TOD IM
NEANDERTAL.
AKTE ÖTZI.
TATORT TROJA.
DIE UNGELÖSTEN FÄLLE
DER ARCHÄOLOGIE
Impressum
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Umschlaggestaltung: Stefan Schmid, Stuttgart unter Verwendung eines Ausschnitts aus der Abbildung der plastischen Rekonstruktion eines Ante-Neandertalers von Elisabeth Daynès (©picture-alliance/ZB)
Konvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
© 2012 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Carsten Drecoll, Freiburg
ISBN 978-3-8062-2273-9
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-2653-9
eBook (epub): 978-3-8062-2654-6
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Dunkle Punkte, weiße Flecken
Menschen und Kulturen
Die Neandertaler
Der Kennewick-Mann
Der Ötztal-Mann
Die Etrusker
Städte und Paläste
Jericho
Troja
Die Gründung Roms
Krieg
Die Schlacht am Little Bighorn River
Die Varusschlacht
Kultstätten
Schädelnester in der Großen Ofnethöhle
Die Kulte der Druiden
Der Opferplatz in Herxheim
Mythen der Bibel und des Christentums
Der Garten Eden
Die Arche Noah und die Sintflut
Das Grabtuch von Turin
Die Schriftrollen von Qumran
Legendäre Leichname
Moorleichen
Das Petersgrab unter dem Petersdom
Literatur
Danksagung
Bildnachweis
Archäologie liefert Schlagzeilen. Während im Oktober 2011 die letzten Kapitel für dieses Buch entstehen, meldet der Landschaftsverband Westfalen-Lippe eine archäologische Sensation: die Entdeckung eines Römerlagers bei Olfen. Erste Artefakte sind bereits geborgen. Die Untersuchungen werden Jahre dauern, das bisherige Bild über die Römer in Germanien könnte sich verändern. Vielleicht enthält der Fundplatz neue Hinweise auf den geheimnisvollen Ort der Varusschlacht.
Im selben Monat geben irische Archäologen den Fund einer Moorleiche bekannt. Der Tote ist verstümmelt, vermutlich war er einst ein keltischer König, in hohem Alter grausamen Göttern geopfert. Die Spurensicherung im Torf bringt Indizien zutage, die das rätselhafte Schicksal anderer Moorleichen in Europa erklären könnten.
Lager und Leichnam zeigen, dass Archäologie eine lebendige Wissenschaft ist. Erkenntnisse über den Fund von gestern sind nur so lange richtig, bis neu entdeckte Gräber, Körper, Ruinen und Artefakte die Forscher eines Besseren belehren. Bisweilen müssen lange als wahr angenommene Sachverhalte neu überdacht werden, oder sie erweisen sich sogar als falsch:
Seit über 100 Jahren graben Archäologen Troja aus. Die Ruinenstätte bei den Dardanellen soll die legendäre Stadt aus der Dichtung Homers sein. Dann fand ein Literaturwissenschaftler Hinweise darauf, dass Troja ganz woanders gelegen haben könnte.
Die eingestürzten Mauern von Jericho galten lange als Beleg für eine Eroberung der Stadt. Dann stellten Archäologen fest, dass Jericho in einem Erdbebengebiet lag und die Mauern womöglich durch eine Naturkatastrophe zusammenbrachen.
Der Neandertaler galt in der Vergangenheit als dumpfer Kannibale, der den eigenen Artgenossen den Schädel einschlug, um ihn anschließend genüsslich auszulöffeln. Dann fanden Forscher heraus, dass der eingeschlagene Kopf Teil eines komplexen Bestattungsrituals und eine der frühesten Spuren von Religion in der Geschichte der Menschheit sein könnte.
Wer waren die Mörder des Ötztal-Mannes? Woher kamen die Etrusker? Welche Riten praktizierten keltische Druiden? Auf die großen Fragen der Archäologie gibt es immer mehr Antworten. Einige sind nur Fußnoten, andere aber ganze Kapitel, die Teile der Menschheitsgeschichte neu schreiben.
Archäologen suchen nach Artefakten und finden den Menschen. Jede ihrer Entdeckungen weist auf eine untergegangene Kultur hin. Der Neandertaler verrät durch seine Gene, ob er mit dem modernen Menschen verwandt ist, aber der Vetter aus der Eiszeit verschweigt, warum er ausstarb. Als US-Forscher das Skelett eines toten Mannes fanden, ahnten sie nicht, dass sie vor dem ersten Amerikaner standen, und der stammte von den pazifischen Inseln. Im Mordfall der Eismumie „Ötzi“ sammeln Forensiker noch immer Spuren und jagen einen Mörder, der einen Vorsprung von 5000 Jahren hat.
Er war der erste Europäer und ein Genie der Eiszeit. Der Neandertaler tauchte vor 150 000 Jahren hauptsächlich in Europa auf. Er überlebte in einer Umwelt, die den zivilisierten Homo sapiens heutiger Tage getötet hätte. Trotz seiner Widerstandsfähigkeit verschwand Homo neanderthalensis vor etwa 30 000 Jahren auf mysteriöse Weise. Kurz zuvor war der moderne Mensch in Europa aufgetaucht. Das Treffen der hominiden Vettern soll in Mord und Totschlag geendet haben, mit Homo sapiens als Sieger. Dieses Bild des triumphierenden modernen Menschen zeichneten Wissenschaftler noch bis ins späte 20. Jahrhundert allzu gern. Dann stellte sich heraus, dass Homo sapiens und Homo neanderthalensis viel zärtlicher miteinander umgegangen waren.
Es war der Fund einer Handvoll zerbrochener Knochen in einer Höhle an der Düssel, der 1856 die Welt veränderte. Der erste wiederentdeckte Neandertaler erblickte in einem Steinbruch bei Mettmann das Licht der Welt – 40 000 Jahre nach seinem Tod. Zwei Arbeiter zerrten einen Haufen Knochen aus einer Höhle und warfen sie achtlos einen Hang hinunter. Das Gebein landete vor den erstaunten Augen der Wissenschaft, die bis dahin für die Entstehung des Lebens nur die Schöpfungsgeschichte zitierte. Frühmenschen, Evolution, Erdgeschichte – davon war nicht einmal in den Utopien der Romantiker die Rede. Plötzlich aber meldete sich aus Elberfeld ein Realschullehrer namens Johann Carl Fuhlrott zu Wort und behauptete, die Knochen aus dem Neandertal gehörten zu einem Menschen „aus vorhistorischer Zeit, wahrscheinlich aus der Diliuvialperiode“. Was heute harmlos klingt, hob im 19. Jahrhundert die Welt aus den Angeln. Nicht einmal Charles Darwin, der kurz darauf mit seinem Buch „Über die Entstehung der Arten“ die Evolutionslehre begründete, wagte, von Urmenschen zu schreiben. Fuhlrott und sein Mitstreiter, der Bonner Anatom Hermann Schaaffhausen, aber nahmen kein Blatt vor den Mund: Der Neandertaler war eine Menschenart und bewies, dass es eine menschliche Entwicklungsgeschichte gegeben haben musste.
Auf Fuhlrott, Schaaffhausen und den Neandertaler hagelte Widerspruch herab. Gegner der Evolutionslehre konterten mit haarsträubenden Erklärungen für die seltsame Form der Knochen. Einen „Kosaken“ erkannte der Anatom Franz Josef Mayer, der die geschwungenen Oberschenkelknochen als Berufskrankheit eines Kavalleristen interpretierte. Auch für die starken Überaugenwülste hatte Mayer eine Erklärung. Wegen einer schmerzhaften Armverletzung – die das Neandertalerskelett tatsächlich aufwies – habe der Reiter ständig die Stirn runzeln müssen. Daraus seien im Laufe der Zeit die Knochenbögen auf der Stirn entstanden, meinte Mayer.
Alles Sträuben nutzte nichts. Der Neandertaler bewies, dass der Mensch eine Entwicklung durchlaufen hatte und nicht – perfekt geformt mit Feigenblatt – dem Garten Eden entstiegen war. Im Gegenteil, die rekonstruierte Gestalt des Homo neanderthalensis erinnerte die Zeitgenossen an ein Gruselkabinett: klein und stämmig, muskelbepackt und rundbeinig, mit Augenwülsten, einer flachen Stirn und großen Nasenöffnungen. Mancher Zeitgenosse Fuhlrotts fühlte sich persönlich beleidigt, wenn jemand behauptete, so sähe ein naher Verwandter aus.
Die Neandertaler waren blasse Gestalten. Gerade eine Menschenart, die sich im eiszeitlichen Mitteleuropa entwickelt hatte, musste einen hellen Teint haben. Noch heute sind Hellhäutige in Gegenden mit geringer Sonneneinstrahlung im Vorteil, da ihre Körper mehr Wärme aufnehmen können. Beim Auftreffen von Sonnenstrahlen produzieren die Hautzellen den dunkelbraunen Farbstoff Melanin, der als Lichtschutz dient. Ist die Haut der Sonne längere Zeit nicht mehr ausgesetzt, wandert das Melanin in die oberen Hautschichten und verschwindet nach einiger Zeit. Der Körper stellt sich wieder auf eine geringere Dosis Sonnenlicht ein.
Im Kontrast zu den bleichen Neandertalern werden die ersten Cro-Magnon-Menschen dunkelhäutig gewesen sein. Diese frühen Vertreter der Gattung Homo sapiens wanderten aus Afrika und dem Nahen Osten ein, wo sie jahrtausendelang unter greller Sonne gelebt hatten. Die Pigmentzellen ihrer Haut lagen vermutlich schon von Geburt an dichter beieinander als bei den Neandertalern. Noch heute tragen die Menschen rund um den Globus die Spuren klimatischer Anpassung. Sie sind nicht allein in der Hautfarbe erkennbar. Auch die Beschaffenheit der Haare oder die Körpergröße sind von Bedeutung, wenn es um Anpassung an Kälte oder Hitze geht.
Das zeigt sich am Körperbau der Neandertaler, der sich durch Knochenfunde rekonstruieren lässt. Mit durchschnittlichen 1,65 Metern reichte ein Homo neanderthalensis einem gleichzeitig lebenden Homo sapiens bis ans Kinn. Was sie an Größe vermissen ließen, glichen sie durch Gewicht aus. 80 Kilogramm haben die Neandertaler im Durchschnitt auf die Waage gebracht. Mit ihren kleinen, aber kompakten Körpern waren die Eiszeitjäger bestens an ein Leben am Rand der Gletscher angepasst. Je weniger Oberfläche ein Körper hat, umso weniger Wärme gibt er nach außen ab. Die heutigen Bewohner der arktischen Erdregionen sind aus demselben Grund von kleinem Wuchs. Derartige Beobachtungen im Tierreich haben sogar zu einer wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit geführt, der Allen-Regel. Sie besagt, dass die Größe von Extremitäten wie Ohren oder Schwanz von der Temperatur des Lebensraums abhängig ist. Der Wüstenfuchs hat große Ohren und lange Beine, beim Polarfuchs sind beide hingegen klein.
Ebenso stapften die Neandertaler klein, aber kraftvoll durch die Mammutsteppen Mitteleuropas. Während Homo sapiens in Afrika zu einem grazilen, hoch aufgeschossenen Menschen herangewachsen war, hatten sich die Vettern in Europa zu kleinen Typen mit robuster Statur entwickelt. Ihre Oberkörper waren rund und breit, ihre Muskulatur fest und üppig. Da es an überschüssiger Nahrung wohl meist fehlte, wird Fettansatz selten gewesen sein. Gleichwohl mögen Neandertaler diese als natürlichste Form der Vorratshaltung begrüßt haben. Wer dick war, war glücklich.
Hände wie Schraubstöcke, Arme wie Säulen und mächtige Schultern – der Neandertaler war der Herakles des Eiszeitalters. Noch heute sind auf fossilen Schulterblättern rillenartige Vertiefungen erkennbar. Solche Rillen entstehen, wenn eine große Masse Muskeln an einer entsprechend großen Fläche Knochen befestigt werden muss. Auch an den Schulterknochen moderner Leistungssportler sind solche Riefen erkennbar. Im Gegensatz zur antrainierten Muskelmasse des Homo sapiens aber war der Neandertaler von Natur aus ein Kraftpaket. Das zeigen Skelette von Neandertalerkindern, die schon in jungen Jahren Riefen auf den Schulterblättern aufwiesen. Auch der übrige Knochenbau deutet darauf hin, dass die Kraft der Eiszeitjäger nicht erst durch muskelbildende Aktivitäten entstand, sondern angeboren war. Die Schäfte der Knochen waren kürzer und kompakter als beim modernen Menschen, die Gelenkenden waren massiver und hielten größere Belastungen aus. Hinzu kommt, dass die Knochen sämtlicher Gliedmaßen starke Wände hatten und dadurch nicht so leicht brachen. Ob sich Neandertaler und Homo sapiens auf geistigem Gebiet ebenbürtig waren, lässt sich nicht mehr feststellen. In Sachen Körperkraft aber waren die kleinen Europäer den aufgeschossenen Einwanderern aus Afrika haushoch überlegen.
Das Vorurteil, unsere Vettern aus der Eiszeit seien dumpfe, mit der Keule um sich schlagende Grunzer, hat bis heute überlebt und dem Neandertaler einen Platz im Sammelsurium moderner Schimpfworte gesichert – zu Unrecht. Schon das Wenige, was über den Eiszeiteuropäer bekannt ist, lässt staunen. Als erste Menschenart bestattete der Neandertaler seine Toten. Damit bewies er, dass sich im Geist des Menschen ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit des Individuums entwickelt hatte – nach einer gängigen Theorie der Auslöser für kulturelle Äußerungen. Die gab es. Zwar ist monumentale Eiszeitkunst, wie sie der Homo sapiens später in Höhlengalerien anfertigte, vom Neandertaler nicht überliefert. Doch auch der Mensch mit den Augenwülsten legte ein ästhetisches Empfinden an den Tag, überliefert in besonders schönen Rohlingen für Steinwerkzeuge oder winzigen Skulpturen, die jedoch für heutige Betrachter kaum als solche erkennbar sind.
Auch Musik mag bereits in der kühlen Luft der Eiszeit gelegen haben, als der Neandertaler noch in Europa lebte. Überliefert ist eine Flöte aus einem Bärenknochen, auf der sich Töne der diatonischen Tonleiter spielen ließen. Wie do, re, mi wird es trotzdem nicht durch die pleistozäne Nacht geklungen haben. Vermutlich dienten Flöten dazu, Lockrufe zu imitieren. Ob sich aus diesem Überlebenswerkzeug ein musikalisches Instrument entwickelt hat, bleibt vorerst Spekulation.
Das archäologische Inventar der Neandertaler füllt die Magazine der Bodendenkmalämter und Museen und weist den Eiszeitexperten als erfindungsreichen und feinsinnigen Gesellen aus. Eine Keule hingegen ist bislang nicht gefunden worden.
Wenn ein Mensch so viele Fähigkeiten an den Tag legt, um in einer unwirtlichen Umwelt überleben zu können, wieso stirbt er plötzlich aus?
150 000 Jahre lang behaupteten sich die Neandertaler in Europa. Warmzeit, Eiszeit, wilde Tiere konnten ihnen nicht ans Leder. Sie hielten zusammen, pflegten die Alten und Kranken, kannten die besten Schlupfwinkel und die reichsten Jagdgründe. Sie waren Genies ihrer Tage, klug und kräftig. Dann, vor etwa 30 000 Jahren, verschwanden sie. Zu dieser Zeit hatte sich Homo sapiens in Europa ausgebreitet. War der anatomisch moderne Mensch der Mörder seines robusten Vetters?
Im Kreuzverhör der Archäologen macht Homo sapiens keine gute Figur. Der schlanke Schwarze aus Afrika erreichte Mitteleuropa vor etwa 40 000 Jahren. 10 000 Jahre später waren die Neandertaler verschwunden. Die Indizien sprechen für gewaltsame Verdrängung, für die Überlegenheit einer Menschenart und die Flucht oder Vernichtung einer anderen. Der Fund von über 800 Knochenteilen bei Krapina ließ Anfang des 20. Jahrhunderts das Gerücht entstehen, Neandertaler und Homo sapiens hätten sich dort die letzte Schlacht eines Jahrtausende währenden Krieges geliefert, aus welcher der anatomisch moderne Mensch als Sieger hervorgegangen sei. Aber die Menschenschlacht von Krapina war bloß Fantasie einer kriegslüsternen europäischen Gesellschaft, die sich 14 Jahre später mit dem Ersten Weltkrieg selbst ein Mahnmal setzen sollte. Bei Krapina aber hatte Homo sapiens noch nicht die Hand im Spiel. Die dort entdeckten Knochen der Neandertaler waren 130 000 Jahre alt. Zu dieser Zeit hatte der moderne Mensch den Weg nach Europa noch nicht gefunden.
Die Wege beider Menschenarten werden sich vermutlich nur selten gekreuzt haben. Als Homo sapiens nach Europa kam, lebten im gesamten eisfreien Raum nur etwa 250 000 Neandertaler – nach einer Theorie der Populationsgenetiker des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig könnten es sogar nur 10 000 gewesen sein. Die optimistischere Schätzung vorausgesetzt, lebten damit in Deutschland, Frankreich, Spanien und auf dem Balkan so viele Menschen wie heute in einer Stadt von der Größe Aachens. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die kleinen, umherziehenden Sippen begegnet sind, erscheint gering, eine systematische Unterdrückung und Vertreibung der Neandertaler durch Homo sapiens unmöglich. Chris Stringer, Anthropologe am Londoner Naturkundemuseum, hält die Gewalthypothese für überholt: „Die jüngsten Behauptungen, dass wir die Neandertaler ausgebeutet, erstochen und in einigen Fällen sogar gegessen haben sollen, sind ohne bessere Daten nicht haltbar. Angesichts der kleinen Populationen haben sich die Gruppen gar nicht so häufig getroffen.“
In der Eiszeit waren Menschen selten, Fortpflanzung war ein Problem. Die Neandertaler erreichten ein Alter von höchstens 40 Jahren, die Kindersterblichkeit war hoch. Ohne Nachkommen war die Sippe verloren. Jüngere mussten sich um Ältere kümmern. Der Fürsorgefall von Shanidar, bei dem ein Mann trotz einer Verletzung viele Jahre überlebte und ein für die damalige Zeit hohes Alter erreichte, oder der Alte von La Chapelle-aux-Saints sind Zeugen dieses Pflegesystems. Auch die außergewöhnlich vielen und sorgsam angelegten Kindergräber der Neandertaler zeigen, wie wichtig der Nachwuchs für die Familie war – und wie tragisch ihr Verlust empfunden wurde. Innerhalb einer Sippe aber waren der Fortpflanzung natürliche Schranken gesetzt. Frisches Blut von anderen Clans muss lebenswichtig gewesen sein. Neandertalersippen mögen sich getroffen und Frauen getauscht haben, um die nächste Generation zu sichern, eine Praxis, die noch heute bei Wildbeutergesellschaften zu beobachten ist. Doch dazu mussten andere Neandertaler in Reichweite gewesen sein. Bei 250 000 Menschen, die auf Millionen Quadratkilometern verteilt waren, waren Treffen, selbst wenn sie geplant gewesen sein sollten, ein Glücksfall. Als Homo sapiens kam, schlugen beide Menschenarten dem Zufall ein Schnippchen.
Statt sich gegenseitig umzubringen, mögen die Arten ihre Chance im Gegenteil erkannt haben. Homo sapiens und Neandertaler vermischten sich. Einige Forscher wollen Liebesbeweise gefunden haben. Ein bei Lagar Velho in Portugal entdecktes Kinderskelett trägt den Schädel eines Homo sapiens, hat aber die Beine eines Neandertalers. Mit einem Kiefer aus den Karpaten kaute einst ein Homo sapiens, die Lücke zwischen Zähnen und Kiefer aber steuerte der Neandertaler bei. Ein Skelett aus Usbekistan gehörte einem Neandertaler, hatte aber keine Überaugenwülste. Auffällig ist, dass alle diese Funde aus der Zeit stammen, in der Homo sapiens bereits in Europa lebte. Aus früheren Tagen sind Hybride nicht bekannt.
Allerdings: Die Genetik konnte Homo sapiens und Homo neanderthalensis kein Schäferstündchen nachweisen. Der deutsche Paläogenetiker Matthias Krings wagte 1996 ein Aufsehen erregendes Experiment: die Suche nach menschlicher Erbsubstanz in den Knochen eines Neandertalers. Was Krings fand, war ein langes DNA-Teilstück, das er mit den bekannten Erbinformationen des modernen Menschen verglich. Das Ergebnis war erstaunlich: Neandertaler-DNA weicht in 27 Positionen vom Erbgut des Menschen ab, der heute die Erde bevölkert. Die anatomisch modernen Menschen untereinander, Negride, Mongolide, Europide, Australide und andere, sind sich nur in acht Positionen ungleich. Damit scheint das Mitwirken des Neandertalers an der Menschwerdung ausgeschlossen. Unsere Gene sind neandertalerfrei.
Chris Stringer: „Es gibt zwar keine Indizien in der mitochondrialen DNA, dass sich Menschen und Neandertaler vermischt haben. Aber es könnte möglich sein, dass es eine solche Verbindung in der Zeit von vor 30 000 Jahren gegeben hat. Die Belege dafür könnten verschwunden sein, als der Höhepunkt der letzten Eiszeit viele Populationen auslöschte.“ Im Mai 2011 widerlegte sich die Molekularbiologie selbst. Durch den Einsatz neuer Technologien war es in der Zwischenzeit möglich geworden, das Neandertaler-Genom komplett zu entschlüsseln. Weitere Testreihen erlaubten einen tieferen Blick in die Gene der Neandertaler als jemals zuvor. Die Erkenntnis: Der moderne Mensch könnte ein bis vier Prozent seiner Gene vom Neandertaler geerbt haben. Doch auch diese Erkenntnis ist nicht unangreifbar. Ian Tattersall, Anthropologe am American Museum of Natural History in New York, meint: „Wie auch immer solche Untersuchungen ausfallen, es gibt keinen Beweis für eine biologische bedeutsame Vermischung zwischen Neandertalern und modernen Menschen. Verschiedene Kreaturen, verschiedene Spezies.“
Wenn nicht der Mensch dem Menschen ein Wolf war, warum ging der Neandertaler dann unter? Anpassung hat ihre Grenzen. Die Neandertaler waren in der Eiszeit zu Hause und mit der Witterung vertraut. Ihre Körper hatten sich auf immer härtere Winter und immer kühlere Sommer eingestellt. Dann schlug das Klima Kapriolen.
Die Welt der Jäger veränderte sich. Klimaforscher gingen lange davon aus, dass das Thermometer mal rascher, mal langsamer, aber kontinuierlich fiel, bis das Kältemaximum vor etwa 17 000 Jahren erreicht war. Einen linearen Temperatursturz hätten die Neandertaler vielleicht kaltblütig ertragen. Aber der Fall lag anders. 2004 verglich ein Team aus Archäologen, Anthropologen, Geologen und Klimakundlern Eisproben aus Grönland mit fossilen Knochenfunden und Pflanzenpollen. Ergebnis: Zwischen 50 000 und 30 000 Jahren vor heute wechselten sich Warm- und Kaltphasen der Eiszeit 18 mal ab. Das bedeutet rechnerisch alle 1100 Jahre einen Sprung von einem Klimaextrem ins andere. Kaum war der Organismus von Mensch und Tier auf Kälte geeicht, kehrte die Wärme nach Europa zurück. Der Körper der Neandertaler war im Dauerstress. Die Sippen mögen vor Hitze in die Berge und vor Kälte in die Täler geflüchtet sein. Nach einigen Generationen in der neuen Umgebung hatten sie sich auf das Verhalten der Jagdtiere eingestellt, waren mit den Rohstoffen vertraut und kannten Wind und Wetter – schon mussten sie ihr Revier wieder aufgeben und lernen, in einem anderen zu überleben. Solchen Anforderungen war Homo neanderthalensis nach Ansicht einiger Wissenschaftler auf Dauer nicht gewachsen.
Und Homo sapiens? Er hatte, kannte und konnte. Faustkeile und Levalloisklingen entwickelte der anatomisch moderne Mensch zu winzigen Mikrolithen weiter. Er stapelte Felsen und schuf kurz nach dem Ende der Neandertaler die ältesten Steinbauwerke der Welt. Er schnitzte Skulpturen aus Stein und bemalte die Wände seiner Höhlen. Sogar mit seiner dunkleren Haut mag der Einwanderer aus Afrika im Vorteil gewesen sein. In Zeiten, in denen sich die Ozonschicht der Erde durch die Gase aktiver Vulkane und hydrothermaler Quellen verringerte, stand der Neandertaler wegen seiner hellen Haut ungeschützter in der stärkeren UV-Strahlung als sein dunkelhäutiger Vetter.
Homo sapiens scheint demnach der einfallsreichere Mensch gewesen zu sein. Aber der Schein trügt. Im Labor des anatomisch modernen Menschen herrschte erst Hochbetrieb, als der Neandertaler bereits ausgestorben war. 80 Prozent aller Höhlenmalereien brachten Steinzeitkünstler vor 17 000 bis 12 000 Jahren an – 10 000 Jahre nach den Neandertalern. Revolutionäre Waffentechniken wie Speerschleuder oder Harpune wurden ebenfalls erst spät erfunden. Zuvor aber lebten Homo sapiens und Homo neanderthalensis auf derselben Kulturstufe. Beide Menschenarten begruben ihre Toten, beide nutzten dieselben Jagdstrategien, Werkzeuge und Waffen, beide konnten Musikinstrumente herstellen und kommunizierten mithilfe von Sprache. Eine körperliche oder geistige Überlegenheit des Homo sapiens gegenüber Homo neanderthalensis ist in keinem einzigen Fall erkennbar.
Der Neandertaler war zwar ein Naturtalent mit Wissen, Sprache und Kultur. Was ihm fehlte, war der Sinn für Fortschritt. Für die Neandertaler scheinen einmal entwickelte Ideen in Stein gemeißelt gewesen zu sein. Ihr Werkzeuginventar veränderte sich über Jahrzehntausende nur einmal einschneidend mit der Einführung der Levalloistechnik, einer Methode, Feuerstein zu scharfen Werkzeugen zu schlagen. Horn und Knochen bearbeiteten sie überhaupt nicht, obwohl sie die technischen und geistigen Voraussetzungen dazu mitbrachten. Sie hielten an ihrer fleischhaltigen Kost fest, obwohl Fisch eine Alternative gewesen wäre, als Jagdwild selten wurde. Leben aber bedeutet Entwicklung. Systeme, die auf der Stelle treten, schiebt die Evolution aufs Abstellgleis. Hier kommt der Unterschied zwischen Homo sapiens und Homo neanderthalensis zum Tragen. Den drastischen Klimaschwankungen, die vor 50 000 Jahren einsetzten, hatten die Neandertaler nichts entgegenzusetzen. Sie waren angepasst an eine Welt, deren Veränderungen sie tatenlos mit ansahen, um dann von ihnen überrollt zu werden. Jede Tradition hat ein Verfallsdatum.
Wer war der erste Amerikaner? Als die Wikinger Amerika um 1000 v. Chr. entdeckten, war der Kontinent bereits seit Jahrtausenden besiedelt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Wissenschaft davon überzeugt, die sogenannten Indianer seien amerikanische Ureinwohner, eine Menschenart, die schon immer in der Neuen Welt gelebt habe. Erst die Weiterentwicklung von Darwins Evolutionstheorie und die Forschung an den Wurzeln der Menschheit in Afrika zeigten: Schon die ersten Amerikaner waren Einwanderer. Woher sie kamen und wann sie Amerika erreichten, wusste niemand genau. Bis 1996 ein mutmaßlicher Zeuge aus dem Schlamm des Columbia-River auftauchte. Er war seit fast 10 000 Jahren tot.
Es geht um Politik, Landrechte und viel Geld. Die Frage, wer die amerikanischen Ureinwohner waren und woher sie kommen, beschäftigt die Regierung der USA seit Jahrzehnten. Ursache dafür ist der Besitzanspruch der amerikanischen Stämme auf jene Gebiete, die ihnen im 18. und 19. Jahrhundert durch die europäischen Einwanderer streitig gemacht worden waren. Damals breiteten sich die weißen Siedler mit den Mitteln des Kolonialismus in Nordamerika aus, bisweilen mit Waffengewalt. Heute pochen die in Reservate abgedrängten Eingeborenen auf ihre alten Landrechte. Die entscheidende Frage lautet: Wem gehört das Land wirklich?
Antworten versprechen Sprachforschung und frühgeschichtliche Archäologie. Wissenschaftler beider Disziplinen versuchen seit den 1970er-Jahren herauszufinden, ob der Anspruch der sogenannten Indianerstämme, die Ureinwohner Nordamerikas zu sein, gerechtfertigt ist. Der Linguist Joseph Greenberg untersuchte 1987 alle Sprachfamilien des amerikanischen Doppelkontinents, ausgenommen die Kolonialsprachen Englisch, Portugiesisch und Spanisch. Greenberg fand heraus, dass sich alle in Amerika gesprochenen Zungen auf drei Ursprachen zurückführen lassen: Amerind, Eskimo-Aleutisch und Na-Dené. Für den Linguisten war das ein Beleg für die Theorie, dass Amerika in drei Einwanderungswellen besiedelt worden war. Jede hatte ihre eigenen Sprachwurzeln in die Neue Welt gebracht, alle kamen aus dem Westen.
Zwar stellen sich bis heute viele Kollegen Greenbergs für diese Hypothese taub, Archäologen aber nicken zustimmend. Die Altertumswissenschaftler glauben, anhand von Bodenfunden erkennen zu können, dass Amerika von Asien aus besiedelt worden sein muss, und zwar in drei Wellen. Sprachfetzen, Keramikscherben und Pfeilspitzen aber genügten noch nicht für einen Beweis. Als der Kennewick-Mann kam, warf er alle Theorien über den Haufen.
Als James Chatters dem Kennewick-Mann zum ersten Mal begegnete, glaubte der Anthropologe noch daran, einen ganz normalen Leichnam vor sich zu haben. In dem Eimer, der in Chatters Büro abgegeben wurde, lag ein Sammelsurium menschlicher Knochen: eine Hirnschale, ein Schädel, ein Brustbein, Hüft-, Hand- und Fußknochen. Entdeckt hatten die Überreste zwei Kanufahrer, die bei den Vorbereitungen für ein Rennen buchstäblich über die Knochen im Schlick des Columbia-River gestolpert waren. Der herbeigerufene Leichenbeschauer des Städtchens Kennewick erkannte rasch, dass es sich um einen Fall für die Wissenschaft handelte, und stattete James Chatters einen Besuch ab.
Chatters erkannte, dass er die Überreste eines Mannes im mittleren Alter vor sich hatte. Zusammen mit dem Leichenbeschauer entwickelte der Wissenschaftler die Theorie, dass der Tote vermutlich im Flussufer gelegen hatte. Dort hatten Überschwemmungen kurz zuvor zu starken Abbrüchen des Uferbereichs geführt. Vermutlich war die Erosion auch schuld daran, dass das Skelett aus dem Erdreich gespült wurde. Bis zu diesem Punkt waren die Erklärungen einfach. Aber dann begann der Kennewick-Mann, wie er von nun an genannt wurde, Schwierigkeiten zu machen.
Markante Stirn, gut entwickelter Rand der oberen Augenhöhle, Eckzahngrube – was Chatters aus dem Eimer zog, war der Kopf eines Weißen. Die Knochen waren alt, daran bestand kein Zweifel. Sie hätten zu einem Trapper oder einem Pionier aus dem 19. Jahrhundert gehört haben können. Oder doch nicht? Als Jim Chatters das Gebein näher untersuchte, werden ihn Zweifel und eine gewisse Unruhe befallen haben.
Zunächst ließen die Zähne den Anthropologen stutzen. Sie waren flach gekaut – ein typisches Merkmal amerikanischer Ureinwohner. Deren Methoden, Getreide zu mahlen, waren bis zur Ankunft der Europäer und darüber hinaus steinzeitlich und lieferten ein grobes Mehl, das die Zähne abschliff. Die eigentliche Sensation aber war die Spitze eines Speeres, die im Hüftknochen steckte. Ein Vergleich mit der Typologie von Speer- und Pfeilspitzen ergab, dass diese Form steinerner Spitzen nur in Australien und Neuguinea verwendet wurde. Wie passte das zusammen? Entweder war der Kennewick-Mann ein Siedler des 18. oder 19. Jahrhunderts, der sein Glück zunächst in Australien versucht hatte und dort verwundet worden war, oder es handelte sich um einen ungewöhnlichen Paläoamerikaner. Eine Radiokarbondatierung sollte Aufschluss geben.
Die Untersuchung schoss den Toten zurück in die Vorzeit des nordamerikanischen Kontinents. Die Knochen waren 9300 Jahre alt. Wer war der Kennewick-Mann wirklich? Jim Chatters probierte eine Rekonstruktion. Er fand gebrochene Rippen, eine schlecht verheilte Fraktur des Arms, eine weitere auf der linken Seite der Stirn. Solche Verletzungen gibt es auch in der Gegenwart – sie kommen besonders häufig bei Rodeo-Reitern vor. Für Chatters lag der Fall damit klar. Der Kennewick-Mann war ein Jäger, der im Kampf gegen große Tiere Blessuren davongetragen hatte.
Während ein ganzes Team von Anthropologen noch die Knochen maß, verglich und diskutierte, sorgte der Tote bereits für politischen Wirbel. In einem Interview hatte Jim Chatters gesagt, anhand der Knochenformen schätze er, dass der Kennewick-Mann Kaukasier gewesen sei. Das mochte viel bedeuten. Der in den USA gebräuchliche Begriff „Kaukasier“ bezeichnet Angehörige einer Menschenart, die heute in weiten Teilen der Welt verbreitet ist. Kaukasier leben in Nordafrika, Europa, West-Asien und Indien. Zwar gilt die Einteilung heute als fragwürdig, im allgemeinen Sprachgebrauch ist sie aber noch immer zu finden – ausreichend Zündstoff für ein Missverständnis mit Tragweite.
Die Entdecker und Erforscher des Kennewick-Mannes mögen ihren Augen nicht getraut haben, als sie im Fernsehen Berichte sahen, nach denen der Kennewick-Mann aus Westeuropa gekommen sein sollte. Auch die US-Zeitungen verbreiteten die Sensationsmeldung, der erste Nordamerikaner sei Europäer gewesen. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Die seit den 1960er-Jahren geltenden Abmachungen zwischen amerikanischen Ureinwohnern und der US-Regierung über die Verteilung von Land gerieten ins Wanken. Wenn der erste Amerikaner tatsächlich Europäer gewesen sein sollte, dann – so die Schlussfolgerung von US-Lobbyisten – waren die sogenannten Indianer nicht die Ureinwohner Amerikas. Folglich sollte auch ihr Anspruch auf Landrechte juristisch geprüft werden. Die Stämme in Nordamerika reagierten darauf mit der Forderung, die Leiche sei als ihr Vorfahre zu betrachten, gehöre ihnen und sollte nach ihrer Tradition bestattet werden, weitere Untersuchungen seien zudem ausgeschlossen.
In diesem Durcheinander versuchten die Anthropologen kühlen Kopf zu bewahren. Während der Kennewick-Mann ein Gericht in Portland, Oregon, auf Trab hielt und die Richter die Knochen zunächst den Ureinwohnern zusprachen, dann wieder für die Wissenschaft freigaben, kramten die Forscher bereits emsig in den Magazinen der US-amerikanischen Museen. Dort lagerten Knochen der nordamerikanischen Steinzeit, genug Vergleichsmaterial, um die Spuren des rätselhaften Toten vom Columbia-River nachzeichnen zu können – so hofften die US-Forscher. Sie hefteten sich an die Fersen des vermeintlich ältesten Amerikaners.
Die erste Hürde war die Beringstraße. Einer alten Theorie zufolge soll der amerikanische Kontinent von Sibirien aus besiedelt worden sein. Findige Frühmenschen kamen, so das gängige Modell, während der letzten Eiszeit vor etwa 15 000 Jahren über die Beringstraße, der Meerenge zwischen Asien und Amerika, in der Neuen Welt an. Dazu mussten sie weder schwimmen noch Boote bauen. Während der Eiszeit war so viel Wasser in den gewaltigen Gletschern auf dem Globus gebunden, dass der Meeresspiegel erheblich sank. Teile der Beringstraße ließen sich zu Fuß überqueren. Auf der Fährte der Mammutherden erreichten Jägersippen des Homo sapiens zunächst Alaska und breiteten sich in der Rekordzeit von nur wenigen Tausend Jahren bis nach Feuerland aus. Die ersten Amerikaner wären diesem Modell zufolge Asiaten aus Sibirien.
Wie passte das zu der vermutlich südpazifischen Herkunft des Kennewick-Mannes? Vermutlich gar nicht, fanden die US-Anthropologen heraus. Wenn der Tote vom Columbia-River tatsächlich aus der Südsee gekommen war – und darauf deutete die Speerspitze ebenso hin wie die Form seiner Knochen – könnte er Teilnehmer einer Expedition gewesen sein, die mit dem Boot von Polynesien aus die amerikanische Küste erreicht hatte. Thor Heyerdahl hätte sich gefreut. Die Kon-Tiki fuhr rückwärts.
Hypothesen aber gibt es wie Sand am Meer. Ein anderes Modell beschreibt Fischer des Südpazifiks, die sich entlang der asiatischen Küste nach Norden ausbreiteten, über die Beringstraße schipperten und mit ihren Booten die Küste des amerikanischen Doppelkontinents bis Feuerland hinabfuhren. Damit wäre die verhältnismäßig rasche Besiedlung Südamerikas erklärt. An einen Dauerlauf der Mammutjäger von Süd- nach Nordamerika will bislang kein Anthropologe glauben.
Kopfarbeit leistete 2001 ein Forscherteam der Universität von Michigan. Die Wissenschaftler um den Anthropologen Loring Brace untersuchten 2000 menschliche Schädel. Die Knochen waren zwischen 100 und 10 000 Jahre alt und stammten aus Amerika, Asien und Europa. Brace maß die Länge und Breite jedes Schädels, Länge und Höhe des Nasenknochens, die Breite der Wangenknochen, die Breite der Augenhöhlen und einige weitere Charakteristika. Anschließend verglich der Forscher die Daten und stieß auf eine überraschende Übereinstimmung. Große Ähnlichkeit wiesen die Knochen einiger prähistorischer amerikanischer Schädel mit solchen aus der frühgeschichtlichen Jomon-Kultur auf. Diese Gruppe gehörte zur Jungsteinzeit in Japan. Die Theorie aus Michigan lautete daher: Vor etwa 200 000 bis 170 000 Jahren erreichten Einwanderer aus Europa Asien und besiedelten Japan. Vor 15 000 Jahren wanderten dann die Jomon von Japan aus über die trockengefallene Beringstraße nach Nordamerika ein. Auch der Kennewick-Mann, den Loring Brace nach derselben Methode vermaß, gehört nach Ansicht des Forschers zur Jomongruppe und hatte japanische Vorfahren. Die frühen Japaner aber sind nicht identisch mit jener Ausprägung der Mongoliden, von denen sich die heutigen amerikanischen Ureinwohner ableiten lassen. Demnach gab es eine zweite Auswandererwelle, die vor etwa 5000 Jahren per Schiff von Asien nach Amerika erfolgt sein soll. Zu dieser Zeit lebten auf dem amerikanischen Doppelkontinent vielleicht nur noch wenige Nachkommen der ersten Einwandererwelle. Ob sich die Gruppen jemals begegnet sind, ob sie sich vermischt oder bekämpft haben, davon erzählen die Knochenfunde nichts.
Das Modell aus Michigan hat Schattenseiten. Die vielleicht größte ist die Vergangenheit der sogenannten Kraniometrie, der Vermessung von Schädelmerkmalen. Die Nationalsozialisten missbrauchten das Verfahren für rassistische Zwecke, in Europa ist es seither diskreditiert. Selbst dort, wo es zu Forschungszwecken herangezogen wird, sind die Ergebnisse so zweifelhaft, dass sie eher als Vermutungen gelte, denn als Erkenntnisse mit wissenschaftlichem Fundament. Der Kennewick-Mann bleibt ein Rätsel.
Die Wahrheit über den amerikanischen Ureinwanderer liegt in seinem Erbgut verborgen. Eine Verwandtschaft mit heute lebenden Menschen auf anderen Erdteilen lässt sich mit den aktuellen Methoden der Genetik und der Molekularbiologie dingfest machen. Das gilt auch für den Kennewick-Mann. Doch der Tote vom Columbia-River machte den Molekularbiologen einen Strich durch die Rechnung.