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Norbert Scheuer · Bis ich dies alles liebte

Neue Heimatgedichte

C.H.Beck

Zum Buch

Norbert Scheuers Kunst, aus den scheinbar kleinen Leuten und Dingen, Stimmungen und Landschaften der Provinz den poetischen Weltalltag herauszudestillieren, hat ihren Anfang mit Gedichten genommen. Lakonisch und genau, Ausdruck einer feinen und unbestechlichen Wahrnehmung, die weder schönt noch verklärt, weder die Geschichte noch die Technik ausspart, schlagen die Beobachtungen und Eindrücke, die Gedanken und Epiphanien in diesen Gedichten in Liebe um. Die Materialität einer mitunter ländlichen und kleinstädtischen Welt verwandelt sich ins geisterhafte, die Natur wirkt belebt, aber bleibt ganz bei sich. Die Dichte und Prägnanz dieser Lyrik, ihre Stille und Dinghaftigkeit, die Nähe zum Alltag, das Empfinden für Geschichte, die sich zur Naturgeschichte weitet, erinnern nicht zufällig an den großen amerikanischen Lyriker William Carlos Williams, dessen Gedichte eines der Vorbilder für Scheuers Arbeiten sind.

Der vorliegende Band versammelt alle Gedichte aus Norbert Scheuers längst vergriffenem Gedichtband «Ein Echo von allen» sowie neue Gedichte

Über den Autor

Norbert Scheuer, geboren 1951, studierte physikalische Technik und Philosophie. Er lebt in der Eifel und arbeitet als Systemprogrammierer. Bei C.H.Beck erschienen «Flußabwärts» (2002), «Kall, Eifel» (2006), «Überm Rauschen» (2009), war auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde 2010 von der Stadt Köln für die Reihe «Ein Buch für die Stadt» ausgewählt, sowie in einer überarbeiteten Neuauflage sein erster Roman «Der Steinesammler» (2010). Norbert Scheuer erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt den Martha-Saalfeld-Förderpreis (2003), den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2006), den Glaser Preis (2006), den d.lit-Literaturpreis (2010) und den Rheinischen Literaturpreis Siegburg (2010).

Für Elvira

Neue Heimatgedichte

Brot und Seele

wollte nie alles aufgeben

um nichts gegen nichts zu tauschen

nicht nach Afrika reisen

um vergessen zu werden

war immer zufrieden

mit meiner Bedeutungslosigkeit

fuhr jeden Tag zur Arbeit

schrieb nebenher Gedichte

Gesichter auf dem Abteilfenster

vor dem Hintergrund der Dunkelheit

Verkäuferinnen, Büroangestellte

Studenten die über Philosophie und Literatur diskutierten

keins meiner Gedichte wird je in ihren Büchern stehen

werde nie alles aufgeben

um nichts gegen nichts zu tauschen.

I

Fortgehen

sowie die Vögel fliegen gelernt haben

am Straßenrand stehen

mit dem Ersten mitfahren der anhält

laute Rockmusik aus einem blauen VW-Bus

ein Mädchen im Schneidersitz am Lagerfeuer

Traktorspuren

die in Pfützen enden

vertrocknete Meerlandschaft

hingegeben dem Vergessen

Musik aus dem Inneren der Hügel

wo die Paläste der Zauberinnen sind

nie mehr wünschen

als man vom Leben erfüllt bekommt

Dorf das ich nicht verlassen werde.

Alcatraz

Birkenblätter schneien

vom Flussufer über den Parkplatz

Leute aus umliegenden Ortschaften

steigen aus Autos

holen Einkaufswagen

schieben zur Drehtür des Supermarktes

zum Getränkemarkt in der Lagerhalle

der ehemaligen Molkerei

Werbefläche am Gitterzaun vor der Bahnstrecke

wo der Fünfuhrzug zur Stadt fährt

hockt ein Mädchen

auf der Kühlerhaube eines alten Peugeot

redet mit einer Freundin

von einer neu eröffneten Einkaufshalle im Industriegebiet

Hauptpreis einer Tombola

sagt

möchte erst Kinder

wenn ich den Richtigen gefunden hab

’en Prinzen

vielleicht schon am Abend

Alcatraz

Diskothek

alte Werkshalle

wo sie bis in den Morgen hinein mit ihm tanzen wird.

Geschichte

früher gehörte das Dorf dem nahe gelegenen Kloster

im Winter abends

Glockengeläut der Mönche gegen den Frost

im Frühjahr kam Zirbes

flickte Eisentöpfe

erzählte Geschichten

spielte auf der Säge

im Sommer bauten wir eine Kapelle

zu Ehren des hl. Dionysius

die Schulkinder begrüßten Kaiser Wilhelm

mit einem brausenden Hurra

im Herbst kam Vater aus der Gefangenschaft

dürr, kahlköpfig

saß ein halbes Jahr still auf der Küchenbank