C.H.BECK
«Ich würde ja gerne», sagt der Erzähler in Jochen Schmidts Titelgeschichte, «die letzten 30 Jahre meines Lebens damit verbringen, mir die ersten 30 Jahre als Film anzusehen», auch weil seine erste Freundin immer meinte, mit 30 bereits tot sein und niemals Kinder haben zu wollen. Jetzt hat sie ein Kind und wundert sich, daß sie sich bei der Wiederbegegnung nach 13 Jahren umarmen, weil das doch immer die Wessis machen. Aber der Ich-Erzähler möchte nicht tot sein, sondern endlich eine Duschkabine besitzen. Und er möchte ein richtiges Schriftstellerleben führen, wenn er nur wüßte, wie das geht – es gibt ja so viele Vorbilder.
In ihrer Genauigkeit, Gegenstandsverliebtheit, Anhänglichkeit und Komik liefern die neuen Geschichten und Einlassungen von Jochen Schmidt so etwas wie diesen Film der ersten 30 Jahre, retten, was verlorengegangen ist, und verheddern sich in nicht enden wollender, komischer Grübelsucht – nicht nur in Fragen eines richtigen Schriftstellerdaseins.
Das von Jochen Schmidt kann so falsch nicht sein, wenn dabei immer wieder so wunderbar lustige und eigensinnige Geschichten entstehen.
Jochen Schmidt ist 1970 in Berlin geboren und lebt dort. Er liest jede Woche in der Chaussee der Enthusiasten, hat bei C.H.Beck die Erzählbände Triumphgemüse (2000) und Meine wichtigsten Körperfunktionen (2007) sowie die Romane Müller haut uns raus (2002), Schneckenmühle (2013) und, gemeinsam mit Line Hoven, Schmythologie(2013) veröffentlicht. Zuletzt u.a. Schmidt liest Proust, Dudenbrooks und, gemeinsam mit David Wagner, Drüben und Drüben. Außerdem gibt es von Jochen Schmidt die Gebrauchsanweisungen für die Bretagne und Rumänien. Er schreibt für die SZ, FAZ, taz und andere Zeitungen. 2014 war Schneckenmühle in Köln das «Buch für die Stadt».
Der Wächter von Pankow
Briefmarken aus Israel
Dallmayr Prodomo
Proust-Hörbuch
Mir passiert immer etwas
Refugium der Erfolglosen
Gebrauchsspuren
Doppelfenster
Der Tag, an dem ich älter werde
Love in Beijing, love in China!
Toccata d-moll
Manche Mädchen haben keine Medienkompetenz
Im Wiener Naturhistorischen Museum
Karen Duve
Männerjahre
Der Schmerz in den Dingen
Rumänien, Hunger nach der Totalität
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Drei Jahre FAZ
Momentaufnahme, 11.5.08, Berlin, Prenzlauer-Berg
Mein linker, linker Platz ist leer
Das hast du mir schon mal erzählt
Läuterungsberg
Die wütende und tobende Freundin
Gesetzesbrecher
Mich fragt ja keiner
Ulysses
Kurzbiographie
Gentrifizierung meiner Wohnung
Verweichlichung wider Willen
Mein 9. November
Gespräche mit Fritzchen
Die Schönheit der uns zugewandten Seite
Wunder
Vom Sinn unseres Lebens
Wir hatten uns in der Wendezeit kennengelernt, Pankow war unser Zuhause gewesen, in meiner Erinnerung war dort immer Herbst, und man fuhr mit dem Fahrrad durch Berge von Laub, verfolgt von einer quietschenden, gelben Straßenbahn. Ich war 19, ein Alter, in dem man Mädchen von der Schule abholt, ohne daß es die eigenen Töchter sind. Und obwohl uns nur zwei Jahre trennten, blieb mir auch später das Gefühl, wesentlich älter als sie zu sein, weil ich sie so lange im Haus ihrer Eltern besucht hatte. Es zog uns immer in die hintersten Winkel verwilderter Friedhöfe, wo man kein Auto mehr hörte und vor der Gegenwart sicher schien, deren Einfluß man ausschalten mußte, um schreiben zu können. Wenn man die vergessenen, überwucherten Gräber besuchte, fühlte man sich irgendwie bedeutend. Vielleicht würde einem hier eines der sechs guten Gedichte einfallen, zu denen laut Gottfried Benn jeder im Leben nur fähig war. Auf dem Heimweg leisteten wir uns beim Bäcker ein Stück Plunder und aßen es vorsichtig auf, damit nichts herunterfiel, als letztes den Marmeladenfleck. Endlich waren wir erwachsen und konnten uns beim Bäcker kaufen, was wir wollten. Weil wir kaum Geld hatten, waren wir immer unterwegs, man fuhr weite Wege, um den billigsten Döner zu finden, einen Gutschein einzulösen oder die Grabbelkisten der verschiedenen Antiquariate durchzusehen. Mein Studium und ihr Abitur waren nur Fassade, in Wirklichkeit machten wir eine Geheimausbildung zum Schriftsteller, indem wir in den Biographien der bewunderten Autoren Belege für unsere Berufung suchten. Was sollte man schreiben? Und wie sollte man dafür leben? Sollte man auf sich achten oder lieber verwahrlosen? Eigentlich gehörte es sich nicht, gesund zu sein, wenn man schreiben wollte, aber da Musil beim Hantelnstemmen gestorben war, war Sport vielleicht doch erlaubt? Wir widmeten uns gegenseitig Texte und studierten sie mit großem Ernst, denn wir waren ja die Erstleser dieser Originalmanuskripte. Für das Festhalten an seinen künstlerischen Idealen mußte man bereit sein, ein Leben in Armut zu führen, aber man brauchte ja nur ein Zimmer, und die Kleidungsstücke aus der Jugendzeit paßten noch. Oder sollte man doch zu Ende studieren, um wirtschaftlich unabhängig zu sein und noch kompromißloser schreiben zu können? Meine Mutter wollte, daß ich eine Lehre bei der Bank machte: «Einen Roman kannst du auch noch schreiben, wenn du pensioniert bist.» Aber ich wußte, daß das außer Fontane kaum einem gelungen war, es gab Gesetzmäßigkeiten, denen man sich nicht entziehen konnte, und wie kam sie überhaupt darauf, daß ich schreiben wollte? So etwas Peinliches hätte ich nie zugegeben.
Es zählte nur, was die Schriftsteller sagten, die vielen toten und die lebenden, die wir wie Tote verehrten und an denen wir jeden menschlichen Zug mißtrauisch registrierten, weil wir keinen Widerspruch zwischen Leben und Schreiben akzeptierten. Im Leben eines Autors gab alles Hinweise auf sein Werk. Für uns waren sie Orakel, Denker, bei denen man auf alle Fragen, die sich die Menschheit stellte, am ehesten eine Antwort fand, man konnte sich nicht vorstellen, daß sie auch aßen und schliefen. Und wenn irgendein Autor Erdbeeren mit Schlagsahne mochte oder abends Star Trek sah, dann war das für uns eine Sensation. «… und junge Menschen, denen an den wesenhaften Inhalten des Lebens gelegen ist, halten darum anfangs alles auf der Welt, was weder wahr noch gut, noch schön ist […] für nebensächlich», schrieb Musil. Und im Umkehrschluß war eben alles bedeutsam, was jemand machte, der so etwas Wahres, Gutes und Schönes produzierte wie ein Autor.
Jeder Autor lieferte ein anderes Beispiel dafür, wie man leben und schreiben mußte, dabei widersprachen sie sich, es gab Nachtschreiber und Tagschreiber, Stubenhocker und Spaziergänger, Einzelgänger und Familienmenschen, Lyriker und Romanautoren, Schreibmaschinenarbeiter und Bleistiftkritzler, Raucher und Nichtraucher, Asketen und Suchttypen. Ich studierte zwar Informatik, aber ich besuchte lieber ein Robert-Musil-Seminar, weil es mich reizte, daß er sowohl Wissenschaftler als auch Autor war, oder Autor, obwohl er auch Wissenschaftler war. Das bewies für mich, daß die Wissenschaft eben nicht ausreichte, wenn man nach Erkenntnis strebte. Die Wissenschaftler, die das nicht sahen, waren auf dem Holzweg, ihre Werke würden nicht überdauern, und es ging immer darum, das für diesen Moment Entscheidende zu schreiben, auch wenn es erst in 100 Jahren verstanden würde. War die Poesie nicht eine Sprache höherer Ordnung? Der einzige Weg, überhaupt erfolgreich zu kommunizieren? Wo war überhaupt der Unterschied zwischen Poesie und Philosophie? Unter den Kursteilnehmern raunte man sich zu, daß in der Figur der Clarisse aus dem «Mann ohne Eigenschaften», die später im Buch an Schizophrenie erkrankte, ein Denken jenseits der aristotelischen Logik durchgespielt würde, die ja zum Kapitalismus und in letzter Konsequenz zum Faschismus geführt hatte und deshalb für uns nicht mehr in Frage kam.
Natürlich gehörten auch Filme zu unseren Forschungsgebieten, die Westberliner Kinos waren aber zu weit und der Eintritt zu hoch, bei uns hatten sie die Preise noch nicht ans dortige, aberwitzige Niveau angeglichen. Das schöne «Lunik» in Wilhelmsruh, zwei Wochen nach dem Mauerbau eröffnet, nicht so groß wie das «International», aber in seiner Eleganz mit ihm verwandt, war ohne Grund abgerissen worden. Das «Tivoli» an der Berliner Straße war unser Wohnzimmer, das nächste erreichbare Kino, wenn man aus Pankow kam. Die Brüder Skladanowsky hatten an dieser Stelle 1895 ihre ersten Filme gezeigt. Schon als Kind, wenn ich aus unserem Neubaugebiet am Stadtrand von Berlin ins Kino fuhr, ging es oft ins «Tivoli». S-Bahnhof Pankow, unter der alten gußeisernen Brücke durch und ein Stück zu Fuß die Straße hoch, in ein mir unbekanntes Altbaugebiet. Louis de Funès in «Der Gendarm von St. Tropez», «Flammendes Inferno» oder «Robinson Junior». Die Siegerehrung für den Stadtbezirksausscheid der Matheolympiade wurde hier abgehalten, mit einer Revue eingeleitet, bei der auf der Balalaika russische Lieder gespielt wurden. Obwohl sogar Wim Wenders dagegen protestierte, wollte eine Immobilienmaklerin, die das «Tivoli» nach der Wende ersteigert hatte, das Gebäude abreißen lassen. Wir konnten es nicht glauben, daß so etwas in einer Demokratie möglich sein sollte. Und es fühlte sich ein bißchen seltsam an, daß Wim Wenders unser Kino kannte, das paßte irgendwie nicht zu ihm und zu uns.
Wir nahmen solche Dinge immer sehr persönlich, es war unser Pankow, das wir eifersüchtig bewachten und wo wir nach einer idealen Wohnung suchten, in der wir es zusammen aushalten könnten, ohne uns dabei wie ein normales Paar zu fühlen. Ein verfallenes Haus in einem Park? Oder ein Turmzimmer unter dem Dach eines Gründerzeitbaus? Was uns gefiel, darauf erhoben wir wie selbstverständlich Anspruch, denn unsere Begeisterung war stärker als bürgerliche Besitzverhältnisse. Wir hielten es mit Beckett: «Diese Bank – wahrscheinlich Eigentum der Stadt oder der Allgemeinheit – war freilich nicht seine, aber er sah sie als seine an. So war Mr. Hacketts Einstellung zu Dingen, die ihm gefielen. Er wußte, daß sie nicht seine waren, aber er sah sie als seine an. Er wußte, daß sie nicht seine waren, weil sie ihm gefielen.» Diebstahl war für uns kein Delikt, denn wir holten uns nur zurück, was uns durch das System genommen wurde. Menschen wie wir waren doch das Herz dieser Gesellschaft, ohne uns wäre sie nur ein totes Gehäuse. Unser Kino sollte verschwinden, was würde als nächstes kommen? Ein befreundeter Künstler hatte eine Skulptur geschaffen, die «Der Wächter» hieß und für die Rasenfläche vor der Pankower Kirche gedacht war, als Schutz für unseren Bezirk, aber das Projekt wurde nicht genehmigt. Wer weiß, wie Pankow heute sonst aussehen würde.
Irgendwann zog sie bei ihren Eltern aus und in eine eigene Wohnung. Hinterhaus, zwei Zimmer, ein Stock drunter ein Alkoholiker, der immer seine Freunde bei sich saufen ließ, die Fenster offen, der ganze Hof hörte mit, wie sie sich anbrüllten. In die winzige Speisekammer baute ein Monteur eine Badewanne ein, ein Luxus, ich hatte bei mir nur ein Waschbecken, für das ich mir aus einer leeren Wohnung einen Boiler klaute. Heiner Müller hatte früher in dieser Gegend gewohnt, in der Zeit, als von ihm jahrelang keine Zeile erschien. Das war in unseren Augen eine privilegierte Phase im Leben jedes Autors, die ihn gegen die Versuchung abhärtete, nach Erfolg zu streben. Erfolg war verdächtig. Man schrieb nicht für seine Mitmenschen, sondern weil man «mußte». Ich hatte aber immer ein schlechtes Gewissen, weil ich dieses Bedürfnis gar nicht so dringend empfand. Ich konnte mich auch nicht darauf konzentrieren, weil ich ständig überfordert war, mit allem, was wir seit der Wende lernen mußten. Beim Fahrradfahren einhändig einen Döner zu essen. Meine neue fünfstellige Postleitzahl. Wie man eine Flasche Wick Medinait aufschraubt. Daß die Dimitroffstraße früher Danziger geheißen hatte. Daß man am Ende meistens die Rautetaste drücken muß. Wie man einen Wohnberechtigungsschein beantragt.
Ich kannte die Gegend, weil hier mein Kieferorthopäde seine Praxis hatte, zu dem ich in den ersten Schuljahren einmal im Monat gefahren war. Der Glasschrank mit den Gebißabdrücken aller Pankower Schüler, die hierherkamen, eigenartig verwachsene Zähne wie bei den Haifischen im Naturkundemuseum. Die Namen standen an den Gipsmodellen, man konnte seiner Angebeteten in ihrer Abwesenheit in den Mund sehen. Mein bester Freund trug auch eine Spange, wir ließen uns den Termin immer auf den Donnerstagmorgen legen, weil wir dann die Musikstunde verpaßten, in der man sonst vorsingen mußte: «Eine Woche Häuserquadern zittern noch in unsern Adern, aber keiner wagt zu hadern, herrlich lacht der neue Tag.» Wir behaupteten, daß kein anderer Termin frei gewesen sei, auch wenn die Lehrerin das nicht glauben wollte. Für eine neue Spange mußte man in eine rote Masse beißen, es schmeckte ein bißchen nach Kaugummi, ein feierlicher Moment, man durfte nicht versagen, denn man hatte nur einen Versuch, die Masse war sehr wertvoll, weil sie aus dem Westen importiert wurde. Wir ließen uns Zeit für den Rückweg und gingen noch zu den Schaukästen mit den Kleinanzeigen, die hier an einer Mauer hingen, in den Anglerbedarf, Senkblei kaufen, falls man doch einmal angeln gehen sollte, aber auch schon, weil das Senkblei so billig war und die Büchse so angenehm schwer in der Hand lag und einen praktischen Spender hatte. Und dann zum Bäcker, Kameruner und Bienenstich. An der großen Hilfsschule, einem düsteren Gebäude wie aus der «Feuerzangenbowle», hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, weil es mir so gutging, daß ich nicht auf so eine Schule mußte. Hilfsschüler hatten große, schwere Hände, und ihr kleiner Bruder, hinter dem sie immer herliefen, war schlauer als sie.
Und jetzt wohnte meine Freundin immer noch hier, und ich hatte tatsächlich vor, sie nach 13 Jahren, die wir nach unserer Trennung zum Durchatmen gebraucht hatten, endlich wieder zu besuchen. Der Eisstand, bei dem es die muschelförmigen Waffeln gegeben hatte, war weg, sie hatten mich immer an die runden Lampen in der S-Bahn erinnert. Auf der Fläche vom Rummel, der hier in einer Häuserlücke Platz gefunden hatte, war ein langweiliges Ärztehaus gebaut worden, irgendwo anders hatte man dafür wahrscheinlich eine Poliklinik abgerissen. Die verschnörkelte, gußeiserne S-Bahn-Brücke war durch eine neue ersetzt worden, die eher zu einer Autobahn gepaßt hätte. Hier hatten wir einmal einen Vormittag lang auf General Jaruzelski gewartet, um ihm zuzuwinken. Ob seine überraschende Popularität bei der Ostberliner Jugend ihn aufgemuntert hat? Wir warteten geduldig, froh, daß dafür der Unterricht ausfiel. Jetzt war der streng riechende Fischladen an der Ecke verschwunden, und an der Stelle vom «Tivoli» stand ein weißer Lidl-Getränkemarkt. Auch der Anglerbedarf hatte zugemacht, man konnte aber noch die Öffnungszeiten an der Scheibe des leeren Geschäfts lesen. Irgendwann hatte ich lernen müssen, mich mit solchen Spuren der Vergangenheit zufriedenzugeben. In Plauen habe ich einmal lange nach einem Musikgeschäft gesucht, in dem ich als Kind in den Ferien immer Schallplatten und blinkende Mundharmonikas bestaunt hatte. Wie groß war die Freude, als ich einen Blumenladen fand, bei dem die Griffe an der Eingangstür Notenschlüsselform hatten.
Neu war auch, daß ich ein Kind auf dem Fahrrad hatte.
Meine Freundin wohnte gegenüber von einem Sportplatz. Hierher waren wir immer mit der Schule zum jährlichen BZA-Lauf gekommen. Die BZA hatte nach der Wende plötzlich Berliner Kurier geheißen und der Bildzeitung Konkurrenz gemacht, dafür hieß jetzt eine Zeitung aus Westberlin BZ, und unsere BZ mußte Berliner Zeitung genannt werden, um Verwechslungen zu vermeiden. Vor dem BZA-Lauf wurde vom Sportlehrer im Umkleideraum ein Sack Turnschuhe ausgeschüttet, und jeder suchte sich ein Paar aus, das er nach dem Lauf zurückgab. An einer Ecke vor dem Sportplatz stand eine Bronzeskulptur mit einem nackten Jungen. Jahre später habe ich mich unglücklich in ein Mädchen verliebt, dessen Vater als Kind für diese Skulptur Modell gestanden hatte, es war sehr kalt gewesen im Keller der Künstlerin. Schon daß ich die Skulptur kannte, lange bevor ich das Mädchen kennenlernte, war für mich ein Beweis dafür, daß wir füreinander bestimmt waren. Sie teilte diese Denkweise nicht.
Die Jungsskulptur war verschwunden, vielleicht von Altmetalldieben geklaut. Ich fand das Haus meiner Freundin nicht gleich, weil in der ganzen Straße die Fassaden renoviert waren und ich mich an die Hausnummer nicht mehr erinnerte. Sie hatte am Telefon gesagt, daß sie immer noch meine Telefonnummer wisse.
Seit meinem letzten Besuch war das Internet erfunden worden und die Digitalfotografie. Gerade waren doch noch Monchhichis modern gewesen! Es gab jetzt Kaugummis mit Aloe-Vera-Geschmack. Die Oberkörper der Nachrichtensprecher waren jedes Jahr ein bißchen größer geworden, manchmal sah man schon ihre Beine, wie bei Bibo. Den Kaffee konnte man jetzt immer zum Mitnehmen bestellen. Ich konnte den Raum hinter meinem neuen Flachbildschirm als Stauraum nutzen. Meine Trainingsjacke von der NVA war zwischenzeitlich modern geworden. Es gab kaum noch Speichermedien, die man umdrehen mußte. Die Fitflasche hatte jetzt oben so einen Knipsverschluß aus Plaste, man mußte nicht mehr die Spitze abschneiden, um anschließend den Plasteschnipsel zu suchen, der immer durch die Küche flog.
Eigenartig, daß sie Mutter war, sie hatte damals verkündet, sich sowieso spätestens mit 30 umzubringen, und nie Kinder zu bekommen, sie begründete das mit Camus. Ich nahm so etwas aber nie sehr ernst. Wenn sie eine Frau sah, die in der Öffentlichkeit ihr Kind stillte, wurde sie wütend über den abstoßenden Anblick. Ich hatte mir darüber noch keine Gedanken gemacht, es ging sowieso alles viel zu schnell, ich kam mit dem Begreifen nicht hinterher. Woher sollte ich wissen, ob ich mit 30 sterben wollte, ich brauchte erst mal eine Duschkabine. Man mußte in den Wedding fahren, um sich in einer Telefonzelle aus dem Branchenbuch Telefonnummern von Westberliner Duschkabinenanbietern rauszuschreiben. So ein Gerät konnte ich aber gar nicht bezahlen. Mein Vater fand es ganz normal, sich mit Waschlappen zu waschen, das habe er als Student auch getan. Es war jedesmal ein so beglückendes Gefühl, bei irgendwem zu duschen, daß ich mir vorstellen konnte, das durchaus länger als 30 Jahre genießen zu wollen.
Nichts ist so friedlich wie ein sauberes Treppenhaus im Hinterhof eines Pankower Mietshauses an einem Sommernachmittag, wenn das Licht durch Reste von bunten Scheiben fällt, die alle Katastrophen überlebt haben.
Man konnte allerdings im Hof nicht mehr um die Ecke gehen, hinter der ein noch größerer Hof mit hohen Bäumen begann, der zu einem anderen Haus gehörte. Seit die große Mauer weg war, waren viele neue Zäune aufgetaucht. Auch hier war ein Zaun gezogen worden, der die Grundstücke voneinander trennte. Dabei waren unser größtes Vergnügen immer Entdeckungstouren durch brachliegendes Gelände gewesen, verlassene Gärten, leerstehende Häuser, herauszufinden, bis wohin man sich durchschlagen konnte. Es war, als suchten wir ständig nach Fluchtwegen, obwohl wir gar nicht verfolgt wurden.
Unsere Kinder mochten sich sofort, weil sie gleich groß waren, das ist so einfach bei Kindern.
13 Jahre war ich nicht in ihrer Wohnung gewesen, unter einer Schicht neuer Objekte lagerte, was ich als Originaleinrichtung empfand. Jede Neuerwerbung war damals für sie ein Ereignis gewesen. Wenn sie auf dem Flohmarkt etwas ergattert hatte, streichelte sie es und sagte: «Das ist was ganz Edles.»
Ich war immer so gerührt, wenn ich mir vorzustellen versuchte, wer wir damals waren. Man müßte das alles noch einmal erleben und diesmal besser auf alles achten. Ich würde ja gerne die letzten 30 Jahre meines Lebens damit verbringen, mir die ersten 30 Jahre als Film anzusehen.
Die neuen Objekte kamen mir wie Fremdkörper vor. Ich fotografierte mit meiner Digitalkamera alles, was ich wiedererkannte. Sie hatte fotografierende Leute immer verachtet, und ich hatte mich nicht getraut, trotzdem Bilder zu machen. Wer fotografierte, sah nicht richtig hin, lautete ihre Doktrin, dabei war das Gegenteil der Fall. Aus ähnlichen Gründen hatte ich es lange für undenkbar gehalten, mir für meine Unterlagen einen Leitz-Ordner anzuschaffen. So ein Gegenstand, der das eigene Leben in eine Akte verwandelte, gehörte nicht in die Wohnung eines Autors.
Ich knipste das Klavierlicht mit dem Richard-Wagner-Kopf an. Die DDR-Bürolampe vom Müll. Die von der Großmutter geerbte Teekanne mit dem praktischen, filzgefütterten Messingmantel: «Das ist was ganz Edles.» Die schön gemusterten Reste vom alten Linoleum im Flur, andere hätten sie herausgerissen. Aber in einer Wohnung mußte man Spuren der verschiedenen Generationen von Vormietern sehen können, ihre Manipulationen an der Substanz mußten einem Rätsel aufgeben, wie bei ägyptischen Grabstätten. Ich vermißte den Blumentopf, den ich ihr einmal zusammengestellt hatte, um sie aufzuheitern. Der sei irgendwann in den Hof runtergefallen. Männer lassen sich so selten etwas Nettes einfallen, daß sie sich ihr Leben lang daran erinnern.
Ich erkannte ihre Bücher wieder, die rote Dostojewski-Ausgabe, die vielen Uwe-Johnson-Bücher, sie sagte immer «Johnsen», wie sie auch unbeirrbar «Schuhrkamp» und «Melanchonie» sagte. Wenn ich sie darauf hinwies, sah sie mich böse an. Fachwissen war das Gegenteil von Poesie. Ich fand das manchmal etwas anstrengend, wußte aber noch nicht, daß nicht alle Mädchen so waren. Sie stand immer im Wettbewerb mit der Menschheit, die ihr andererseits völlig egal war. Vom Schwimmbad fuhr sie auch im Winter mit nassen Haaren nach Hause, um sich gegen Erkältungen abzuhärten.
Ich suchte, wie ich es bei Bekannten heimlich tue, in ihren Regalen nach verschollenen Büchern aus meinem Besitz. Obwohl ich eigentlich längst in einer Lebensphase bin, in der man Bücher aussortiert, statt neue anzuschaffen. Also hier stand meine Ausgabe vom «Mann ohne Eigenschaften»? Zwei dicke Bände, die zweiten tausend Seiten mit dem unveröffentlichten Teil hatte ich damals nicht mehr geschafft. Obwohl es ja gerade darauf ankam, herauszukriegen, an welchem Punkt der Autor aufgegeben hatte, um selbst dort anzusetzen. Daß Musil vor der Beendigung seines Romans gestorben war, zählte nicht als Argument. Wir glaubten fest daran, daß das Werk selbst den Todeszeitpunkt seines Autors bestimmte. Ich blätterte die dünnen Seiten durch und staunte über meine kindlich-krakligen 20 Jahre alten Anstreichungen von Stellen, an die ich keine Erinnerung hatte. Es war, als hätte ich das Buch gar nicht gelesen. Oder hatte der Text in meinem Gehirn für irgendwelche molekularen Veränderungen gesorgt, die mein Handeln und meine Wahrnehmung seitdem prägten, ohne daß es mir bewußt war? «Und bald oder später kommt ein Zeitalter schlichter sexueller Kameradschaft herauf», sagt Ulrich zu Agathe, «wo Knabe und Mädchen einträchtig-verständnislos vor einem alten Haufen zerbrochener Triebfedern stehen werden, die früher Mann und Frau gebildet haben!» War nicht eine der Forschungsrichtungen, die das Buch vorangetrieben hatte, die Liebe gewesen? Hatte Musil nicht literarisch nachgewiesen, daß eigentlich nur eineiige Zwillinge sich wirklich lieben konnten, ohne sich dabei selbst zu verleugnen?
Sie hatte nie aufgehört zu schreiben, erfuhr ich jetzt, und nicht mehr nur Gedichte, sie gab mir ein Manuskript. Sie kümmere sich allerdings nicht ums Veröffentlichen, das sei ihr nicht wichtig. Es drängte sie nicht, einen Platz in der Welt der ihrer Meinung nach minderwertigen Autoren einzunehmen, die im Moment im Gespräch waren und deren Namen sie nicht kannte, oder zumindest gab sie das vor. Bis Seite 50 kam ich selbst in dem Text vor, das fühlte sich seltsam an. Aber noch seltsamer war, daß die eigentliche Geschichte erst danach losging. Eigenartig, ich hatte immer gedacht, nach mir sei das Leben für sie mehr oder weniger zu Ende gewesen.
Sie war damals immer wieder fremdgegangen, weil ihr ein Mann nicht genügte, so viele Liebesbeweise, wie sie brauchte, konnte ihr ein werktätiger Mensch alleine nicht erbringen. Wenn man einmal in ihrer Gegenwart Zeitung las, statt sich auf sie zu konzentrieren, war man für sie ja eigentlich schon ein Fremder.
Jetzt las ich, daß mein Nachfolger, mit dem sie ihr Kind hatte, jahrelang damit leben mußte, daß sie noch einen anderen liebte und sich nicht entscheiden konnte. «Ich brauche ja immer zwei», hatte sie am Telefon gesagt. Der arme Kerl, ich hätte ihn warnen können, aber er hatte ja selbst zunächst von ihrer Neigung profitiert, als er mich ablöste.
Das Manuskript enthielt auch Erinnerungen an ihre Heimatstadt in Mecklenburg. Wie sie als Pfarrerstochter bei einer Schultheateraufführung Karl Marx spielen durfte und ihre Mutter ihr riet, den Text zu sprechen, sich aber dabei im Kopf zu sagen, daß sie nicht daran glaubte. Wie seltsam, daß wir aus demselben Land stammten, das es nicht mehr gab.
Unsere gemeinsame Geschichte, daß wir jetzt Kinder hatten, die mir wohlbekannte Wohnung, in der ich auch die letzten 13 Jahre hätte verbringen können, die Stadt, die so anders geworden war. Es war bewegend, sich das alles bewußt zu machen, aber auch ein wenig anstrengend.
Sie konnte plötzlich sogar Linsensuppe kochen, damals konnte sie nur immer alles aufessen, was man im Haus hatte, vorher gab sie keine Ruhe.
Wir unterhielten uns über unseren Alkoholkonsum und unsere Trainingspläne und Sportverletzungen. Jeder nannte ein paar Namen von Autoren, die der andere unbedingt einmal lesen müsse. Warum waren wir eigentlich nicht zusammengeblieben? Im Kopf ging ich die Frauen durch, die ich dann nicht kennengelernt hätte, was für ein Verlust das gewesen wäre. Aber wann konnte man die Versuchsreihe abschließen?
Zum Abschied umarmte ich sie, das fand sie komisch, weil das doch die Wessis eingeführt hätten, die einem dabei so den Rücken rieben. Sie wollte mir lieber wie früher die Hand geben.
Wie angenehm, daß ich nicht mehr in sie verliebt bin, dachte ich, es ist eines der angenehmsten Gefühle, das man für einen Menschen empfinden kann.
Ich weiß nicht, ob ich ihr helfen soll, ihr Manuskript zu veröffentlichen, der Literaturbetrieb ist eine einzige Enttäuschung, die Erfahrung hatte ich ihr voraus. Liebe zur Literatur war einem hier eher hinderlich. Vielleicht war ihre Haltung die richtige. Picasso war der Meinung, seine Bilder würden auch dann eine magische Wirkung entfalten, wenn er sie gleich nach dem Malen blickdicht versiegeln würde.
Am Abend saß ich mit einem Kollegen aus Hamburg in der Kastanienallee in einem neuen Italiener. An der Wand hing ein Foto von einem der letzten Sommer hier, als die Jugendlichen die wegen einer Reparatur offengelegten Straßenbahngleise als Sitzgelegenheiten erobert hatten. In Berlin würden sich immer alle überall draufsetzen, hat mir mal ein Architekt gesagt. Ich behauptete, daß ich einen Roman schreiben wollte, der nichts mit mir zu tun hätte, aber nicht dazu käme, weil ich noch nicht alles verstanden hätte, was mir im Leben passiert ist, und Schreiben der einzige Weg sei, das zu ändern. Er sagte: Das lohnt sich nicht, du hast kein interessantes Leben, verglichen mit einem afrikanischen Kindersoldaten. Drei Jahre später warf ich Erde auf seinen Sarg, nachdem er dem Krebs durch einen Schuß zuvorgekommen war.
Als mein Staat zusammengebrochen ist, habe ich Literatur für wichtiger gehalten als die Nachrichten. Als Wehrdienstleistender bin ich damals mit einer geladenen Waffe nachts durch die Geheimdienstzentrale dieses kollabierten Staats patrouilliert und habe darunter gelitten, nicht stattdessen lesen zu können. Werde ich noch erleben, daß auch die neuen Räumlichkeiten des BND auf dem Gelände des ehemaligen Walter-Ulbricht-Stadions in Berlin-Mitte irgendwann von der Bevölkerung gestürmt werden? Im Moment durchstreifen im Sommer Jugendliche aus aller Welt mein Viertel, die nicht ahnen, daß das einmal ein proletarischer Bezirk war und daß es die ganzen Cafés in der DDR noch nicht gegeben hat. Beziehungsweise inzwischen wissen sie nicht einmal mehr, daß dieser Teil der Stadt früher im Osten lag. An der Gethsemane-Kirche beobachte ich manchmal Reiseführer, die den Touristen auf Englisch erklären, wie hier im Herbst ’ 89 Mahnwachen abgehalten wurden. Ich senke dann den Blick, damit sie nicht merken, daß ich damals dabeigewesen bin. Es ist mir ein bißchen peinlich, für mich ist das erst gestern gewesen, und ich denke immer noch ständig darüber nach.
Am Tag nach meinem Besuch hat meine Freundin, weil ich nicht da war, einen Packen Gedichte in der Apotheke in meinem Haus hinterlegt, wo alle Pakete für mich landen. Eine Apotheke scheint mir kein schlechter Ort dafür, deshalb habe ich sie erst einmal nicht abgeholt.
Letztes Weihnachten habe ich meiner Tochter ein japanisches Spielzeug geschenkt, weil ich es selber haben wollte. Ein kleines, kugelförmiges Wesen, das in einer Wasserglocke schwimmt. Es gibt zwei Knöpfe zum Streicheln und Füttern. Es gibt auch ein Mikrophon, man kann mit ihm reden und ihm seine Geheimnisse anvertrauen. Manchmal ist es beleidigt, denn es ist ein mystisches Wesen, steht in der Anleitung. Man muß seine Bedürfnisse erraten, bevor es sie äußert, dann ist es froh, piepst eine Melodie und wackelt dazu niedlich im Wasser hin und her. Meine Tochter hegt tiefe Gefühle unseren kleinen Gefangenen. Füttern, streicheln, reden, niedlich aussehen, mehr erwarten wir von einem Wesen nicht, um es zu lieben. Und es würde einem selbst auch völlig reichen, im Wasser zu schweben und geliebt zu werden. Am glücklichsten sind diese Wesen laut Anleitung, wenn man zwei davon gegenüberstellt und sie sich miteinander unterhalten können.
Einmal im Monat bekamen wir Post aus einem Land, aus dem wohl kaum jemand sonst in unserem Neubauviertel am Berliner Stadtrand Post erhielt. Brieffreundschaften mit sowjetischen Kindern pflegten viele, und Verwandte in Westdeutschland waren nichts Besonderes, aber wir bekamen Briefe aus Israel, die die neuesten israelischen Briefmarken enthielten. Briefmarkensammeln, das war für mich wie Schatzsuche, phantasielose Menschen erklärten den Sammler mit seiner fehlgeleiteten männlichen Zärtlichkeit für verrückt, aber es gab immer wieder den Fall, daß Kenner von allen übersehene Kostbarkeiten entdeckten und plötzlich reich waren, und die theoretische Möglichkeit, sein Leben so in ein Märchen zu verwandeln, war allemal besser, als sich darauf zu freuen, was man zum Rentenbeginn bestenfalls gespart haben würde. Man mußte dem Glück eine Tür offenhalten. Da Zeit, Kriege und Moden ein ständiges Vernichtungswerk führten, reichte es schon, scheinbar wertlose Dinge lange genug aufzuheben, um sie in Museumsstücke zu verwandeln.
Ich machte also mit bei diesem Hobby, das man lernen mußte wie einen Beruf: Briefmarken ausschneiden und in der Badewanne ablösen, danach in einem Löschpapierblock pressen, sie mit der Lupe betrachten, ob vielleicht der winzige Aufdruck «faux» auf eine Fälschung hinwies – was mich allerdings noch mehr begeistert hätte als eine echte Marke –, und in einem Album sorgfältig hinter Pergamentpapierstreifen stecken, um sie von nun an immer wieder neu zu sortieren. Vielleicht war ja doch durch Zufall in einem Umschlag mit scheinbar wertloser Kiloware eine Blaue Mauritius dabei? Und die ganze Welt suchte verzweifelt danach?
Im Überfluß hatte ich Marken der Walter-Ulbricht-Dauerserie, die immer noch gültig waren, obwohl er schon lange nicht mehr lebte. Ich fand es seltsam, daß es vor Erich Honecker, unserem unantastbaren Staatschef, den ich seit meiner frühesten Kindheit kannte und dem ich bei den Mai-Demonstrationen zuwinkte, schon einen anderen Staatschef gegeben haben sollte. Postbeamten hatte es immer eine Genugtuung verschafft, dem Bild von Ulbricht mit dem Stempel Hiebe zu verpassen. Noch früher hatte es eine ganz ähnliche Dauerserie mit Hitler gegeben, mein Freund Roberto besaß einige Marken davon, die mußte man sich vorsichtig ansehen, damit man sich nicht «ansteckte» bei diesem Mann. «Verderber der Deutschen» hatte man die Marke nach dem Krieg überstempelt und noch eine Weile weiterbenutzt. Hätten doch mehr Deutsche damals Thälmann gewählt, dann wäre das alles nicht passiert! So lernte ich es in der Schule.
Der Stolz meiner Sammlung waren die Marken meines russischen Brieffreunds Sergej, die er jedem Brief an mich beilegte. Dafür bekam er von mir Westfilzstifte geschickt, für die er sich sehr bedankte, weil er damit in seinem Klassenraum die «Rote Ecke» gestalten konnte. Seine Marken hatten einen viel prächtigeren Charakter als unsere, die fremdartige, veschnörkelte Schrift, kühne perspektivische Effekte, viel Rot und Gold, das sowjetische Wappen, das man mit dem Finger fühlen konnte, weil es sich reliefartig abhob. Zwei Themen herrschten vor: Lenin und Raumfahrt. Immer wieder derselbe kahle Kopf und die listigen Augen. Sicher wäre Lenin, dieser hervorragendste aller Menschen irgendwann als erster Mensch ins Weltall geflogen, wenn er nicht an den Folgen eines gemeinen Attentats gestorben wäre. Juri Gagarin hatte ihn dort vertreten. Wenn man auch sonst nicht viel von russischen Produkten und Unterhaltungsangeboten hielt, Briefmarken konnten sie. Man spottete bei uns ja immer über unseren mächtigen Verbündeten, der auch Geräte für den täglichen Bedarf so groß und klobig herstellte, als seien sie mit Atomkraft betrieben, besonders die Armbanduhren. Immerhin schafften sie es, Briefmarken herzustellen, die nicht dick wie Pappe waren.