Über Heimito von Doderer
Herausgegeben
von Gerald Sommer
C.H.BECK
«Ich habe», schreibt Wendelin Schmidt-Dengler einmal an seinen Freund und Kollegen Dietrich Weber, «mir Doderer durch die linke Kritik nicht austreiben lassen, ich lasse mir ihn nun auch nicht durch die neue rechte Hymnik wieder einreden. Diese Maxime tritt zu meinem ersten Fundamentalsatz hinzu: Mir sind die Laster Doderers lieber als die Tugenden seiner Kritiker.»
Um Doderers Laster schätzen zu können, bedarf es einer gründlichen Kenntnis seiner Werke, gepaart mit hintersinniger Ironie und einer großen Lust im Umgang mit den Texten. All diese Eigenschaften verband Wendelin Schmidt-Dengler in unnachahmlicher Weise, als Redner, als Autor und als Professor an der Universität Wien.
Seine Auseinandersetzung mit dem Autor erstreckte sich über vier Jahrzehnte. Auch das Wort «lebenslänglich» könne ihn, so bemerkte er einmal, im Zusammenhang mit Doderer keinesfalls «schrecken», im Gegenteil: «es soll so weitergehen»!
Mit diesem Band liegt nun eine Auswahl aus Wendelin Schmidt-Denglers Arbeiten zu Heimito von Doderer vor, die es – ein Wort des Autors aufgreifend – Lesern erlaubt, wesentlichen Orten im Schaffen dieses Ausnahmegermanisten jederzeit einen Besuch abzustatten.
«Jederzeit besuchsfähig zu sein: dies ist das comme-il-faut der Intelligenz.» Heimito von Doderer 1953
Wendelin Schmidt-Dengler (*20. Mai 1942 in Zagreb; †7. September 2008 in Wien) war Vorstand des Instituts für Germanistik der Universität Wien und Leiter des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek. Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur österreichischen und deutschen Literatur in Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und im Rundfunk. Er war Träger des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik, Wissenschaftler des Jahres in Österreich 2007 und Ehrenvorsitzender der Heimito von Doderer-Gesellschaft.
Dr. Gerald Sommer ist Vorsitzender der Heimito von Doderer-Gesellschaft.
I. IN EIGENER SACHE
Marathon-Lesung
II. ZWEI VORLESUNGEN
Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (1951)
Doderers Romantheorie und Die Wasserfälle von Slunj (1963)
III. ZU DEN ROMANEN
Die Dynamik der stehenden Bilder in Doderers Prosa
Antrieb und Verzögerung. Zur Funktion der Parenthese in Doderers Epik: Anmerkungen zu Die Strudlhofstiege und Die Dämonen
Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Wut. Heimito von Doderers Merowinger – Gegenentwurf zu seiner eigenen Romanwelt
Heimito von Doderers «‹Ritter-Roman›» Das letzte Abenteuer
Suchbilder – zum Bildnis der Louison Veik in Heimito von Doderers Roman Ein Mord den jeder begeht
Zihaloides. Zu Heimito von Doderers kleinem Roman Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal
IV. ANNÄHERUNGEN
Tangenten an die Moderne. Zur Poetik der kleinen Form: Heimito von Doderer und die «Wiener Gruppe»
«Man sollte nie mit dem Automobil über den Semmering fahren». Die Bahnfahrt als zentrales Motiv bei Heimito von Doderer
Posaunenklänge: Lautes und Leises bei Doderer
Entwicklungsschübe: Doderers bayerische Aufenthalte
Das Verbrechen, die Verbrecher und der Autor als Leser. Zu Heimito von Doderers Romanfragment Der Grenzwald
Ortlosigkeit: Zu einer markanten Differenz in Doderers Erzählkunst
«Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.» Heimito von Doderers Auseinandersetzung mit Rilke
Inselwelten. Zum Caféhaus in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts
V. NACHLASSGESCHICHTEN
Nach-Lässiges
Doderers Krisen
VI. EIN ÜBERBLICK
Heimito von Doderer 1896–1966
VII. ANHANG
Editorisches Nachwort
Textnachweise
Anmerkungen
Namenregister
«Tolle lege» – «Nimm und lies»: Dieser Zuruf bewirkte beim gelehrten Rhetor Augustinus eine Entscheidung, die sein Leben änderte: Er schlug die Briefe des Apostels Paulus auf und war, wie er uns versichert, fortan nicht mehr der Skeptiker, sondern wurde überzeugter Christ und Kirchenvater. Für alle, die mit Büchern erwachsen und alt geworden sind, gilt: Ihr Leben gliedert sich in einzelne Phasen, deren Signatur jeweils durch ein entscheidendes Buch bestimmt wird, eine Kette von Tolle-lege-Erlebnissen. Wenig gibt so sehr Auskunft über uns selbst und über unsere einzelnen Lebensphasen wie jene entscheidenden und prägenden Bücher. Die Aura, die einen solchen Abschnitt prägt, wird durch die Aura des Buches bestimmt. Und wer auf so ein prägendes Buch hinweist, teilt damit mehr mit als durch eine biographische Plauderei und verrät über sich vielleicht mehr, als ihm lieb sein kann.
Ich habe Heimito von Doderers Dämonen-Roman gegen Ende meines Studiums Mitte der 60er Jahre gelesen. Ich kannte Die Strudlhofstiege, Die Merowinger, die Kurzprosa und vor allem Die Wasserfälle von Slunj, die mir Doderer auf Vermittlung seines Sekretärs und meines Freundes Wolfgang Fleischer geschickt hatte, ein Werk, das mir die optimale Nutzung von Möglichkeiten des Erzählens zu enthalten schien und zugleich in seiner Virtuosität das Bedürfnis nach Distanz abverlangte. Um Die Dämonen hatte ich einen Bogen gemacht. Nicht der Umfang hielt mich ab, es war vielmehr die vermutete Nähe zu Dostojewski. Der Beginn der Lektüre war zaghaft, für die ersten 100 Seiten brauchte ich ein paar Wochen, doch dann ging es immer schneller, und die letzten 500 Seiten habe ich an einem heißen Nachmittag im Juli auf dem Lande gelesen, die ideale meteorologische Vorbedingung für die sinnliche Präzision, mit der Doderer in den Dämonen die katastrophalen Ereignisse des 15. Juli 1927 in Wien gestaltet. Die Ursache für diese Faszination und damit auch für meine Marathon-Lesung war mir damals nicht klar, und ich weiß auch heute noch nicht so recht, ob sich die Motive präzise benennen lassen. In jedem Falle war es nicht nur die außerordentlich spannende und auf einen Höhepunkt hin konzipierte Handlung, und es war nicht allein die nur von wenigen Autoren erreichte souveräne Mischung von Sublimem und Trivialem, von individueller und politischer Geschichte, von Familiengeschichte und Kriminalhandlung, von Anschaulichkeit in der Darstellung und raffinierter Reflexion. Mag sein, daß in dem Roman das eine oder andere nicht stimmt und die Brüche, die durch die Umarbeitung der ersten Fassung aus den 30er Jahren entstanden sind, doch deutlichere Spuren hinterlassen haben, als dem Verfasser recht sein konnte – das alles beschäftigt die Literaturkritik und Literaturwissenschaft, interessierte aber den Leser damals nicht. Mir war, als wäre ich in die lesewütige Pubertät zurückgekehrt, denn ein ähnlich überwältigender Lektüreeindruck war mir bis dahin nur von einem Autor widerfahren: Karl May. Rückblickend stellt sich jedoch ein Motiv mit zunehmender Deutlichkeit ein: Wahrscheinlich war es die tiefe Unsicherheit, in der ich mich damals befand. Das Studium ging zu Ende, einen Beruf galt es zu ergreifen, und die Frage, ob ich mit den Fächern Germanistik und Klassische Philologie das Richtige gewählt hatte, quälte mich. In den Dämonen boten sich drei Figuren zur Identifikation und Gegen-Identifikation an: der scheiternde Schriftsteller Kajetan von Schlaggenberg, der nach Höherem strebende Arbeiter Leonhard Kakabsa und – vor allem – der Historiker René von Stangeler. Für diesen, der, wie ich, sich den oft herablassend beurteilten Geisteswissenschaften anvertraut hatte, geht alles gut aus. Das war sicher ein therapeutischer Effekt dieses Romans, der später allerdings von dem fachlichen überlagert wurde. Ich hatte einen Roman gelesen, über den und dessen Autor ich mehr wissen wollte, und so sind es nun beinahe 40 Jahre, daß ich mich mit Doderer beschäftige, und es soll so weitergehen, und das Wort ‹lebenslänglich› schreckt mich in diesem Zusammenhang nicht. Durch diesen Roman habe ich zu einem Verlag und einem Verleger gefunden, durch diesen Roman habe ich viel über das Erzählen und über Literatur an sich gelernt, viel über das Land, in dem ich lebe, und vielleicht auch über mich selbst erfahren.
Heimito von Doderer darf nicht als der alleinige Repräsentant der Literatur der 50er Jahre gelten, gewiß nicht, aber seine Anstrengung um den Roman entspricht sehr wohl der Anstrengung der Menschen in diesem Zeitraum, alles in einen Ordnungszusammenhang zu bringen. Seine Position in der österreichischen Literatur sollte auch einmal anders beurteilt werden, als dies in den meisten Literaturgeschichten erfolgt, die Doderer zu einem Teil der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende werden lassen und sein Werk nach Vergleichspunkten absuchen, wobei man bei diesem Unterfangen unter Finderzwang steht, weil eben alle irgend etwas gemeinsam Österreichisches aufweisen müssen. Da urteilte Gütersloh schon vernünftiger, als er erklärte, daß Doderer weder aus dem Hofmanns- noch aus dem Zillertal stamme. Und Doderer selbst urteilte über sich: «Ich habe weder mit der österreichischen noch mit der deutschen Literatur einen Zusammenhang. Ich war in der Jugend viel zu dumm, als daß ich ihn hätte gewinnen können. Später kam ich dann selbst.»[1]
Das stimmt und stimmt auch nicht, denn Doderer ist doch auch auf das angewiesen gewesen, was ich den «lokalen» Kontext nennen würde, und der von ihm – in durchaus problematischer Zuneigung – verehrte Gütersloh war auch ein Österreicher, der sich als Kind von Eltern der francisco-josephinischen Epoche verstand.
Ich halte mich nicht bei Biographica auf; jeder, der etwa Die Dämonen liest, kann sofort einige Vermutungen anstellen und meint, eine authentische Quelle zu haben – und hat sie doch auch nicht. Einige Figuren erinnern jedoch sehr stark an ihren Autor: natürlich Kajetan von Schlaggenberg, der Schriftsteller, der bereits ein Buch über seinen Lehrer Scolander veröffentlicht hat – man erkennt dahinter leicht Doderers Monographie über seinen Lehrer Albert Paris Gütersloh (Der Fall Gütersloh. Ein Schicksal und seine Deutung, 1930), man erkennt dahinter auch das Scheitern der Ehe Doderers mit seiner ersten Frau Gusti Hasterlik; dann René von Stangeler, der Historiker mit einem Interesse an den Grenzfällen der Historie, der eine Reihe von Essays verfaßt hat, wie sie Doderer selbst in der Zeit des in Frage stehenden Zeitraums geschrieben hat; natürlich auch der Herr von Geyrenhoff, der gescheiterte Chronist, und mit Abstrichen auch die Idealfigur Leonhard Kakabsa, der edle Arbeiter. Doch davon später. Daß in diesem Roman vieles auf authentischer Erfahrung des Autors beruhte, ist jedem einsichtig, der die wichtigsten biographischen Fakten aus diesem Leben kennt. Natürlich enthält auch Die Strudlhofstiege (1951),[2] auf die ich in der Folge näher eingehen werde, vieles aus dem Myzel dieses Lebens.
Der Titel ist in gleicher Weise eine Beihilfe zum Verständnis wie zum Mißverständnis: Zunächst scheint er nahezulegen, daß die Handlung des umfänglichen Romans von den räumlichen Gegebenheiten her organisiert ist, an denen sie spielt. Die Strudlhofstiege «zu Wien ist eine Treppen-Anlage, welche die Boltzmanngasse […] mit der Liechtensteinstraße verbindet»,[3] heißt es im Roman am Anfang ebenso beflissen wie auffallend beiläufig, und hinzuzufügen ist, daß, bevor Doderers Roman erschien, diese «Treppen-Anlage» auch guten Kennern Wiens kaum bekannt war. Verständlich sind daher auch die Bedenken des Verlags, der bei der Herstellung des Buches begründeten Anlaß zur Vermutung hatte, daß dies als ein Heimatroman nur allzu vertrauter Prägung aufgefaßt werden könnte, und so kam es zu dem zweiten Titel «Melzer und die Tiefe der Jahre», der wiederum bei den Interpreten die Schlußfolgerung ergeben würde, in dem Major Melzer die Hauptfigur oder gar den Helden des Romans zu erblicken, und über die Rolle Melzers ist es auch zu Differenzen in der Interpretation gekommen, die für die Bestimmung des Romans und der Romanästhetik Doderers von einiger Bedeutung sind und zugleich auch ein Zeugnis dafür, daß der Fall Doderer und im besonderen seine Strudlhofstiege noch lange nicht als erledigt zu betrachten sind.
«Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann»,[4] so notierte Doderer 1966, und jedem, der sich bei der Strudlhofstiege an einer Inhaltsangabe versucht, mag es scheinen, als hätte der Romancier alles darangesetzt, den Beweis dieses Grundsatzes durch die Komposition des Romans zu führen. Und doch scheint dieses Buch unerhört reich an Inhalten zu sein, an Histörchen und Anekdoten, an tragischen wie grotesken Episoden, an Intrigen und Gegenintrigen, an Berichten von Lebensläufen, an Zustandsschilderungen und hochdramatischen Ereignissen, die sich aber, ist man um ihre Rekonstruktion bemüht, als befremdlich banal erweisen und – auf den ersten Blick – nur schwer in ihrem Zusammenhang begreifen lassen. Daß die Qualitäten des Buches somit jenseits des Inhaltlichen liegen müßten, zugleich aber auf diese Inhalte nicht verzichtet werden kann, ist einer der ersten Widersprüche, die sich bei der Befassung mit diesem Roman einstellen und für eine nicht unbeträchtliche Verwirrung unter den Kritikern gesorgt haben.
Melzer hat eine Geschichte, doch scheint diese Geschichte kaum der Rede wert, würde sie der Autor nicht als Paradigma einer «Menschwerdung» – so einer der zentralen Termini in Doderers Lebenslehre – hinstellen wollen. Der Roman setzt mit einer Figur ein, die in Melzers Leben eine entscheidende Rolle spielt:
Als Mary K.s Gatte noch lebte […] und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte.[5]
Wie die Strudlhofstiege selbst erscheint auch das zentrale Ereignis des Romans, der Straßenbahnunfall der Mary K., samt genauem Datum nur beiläufig, in Parenthese: In ihr wird das hochdramatische Finale vorweggenommen. Mary K. und Melzer hätten 1910 ein Paar werden können, aber Melzers andauernde Inaktivität führte schließlich dazu, daß er seinen beabsichtigten Heiratsantrag unterließ; er sieht sie erst fünfzehn Jahre später, also nach gewaltigen historischen Veränderungen, wieder, und zwar just in dem Augenblick, da sie gerade von der Straßenbahn überfahren und ihr das eine Bein «über dem Knie» abgetrennt worden ist. Geistesgegenwärtig rettet ihr Melzer das Leben, indem er ihren Beinstumpf oberhalb der Wunde abbindet, sodaß Mary nicht verblutet. Das Füllhorn der Zufälle ist dem Autor stets zur Hand: Thea Rokitzer, eine im 24. Lebensjahr stehende Dame, in die Melzer verliebt ist, erscheint, nachdem er sein Rendezvous mit ihr an der nahe gelegenen Brigitta-Brücke verpaßt hat, am Ort des Geschehens und steht ihm bei. So finden auch die beiden zueinander, und das Buch endet dort, wo die Komödien auch zu enden pflegen: im Hafen der Ehe. Melzers Trennung von Mary und die Wiederbegegnung mit ihr unter so bizarren Umständen – das sind die beiden Pfeiler, die die riskante Brückenkonstruktion des Romans zu tragen haben.
Melzer selbst fungiert auch als Bindeglied der verschiedenen Gesellschaftsschichten: Einerseits hat er Kontakt zu den großbürgerlichen Kreisen der Familie Stangeler, deren Geschichte vor allem aus der Sicht des jungen Historikers und Sibirienheimkehrers René von Stangeler erzählt wird. Renés Schwestern Asta und Etelka sind weitere Repräsentanten dieser Familie; vor allem ist es die Geschichte der Etelka, die ebenso markante Eckpunkte des Romans darstellt. Die Übermittlung der Nachricht von ihrem Selbstmord durch René an Melzer erfolgt unmittelbar vor dem Unfall der Mary K. Um es vereinfacht zu formulieren: Den großbürgerlichen Kreisen ist die Tragödie und den kleinbürgerlichen, in denen Melzer schließlich landet, die Komödie zugeteilt.
In die Melzer-Handlung ist schließlich noch eine Zwillingsgeschichte eingebettet: Editha Pastré-Schlinger und ihre Schwester Mimi Scarlez sehen einander zum Verwechseln ähnlich, und Editha nutzt dies auch aus, zuletzt zu einem dilettantisch geplanten Zigarettenschmuggel; gegen diese mit einem ihr unangemessenen Aufwand erzählte Geschichte wird aus den Reihen der Familie einer jungen Frau, die einst mit René befreundet war, wirksam opponiert. Auch wenn der Paula Pichler, geborener Schachl, in die vertrackten Intrigen noch die Durchblicke fehlen, so tut sie doch das Richtige, und sie ist es auch, die zuletzt die Fäden in der Hand hat, um Melzer aus den Umschlingungen der Schlinger-Pastré, die ihm gar übel mitspielen und seine Stellung im bürgerlichen Beruf als Amtsrat bei der Österreichischen Tabakregie für ihre dubiosen Zigarettentransaktionen mißbrauchen wollte, letztlich zu befreien und der Thea Rokitzer zuzuführen. Freilich muß bei alledem auch der Zufall helfend einspringen, um alles zu einem guten Ende zu bringen.
Soviel einmal zu einer ersten Orientierung im reichlich komplizierten Handlungsgefüge des Romans. Keineswegs schämt sich Doderer jener Motive, denen so gerne ein Naheverhältnis zur Trivialliteratur nachgesagt wird; im Gegenteil, er spekuliert mit Grund und Erfolg damit, daß der Leser an derlei Gefallen findet, ja es scheint fast, als würde er eine Handlung um so sorgfältiger und lustvoller in Szene setzen, je banaler und abgegriffener sie in ihrem Endeffekt anmutet. Die Reduktion auf die oben angedeuteten inhaltlichen Momente wirkt fast wie ein böswilliges Vorgehen gegen den Text, und man würde Doderer unrecht tun, hielte man die Substanz des Romans mit der Lust am Erzählen solcher Bagatellhandlungen für ausgeschöpft.
Daß es die Komposition ist, die in diesem Werk auch einen hohen Grad an Informationsqualität besitzt, geht vor allem aus den Schlußabschnitten hervor; auf den 21. September hin scheint die ganze Handlungsfülle des Romans fluchtpunktartig ausgerichtet, und es lohnt sich, das Buch nach der ersten Lektüre gerade vom Ende her nochmals zu lesen. Und mit gutem Grund hat Dietrich Weber aus dieser Sicht formuliert: «Von ihrem Finalpunkt her liest sich die ‹Strudlhofstiege› als Roman im Grunde nur eines einzigen Tags mit seiner – nun allerdings – weitverzweigten und weit ausholend dargestellten Vorgeschichte und ein paar Ausläufern.»[6]
Die Vorgeschichte: Sie reicht zurück in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, allerdings werden diese Partien oft übergangslos eingeblendet. Die Handlung setzt mit dem oben zitierten Satz – auch dies erfährt man nur beiläufig – im «Nachsommer 1923»[7] ein. Der erste Teil des Romans[8] führt aus dieser Zeit zurück in das Jahr 1910, das Jahr der Begegnung Melzers mit Mary, dann vor ins Jahr 1911, wo es um einen Tag des Gymnasiasten René von Stangeler geht und seine Schwester Etelka in die Erzählung eingeführt wird; ein kurzer Einschluß in diesen Rückblenden führt allerdings bereits ins Jahr 1925 voraus,[9] um die Situation Melzers nach dem Krieg zu exponieren: Für ihn hatte, wie für die meisten Helden Doderers, die Katastrophe von 1918 keine drastischen Konsequenzen. Er ist bei der Tabakregie als Amtsrat gut aufgehoben. So wird die Rolle des Militärs Melzer der des Zivilisten Melzer präzise konfrontiert. Der zweite Teil[10] setzt mit dem Rückblick fort; es sind Melzers Erinnerungen, von denen offenkundig ausgegangen wird, aber der Erzählfluß emanzipiert sich zusehends von dieser Perspektive. Unvermittelt wird der Leser dann wieder in die Gegenwart von 1925 versetzt: «Melzer fuhr aus seinen Erinnerungen und warf dabei das Kaffeegeschirr um.»[11] Und von da sind der dritte[12] und vierte Teil,[13] also weitaus mehr als die Hälfte des Buches, dem Sommer und Nachsommer 1925 gewidmet; nach den Katastrophen und Lösungen des 21. September 1925 folgt noch ein kleiner Epilog, vom Zuschnitt eines heiteren Nachspiels, und die Handlung endet mit der Verlobung Melzers und Theas am 7. Oktober, unter einem «Oktoberhimmel […], in welchem ein reifes Gold stand wie Weinglanz.»[14]
Die von Doderer – und das gilt nicht nur für Die Strudlhofstiege – bevorzugte Jahreszeit ist der Sommer; und wenn schon auf Grund des Datums nicht von Sommer die Rede sein kann, dann stellt einfach ein sommerlicher Tag den Hintergrund bereit, und so scheint das Wetter über die krassen Veränderungen im Leben der Menschen hinweg für Einheitlichkeit im «Atmosphärischen»[15] und zugleich auch für eine Konzentration der diffusen epischen Materie zu sorgen. «Die Zeit stand. Kein Zug der Absicht erzeugte einen Fluß in irgendeine Richtung»,[16] heißt es über einen Tag im Sommer 1911, und der vierte Teil – er setzt «Anfang September»[17] 1925 ein – sucht gleichermaßen Zeitlosigkeit ins Bild zu bannen:
Über der Stadt und ihren weit ausgestreuten Bezirken stand auf goldenen Glocken der Spätsommer, noch nicht Nachsommer, noch trat der Herbst nicht sichtbar ins Spiel.
Die Windstille war eine so vollkommene, daß eine leichte schwebende Luftgondel, die man sich im schwindelnden Blau etwa genau über der Strudlhofstiege hätte denken können, durch Stunden wäre am gleichen Punkte dort oben verblieben, ohne abgetrieben zu werden […].[18]
Hinter alledem liegt indes auch eine Absicht, die nicht nur für das ästhetische, sondern sehr wohl auch für das ideologische Programm Doderers kennzeichnend ist. In diesem Abschnitt führt der Erzähler in die Wohnung Mary K.s, deren Mann Oskar im Februar des Vorjahres gestorben ist. Emphatisch wird der unveränderte Zustand beschworen: «Die lange Zimmerflucht lag, wie sie auch früher gelegen hatte. Die Möbel standen, wie sie auch früher gestanden waren.»[19]
Freilich ist die historische Zäsur von 1918 nicht leicht zu tilgen, aber Doderers auffällige Anstrengung dient eben dazu, die Konsequenzen solcher großen Umwälzungen im Vergleich zur Konstanz des Alltags als gering erscheinen zu lassen. Zwar haben die Figuren sich in bezug auf ihren Stand verändert; aus Asta von Stangeler ist eine Frau Baurat Haupt geworden; aus Etelka eine unglückliche Frau Generalkonsul Grauermann, die eine intensive Liebesbeziehung mit Robert Fraunholzer, dem ehemaligen Vorgesetzten ihres Mannes, eingegangen ist und, ehe sie diese hinter sich hat, schon neue eingeht; aus Editha Pastré eine mittlerweile bereits wieder geschiedene Frau Schlinger; aus Renés Freundin Paula Schachl eine mit einem Werkmeister glücklich verheiratete Frau Pichler. Auch bei der Familie Stangeler hat sich einiges getan: Aus der dominierenden Persönlichkeit des Vaters ist ein leidender Greis geworden. René, der auch späterhin noch gelegentlich als «Gymnasiast»[20] apostrophiert wird, ist promovierter Historiker und brilliert als Kenner der Lokalgeschichte. Seine Braut Grete Siebenschein kennt Mary K., diese wiederum ist mit Lea Fraunholzer befreundet, wodurch die Verbindung Marys zur Familie Stangeler auch noch andersherum – wenngleich auch hier ohne direkten Kontakt – hergestellt wird.
Bemerkenswert ist, daß die große Wirtschaftskrise und vor allem die Inflation kaum Folgen für den Lebensstil der groß- wie kleinbürgerlichen Schichten haben; allenthalben scheinen die Verhältnisse einigermaßen stabil, und selbst der unter chronischem Geldmangel leidende René verfügt im Sommer 1925 durch gerade eingegangene Autorenhonorare über einiges Geld. Behutsam scheint das soziale Konfliktpotential ausgelagert; auch die Verluste an Menschenleben durch den Krieg werden kaum erwähnt. Eine gewichtige Ausnahme ist allerdings festzuhalten: Vor dem Krieg diente sein Offizierskollege Major Laska dem unsicheren und vor Entscheidungen zurückschreckenden Melzer als Leitbild und offenkundiger Vaterersatz. Er findet nach dem Krieg in dem schnittigen, saloppen und doch auch einigermaßen dubiosen deutschen Rittmeister Otto von Eulenfeld, der wiederum die Verbindung hinüber zu den Pastré-Zwillingen herstellt, eine Bezugsperson: «Melzer übertrug ständig, und freilich ohne es zu wissen, seine eigenen Empfindungen und Einschätzungen aus dem Erinnerungsbilde, welches er sehr lebhaft von dem Major Laska besaß, auf Eulenfeld.»[21]
So gibt es dort, wo die Verluste am schwersten sind, die Neigung, sich anbietende Kompensationen auch anzunehmen. Problemlos ist der Übergang zum Zivilstand; schwieriger ist es für Melzer, in den Genuß des «Zivilverstands»[22] zu kommen. Und dieser Vorgang ist sicher eines der entscheidenden Subthemen des dritten und vierten Teils, wobei die ironische Schicksalsregie es mit sich bringt, daß Melzer seine entscheidende Tat – die Rettung Marys – gerade wieder als «ein Soldat vieler wechselnder Schlachten»[23] vollbringt. Melzer wird implizit zur Vorzeigefigur für Doderers Geschichtsauffassung. Entscheidend für das Verfahren der Rückblende, das ja seinen Ausgang meist von Melzer nimmt, ist die Form, in der der Erste Weltkrieg ausgeblendet wird; im Zusammenhang damit wird der Unwille des Autors, vom Kriege zu erzählen, evident und im Kontext auch begründet:
Melzer hat 1914–1918 so ziemlich mitgemacht, was es da mitzumachen gab: Gorlice, Col di Lana, Flitsch-Tolmein … Nennbar Unvergeßliches! Aber der Mensch kommt, im Kriege erlebend, nicht zu sich selbst, sondern immer wieder zu den Anderen. Die Ernte wird innerhalb der Welt des legalorganisierten Schreckens nicht in den Kern der Person eingebracht, sondern an’s Kollektiv zurückverteilt. Daher übrigens bei fast allen die besondere Neigung zu Erzählungen.[24]
Veränderungen werden zwar ad notam genommen, aber vor allem die Veränderungen im Alltag; auch Doderer versucht sich als Lokalhistoriker, und die Einengung auf das Lokale und das Lokal ist für ihn auch eine Herausforderung, die es anzunehmen gilt. Repräsentanten dieses Lokalen sind nicht die Kreise, denen der Autor entstammt; ihre Geschichte ist eben auch in der Geschichte der Familie Stangeler modifiziert nacherzählt, und bei einiger Kenntnis der biographischen Daten gehört nicht viel Phantasie dazu, in René so etwas wie ein Selbstporträt des Autors als Gymnasiast und Historiker zu erblicken. Implizit ist in der Strudlhofstiege auch der konsequente Zerfall des Großbürgertums thematisiert, das mit der Autorität des alten Stangeler zusehends sich aufzulösen scheint. Der Kreis um Paula Schachl ist jene Schicht, in der das, was in der Tiefe der Zeiten liegt, nicht nur aufbewahrt wird, sondern sich auch zu regenerieren vermag. Das Erbe ist an das Kleinbürgertum delegiert, in dem sich – nach der Formulierung Doderers – die «Genies in Latenz»[25] befinden, die weder hüben noch drüben standen, die nicht zu dumm (Thea Rokitzer) und nicht zu klug (Paula Schachl) sein dürfen. Und der pensionierte Amtsrat Zihal formuliert auch diese Österreich-Ideologie und versteht obendrein, aus dem Zerfall noch einen Nutzen zu ziehen:
«Sie wissen, ich war k. k. Beamter mit Leib und Seele, ein winziges Raderl, ein ganz kleiner Schabsel Ihrer Majestät. Sie ist abberufen worden. Vielleicht sollen wir Ihrer derzeit gar nicht bedürfen. Wenn, wer immer, beiseite tritt, sieht man mehr. Der Herrscher ist gewissermaßen anonym geworden […], sozusagen durchsichtig. […] Wenn ich so sagen darf: die Republik ist vielleicht aus einem feineren, weniger sichtbaren Stoff gemacht als die Monarchie.»[26]
In so nobler Abstraktion verschwinden die schrillen Dissonanzen, die den politischen Diskurs der Ersten Republik beherrschten. Geblieben ist das Amt, geblieben ist das Ritual, das sich einer «‹wirklichen Ordnung›» verdankt, von der man «‹beinah überhaupt nichts merken darf.›»[27] Der Umgang mit der «Tiefe der Zeiten»[28] ist nicht nur ein Mittel zur Wiedergewinnung des Gewesenen und der Vergangenheit, ein Versuch, den Erinnerungen in der Gegenwart ein angemessenes Wohnrecht zu sichern, es ist dies auch ein handfestes Programm, das der Zeit der Entstehung entspricht, und zugleich auch ein Versuch, die eigene Haltung der Vergangenheit gegenüber zu legitimieren.
Die Schatten zweier anderer Werke Doderers ruhen auf der Strudlhofstiege, einerseits der eines kleineren und freundlichen und bereits 1939 geschriebenen: Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal (entstanden 1939/40, erschienen 1951), andererseits der eines gewaltigen, 1929 begonnenen und 1936 aus ästhetischen wie politischen Gründen unterbrochenen Romans mit dem Titel Die Dämonen, der erst 1956 fertig werden und erscheinen sollte. Indes war das angesammelte Material so umfassend, die bereits geleistete Arbeit so groß, daß der Stoff wie die Problematik den Autor weiterhin nicht losließen. Dieses Werk sollte den Bruch in der österreichischen Gesellschaft und als dessen Konsequenz vor allem den Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 sowie in der Folge die Situation Österreichs in den 30er Jahren darstellen.
Doderer war am 1. April 1933 Mitglied der österreichischen NSDAP geworden, und einige Momente im Konzept des Romanprojektes waren seiner politischen Einstellung verpflichtet. Die Folgen seines Verhaltens in den 30er Jahren haben Doderer lange beschäftigt; er sprach später – 1946 – von seinem «barbarische[n] Irrtum», der ihn «unterhalb des Maßes eines Schriftstellers […] stürzen ließ.»[29]
Ich bin auf die Vorgeschichte der Strudlhofstiege oben bereits eingegangen. Deren komplexe Entstehungsgeschichte ist für das Verständnis von Doderers neuer Romankonzeption von zentraler Bedeutung und wurde bereits eingehend untersucht.[30] Daraus geht eindeutig hervor, daß Doderer vom Rande her begann: Weder Mary K. noch Melzer und auch nicht die Anlage der Strudlhofstiege sind in den ersten Stadien der Befassung mit der Materie dieses Romans präsent. Ausgangspunkt ist assoziativ erinnertes Material: Ende 1941 (Doderer dient seit dem 30. April 1940 als Luftwaffenoffizier bei der Wehrmacht) im französischen Biarritz kreisen seine Erinnerungen um ein Haus im Alsergrund, dem 9. Wiener Gemeindebezirk, der auch die wichtigsten Schauplätze für Die Strudlhofstiege bereitstellt. Nun geht es um das Doppelgebäude der «Miserowsky’schen Zwillinge»[31] in der Porzellangasse, in dem der «kleine[ ] E. P.»[32] wohnt, ein Bekannter Doderers; die Beschreibung dieses Hauses, die sich in Doderers Tagebuch findet, hat ihre Entsprechung im Roman[33] und kann füglich als dessen Epizentrum angesehen werden. Fünf Monate später – Doderer ist nun in Ryschkowo bei Kursk – wird zum ersten Mal der Name Mary K. genannt und der Unfall erwähnt;[34] allerdings ist von einem neuen Roman noch keine Rede. Dies alles könnte sich genausogut auf Die Dämonen beziehen. Zwei Jahre vergehen, und 1944 wird der Etelka-Komplex noch im Zusammenhang mit den Dämonen erwähnt, allerdings soll der «Reife-Punkt» ihres Schicksals mit dem Brand des Justizpalastes verbunden werden.[35] Entscheidend ist, daß Doderer von einem Formkonzept ausgeht und sich innerhalb dessen die inhaltlichen Momente als verschiebbar erweisen: Der Tod Etelkas wird, statt an den Justizpalastbrand herangerückt zu werden, in zeitlicher Nähe des Unfalls der Mary K. verortet, und am 8. Oktober desselben Jahres findet sich im Tagebuch der Satz, der später zum ersten des Romans wurde;[36] daß er dies werden sollte, war Doderer damals allerdings noch nicht bewußt. Der Eintritt Melzers in den Raum der Imagination des neuen Romans vollzieht sich überhaupt erst gegen Kriegsende im März 1945, und es läßt sich in den Tagebüchern Doderers schön beobachten, wie diese Figur allmählich Konturen gewinnt. Doch ab Kriegsende geht trotz mancher Komplikationen mit dem teilweise verloren geglaubten Manuskript die Niederschrift des Textes zügig voran. Die Lebensbedingungen sind äußerst unangenehm: Doderer verfügte nach seiner Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft am 31. Januar 1946 kaum über ein Einkommen und war auf die Unterstützung von Freunden und Verwandten angewiesen.
Doch entsteht das Manuskript in fast ununterbrochener Folge im wesentlichen ohne große Änderungen im Konzept in der Zeit vom 7. Februar 1946 bis zum 20. Juni 1948. Einige wenige, nichtsdestoweniger wichtige Stellen werden erst 1948 bei der Textrevision interpoliert, so zum Beispiel die auf René beziehungsweise auf Melzer bezüglichen Partien des ersten Teils.[37] Zu erwähnen sind auch die Versuche, den Handlungsverlauf graphisch in Skizzen zu fixieren, womit Doderer den chronologischen Ablauf exakt vorherbestimmen, widerspruchsfrei gestalten und zudem die synchronen Partien in ihrer kompositionellen Zusammengehörigkeit in bezug auf Stimmung und Erzähltempo kontrastieren oder analogisieren wollte. Dies gilt vor allem für das Finale, in dem alle Handlungsstränge mehrfach miteinander verknüpft werden sollten. Doderer sah in diesen Skizzen so etwas wie ein Apriori der Form vor dem Inhalt; auf Grundlage dieses dynamischen Gesamtbildes meinte er, die Form eines Gefäßes zu haben, das er mit Inhalten nur mehr zu füllen brauchte; die Form, so legte es Doderer sich zurecht und suggerierte dies auch seinen Interpreten, habe vor dem Inhaltlichen absoluten Vorrang. Die Analyse der Originalskizzen zeigt, daß Doderer solche Skizzen oft zur Ergänzung während der Romanniederschrift konstruierte oder sie gar ex post entwarf; nicht selten wurden sie auch wieder verworfen. «Aus der Perspektive der Konstruktionen gilt daher für die ‹Strudlhofstiege› noch nicht jener Satz von der Form als der Entelechie jedes Inhaltes, sondern dessen Umkehrung: Inhalt als Entelechie der Form.»[38]
Die Priorität der Form vor den Inhalten kann in der Weise, in der Doderer sie sehen wollte, im Lichte der Genese der Werke nicht aufrechterhalten werden; doch ist bei der Gestaltung die höchst angestrengte Bemühung erkennbar, der Form diese Priorität immer wieder zusichern zu wollen. Daß neue Inhalte, die das Konzept überlagern, immer wieder einschießen, ist eine Erfahrung, die Doderer des öfteren machen mußte, deren Spuren er aber späterhin sorgsam verwischte und aus dem Hof seiner Theorie verbannt sehen wollte. Der Wille zur Form garantiert überdies, daß diesem Werk im Inhaltlichen kaum Spuren jener Situation abzulesen sind, in der es entstand. Die epische Materie scheint sich gleichgültig zu Krieg und Nachkrieg und zur prekären ökonomischen Situation des Autors zu verhalten. Alles, was nach einer konkreten politischen Parteinahme oder weltanschaulicher Beeinflussung aussehen könnte, wird ferngehalten. Der Geburtsfehler, an dem Die Dämonen kranken, soll penibel gemieden werden.
Daß dies so einfach nicht herstellbar war, ist einsichtig. Und selbst die Strudlhofstiege garantiert keineswegs die Unbelangbarkeit durch historische Veränderung voll und ganz. Der Historiker Stangeler erinnert daran, in welch gefährlicher Nähe dieses Bauwerk sich befindet: «‹Obendrein sind wir hier sozusagen mitten drinnen in der neuesten und unerfreulichsten Geschichte Österreichs›», und meint damit, daß dort einige Häuser dem ehemaligen Außenminister Graf Berchtold gehörten, «welcher den Ausbruch des Krieges von 1914 verschuldet» habe.[39] Und Stangeler belehrt Melzer, indem er resümiert:
«Es gab nie eine europäische Situation, die früher oder später zum Kriege führen mußte. Das sind feierliche Erfindungen von Interessierten, von Berufspolitikern, Generälen, G’schaftlhubern oder Historikern, oder Ausdünstungen jener Leute, denen die Sprache der Zeitungen durch’s Hirn schwappt, wie das Spülwasser durch eine Clo-Muschel. Damit bringen sie dann freilich immer alles hinunter.»[40]
Orthopraxie in der Politik ergibt sich aus der Resistenz gegen eine Sprache, die die ideologischen Phantasmagorien errichtet; die Sprache der Zeitungen hingegen löscht genau das, was der echte Historiker, der eben keiner Absicht dient, sichern will. Die Nähe von Strudlhofstiege und Palais Berchtold symbolisiert mithin auch die Präsenz der Geschichte und zeigt so an, daß von purer Idyllik durchaus keine Rede sein kann. Es wäre verfehlt, in der Strudlhofstiege nicht mehr sehen zu wollen als eine Anlage, die sinnbildartig die Umwege im Leben des Menschen zu verkörpern hätte. Gewiß ist Doderer in dem emphatischen Hymnus auf die Strudlhofstiege auch auf Sinnstiftung aus, die beweisen will, daß «Dignität und Dekor» selbst in unserem Alltag allenthalben präsent sind, ja daß diese Prinzipien geradezu körperlich erfahrbar werden, indem ein «Gang hier zur Diktion» wird.[41] Indes in der Strudlhofstiege nur ein Dingsymbol zu erblicken, das die Umwegigkeit des Lebens allein veranschaulichen sollte, würde die komplexe Funktion, die Doderers Raumgestaltung hat, allzusehr vereinfachen. Sie ist das Gegenteil der «Hühnerleiter formloser Zwecke»[42] und dient somit wohl auch dazu, das romaninterne Korrelat des Kunstwerkes zu sein, dessen sublime Absichtslosigkeit ja mehrfach durch die perennierende Windstille ihren Ausdruck finden sollte. Was ein Bauwerk sinnlich repräsentieren kann, das ist einem Roman auch möglich: Doderers imaginierte Räume sind prägnanter Ausdruck seines Willens zur Versinnlichung, der als stärkste Opposition zu jenen für Doderer unechten Abstraktionen zu gelten hat, die den Menschen irreleiten.
In diesem Sinne ist die programmatische Eroberung des Erzählraumes Wien für sein Werk ab den 30er Jahren kennzeichnend. Da geht es allerdings nicht um jene Maxima und Minima, die sich der Tourismus angelegen sein läßt, sondern um eine Schule des Sehens, eine Schule der «Apperzeption», wie der einschlägige Terminus Doderers lautet.[43] Seine Romantheorie gründet – und das ist nicht die Marotte eines antiquarisch Gebildeten – in der Lehre des Thomas von Aquin, dessen Analogia entis für eine positive Diesseitserfahrung argumentativ eingesetzt wurde. Doderer bricht bewußt mit der idealistischen Tradition und versteht den Romancier als jemanden, der «mit Platons Höhlengleichnis ebensowenig anzufangen [weiß] wie mit Kants Ding an sich» und der «innig die Erkennbarkeit der Schöpfung aus dem, was sie uns in wechselndem Flusse darbietet, umarmt».[44] Der Schriftsteller könne als «geborener Thomist»[45] gelten, für den es keine Trennung von Innen und Außen gebe. Es ist also nicht die von Georg Lukács für den Roman so nachhaltig behauptete «transzendentale Obdachlosigkeit», Doderers Helden befinden sich vielmehr geborgen in der Analogia entis; der Ordo würde sich eben jenen erschließen, die mit den sinnlichen Daten einen sorgfältigen Umgang pflegten und sie nicht dem Moloch der Abstraktionen opferten. So ungefähr läßt sich in Kürze Doderers Programmatik zusammenfassen, die man nicht ohne Grund einen «Naturalismus Phase II»[46] genannt hat und der auch dazu diente, den Autor von den Vorurteilen zu befreien, die sich in den 30er Jahren zu gefährlichen Urteilen verhärtet hatten. Inwieweit dieser Prozeß als aufrichtig und vor allem auch als gelungen zu bezeichnen ist, kann an dieser Stelle in extenso nicht diskutiert werden,[47] entscheidend ist die Anstrengung, mit der dieser Versuch als der Versuch eines Schriftstellers unternommen wurde.
Daß dabei dem Raum eine entscheidende Funktion zukommen sollte, macht die Besonderheit auch der Erzählkunst Doderers aus. Ungescheut verwendet Doderer mythologische Metaphern. Die Strudlhofstiege kennt ihren Genius loci, Paula Schachl wird zur Lokalgöttin, zur Dryas des Alsergrundes. Das «Alsergrunderlebnis»[48] hat Doderer geradezu zelebriert. Die Geschichten, die nun auf der Strudlhofstiege sich zutragen, verblassen in ihrer Funktion und vor allem Sinnhaftigkeit über der Rolle, die das Lokal an sich hat. Vor allem der Skandal, der sich 1911 auf dieser Stiege abspielt,[49] ist nur bedingt Voraussetzung für das Inhaltsgerüst des ganzen Romans, mögen dabei auch einige Hauptfiguren zueinander kommen und miteinander in Verbindung gebracht werden: Die hauptsächlich Betroffenen – der alte Schmeller, seine Tochter Ingrid und der um sie werbende Stephan von Semski – spielen in der Folge im Roman so gut wie keine Rolle. Asta Stangeler, ihr Bruder René, Melzer und Paula Schachl hingegen erhalten in der Gegenwart des Jahres 1925 noch deutlichere Konturen. Mary K. bleibt in diesem Falle so gut wie ganz draußen. Wichtig scheint indes, daß das erzählerische Arrangement dieses Skandals typologisch dem der Ereignisse um den Unfall der Mary K. verwandt ist: Es geht also nicht um stoffliche oder thematische Parallelen, sondern um die Anordnung durch die Regie des Erzählers, mit deren Hilfe die Vorgänge miteinander verknüpft werden. Die Erinnerung dieses Skandals ist bei den Figuren vierzehn Jahre später auch nicht mehr denn als ein zartes Echo vorhanden. Entscheidend ist der Rekurs auf das Bauwerk, doch bezweckt der Autor damit keine wie immer geartete Wiederholung von Ereignissen.
«Es hat jede Affär’ ihren Hintergrund, ihr Milieu, wie man sagt, das Leben ist immer der beste Regisseur: die Kulissen stimmen unsagbar gut zu dem, was gespielt wird.»[50] Damit wird aber nicht nur auf die soziologische Dimension der Affären angespielt; auch wenn die einzelnen Räume den Figuren ihren Platz in der Gesellschaft anzuweisen scheinen, so ist dies nicht ihre Funktion. Deutlich ist die Kontrastwirkung, die durch die Opposition des großbürgerlichen Haushalts der Familie Stangeler vor dem Krieg und des «Schachl-Gärtchen[s]»[51] nach dem Kriege erzeugt wird: Daß René nie in dieses Idyll kommt, auch wenn für seinen Besuch langwierige Vorbereitungen getroffen werden, gehört zu der subtilen Ironisierung, mit der er bedacht wird: Melzer darf den Raum betreten, für den der Erzähler mit seinen sympathielenkenden Hinweisen optiert. Im «Schachl-Gärtchen» endet auch der Roman, mit einer Nachfeier zur Verlobung, die gewiß ein ebenso konventionelles wie eindrucksvolles Finale sein soll; der gute Ausgang freilich wird ironisch durch den Erzählerkommentar unterlaufen, der das Paar mit einem Erzähler entläßt, der das Scheinhafte auch dieses Idylls sanft bewußt macht: «Wesentlich bleibt doch, daß die Ehe nie eine Lösung bilden kann, sondern immer nur die Aufstellung eines Problems, unter dessen neues Zeichen das betreffende Paar jetzt tritt […].»[52] Und Zihal versucht sich zu guter Letzt in einer Definition des Glücks; der Satz, daß der glücklich sei, der «‹vergißt, was nicht mehr zu ändern ist›», wird als Banalität aus der Operette abgetan; an seine Stelle tritt eine Definition, die der Beamtensprache abgelauscht ist und eine Aufforderung zur kalkulierten und vorwegnehmenden Bescheidenheit enthält.[53] Das «Schachl-Gärtchen» ist auch der Ort, an dem eine solche Verklärung des Glücks doch für einen Augenblick möglich ist. In diesem Rückzugsraum scheint das Idyll statthaft; die Familie Stangeler bleibt ausgeschlossen, der Garten ist auch der Rückzugsraum aus der Metropole, die gerade in diesen Jahren einen so grundsätzlichen Wandel in ihrer Identität als Großstadt hatte erfahren müssen. Daß diese Schlußvision heftiger Kritik exponiert ist, ist einsehbar. Anton Reininger hat von der «Erlösung des Bürgers» in den Romanen Doderers gesprochen; scheint der Ausdruck «Erlösung» problematisch, da Doderer schwerlich ein messianischer Anspruch unterstellt werden kann, so trifft Reiningers Urteil doch die grundsätzlich eudämonistische Tendenz seiner Romane.[54] Dies erklärt sich auch aus der spezifischen Situation Doderers in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der schweren Destabilisierung in ethischer, ästhetischer und auch gesellschaftlicher Hinsicht nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Doderer ein mit Nachdruck behauptetes Ordnungskonzept entgegen, das sich im komponierten Roman manifestieren sollte. Der Hintergrund, dem er trauen konnte, war das Lokal, die Stadt Wien, so wie er sie sah. Hier konnte er konkret sein und die konkret benannten Örtlichkeiten zu den aufeinander mehrfach bezogenen Punkten eines Kraftfeldes für den Ablauf seiner Aktionen machen. Der Erfolg dieses Romans zu Beginn der 50er Jahre schien Doderers Praxis zu bestätigen. Dieses Buch ist nicht ohne Grund für manche Wien-Besucher zu einem literarischen Baedeker avanciert. Die Schule des Sehens kann so auch zu einer Schule des Gehens mit «Dignität und Dekor» werden. Daß die Kritik bei dem Historiker Doderer just das Fehlen jener Momente einklagte, die das politische Klima der Ersten Republik in Österreich so nachhaltig bestimmten, darf nicht weiter verwundern; für ihn bleibt entscheidend, was trotz dieser Veränderungen geschah und sich nicht in den Annalen als bemerkenswertes Ereignis findet. Die Strudlhofstiege machte Doderer auch Mut, sich an die Fortsetzung der Dämonen zu wagen; in diesem Roman sollte es mit dem Brand des Justizpalastes vom 15. Juli 1927 ja noch viel konkreter um die Geschichte Österreichs gehen; ebenso sollte in diesem Roman auch das Netz der Schauplätze in Wien weit über den Alsergrund hinaus ausgedehnt werden.
Die thomistische Diesseitsbejahung und die Intensität, mit der Doderer sich der sinnlichen Daten und der Außenwelt zu versichern suchte, markieren am deutlichsten den Abstand, der ihn von den jüngeren Autoren Österreichs trennt. Als er an der Jahreswende 1951/52 in dem – später verlorengegangenen – Manuskript eines Romans von Ingeborg Bachmann mit dem kennzeichnenden Titel «Stadt ohne Namen» liest,[55] wird – wie oben bereits erwähnt – die Distanz, die er zur Einstellung dieser Generation einnimmt, evident: «neue Kunstrichtung: Desperatismus».[56] So zieht Doderer scharf die Grenzlinie zum Sprach- und Weltverständnis seiner jüngeren Kolleginnen und Kollegen.
Durch die «Genies in Latenz» sollte der «Desperatismus» überwunden werden. Ihnen sollte das glücken, was den andern versagt geblieben war. Die Figur, an der dies am deutlichsten exemplifiziert werden kann, ist Melzer, der am Ende unbeschädigt aus alledem hervorgeht. «Hauptsache, ohne die Hauptsache zu sein» – so hat Weber die Geschichte Melzers bezeichnet.[57] «Was hat nun Melzer eigentlich gelernt?» fragt Reininger und beantwortet die Frage auch ganz eindeutig: «Nichts anderes als sich zu fügen: seinen Gefühlen, den konkreten Situationen, die ihm begegnen, den Aufforderungen zum Handeln, die sich ihm dabei aufdrängen.»[58]
Ob damit sein erfolgreiches Handeln beim Unfall hinlänglich charakterisiert ist, scheint zweifelhaft, in jedem Falle aber ist für Melzer entscheidend, daß er die Rolle, die ihm das Leben zugedacht hat, annimmt und auch erkennt, daß dies das beste ist, was ihm zustoßen kann. Sein Glück ist untrennbar mit seiner geringen Fähigkeit zur elaborierten Reflexion verbunden. Weber bezeichnet das Resultat des Entwicklungsprozesses, den Melzer durchgemacht hat, als «Selbsterkenntnis und Selbstannahme».[59] So wird Melzer – um Webers zuvor zitiertes Wort zu variieren – zur Hauptfigur, ohne die Hauptfigur zu sein. Er hat sich entwickelt, doch ist es kaum zutreffend, Die Strudlhofstiege deswegen kurzerhand zum Entwicklungsroman zu erklären. Melzer glückte zunächst einmal die Gewinnung des «Zivilverstands», dessen etappenweise Entstehung der Roman en passant vermittelt.[60]
Er hat seine Schule der Apperzeption absolviert; er ist seiner Berufung zum «Genie in Latenz» auch gerecht geworden. Das ist aber nicht ausschließlich sein Verdienst; Entscheidendes ist ihm hinzugegeben worden, und daß er zu dem wurde, als welcher er am Ende entlassen werden kann, verdankt er nicht zuletzt auch der Sprache, der er sich bedingungslos anvertraute. Er erfährt, wie wichtig die Sprache für ihn ist – und für Doderer war nach seiner Abwendung vom Nationalsozialismus die Sprache der Ort, an dem er angetroffen werden wollte, der Ort, der ihm Neutralität zu garantieren schien. Die Sprache wird als eine aktive Potenz verstanden, die nicht zuletzt auch Relevantes für Melzers Glück beiträgt. Als er Paula Pichler (vormals Schachl) seine Einsicht in das doppelte Vorhandensein der Editha Pastré mitteilt, steigt er in eine neue Sprachsphäre auf, was sofort kommentiert wird:
Also: unser Melzer ist Zivilist geworden; derlei gibt’s überhaupt nur im Zivil-Verstand; aber – er wunderte sich doch über seine eigenen Ausdrücke, die jetzt auch schon außerhalb des Melzerischen ‹Denkschlafes› Macht gewannen; ja, es war, als zöge ihn die Sprache, die er fand, hinter sich her und in ein neues Leben hinüber: die Sprache stand vor seinem Munde, schwebte voran, und er folgte nach.[61]
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