Wir befinden uns längst auf dem Weg in eine neue Arbeitswelt – ob wir dies nun wollen oder nicht. Entsprechend wichtig ist es für Unternehmen, diese Entwicklung zu antizipieren. Doch ein Blick in die tägliche Praxis zeigt, dass diese meist noch Prinzipien aus der Vergangenheit nachhängen. Und dies ist verständlich: Viele Unternehmen sind unter ganz anderen Bedingungen als den heutigen groß und erfolgreich geworden. Organisationen und Jobs wurden geschaffen, um vorgegebene, planbare Prozessschritte möglichst effizient abzuarbeiten. Daran richtete sich auch der Umgang mit den Mitarbeitern aus. Persönliche Bedürfnisse spielten eine untergeordnete Rolle.

In Zukunft wird dies nicht ausreichen. Unternehmen sind immer stärker auf Mitarbeiter angewiesen, die über reines Funktionieren hinaus flexibel agieren und selbstbestimmt denken und handeln. Je mehr rein funktionelle Tätigkeiten automatisiert werden, umso wichtiger wird es, das volle Potenzial der Mitarbeiter zu nutzen. Eine Betrachtung und Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse der Mitarbeiter ist also vonnöten. Herzlich willkommen in der neuen Arbeitswelt!

Einige Unternehmen haben bereits damit begonnen, sogenannte „New Work“-Maßnahmen umzusetzen. Während ein Unternehmen an einem flexibleren Arbeitsplatz für seine Mitarbeiter arbeitet, führt ein anderes agile Steuerung ein und ein drittes wirft die Hierarchie vollständig über den Haufen. Hinter dem undefinierten „New Work“-Begriff kann sich also vieles verbergen. Doch was genau steckt nun dahinter? Und was davon ist für das eigene Unternehmen am relevantesten?

Allzu oft fehlt das Bindeglied zwischen theoretischen Visionen und praktischen Maßnahmen, um als Unternehmen und Mitarbeiter erfolgreich den Weg in die neue Arbeitswelt anzutreten. Kein Wunder: Das klassische Prinzip „Gießkanne“ funktioniert hier nicht, der individuelle Abgleich zwischen Unternehmens- und Mitarbeiterbedürfnissen ist Trumpf.

Das Buch Good Job! schließt diese Lücke, indem Forschung passgenau eingeordnet und mit praktischen Impulsen versehen wird, um mögliche Wege in die neue Arbeitswelt aufzuzeigen. Dabei verzichten die Autoren auf Vorgaben oder One-Size-Fits-All-Lösungen. Vielmehr erweitern sie den Lösungsraum für Unternehmen in relevanten Dimensionen der Arbeitswelt. Damit erhalten Mitarbeiter genauso wie Unternehmen ein Werkzeug, um ihren individuellen Good Job zu gestalten.

XIIIAus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass dies der Schlüssel zum Erfolg sein wird. In meiner langjährigen Tätigkeit als internationaler Leadership-Trainer fallen mir immer wieder Teilnehmer auf, die hochmotiviert und voller Energie auch noch so große Herausforderungen meistern. Im Gespräch zeigt sich dann regelmäßig, dass diese Teilnehmer ihren „Good Job“ bereits gefunden haben respektive gemeinsam mit ihrem Arbeitgeber gestalten konnten. Daher kann ich sagen, dass mir bis heute noch kein stärkeres Mittel zur Zufriedenheits- und Leistungssteigerung begegnet ist als der „Good Job“.

Ich empfehle Ihnen, vor der Lektüre des Buches unter www.goodjob.jetzt/audit einmal selbst zu überprüfen, wie nah Sie Ihrem persönlichen Good Job bereits sind bzw. in welchen Dimensionen noch Nachholbedarf besteht.

Und nun: Viel Vergnügen bei Ihrer Reiselektüre auf dem Weg in die neue Arbeitswelt!

 

Daniel Schmidlin

Director des Center of New Work,
SGMI Management Institut St. Gallen

1GOOD JOB

ERFOLGREICH IN DER NEUEN ARBEITSWELT

2„Wähle einen Beruf, den du liebst,
und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten.“

– Konfuzius

Diesen bereits 2500 Jahre alten Aphorismus findet man heute als Werbeslogan von Berufsberatungen, auf Instagram-Postings von Reisebloggern oder als Wanddekoration in Start-up-Büros. Doch bei den meisten Menschen wird dieser Satz wohl eher Frustration auslösen. Schließlich sind in Deutschland nur 15 % der Mitarbeiter mit Engagement bei der Arbeit. Die überwältigende Mehrheit dagegen macht „Dienst nach Vorschrift“ (71 %) oder hat sogar innerlich gekündigt (14 %).1

Keine guten Voraussetzungen für die „neue Arbeitswelt“, in der repetitive, lineare und planbare Tätigkeiten vermehrt von Maschinen und Algorithmen übernommen werden, während es am Menschen liegt, den (digitalen) Wandel zu gestalten. Laut des Future of Jobs Report 2018 des World Economic Forum werden bis 2022 weltweit 75 Millionen Jobs automatisiert. Gleichzeitig werden 133 Millionen neue Jobs geschaffen, bei denen verstärkt analytisches Denken, aktives Lernen, sowie Kreativität, Originalität und Proaktivität im Vordergrund stehen.2

Diese neuartige Welt, auf die wir uns mit rasantem Tempo zubewegen, hat einen Namen: „VUCA-Welt“. Das Acronym bezieht sich auf deren vier Haupt­eigenschaften: Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit).3 Oder wie es in einem Artikel der Harvard Business Review zusammengefasst wird: „Hey, it’s crazy out there!“4

Unternehmen müssen auf diese zunehmend komplexe, dynamische, wenig vorhersehbare, „verrückte“ Welt reagieren. Während sie bisher darauf ausgerichtet waren, möglichst effizient zu funktionieren, müssen sie sich in Zukunft vor allem durch Kundenzentrierung, Agilität und Kollaboration auszeichnen.5 Davon sind die meisten Unternehmen jedoch noch meilenweit entfernt: in der globalen Human Capital Trends Studie 2017 von Deloitte geben lediglich 14 % der teilnehmenden Unternehmen an, diese Voraussetzungen bereits zu erfüllen.6

Wie kann diese drastische Lücke geschlossen werden? Sicherlich nicht mithilfe von Mitarbeitern, die „Dienst nach Vorschrift“ machen oder gar innerlich gekündigt haben. Es braucht vielmehr Mitarbeiter, die mit Engagement bei der Arbeit sind und den notwendigen Wandel im Unternehmen aktiv mitgestalten.

Doch wie finde ich solche Mitarbeiter? Und wie kann ich deren Engagement nachhaltig sicherstellen? Wie gehe ich mit dem Teil der bestehenden Belegschaft um, der aktuell wenig engagiert bei der Arbeit ist? Wie kann ich auch hier den notwendigen Gestaltungswillen entfachen? Antworten bietet ein Blick in die Erforschung überdurchschnittlich erfolgreicher Unternehmen und Mitarbeiter.

3In einer 2015 veröffentlichten Studie wurden drei Aktienportfolios in der Kategorie Glassdoor „Best Places to Work“ mit dem Standard & Poors 500 (S&P 500)-Aktienindex der 500 größten börsennotierten US-amerikanischen ­Unternehmen verglichen. Das Ergebnis: Im gesamten fünfjährigen Untersuchungszeitraum wurde der Markt von den „Best Places to Work“-Portfolios klar geschlagen. Mitarbeiter, die mit ihren Jobs zufrieden sind, scheinen ­demnach auch einen guten Job (für das Unternehmen) zu machen. Dies bestätigt auch eine in der Harvard Business Review zitierte Meta-Analyse, die auf Basis von über 200 (!) Studien belegt, dass glückliche Mitarbeiter im Schnitt eine 31 % höhere Produktivität und eine dreimal so hohe Kreativität aufweisen.7 Weitere Studien zeigen, dass dieser Zusammenhang insbesondere für komplexe Tätigkeiten gilt.8

Der Schlüssel liegt also in einem Good Job: Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, einen guten Job zu haben, dann machen sie auch einen guten Job!

Die Effekte eines solchen Good Job reichen deutlich über die Arbeit hinaus. Eine Studie des Roman Herzog Instituts zeigt, dass sich die Chance auf eine höhere Lebenszufriedenheit bei Mitarbeitern um ganze 22 % erhöht, wenn deren Arbeitszufriedenheit um nur einen einzigen Prozentpunkt wächst. Unternehmen haben es also in der Hand, über eine Verbesserung der Jobqualität nicht nur den Erfolg des Unternehmens zu steigern, sondern auch zu einem signifikant glücklicheren Leben ihrer Mitarbeiter beizutragen!

Doch warum werden diese Zusammenhänge von Unternehmen kaum beachtet? Warum werden Mitarbeiter stattdessen allzu oft in eine absurd anmutende Arbeitswelt gezwängt, die zu schlechteren Unternehmensergebnissen und einem unglücklicheren Leben der Angestellten führt? Lassen Sie uns zur Beantwortung dieser Frage einen kleinen Schwenk machen.

Robbert Dijkgraaf, niederländischer Physiker und Autor, erzählt in seinem Buch „Blikwisselingen“ von westlichen Anthropologen in Papua-Neuguinea. Nach seiner Anekdote trafen die Forscher dort auf einen primitiven Stamm, der zuvor noch nie in Kontakt mit dem modernen Leben außerhalb des Dschungels, geschweige denn mit der westlichen Welt, gekommen war. Die Anthropologen führten ihnen einen einstündigen Film vor, der das Leben in Manhattan zeigte: Wolkenkratzer, Menschenmassen, Autos, Flugzeuge etc. Im Anschluss fragten sie die Stammesmitglieder, was sie gesehen hatten. Die unerwartete Antwort: „Ein Huhn!“ Die verblüfften Forscher wussten sich nicht anders zu helfen, als das Videomaterial selbst erneut zu sichten. Und tatsächlich: Wenige Sekunden der Aufnahme zeigten einen Mann mit einem Huhn im Bild. Was war geschehen? Dijkgraaf beschreibt, dass den Stammesmitgliedern die „Klammer im Gehirn“ fehlte, um das Gesehene überhaupt einordnen zu können. Das Huhn war der einzige Anknüpfungspunkt zwischen den für sie abstrakten, völlig fremden Bildern und ihrer eignen Welt. Aus diesem Grund waren sie für alle anderen Dinge blind.

4Auch im Unternehmenskontext kann man diese metaphorischen Hühner tagtäglich finden. Dinge, die man „immer schon so gemacht“ hat oder „die einfach logisch“ sind. Mit diesem Buch geht es uns darum, den Blick von den Hühnern zu nehmen und die Tür in eine Welt voller abwegig erscheinender Häuserschluchten, Blechlawinen und Menschenmassen aufzustoßen. Wir möchten der heutigen, absurden Arbeitswelt neue Impulse entgegensetzen, um bei Unternehmern, Führungskräften und Mitarbeitern gleichermaßen Lust auf die Reise in eine neue Arbeitswelt zu entfachen.

Macht es Sinn, auf Basis vergangener Erfahrungen zu rekrutieren, wenn die zukünftigen Aufgaben noch unbekannt sind? Was passiert mit uns, wenn Maschinen zunehmend unsere Arbeit übernehmen? Kann man in einer Welt glücklich werden, in der es keine Beförderungen gibt? Was haben Hunger und Verrücktheit mit Erfolg zu tun? Kann man auch ohne flache Hierarchien zeitgemäß und erfolgreich führen? Ist es möglich, weniger zu arbeiten und dabei mehr zu erreichen? Was passiert mit der Arbeit, wenn man keinen Arbeitsplatz mehr hat? Ist es besser, Arbeit und Leben zu trennen oder diese zu verschmelzen? Und wie bekommt man bei dieser ganzen Debatte alle Generationen unter einen Hut?

Um diese und viele weitere Fragen zu beantworten, freuen wir uns, Sie in den nachfolgenden Kapiteln auf eine Reise von der alten in die neue Arbeitswelt mitzunehmen – weg von den althergebrachten Absurditäten und hin zu einem nachhaltig erfolgreichen Unternehmen dank glücklicherer Mitarbeiter.

Gerne begleiten wir Sie bei dieser Reise auch abseits des Buches. Auf www.goodjob.jetzt finden Sie nicht nur relevante Downloads und Tools passend zu den Inhalten des Buches, sondern auch stets neue Inhalte und Austauschmöglichkeiten, sowie das „Good Job Audit“ zur Bestimmung Ihres persönlichen Good Job-Profils.

 

 

 

Anmerkung der Autoren:

Wenn wir in diesem Buch von Kollegen, Mitarbeitern, Führungspersonen oder anderen Berufsbezeichnungen sprechen, so meinen wir gleichermaßen Frauen und Männer.

 

5LEBENSENTWURF
statt
LEBENSLAUF

6OLIVER BERGER

„Es gibt Momente, bei denen man erst im Nachhinein merkt, dass schon ganz zu Beginn etwas schiefgelaufen ist. Manchmal ist das in ­Beziehungen auch so. Du lernst jemanden kennen, denkst ‚Wow!‘ und erst später stellt sich heraus, dass die netten kleinen Makel im Alltag doch ­ziemlich nervig, ziemlich häufig und vor allem nur die Spitze des Eisbergs sind.

Dass das auch in meinem ersten Job so werden könnte, habe ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen können. Nach der Uni hat man eher gedacht: bewerben, überzeugen, durchstarten, Karriere machen. Immer schön als Teamplayer, klar, aber doch mit einem ganz eigenen Spirit. Was in dem Kontext in Wirklichkeit für ein absurder Krampf stattfindet – darauf wird man nicht vorbereitet.

Es fing bereits früh an zu knarzen. Als ich mich beworben habe, gab es im Prinzip nur noch Online-Bewerbungen. Ich kann mich daran erinnern, wie ich abends um 23:00 Uhr verzweifelt versuchte, meine persönlichen Daten in ein unattraktives Template zu quetschen und mir das System mehrfach meldete ‚Anhang fehlt‘ oder ‚Ihr Anhang überschreitet die Maximalgröße von 1MB‘. Als ich die extra für die Bewerbung geschossenen Fotos bis zur Unkenntlichkeit komprimiert hatte, klappte es endlich. Im Prinzip hätte ich bereits wegen des nun unglaublich pixeligen 89 Euro Fotos lachen müssen, aber so locker ist man ja doch nicht.

Aller Anfang ist bekanntlich schwer. Dass man es den Bewerbern aber bewusst oder unbewusst so schwer wie möglich macht, wirkt schon recht eigenartig. Als richtig großes Kino empfand ich mein Vorstellungsgespräch. Ich betrat den Raum, in dem mein zukünftiger Chef saß. Er bat mich nach ein paar Begrüßungsformeln, von meinem Lebenslauf zu erzählen. Ich berichtete also von meinen Abiturnoten, von meiner Studienwahl, von meinen unzähligen Praktika, schönte ein wenig meine Sprachkenntnisse und erzählte von meinem Auslandsjahr. Und mein Gegenüber? Er wechselte zwischen „keine Reaktion“ – wahrscheinlich, weil ohnehin schon alles bekannt war – und einem soufflierten Stichwortgeben für meinen auswendig gelernten CV-Monolog. Ehrlich gesagt ist es schon recht lustig, welchen Abstand man zu seinem eigenen Leben bekommt, wenn man es wie einen Schauspieltext aufsagt.

Und dieses Schauspiel galt im Übrigen vice versa. Wie perfekt einstudiert kam genau an der Stelle, an der ich darauf hätte wetten können, der vorwurfsvolle Satz: ‚Von 2006–2007, Herr Berger, da haben Sie eine Lücke im Lebenslauf.‘ Eigentlich hätte ich da antworten sollen: ‚Ja! War geil!‘ Aber sowas macht man als Berufsanfänger dann doch nicht. Und so habe ich mein Party- und Reisejahr stattdessen als ‚Gap Year‘ verklausuliert. Dass 7ich in diesem Jahr wirklich coole Sachen gemacht habe, die mich prägten, und dass so eine Auszeit auch in meinem weiteren Leben immer wieder Bestandteil sein sollte, haben wir damals nicht thematisiert. Hätten wir wohl besser machen sollen.

Insgesamt glich das Vorstellungsgespräch eher einem schlechten Bühnenstück. Ich glaube, da liegt grundsätzlich auch das Problem vieler Bewerbungsgespräche: dieser seltsame Paartanz durch die Vergangenheit. Niemand interessierte sich damals dafür, wie ich mir mein Berufsleben vorstellte, geschweige denn mein Leben überhaupt. Es ist wie auf einer Checkliste: Sprachkenntnisse gelesen, erzählt bekommen, passt. Lücke im Lebenslauf thematisiert, Standardantwort erhalten, Kandidat nicht gestrauchelt, check.

Und so ist diese Beziehung bis heute wohl die zweier sich fremder Partner. Die Organisation hat es nie interessiert, wer ich tatsächlich bin und noch weniger, wer ich einmal sein möchte. Stattdessen wollte man immer wissen, ob ich die System-Schablone kenne und wie gut ich mich an diese anpassen kann.

Und so ist es am Ende wie immer. Man beginnt sich anderweitig umzuschauen, um zu sehen, ob es nicht doch etwas gibt, das besser zum eigenen Lebensentwurf passt.

„Wer sind Sie?“ Eine Frage, mit der wahrscheinlich jeder schon einmal im Verlauf eines Bewerbungsprozesses konfrontiert wurde. Und die intuitive Reaktion ist meistens die gleiche. Man hangelt sich chronologisch an vermeintlich wichtigen Stationen des Lebenslaufs entlang. Abschlüsse, Erfolge, Auszeichnungen – Lorbeeren aus allen Lebensabschnitten werden hervorgekramt, um dem Gegenüber ein möglichst schmeichelhaftes Bild davon zu zeichnen, wer man ist.

Doch wer ist man eigentlich? Eine vermeintlich leicht zu beantwortende Frage, denn wer sollte dies besser wissen als Sie selbst? Ich bin Thomas, 54, aus Aachen, Geschäftsführer eines mittelständischen Familienunternehmens. Ich bin Anna, 35, Marketing-Managerin aus München. Intuitiv greift man zu den Datenpunkten: Name, ­Alter, Wohnort und Beruf. Reicht dies noch für Bildunterschriften in ­Zeitungen oder Kandidatenvorstellungen in Game-Shows aus, wäre wohl kaum jemand damit einverstanden, zu sagen, dass man einzig die Summe dieser vier Eckdaten sei. Je nach Situation beschreibt man sich auch als Fußballfan, Christ, Mutter, Migrant, Träumer, ­Alkoholiker oder Philanthrop. In Zeiten von Social Media gibt es sicherlich Menschen, die sich als Summe ihrer Selfies definieren. ­Philosophen würden vielleicht sagen, dass sie über kein „Ich“ ver­fügen, sondern nur über die Illusion eines „Ichs“. Und Biologen könnten argumentieren, dass der Mensch nach aktuellem Stand der Forschung in etwa aus so vielen Bakterien und einzelligen Mikroben wie aus 8eigenen ­Körperzellen besteht. Kein Grund gleich von einem „Wir“ zu sprechen, doch definitiv etwas, dass einem zu denken geben kann.1

Insofern erscheint es geradezu unmöglich, eine eindeutige Identität von sich selbst zu bestimmen. Oder um es in den Worten des Schriftstellers Lothar Baier auszudrücken: „Identitäten sind hochkomplexe, spannungsgeladene, widersprüchliche symbolische Gebilde – und nur der, der behauptet, er habe eine einfache, eindeutige, klare Identität, der hat ein Identitätsproblem.“2

Und damit nicht genug. Denn die eigene Identität ändert sich im Zeitverlauf und kann sich auch von Situation zu Situation unterscheiden. In einem ­Moment sind Sie Vater, im anderen Sohn. Jetzt sind Sie Ehemann und im nächsten Moment Sänger einer AC/DC-Coverband. Wie der Philosoph Richard David Precht es formuliert: „Wir haben keine dauerhafte Zugehörigkeit mehr zu etwas. Es gibt natürlich immer noch Menschen, die die haben, aber ­mehrheitlich entwickelt sich die Gesellschaft in die Richtung, dass wir uns nicht mehr ein Leben lang mit einer bestimmten Rolle identifizieren.“3 Die ­Variabilität der eigenen Identität steigert sich also stetig – geprägt durch eine sich rasant ­verändernden Welt, in der wir uns ständig neu suchen und finden bzw. ­erfinden müssen. Eine große Herausforderung für Unternehmen, die bewerten müssen, ob ein bestimmter Job-Kandidat mit seiner indivi­duellen Identität gewinnbringend für die Zukunft des Unternehmens sein wird.

Zum Glück steht den Unternehmen für diesen Zweck eine Vielzahl von Werkzeugen zur Verfügung. Und diese werden auch gnadenlos eingesetzt. So ist es heute eher die Regel als die Ausnahme, dass Bewerber in wochen- und sogar monatelangen Prozessen aus Bewerbungsunterlagen, Gesprächen, Tests, Arbeitsproben und Assessment Centern auf Herz und Nieren geprüft werden. Ein kräftezehrendes Unterfangen sowohl für Bewerber als auch für Unternehmen. Doch der Grund dafür ist einleuchtend, liegen die geschätzten Kosten für eine Fehlbesetzung doch zwischen dem anderthalb- und dreifachen des Jahresgehalts.4

Facebook: Investitionen in Recruiting zahlen sich aus

„Für Facebook ist im Recruiting-Prozess eine klar strukturierte Vorgehensweise die Voraussetzung für eine erfolgreiche Auswahl. Hier nutzen wir: Klare Rollenprofile und Identifikation von Anforderungen, umfangreiche und mehrfache ‚Interview-Loops‘, klare Interview-Strategien und Rollenaufteilung der Interviewer, gemeinsame Reviews der Interviews, Rollenspiele und Aufgaben. Dies ist durchaus aufwändig, doch wir haben festgestellt, dass Zeit und Geld hier sehr wertvoll investiert sind. Kurz: Wer mehr in den Recruiting-Prozess investiert, findet auch bessere Talente.

9Es gibt darüber hinaus noch viele weitere Ansätze, wie erfolgreiche Recruiting-Strategien aussehen können. Der auf persönlichen Werten und Eigenschaften beruhende Value-Hiring-Ansatz erscheint mir dabei in dynamischen Umfeldern ein besonders effektiver zu sein. Auch in der Folge glaube ich an die individuelle Entwicklung: Ein situatives Management entlang klarer Ziele, bei dem der Weg zur Zielerreichung nicht entscheidend ist, birgt oft den Schlüssel zum Erfolg. Das gilt für Strategien und Taktiken im Business, aber natürlich auch für persönliches Wachstum und Karriere.“

Bild_Jin%20Choi.tif

Jin Choi

ist bei Facebook verantwortlich für die Großkunden im Bereich FMCG, Retail, Entertainment & Media. Er kennt den „Kampf um Talente“ – sowohl aus Sicht von Facebook als auch bei vielen seiner Kunden – und weiß daher, was im Recruiting-Prozess wichtig ist.

Ein fundamentales Problem zeigt sich gleich zu Beginn des Bewerbungsprozesses. Laut einer Studie der Universität Bamberg weiß die Mehrzahl der Unternehmen gar nicht, wodurch sich ein guter Bewerber auszeichnen muss, um auf einer bestimmten Stelle im Unternehmen erfolgreich zu sein.5 Da überrascht es nicht, dass selbst im „War for Talent“ mehrheitlich auf althergebrachte Heuristiken in der Bewerberauswahl gesetzt wird. Noch immer genießt der Lebenslauf bei Personalern einen extrem hohen Stellenwert. 99 % halten ihn für wichtig oder sehr wichtig. Für drei von vier ist es das erste Dokument, das angesehen wird.6 Und das ist problematisch. Eine Eye-Tracking-Studie, die das Verhalten von Recruitern beim Lesen von Lebensläufen untersuchte, zeigte, dass die initiale Entscheidung, ob der Bewerber passt oder nicht, innerhalb von nur sechs Sekunden erfolgt. Von den vier bis fünf Minuten, die durchschnittlich für das Dokument aufgewendet werden, entfallen 80 % auf die Datenpunkte Name, Firma/Titel aktuell, Firma/Titel vorherig, Start- und Enddatum der Positionen und Bildung.7 Diese bilden auch die hauptsächliche Basis für die finale Entscheidung.

Solch eine Entscheidung setzt natürlich voraus, dass die Dokumente Auskunft über die ungeschönte Wahrheit geben. Dabei zeigt sich die Problematik fast schon zu plakativ. Schließlich kommt das Wort „Bewerbung“ von „werben“ und nicht von „Tatsachen widerspiegeln“. Die Bewerbung wird so zu einem auf die Stellenausschreibung zugeschnittenen Marketingdokument. Dies kann Bewerber auch dazu anleiten, Informationen möglichst schmeichelhaft auszuwählen, zu schönen, wegzulassen oder sogar zu verändern. Übrigens auch ein gängiges Phänomen im (späteren) Bewerbungsgespräch, bei dem offenbar 81 % 10der Menschen die Unwahrheit sagen.8 Ein prominentes Beispiel der extremeren Art ist die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz, die unter anderem ihr Abitur sowie juristische Staatsexamina vortäuschte.9

Doch selbst wenn alle Angaben im Lebenslauf korrekt sind, ist deren Aussagekraft fragwürdig. Ein Grund dafür ist, dass sie sich stets auf die Vergangenheit beziehen und sich daraus nur begrenzt Rückschlüsse auf die zukünftige Leistung und den Leistungswillen ableiten lassen. Was sagt die Vergangenheit von Angela Merkel als FDJ-Sekretärin über ihre heutige Eignung als Bundeskanzlerin aus? Sind Studienabbrecher wie Bill Gates, Mark Zuckerberg, René Obermann oder Günther Jauch aus heutiger Sicht Kandidaten, die man aussortieren würde? Was verraten die im Lebenslauf aufgeführten Hobbies über uns? Wäre es förderlich oder hinderlich für Johnny Depp, dass er nicht nur ein leidenschaftlicher Barbie-Sammler ist, sondern das Spielen mit den Puppen als „(…) eine Sache, in der ich gut bin!“ beschreibt?

Der Lebenslauf verleitet dazu, sich von vermeintlichen Kausalitäten blenden zu lassen. Das Marktforschungsunternehmen Gartner untersuchte beispielweise bei einem US-amerikanischen Finanzdienstleister die Korrelation zwischen den Noten von Mitarbeitern und deren späterer Leistung im Unternehmen. Die Erkenntnis: Noten hatten keinerlei Aussagekraft in Bezug auf das Potenzial der Mitarbeiter. Irrelevant war übrigens auch, an welchem College der Abschluss erworben wurde.10 Beim Technologie- und Dienstleistungsunternehmen Xerox gelangte man im Rahmen einer Analyse gar zu der Erkenntnis, dass Mitarbeiter mit einer kriminellen Vergangenheit bei der Arbeit im Call Center in der Regel eine bessere Leistung zeigten als ihre gesetzestreuen Kollegen.11

Mit Blick auf die Zukunft ist der Vergangenheitsbezug des Lebenslaufes sogar noch kritischer zu beurteilen. Wir befinden uns in einer immer weniger vorhersehbaren Welt, in der die exponentielle Veränderung von technologischen, sozioökonomischen und demographischen Rahmenbedingungen zunehmend spürbar wird. Diese Entwicklung zeigt sich zum Beispiel an der Entstehung neuer Geschäftsmodelle. Oder wie es der Verfechter des digitalen Darwinismus, Tom Goodwin, in seinem viralen Tweet veranschaulichte:

„Uber, das weltgrößte Taxiunternehmen, besitzt keine Fahrzeuge,
Facebook, das populärste Medienunternehmen der Welt,
kreiert keine Inhalte, Alibaba, das am höchsten bewertete
Handelsunternehmen, besitzt kein Lager und Airbnb, der weltgrößte
Anbieter von Unterkünften, besitzt keine Immobilien.
Hier geschieht gerade etwas Interessantes.“

– Tom Goodwin

In den vergangenen industriellen Revolutionen hatte man noch Dekaden, um Ausbildungssysteme und Arbeitsmarktinstitutionen an solche veränderten 11Rahmenbedingungen anzupassen. Heute bleibt uns diese Zeit nicht. Die Veränderung ist derart schnell, dass 50 % des Wissens von Studenten, welches sie sich im ersten Jahr eines vierjährigen technischen Studiengangs aneignen, bereits zum Zeitpunkt ihrer Graduierung veraltet ist.12

Und so kann sich der Auswahlprozess der Unternehmen in Zukunft nicht mehr (ausschließlich) auf die im Lebenslauf vermittelten, vergangenen Daten fokussieren. Ob Start-up oder Konzern: in vielen Fällen wird es nicht mehr darum gehen, „fertig ausgebildete“ Experten zu finden, sondern diejenigen an Bord zu holen, die die Fähigkeiten und den Willen mitbringen, um sich kontinuierlich an die Herausforderungen sich verändernder Rahmenbedingungen in der neuen Arbeitswelt anzupassen.

TÜV Rheinland Consulting: Talent sticht Lebenslauf

„TÜV Rheinland Consulting war in der Vergangenheit oft zu langsam und unkreativ im Angesicht aktueller Marktanforderungen. Um gegenzusteuern, sind wir jetzt im Transformationsprozess dabei, schrittweise Schwachstellen zu beheben. In diesem Prozess haben wir unter anderem feststellen müssen, dass es einen ‚Clash of Cultures‘ gibt: Junge Einsteiger haben ein anderes Arbeitsverständnis als viele erfahrene Mitarbeiter. Entsprechend haben wir sowohl unser Recruiting umgestellt, als auch neue Maßnahmen für die bestehende Mannschaft entwickelt.

Im Recruiting wurde klassische Berufserfahrung in der Priorisierung nach hinten gestellt und stattdessen nach Talenten gesucht. Wir folgen damit der Vorgabe, dass es keine ‚Nachbesetzungslogik‘ mehr gibt und dem Glauben, dass jedes Talent eine produktive, werthaltige Aufgabe findet. Ganz ohne Vorstellung, wie jemand bei uns reinpasst, geht es natürlich nicht. Die Neuen werden durchaus von Anfang an einem Bereich zugeordnet, aber es gibt nicht zwingend schon ‚das‘ Projekt, in dem sie nach der Einarbeitung eingesetzt werden. Wir achten bei der Einstellung eher darauf, dass ein Kandidat in die digitale Welt passt, zur angestrebten, agilen Arbeitsweise und zu unseren Werten. Um solche Talente zu finden, arbeiten wir eng mit Hochschulen zusammen, bieten schon vor dem Abschluss ein Trainee- oder Werkstudentenprogramm an und nutzen ein ‚Hire-a-friend‘-Modell. So können wir die Menschen im besten Fall bereits durch andere Personen oder durch ihre Arbeit kennenlernen.

Für die Überbrückung der Generationen in der bestehenden Mannschaft haben wir ein spezielles Patenkonzept entwickelt, das erfahrenen Mitarbeitern ermöglicht, von den Junioren zu lernen. Wir haben also das alte Konzept der Patenschaften umgedreht. Der Ablauf ist 12ganz einfach: Jede Führungskraft trifft sich mit einem Neueinsteiger. Dann entscheiden beide, ob sie zusammenpassen. Jedes Jahr startet der Manager den Prozess erneut, um frischen Input zu bekommen. Wie sich die beiden austauschen, ist ihnen selbst überlassen. Der Manager muss offen sein und das auch dem Junior zeigen. Es gab bereits den Fall, dass zwei Kollegen beim gemeinsamen Essen feststellten, dass sie beide in dem Patenprogramm waren. Einer der beiden äußerte sich dabei schmunzelnd kritisch über die ‚verstaubten‘ Manager und musste feststellen, dass sein Gegenüber nicht Junior, sondern selbst Manager war.

Ich habe selbst oft versucht, die Junior-Paten in agilem, digitalem Arbeiten herauszufordern, aber vergeblich – sie hatten immer die Nase vorne! Diese Beispiele zeigen: TÜV Rheinland Consulting hat sich auf den richtigen Weg begeben. Wir sind uns im Management aber natürlich auch bewusst, dass es eine Entdeckungsreise der permanenten Weiterentwicklung ohne konkretes Ende ist.“

Bild_Kai%20H%c3%b6hmann.tif

Kai Höhmann

leitet als Geschäftsführer der TÜV Rheinland Consulting GmbH das Beratungsgeschäft mit Fokus auf technischen Dienstleistungen – und muss entsprechend mit den richtigen Mitarbeitern das Unternehmen an die neuen Marktbedingungen anpassen.

Doch wie finde ich solche Kandidaten? Auf welcher Basis sollte das Unternehmen entscheiden, wer zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch eingeladen werden sollte und wer nicht? Mehr als die Hälfte der Recruiter in Personalabteilungen geben an, dass dies der härteste Teil ihrer Arbeit ist. Das liegt unter anderem daran, dass es sich einerseits um einen sehr zeitaufwändigen Prozess handelt, andererseits nur eine geringe Datenbasis als Entscheidungsgrundlage vorliegt.13

Und was tut der moderne Mensch in unserem Zeitalter, wenn er nicht weiterweiß? Er fragt eine Maschine – oder wann haben Sie das letzte Mal gegoogelt? Maschinen versprechen hier in der Tat Abhilfe. Eine Suchmaschine reicht natürlich nicht aus. Gefragt sind neuartige, lernende Systeme, die sogenannte künstliche Intelligenz (KI). Im Recruiting ist KI mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme. So geben in einer aktuellen Studie mit 770 Personalverantwortlichen nur 32 % der Befragten in Europa an, KI nicht bei der Mitarbeitersuche einzusetzen.14

Die konkreten Anwendungsfälle von KI sind vielfältig. Das Unternehmen Netflix nutzte ein selbstlernendes System beispielsweise dazu, um die Lebensläufe 13der besten bereits angestellten Data Analysts auf Übereinstimmungen zu überprüfen. Im Ergebnis zeigte sich, dass Mitarbeiter mit einem großen Interesse an Musik im besonderen Maße ihre kreativen und analytischen Fähigkeiten zur Anwendung bringen. Damit zeichneten sich diese Musikliebhaber als besonders geeignet für den Job aus. Entsprechend wurde bei der Auswahl neuer Data Analysts anschließend aktiv nach dieser Eigenschaft im Lebenslauf gesucht.15

Unternehmen wie Tesla, Accenture und LinkedIn gehen sogar noch einen Schritt weiter und ersetzen den Lebenslauf gänzlich durch eine technologische Lösung auf Basis künstlicher Intelligenz. Hier werden mithilfe eines 30-minütigen, spielerischen Online-Tests die aktuellen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten eines Kandidaten evaluiert, um zu entscheiden, ob dieser gut zur Stelle passt und mit welcher Wahrscheinlichkeit er im anvisierten Job erfolgreich sein wird.16

Die Entwicklung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und deren Einsatzmöglichkeiten im Recruiting wird in den nächsten Jahren rasant voranschreiten. Heute schon können kostenlose Tools wie IBM Watson Personality Insights persönliche Charakteristika, Bedürfnisse und Werte aus Textausschnitten, die von Personen verfasst wurden, herauslesen und vorhersagen. Dazu können Texte aus sozialen Medien oder E-Mail-Korrespondenz ausgewertet werden. Doch was bleibt ist die Frage, ob wir uns eine Welt wünschen in der Karriereentscheidungen von Maschinen getroffen werden. Eine Welt von gläsernen Bewerbern und dennoch intransparenten Entscheidungen, wie Marc-Uwe Kling sie in seinem satirischen Roman Qualityland zeichnet:

„Das oberste Ziel der allermeisten Algorithmen ist es aber, mehr
­Profit zu generieren. Solange sie das tun, interessiert sich kein
Schwein dafür, ob irgendein armer Schlucker irgendeinen Job
nicht bekommen hat, weil im Profil eines anderen Typen mit seinem
­Namen steht, dass er mal dem Chef in den Pool gepinkelt hat.
Es wird ihm ja eh keiner sagen, warum er abgelehnt worden ist.
Wie könnte er sich also beschweren?
Und bei wem?“

– Marc-Uwe Kling

Auch wenn der erste humanoide Roboter Sophia bereits Staatsbürger von Saudi-Arabien ist und vor den Vereinten Nationen sprechen durfte, sind wir noch weit davon entfernt, den Maschinen das Ruder komplett zu überlassen. Während Verfechter des maschinellen Recruitings argumentieren, dass menschliche Fehler wie Diskriminierung abgeschafft würden, warnen andere Experten paradoxerweise davor, dass Recruiting-Roboter von Natur aus ­sexistisch und rassistisch seien.17 Dies liegt nicht an den Systemen selbst, sondern an den Daten, mit denen sie trainiert werden. Forscher an der Universität 14Princeton experimentierten mit Texten aus dem Internet und untersuchten Wortpaarungen. Dabei wurden weibliche Namen stärker mit Familie und Karrierewörter stärker mit männlichen Namen assoziiert. Trainiert man Systeme nun mit diesen Datensätzen, übernehmen diese auch die vom Menschen kreierten Stereotypen. Aus dem gleichen Grund steht eine Software, die in den USA genutzt wird um Straftaten vorherzusagen, in der Kritik. Denn es konnte gezeigt werden, dass diese voreingenommen gegenüber Afroamerikanern agiert. Und selbst Amazon verabschiedete sich 2017 von seinem über Jahre entwickelten Recruiting Tool, das künstliche Intelligenz nutzte, um Bewerber zu evaluieren. Warum? Es stellte sich heraus, dass es Frauen bei der Bewerberauswahl diskriminierte.18

Egal also ob Mensch oder Maschine: Eine Vorselektion von Job-Kandidaten, die zu stark auf (historischen) Daten basiert, ist gefährlich. Nicht nur in Bezug auf mögliche Diskriminierung, sondern auch in Bezug auf mögliche Fehlentscheidungen bei der Mitarbeiterauswahl. Doch was ist die Alternative?

Hier kommen wir wieder zurück auf die Frage „Wer bin ich?“. Wie wir bereits erfahren haben, wissen Unternehmen mehrheitlich nicht, wodurch sich gute, erfolgversprechende Bewerber auszeichnen. Besonders schwierig wird es natürlich, wenn die Bewerber selbst nicht wissen, was sie auszeichnet – zumindest abseits der üblichen Eckdaten ihres Lebenslaufes. Um dieser Herausforderung zu begegnen, setzen mittlerweile mehr als 60 % der deutschen Großunternehmen Persönlichkeitstest im Recruiting ein.19

Solche Persönlichkeitstest scheinen insbesondere durch die Verknüpfung mit einem sogenannten Matching-Algorithmus ihr volles Potenzial zu entfalten. Schließich ist es auf diese Weise möglich, dass sich – glaubt man der Werbung – alle elf Minuten ein Single verliebt. Liebes- und Arbeitsverhältnisse sind gar nicht so unterschiedlich. Und da ist es nicht verwunderlich, dass Persönlichkeitsanalysen in Kombination mit Matching-Algorithmen auch im Recruiting Anwendung finden. So nutzen Unternehmen wie Microsoft, Lidl, ADAC oder Merck zum Beispiel die Technologie von matching box, dessen Gründer Benjamin Pieck interessanterweise zuvor einen Matching-Algorithmus für ein großes Dating-Portal mitentwickelte.

Normalerweise suchen Bewerber im ersten Schritt passende Unternehmen aus und bewerben sich dann auf eine entsprechende Stelle. Mithilfe des Matching-Algorithmus wird dieser Prozess auf den Kopf gestellt. Denn hier erfolgt zunächst eine Persönlichkeitsanalyse, um Persönlichkeitstypen, Soft-Skills und Interessen abzuleiten. Und auf dieser Basis werden dem Bewerber im Anschluss automatisch passende Unternehmen und Positionen vorgeschlagen. Passt der Bewerber nun auch in den Kriterienkatalog des entsprechenden Unternehmens ist das „Match“ perfekt. Happy end! Oder?

15matching box: Hire-for-Fit – Der auf den Kopf gestellte ­Bewerbungsprozess

„Wir glauben, dass jedes Unternehmen eine besondere DNA hat und dass es im Bewerbungsprozess um mehr geht als Noten und Referenzen. Aus diesem Grund rücken wir den individuellen und unverkennbaren Fingerabdruck jedes Bewerbers in den Vordergrund: Seine Werte und Persönlichkeit.

Über eine wissenschaftliche Online-Analyse gewinnen Bewerber wichtige Erkenntnisse zu ihren personalen Kompetenzen und erfahren, welche Tätigkeitsbereiche im Berufsleben für sie am Besten geeignet sind. Im ‚Matching‘-Prozess werden dann die Testergebnisse der Kandidaten mit hinterlegten Stellenanzeigen, Karrierefaktoren sowie Aspekten der Kultur von Unternehmen abgeglichen.

Dass in diesem Prozess bewusst weiche Komponenten wie Persönlichkeitsmerkmale, individuelle Stärken und Potenziale analysiert werden, war für viele Unternehmen anfangs schwer zu verstehen. Aber mit dem aktuellen Wandel der Arbeitswelt steigt das Interesse und die Notwendigkeit, mehr als den Lebenslauf zu betrachten.

Bild_Benjamin%20Pieck.tif

Benjamin Pieck

ist Co-Founder der matching box GmbH, die sich auf die persönlichkeitsbasierte Zusammenführung von Unternehmen und Kandidaten spezialisiert hat.