und Asien aufrechtzuerhalten. Die Sowjetunion begriff sich nicht als Imperium. Sie schuf aus der Hinterlassenschaft des Zarenreiches einen multinationalen Staat, der wie alle Imperien vor der Herausforderung stand, großräumige Vielfalt zu organisieren. Für einen Moment sah es in den 1920er Jahren so aus, als könne die sowjetische Nationalitätenpolitik gar als ein Modell für die Dekolonisation in Afrika und Asien dienen. Alle Ansätze dazu erstickten die Bol’ševiki jedoch in den späten 1920er Jahren, als sie die Komintern zu einem Instrument ihrer Außenpolitik formten und die zunächst geförderten Nationen und Ethnien zwischen den Mahlsteinen des stalinistischen Terrors zerrieben.[35]
Die jüngere Imperien- und Nationengeschichte der Revolutionszeit und die etablierten Politik- und Sozialgeschichten der Russischen Revolution finden ihren gemeinsamen Nenner im Zusammenspiel struktureller Faktoren und handelnder Menschen. Gewiss lassen sich im Zarenreich der Zeit um 1900 strukturelle Probleme und Krisenpotentiale beschreiben. Russlands Drängen in die Weltwirtschaft, die ökonomische Reformagenda des Staates, Industrialisierung und Urbanisierung brachten einen sozialen Wandel, der nicht konfliktfrei blieb. Einige Bauern strebten ein eigenständigeres Wirtschaften außerhalb der solidarischen Dorfgemeinschaft an. Das Gros wusste die Dorfgemeinschaft als Überlebensgemeinschaft zu schätzen – auch jene Bauern, die als Wander- und Saisonarbeiter winters in den Städten und sommers auf dem Land arbeiteten. Land blieb eine begehrte Ressource. Ebenso differenziert wie die Bauern stellte sich die Arbeiterschaft dar. In den Metropolen St. Petersburg und Moskau mochte man Arbeiter antreffen, die einer marxistischen Idealvorstellung vom bewussten Proletarier nahekamen. Die Mehrzahl der Arbeiter war jedoch gerade erst in industrielle Ballungszentren zugewandert und ungelernt. Die Arbeitsbedingungen im sich rapide industrialisierenden späten Zarenreich waren von den Standards gewerkschaftlicher Vorstellungen in Europa weit entfernt.[36]
Doch diese sozialen Verwerfungen auf dem Land und in den Städten brachten aus sich keine Revolution hervor. Ähnliches gilt für die Nationsbildungsprojekte der Finnen, Esten, Letten, Litauer, Polen, Ukrainer, Belarusen, Tataren, Georgier, Armenier und Azeris: Für sich genommen liefen sie nicht auf ein zwangsweises Ende des Imperiums hinaus. Erst die Konstellationen, die die Reichsführung in Kriegen schuf – gegen Japan 1904/05 und im Ersten Weltkrieg –, eröffneten Möglichkeiten, in denen Akteure Revolutionen herbeiführen konnten. Soziale und nationale Revolutionen beruhten dabei auf einem Nachrichten- und Gerüchtefluss, der den Adern des Telegraphen- und Eisenbahnnetzes des Zarenreiches folgte.[37] In der Revolutionsgeschichte sozialer Gruppen und nationaler Projekte verschränken sich strukturelle Ausgangsbedingungen und situative individuelle wie kollektive Aktionen.
Der Welt zeigte sich das Zarenreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als eine Avantgardemacht der Internationalisierung. Russlands Präsentation auf der Pariser Weltausstellung von 1900 offenbarte, welche Fortschritte das Land in seiner Selbstdarstellung seit der ersten Weltausstellung in London 1851 gemacht hatte. Galt das Zarenreich den Besuchern der Londoner Weltausstellung von 1851 noch als ein despotisches und agrarisches Land, das seinen Reichtum im Schmuck und Gepränge von Hof und Aristokratie nutzlos verprasste, so staunten die Besucher des russischen Pavillons 1900 nicht schlecht über die kühnen Ambitionen Russlands im Weltverkehr. In einigen ausgestellten Eisenbahnwaggons erlebten die Besucher die Illusion einer Eisenbahnreise von Moskau durch Sibirien bis nach Peking. Der russländische Finanzminister Sergej Witte dachte gar an eine Eisenbahnverbindung zwischen den USA und Russland über die Beringstraße. Diese Verbindung, so Wittes kühne Hoffnung, sollte einen Großteil des transatlantischen Schiffsverkehrs zwischen Europa und Amerika auf den russischen Schienenstrang umleiten. Blieb diese Idee zwar ein Projekt, so konnte wenige Jahre nach der Pariser Weltausstellung die Strecke zwischen Moskau und Peking tatsächlich befahren werden.[1] In der internationalen Politik wiederum war die zarische Diplomatie unter maßgeblicher Initiative russischer Juristen wie Fedor F. Martens daran beteiligt, das Völkerrecht weiter zu entwickeln. Die Verabschiedung einer Landkriegsordnung und die Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichtshofs auf den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 gingen wesentlich auf russische Impulse zurück.[2]
Die Zeit um 1900 offenbarte jedoch auch, welchen immensen Herausforderungen sich Russland gegenüber sah – und welche Gruben die Reichsführung sich selber zu graben imstande war, ohne es zu bemerken. Die Krönungsfeierlichkeiten Nikolaus’ II. 1896 sahen neben der traditionellen Krönung in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale im Moskauer Kreml’ auch ein großes Volksfest auf den Chodynka-Feldern vor den Toren der Stadt vor. Dort ereignete sich ein Unglück, auf das Nikolaus II. in bezeichnender Weise nicht reagierte. Als eine Tribüne einstürzte, brach unter den auf die Speisung des Kaisers wartenden Massen eine Panik aus. Mehr als tausend Menschen fanden den Tod. Nikolaus II. sah darin keinen Grund, die Krönungsfeierlichkeiten zu unterbrechen. Hier offenbarte sich eine duldende Demut gegenüber den Zeitläuften, die sich noch oftmals in seiner weiteren Regierungszeit beobachten lassen sollte. Sie war nicht das Resultat mangelnden Intellekts oder ungenügender Bildung, sondern ging aus seiner Sozialisation hervor. Sein englischer Erzieher Charles Heath hatte Nikolaus eine gentlemanartige Beherrschtheit gelehrt, die es ihm erlauben sollte, auch in schwierigsten Situationen unerschüttert façon und contenance zu wahren. Konstantin Pobedonoscev, Oberprokuror des Heiligen Synods, wiederum vermittelte Nikolaus die Werte von Monarchie und Orthodoxie. Er beschrieb Politik nicht als Aushandlung widerstreitender Positionen und Abgleich von Interessen, sondern als Frage von Wahrheit und Lüge. Die Wahrheit lag für Pobedonoscev im Festhalten an der Autokratie, die Lüge in jeglicher Form von Einschränkung der Monarchie zugunsten anderer Gewalten wie etwa der Judikative. Für Nikolaus war somit in der Welt der Politik Gehorsam gegenüber dem Monarchen die oberste Regel. Erschwerend kam hinzu, dass Nikolaus’ Erziehung und Sozialisation sich samt und sonders im geschlossenen Kosmos von Familie und Hof abspielte. Der Hof schloss ihn von jeglichem Kontakt mit Gleichaltrigen und allen damit verbundenen Erfahrungen von Austausch und Selbstbehauptung aus. Es kam also nicht von ungefähr, dass Nikolaus Ereignissen in der Außenwelt wie der Katastrophe auf den Chodynka-Feldern mit absonderlich anmutender Entrücktheit begegnete.[3]
Warnende Worte drangen somit nicht zum Zaren durch. Das gilt auch für einen Brief, den kein Geringerer als Lev Tolstoj an Nikolaus II. adressierte. Am 16. Januar 1902 setzte Tolstoj im hohen Alter von 83 Jahren ein Schreiben an den Zaren auf. Es wich in Anrede und Stil von der gängigen Nomenklatur ab, die den Zaren unterwürfig als Autokraten und gnädigen Herrscher titulierte. Stattdessen erlaubte es sich der Schriftsteller, aus seiner tief empfundenen Religiosität heraus die christliche Nächstenliebe wörtlich zu nehmen und den Zaren als Bruder anzusprechen:
«Lieber Bruder, diese Anrede hielt ich für die angemessenste, weil ich mich mit diesem Brief nicht so sehr an den Zaren wie an den Menschen – den Bruder wende. Außerdem auch noch deswegen, weil ich Ihnen gleichsam aus jener Welt schreibe, fühle ich doch den Tod nahen. Ich wollte nicht sterben, ohne Ihnen gesagt zu haben, was ich über Ihr gegenwärtiges Wirken denke und darüber, wie es sein, welch großes Glück es Millionen Menschen und Ihnen bringen könnte und welch großes Unheil es den Menschen und Ihnen bringen kann, wenn es die Richtung beibehält, in der es jetzt verläuft. Ein Drittel Russlands befindet sich im Zustand verschärfter Überwachung, das heißt außerhalb des Gesetzes. Die Armee der Polizisten – der öffentlichen und der geheimen – vergrößert sich ständig. Die Gefängnisse, die Orte der Verbannung und der Sträflingsarbeit sind neben Hunderttausenden Krimineller mit politischen Häftlingen überfüllt, zu denen jetzt auch die Arbeiter gerechnet werden. Die Zensur hat eine Unsinnigkeit der Verbote erreicht, wie es in der schlimmsten Zeit der vierziger nicht der Fall gewesen war. Die religiösen Hetzjagden sind nie so häufig und grausam gewesen wie jetzt, und sie werden immer grausamer und häufiger. Überall in den Städten und Fabrikzentren sind Truppen konzentriert, und sie werden mit scharfer Munition gegen das Volk ausgeschickt. An vielen Orten ist es schon zu brudermörderischem Blutvergießen gekommen, und neues und noch grausameres Blutvergießen wird überall vorbereitet und wird unweigerlich stattfinden. […] Der Absolutismus ist eine überlebte Regierungsform, die vielleicht den Bedürfnissen eines Volkes irgendwo im weltfernen Zentralafrika entsprechen kann, nicht aber den Bedürfnissen des russischen Volkes, das sich in immer zunehmendem Maße die der ganzen Welt gemeinsame Bildung aneignet. […] Mit Gewaltmaßnahmen kann man das Volk unterdrücken, aber nicht regieren. […]
Ihr Ihnen aufrichtig wahres Glück wünschender Bruder
Lew Tolstoi».[4]
Der Adressat des Briefes zeigte sich davon offenkundig unbeeindruckt. Politik stellte sich Nikolaus II. als Exekution seines autokratischen Willens vor. Die ausführenden Organe waren der Reichsrat, die Ministerien, nachgeordnete Bürokratien und die Gouverneure in den Provinzen des Reiches. Eine politische Selbstorganisation der Gesellschaft hatte in seiner Vorstellungswelt keinen Platz. So vollzog sich die Politisierung der Gesellschaft im Untergrund, und die von Tolstoj angesprochenen Notlagen unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen vermochten Nikolaus’ phantastisches Bild eines ungebrochenen Bündnisses zwischen Zar und Volk nicht zu erschüttern.
Die Politisierung und Selbstorganisation der Gesellschaft hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lokale und regionale Wurzeln. Der Staat selber hatte sie mit seiner Reform der Lokalverwaltung, des zemstvo, seit 1864 angelegt. In zahlreichen Gouvernements und Kreisen des Reiches wählte seitdem die Bevölkerung ihre Lokalvertretung. Gewiss, das Wahlrecht bevorzugte den Adel, gewährte aber auch den Bauern Stimmen. Eine Grundlage politischer Selbstorganisation war geschaffen, die auch die Verschärfung der staatlichen Aufsicht über die Lokalverwaltungen 189018905196