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Konrad Schmid/Jens Schröter

DIE ENTSTEHUNG
DER BIBEL

Von den ersten Texten zu den
heiligen Schriften

C.H.BECK

Zum Buch

Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat viele gängige Annahmen über die Geschichte Israels und die Entstehung der Bibel revidiert. Ereignisse wie der Auszug aus Ägypten oder der Tempelbau unter König Salomo gelten nicht länger als historisch. Damit verschärft sich die Frage, wie die großen Geschichten des Alten Testaments entstanden sind und wann sie Teil «heiliger Schriften» wurden. Auch gängige Annahmen über die Sammlung der Evangelien oder frühe Apostelbriefe stehen neu auf dem Prüfstand. Das vorliegende Buch beschreibt auf dem aktuellen Forschungsstand den langen Weg von frühen Erzählungen des alten Israel über Schlüsseltexte des jüdischen Monotheismus und des frühen Christentums bis hin zu heiligen Büchern der Weltreligionen Judentum und Christentum. Wer wissen will, wie es zu einem solchen überlieferungsgeschichtlichen Wunder kommen konnte, sollte diese Biographie des berühmtesten Buches der Welt lesen.

Über die Autoren

Konrad Schmid ist Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Zürich. Er hat u.a. in Jerusalem und Princeton gelehrt und ist Mitherausgeber international bedeutender Buchreihen und Zeitschriften.

Jens Schröter ist Professor für Neues Testament und neutestamentliche Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat u.a. in Houston und Jerusalem gelehrt und ist Mitherausgeber international einschlägiger Buchreihen und Zeitschriften.

Inhalt

Einführung: Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften

1. Die Bibeln des Judentums und des Christentums

Was ist «die Bibel»?

Jüdische und christliche Bibeln

«Tanak», «Altes Testament» und «Neues Testament»

Gliederungen des Bibeltextes

Die Überlieferung des Bibeltextes

«Kanonisch», «pseudepigraph», «apokryph»

2. Schriftkultur und Literaturproduktion in der Königszeit Israels und Judas
10. bis 6. Jahrhundert v. Chr.

Die Anfänge der Hebräischen Bibel in historischer und in biblischer Sicht

Von der Kultreligion zur Buchreligion

Das Aufkommen der Schriftkultur in der Levante

Die Literatur der frühen Königszeit

a) Die beiden Königreiche Israel und Juda

b) Die Jakobsüberlieferungen

c) Die Mose-Exodus-Erzählung

d) Königszeitliche Psalmen

e) Die Weisheitsliteratur

Der Untergang Israels und seine Folgen für Juda

Die Anfänge der Schriftprophetie

Die Rechtsüberlieferung

Das Deuteronomium als Kern des späteren Kanons

3. Das entstehende Judentum und die biblischen Schriften
in der babylonischen und der persischen Zeit
6. bis 4. Jahrhundert v. Chr.

Erzählte Zeit und Zeit der Erzähler

Der Verlust des Tempelkults in Jerusalem und seine Folgen

Literaturproduktion im babylonischen Exil

Die Entstehung des Judentums und des Monotheismus

Der Zweite Tempel und seine Literatur

a) «Theokratische» Konzepte:
Priesterschrift und Chronikbücher

b) «Eschatologische» Konzepte:
Prophetische und deuteronomistische Texte

c) Die Verzögerung des Heils

Die Formierung der Tora im Rahmen der persischen Reichsautorisation

Innerbiblische Schriftauslegung

Ein neues Menschenbild

Das Hiobbuch

4. Schriften und Schriftgebrauch
im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit
3. Jahrhundert v. Chr. bis 1. Jahrhundert n. Chr.

Das Ende des Perserreichs und das Aufkommen des Hellenismus

Apokalyptische Offenbarungsliteratur und das biblische Gegenkonzept des Kohelet

Die Ausrichtung der Prophetie an der Tora und der Abschluss von Neviim

«Rewritten Bible»

a) Das chronistische Geschichtswerk:
Chronik – Esra – Nehemia

b) Das Jubiläenbuch und andere parabiblische Texte

Die Schriften vom Toten Meer

Die Entstehung der Septuaginta

a) Der Aristeasbrief

b) Jüdische und christliche Bearbeitungen

Die Samaritaner und der samaritanische Pentateuch

Philo von Alexandria

5. Die Schriften des antiken Judentums im entstehenden Christentum
1./2. Jahrhundert

Die Geltung der verbindlichen Schriften und Schriftengruppen Israels

a) Bezugnahmen in frühchristlichen Texten

b) Aramäisch – Hebräisch – Griechisch

Jesu Perspektive auf die Schriften Israels

Die christologische Schriftauslegung des frühen Christentums

a) Die ersten Gemeinden in Jerusalem und Antiochia

b) Grundaussagen des christlichen Glaubens im Horizont der Schriften Israels

Die Schriften Israels in der Geschichte des frühen Christentums

6. Die Formierung der christlichen Bibel
und die Entstehung weiterer Traditionsliteratur
1. bis 4. Jahrhundert

Juden und Christen – «Trennung(en) der Wege»?

a) Profilbildung christlicher Gemeinschaften

b) Die Fortschreibung jüdischer Schriften durch christliche Autoren

c) «Juden» und «Christen»

Die literarische Welt des frühen Christentums im Überblick

a) Die 27 Schriften des Neuen Testaments (50–150 n. Chr.)

b) Nichtkanonische Texte: «Apostolische Väter» und «Apokryphen»

Die Jesusüberlieferung und die Evangelien

a) Paulus und die «kanonischen» Evangelien

b) Weitere Jesusüberlieferungen und «apokryphe» Evangelien

c) Die Entstehung der Vierevangeliensammlung

Sammlungen der Paulusbriefe und die Arbeit des Markion

Die Formierung und Anordnung des neutestamentlichen Textkorpus

Die christliche Bibel Alten und Neuen Testaments

7. Die Formierung der jüdischen Bibel und die Entstehung von Mischna und Talmud
1. bis 6. Jahrhundert

Der Abschluss des dritten Kanonteils «Ketuvim»

Die Herausbildung einer abgeschlossenen Bücherliste

Der Talmud als Diskurs um die rechte Praxis

Zweierlei Diaspora?

Christlich-jüdische Diskussionen über die heiligen Schriften

8. Zur Wirkungsgeschichte der jüdischen und der christlichen Bibel

Übersetzungen und ihre Verbreitung

Traditionen christlicher Bibelübersetzungen

Ein weit verzweigter Baum: Die Bibel im Judentum

Via moderna: Die Bibel in den Kirchen des Westens

Die Bibel in der östlichen Theologie und Frömmigkeit

Andere Zugänge zur Bibel

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Einführung: Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften

1. Die Bibeln des Judentums und des Christentums

2. Schriftkultur und Literaturproduktion in der Königszeit Israels und Judas

3. Das entstehende Judentum und die biblischen Schriften in der babylonischen und persischen Zeit

4. Schriften und Schriftgebrauch im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit

5. Die Schriften des antiken Judentums im entstehenden Christentum

6. Die Formierung der christlichen Bibel und die Entstehung weiterer Traditionsliteratur

7. Die Formierung der jüdischen Bibel und die Entstehung von Mischna und Talmud

8. Zur Wirkungsgeschichte der jüdischen und der christlichen Bibel

Literatur

Einführung: Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften

1. Die Bibeln des Judentums und des Christentums

2. Schriftkultur und Literaturproduktion in der Königszeit Israels und Judas

3. Das entstehende Judentum und die biblischen Schriften in der babylonischen und der persischen Zeit

4. Schriften und Schriftgebrauch im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit

5. Die Schriften des antiken Judentums im entstehenden Christentum

6. Die Formierung der christlichen Bibel und die Entstehung weiterer Traditionsliteratur

7. Die Formierung der jüdischen Bibel und die Entstehung von Mischna und Talmud

8. Zur Wirkungsgeschichte der jüdischen und der christlichen Bibel

Bildnachweis

Register

1. Bibelstellenregister

A. Hebräische Bibel/Altes Testament

B. Zusätzliche Schriften der Septuaginta

C. Neues Testament

2. Register antiker Autoren und Schriften

A. Frühjüdische und rabbinische Schriften

Qumran

Weitere frühjüdische und rabbinische Schriften

B. Frühchristliche Autoren und Schriften außerhalb der Bibel

Apostolische Väter

Antike christliche Apokryphen

Weitere antike christliche Autoren bzw. Schriften

C. Pagane antike Autoren und Schriften

3. Namen- und Sachregister

Einführung: Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften

Im Zentrum vieler Religionen stehen normative, «heilige» Texte.[1] Das gilt in besonderer Weise für Judentum, Christentum und Islam, die deshalb auch als «Buchreligionen»[2] bezeichnet werden. Judentum und Christentum sind dabei eng miteinander verbunden: Die jüdische und die christliche Bibel teilen einen wesentlichen Teil ihrer verbindlichen Schriften miteinander und wurzeln gemeinsam in denjenigen Entwicklungen, die zur Entstehung und Sammlung dieser Schriften geführt haben. Später haben sich die Wege verzweigt und sind in die Entstehung der jüdischen Bibel einerseits, der christlichen Bibel andererseits gemündet. Diese Entwicklungen, von den Anfängen der Schriftkultur Israels bis zur Herausbildung von Sammlungen autoritativer Schriften in Judentum und Christentum, sollen im vorliegenden Buch nachgezeichnet werden. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Geschichte der christlichen Bibel nicht angemessen erfasst werden kann, ohne dass zugleich die Geschichte der jüdischen Bibel in den Blick genommen wird. Beide Bibeln haben eine gemeinsame Geschichte, und die Entwicklungen hin zu ihrer je eigenen Gestalt haben sich gegenseitig beeinflusst.[3]

Die Bibel stellt die verbindliche Grundlage des Judentums und des Christentums dar. Sie versammelt diejenigen Schriften, die als göttlich inspiriert oder «kanonisch»,[4] in jedem Fall aber als orientierender Maßstab gelten. Deshalb wurden und werden sie in Geschichte und Gegenwart des Judentums und des Christentums immer wieder ausgelegt und im religiösen und kulturellen Leben angeeignet. Warum es gerade diese Texte sind, die als «biblische Schriften» Autorität erlangten, und in welchem Verhältnis sie zu anderen, nichtbiblischen Schriften stehen, ist eine vieldiskutierte Frage, die in die Entstehungsgeschichte der Bibel unmittelbar hineingehört. Sie wird deshalb auch in diesem Buch behandelt werden, sowohl im Blick auf die jüdische Bibel als auch auf die beiden Teile der christlichen Bibel – das Alte Testament und das Neue Testament.

Die in der jüdischen und der christlichen Bibel versammelten Bücher sind über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten und in unterschiedlichen geographischen Zusammenhängen – von Babylon über Jerusalem, Antiochia und Alexandria bis nach Rom – entstanden. Eine Geschichte der Bibel muss deshalb auch die Kontexte berücksichtigen, in denen die biblischen Schriften verfasst, fortgeschrieben, zusammengestellt und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden.[5] In den einzelnen Teilen dieses Buches treten deshalb die sozialen, politischen und religiösen Konstellationen der Geschichte Israels, des antiken Judentums und des antiken Christentums in den Blick, die für das Verständnis der Entstehung und Überlieferung der biblischen Schriften maßgeblich sind. Dazu gehören die vorexilische Zeit sowie das babylonische Exil in der Geschichte Israels, die sich hieran anschließende persische Epoche, in der sich das Judentum herausbildete, die mit den Eroberungszügen Alexanders des Großen einsetzende Periode des «Hellenismus» sowie schließlich die Zeit der römischen Herrschaft über den Mittelmeerraum. Alle diese Epochen haben ihre Spuren in der Geschichte des antiken Judentums und des entstehenden Christentums hinterlassen. Sie haben sich auch in den Schriften, die in diesen Zeiträumen entstanden sind, niedergeschlagen. Dieser zunächst selbstverständlich anmutende Befund bedeutet, dass die jüdische und die christliche Bibel vielfältige Gebilde sind, bei denen von vornherein keine Einheitlichkeit im Blick auf die jeweils vorausgesetzte historische Situation zu erwarten ist. Sowohl die jüdische als auch die christliche Bibel sind vielmehr Sammlungen ganz unterschiedlicher Schriften – sowohl im Blick auf ihre Entstehungssituation als auch hinsichtlich ihrer literarischen Gestalt und ihres theologischen Profils. Um diese Vielfalt deutlich zu machen, untersucht das vorliegende Buch diejenigen Entwicklungen, die von der Abfassung erster schriftlicher Zeugnisse bis hin zur Herstellung großer Kodizes mit den biblischen Büchern geführt haben.

Behandelt werden darüber hinaus auch Wirkungen, die die Bibel in der Geschichte des Judentums und des Christentums hervorgerufen hat.[6] Die Geschichte beider Religionen lässt sich als Auslegungsgeschichte der Bibel darstellen. Die unterschiedlichen Ausprägungen des Judentums sowie die verschiedenen christlichen Konfessionen unterscheiden sich nicht zuletzt hinsichtlich ihres Umgangs mit der Bibel. Orthodoxe Juden haben ein anderes Verständnis von der Auslegung der Tora als liberale, christlich-orthodoxe Kirchen, die römisch-katholische Kirche und die reformatorischen Kirchen haben je eigene Auffassungen von der Interpretation der Bibel und ihrer Rolle für Theologie und Liturgie.

Im Judentum wie im Christentum stehen neben Fortschreibungen und Kommentaren zur Bibel der gottesdienstliche Gebrauch biblischer Texte in Liturgie und Predigt, die Rezeptionen in Musik und Literatur sowie bildliche Darstellungen biblischer Figuren und Ereignisse. Diese Auslegungsformen biblischer Texte lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen – in die jüdischen und christlichen Gottesdienste, in theologische Dichtungen und in bildliche Darstellungen biblischer Figuren und Motive. Aus diesen Anfängen hat sich eine reiche Welt der Darstellung, Memorierung und Rezitierung biblischer Inhalte entwickelt, die die Kulturgeschichte des Judentums und des Christentums tief geprägt hat.

Die gemeinsame Betrachtung der jüdischen und der christlichen Bibel weist darauf hin, dass die Entwicklungen, die zu diesen Schriftensammlungen geführt haben, eng miteinander verbunden sind. Das mag auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, besteht doch der erste und weitaus größere Teil der christlichen Bibel, das «Alte Testament», aus solchen Schriften, die auch im Judentum als autoritative Texte anerkannt sind. Gleichwohl sind das christliche «Alte Testament» und die jüdische Bibel nicht einfach miteinander gleichzusetzen. Das Christentum hat sich die Schriften Israels und des Judentums aus der Perspektive seiner Glaubensüberzeugungen angeeignet und sie entsprechend interpretiert. Das hat sich in Umfang und Anordnung dieser Schriften niedergeschlagen, die sich von einer jüdischen Bibel in mehrfacher Hinsicht unterscheiden. Die jüdische und die christliche Bibel haben sich zudem in ihren Entstehungs- und Entwicklungsprozessen gegenseitig beeinflusst, sind also parallel zueinander entstanden, zum Teil auch in Abgrenzung voneinander. Die Schriften Israels und des Judentums haben demnach eine zweifache Rezeptionsgeschichte, die zur jüdischen und zur christlichen Bibel geführt hat. Eine isolierte Behandlung der Entstehung der christlichen Bibel oder nur ihres neutestamentlichen Teils, wie sie in früheren Darstellungen gelegentlich anzutreffen ist, ist deshalb heute nicht mehr angemessen.

Die Geschichte der Literatur Israels und des Judentums beginnt mit dem Aufkommen einer Schriftkultur in den Königreichen Israel und Juda und der Herstellung erster Texte in vorexilischer Zeit. Hieran knüpfen die Prozesse der Literaturwerdung und Entstehung von Schriftenkorpora in der babylonischen, persischen und hellenistisch-römischen Zeit (also etwa in den letzten drei vorchristlichen Jahrhunderten) an. In diese Zeit fallen auch die Übersetzung dieser Sammlungen (beginnend mit der Tora) ins Griechische (die sogenannte «Septuaginta») sowie die Entstehung einer breiten Auslegungs- und Fortschreibungsliteratur.

Von großer Bedeutung sind dabei die Funde von Qumran, die unsere Kenntnis des Judentums der hellenistisch-römischen Zeit sowie der Fortschreibung und Interpretation von Tora und Propheten bereichert und verändert haben. Aufschlussreich ist auch das Werk des jüdischen Religionsphilosophen Philo aus Alexandria (ca. 20 v. Chr. – nach 40 n. Chr.), der mehrere Kommentarwerke zur Tora verfasst hat.

Das entstehende Christentum und das rabbinische Judentum, in dem die Diskussion der Rabbinen, der jüdischen Lehrautoritäten der römischen Zeit, um den Sinn der Schrift ganz in den Mittelpunkt der Religion rücken, setzen diese Entwicklungen voraus und führen sie in je eigener Weise fort. Im Christentum entstehen eigene Schriften, die Weg und Wirken Jesu erzählen und es als Heilshandeln Gottes für alle Menschen deuten. Diese Schriften werden ebenfalls in Sammlungen miteinander verbunden und treten als «Neues Testament» neben die Schriften Israels, die dadurch als «Altes Testament» in eine neue Perspektive gerückt werden. Im Judentum, das sich nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels als rabbinisches Judentum neu formiert, entsteht dagegen – nicht zuletzt als Reaktion auf die Verwendung der autoritativen Schriften seitens der Christen – mit der dreiteiligen, aus hebräischen (bzw. aramäischen) Schriften bestehenden jüdischen Bibel eine eigene Schriftensammlung. Sie ist die Grundlage für das Selbstverständnis des jüdischen Volkes, seines Gottesglaubens, seiner Kultur und seines Ethos. Als Konsequenz dieser Entwicklungen, die etwa vom 1. bis zum 4. Jahrhundert dauern, treten jüdische und christliche Bibel als Grundlage für das Judentum und das Christentum nebeneinander und bleiben doch zugleich miteinander verbunden.

Die jüdische und die christliche Bibel haben niemals als fest abgegrenzte Sammlungen existiert. Vielmehr stehen die autoritativen Schriften von Beginn an im Kontext weiterer Texte und Traditionen, die ebenfalls für das religiöse Leben, für Ritus und Ethos von Judentum und Christentum von Bedeutung sind. Dazu gehören Schriften, die heute mitunter als «Apokryphen» oder «Pseudepigraphen» bezeichnet werden. Die Grenzen zwischen anerkannten «kanonischen» Schriften und solchen in deren Umfeld wurden jedoch weniger scharf gezogen, als es heute erscheinen mag. Heute verlaufen sie in den verschiedenen christlichen Kirchen und Konfessionen in unterschiedlicher Weise. Eine Geschichte der Entstehung der jüdischen und der christlichen Bibel muss deshalb nicht zuletzt das Verhältnis der biblischen zu nichtkanonischen Schriften einbeziehen.

Dabei wird deutlich, dass die Vorstellung von einem abgeschlossenen «Kanon» von Schriften im Blick auf beide Religions- und Kulturkreise zu undifferenziert ist. Die Entstehung verbindlicher Schriftensammlungen war von Beginn an in ein breites Feld von Traditionen und Auslegungen eingebettet, die diese Schriften für das Leben von Juden und Christen erschlossen und sie durch Fortschreibungen und Kommentierungen auf spätere Situationen hin auslegten. Diese Auslegungsprozesse, die sich nicht nur in Texten, sondern auch in mündlichen Überlieferungen, bildlichen Darstellungen und rituellen Vergegenwärtigungen niedergeschlagen haben, sind deshalb Teil der Geschichte der jüdischen und der christlichen Bibel. Zu dieser gehören nicht nur die Überlieferung und Sammlung der biblischen Schriften selbst, sondern auch ihre Wirkungsgeschichte in Judentum und Christentum sowie ihre Bedeutung für Ethik und Kultur derjenigen Kulturkreise, die von beiden geprägt wurden.

Die Bibel war zudem niemals die einzige und auch nicht immer die maßgebliche Grundlage für das Judentum und das Christentum. Sie entstand im 1. Jahrtausend v. Chr. und in den ersten zwei Jahrhunderten nach Christus. In diesen Zeiträumen waren Judentum und Christentum keineswegs ausschließlich durch «heilige Texte» geprägt. In der Geschichte Israels hat sich die Schriftkultur erst allmählich entwickelt, auch wenn das Alte Testament ein anderes Bild vermittelt. Dem Alten Testament zufolge steht die Offenbarung der Tora an Mose am Anfang der Geschichte Gottes mit Israel und stellt als Verpflichtung Israels auf die von Gott gegebene Tora die theologische Basis für die Geschichte Israels dar. Tatsächlich entwickelte sich die Schriftkultur in Israel aber erst seit dem 9. oder 8. Jahrhundert v. Chr. allmählich aus einer zuvor mündlich geprägten Überlieferungskultur. Nur ein geringer Teil der Bevölkerung konnte lesen und schreiben. Daher ist auch nach dem konkreten Ort von «Schrift» innerhalb des Sozialgefüges des antiken Israel, des Judentums und des frühen Christentums zu fragen. Schriftrollen oder Kodizes wurden in der Regel von professionellen Schreibern hergestellt, Orte für Herstellung und Gebrauch von Schriften waren in Israel zunächst vornehmlich Tempel und Palast. Das bedeutet, dass die späteren Bücher der Bibel zunächst von denjenigen Kreisen gelesen und studiert wurden, in denen sie auch geschrieben worden waren.

Dies hat sich erst in hellenistischer und römischer Zeit durch die Ausbreitung der Schriftkultur verändert. Für das Judentum dieser Zeit kann, ebenso wie für das entstehende Christentum, davon ausgegangen werden, dass Schriften nicht nur für den liturgischen Gebrauch verwendet, sondern auch privat gelesen wurden. Erst so konnte die Schrift in Judentum und Christentum eine größere Bedeutung entfalten.

Damit hängen die Herstellung, Vervielfältigung, Verbreitung und der Gebrauch von Texten zusammen. Die Verwendung verbindlicher Schriften im Judentum und im Christentum sowie das Verhältnis zwischen anerkannten und umstrittenen oder abgelehnten Schriften zeigt sich auch anhand der erhaltenen materialen Zeugnisse. Ab wann im Judentum die Tora eine grundlegende Bedeutung erlangte oder wie sich die vier Evangelien des Neuen Testaments zu anderen, «apokryphen» Evangelien in der Geschichte des Christentums verhielten, ist nicht zuletzt anhand der Manuskripte darzustellen, die erhalten sind und die Aufschluss über den Gebrauch dieser Schriften und Schriftensammlungen im antiken Judentum und im frühen Christentum geben.

Damit sind die grundlegenden Aspekte benannt, die in diesem Buch zur Sprache kommen sollen. Wir setzen dazu bei der Frage ein, was «die Bibel» eigentlich ist. Diese Frage kann nur unter Berücksichtigung der vielgestaltigen Überlieferung der biblischen Schriften beantwortet werden (Kapitel 1). Des Weiteren sollen die Fragen, wie sich die jüdische Bibel zum christlichen «Alten Testament» verhält und wie sich biblische von nichtbiblischen Schriften unterscheiden, behandelt werden. Daran schließt sich eine Reihe chronologisch geordneter Kapitel an, die die Entwicklung der Bibel von ihren ersten Texten bis zu den heiligen Schriften des Judentums und des Christentums nachzeichnen. Zunächst wird es darum gehen, wann und wie sich in Israel und Juda überhaupt eine Schriftkultur entwickelte und wie erste Schriften entstanden, die die Grundlage einer späteren verbindlichen Schriftensammlung bildeten (Kapitel 2). Daran anschließend wird die jüdische Literatur der Zeit des babylonischen Exils sowie der sich hieran anschließenden persischen Epoche behandelt (Kapitel 3). In dieser Zeit setzt ein für die jüdische wie die christliche Bibel gleichermaßen wichtiger Prozess ein, der sich als «innerbiblische Schriftauslegung» bezeichnen lässt. Damit werden Auslegungen und Fortschreibungen bereits existierender Texte, zum Teil in Form von paraphrasierenden, aktualisierenden Neuerzählungen bezeichnet, die dann selbst zum Bestand der Bibel werden. Dies setzt sich im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit fort (Kapitel 4). Nun entstehen weitere Schriften, von denen sich einige allmählich zum dritten Teil der Hebräischen Bibel neben Tora und Propheten, den sogenannten «Schriften», formieren. Darüber hinaus entstehen weitere Schriften, die sich im späteren rabbinischen oder auch «klassischen» Judentum nicht durchsetzen können, aber von manchen orthodoxen Kirchen weiterüberliefert werden. Dazu gehören apokalyptische Texte, deren Anfänge in einer bestimmten Phase der Geschichte des Judentums liegen und die dann sowohl vom Judentum als auch vom Christentum eine Zeitlang fortgeschrieben werden. Schließlich werden in dieser Zeit auch erste Übersetzungen der hebräischen bzw. aramäischen Schriften angefertigt und kommentarartige Werke verfasst.

Das entstehende Christentum setzt diese reiche und vielfältige jüdische Literatur voraus. Jesus selbst bezieht sich auf diese Schriften und stellt sein eigenes Wirken in ihren Horizont. Das entstehende Christentum deutet diese Schriften sodann aus der Perspektive der Auferstehung als in Jesus Christus erfüllt (Kapitel 5).

Neben die Schriften Israels und des Judentums treten im Christentum eigene Texte, die verbindlichen Charakter erlangen (Kapitel 6). Dabei handelt es sich um deutende Erzählungen über das Wirken Jesu, um Briefe an frühchristliche Gemeinden und weitere Schriften, die die Geschichte Gottes mit Israel von seiner Offenbarung in Jesus Christus her deuten. Auf diese Weise entsteht allmählich das «Neue Testament», das gemeinsam mit dem «Alten Testament» die Bibel des Christentums bilden wird.

Die literarische Produktion des Christentums umfasst jedoch deutlich mehr Schriften als die, die in das Neue Testament gelangt sind. Diese sogenannten «Apokryphen» geben wichtige Einblicke in die soziale Welt des frühen Christentums, seine Frömmigkeit und sein Ethos. Damit wird deutlich, dass die Schriften, die im Lauf der ersten christlichen Jahrhunderte zum «Neuen Testament» werden, in ähnlicher Weise wie die Schriften Israels und des Judentums im Kontext des Lebens und Glaubens der frühen Christen interpretiert werden müssen.

Die jüdische und die christliche Bibel bilden sich im Verlauf der ersten christlichen Jahrhunderte heraus. Im Judentum entsteht dabei die Vorstellung eines abgeschlossenen Korpus verbindlicher Bücher, das sich in Tora, Propheten und «Schriften» gliedert. Im Christentum formiert sich parallel dazu die Bibel Alten und Neuen Testaments, die ab dem 4. Jahrhundert auch in großen Kodizes hergestellt werden kann (obwohl dies die Ausnahme bleibt und die Bibel bis ins Mittelalter in der Regel in Form mehrerer Bücher existiert). Die Entwicklungen hin zur jüdischen und zur christlichen Bibel sind von vielfältigen Diskussionen, Kontroversen und Abgrenzungen begleitet. Diese Diskurse weisen darauf hin, dass sich jüdisches und christliches Selbstverständnis in wechselseitigen Beeinflussungen und Auseinandersetzungen herausbilden (Kapitel 7).

Die jüdische und die christliche Bibel werden in unterschiedlicher Weise rezipiert und angeeignet (Kapitel 8). Die Auslegungen für das Leben von Juden und Christen, die Verwendung in der Liturgie, die Rezeptionen in der bildenden Kunst, in Musik und Literatur verbinden die Bibeln mit der jeweiligen Gegenwart. Eine knappe Skizze zur Rezeption der Bibel in unterschiedlichen religiösen und kulturellen Zusammenhängen, einschließlich eines Ausblicks, der nach den Möglichkeiten heutiger Bibellektüre fragt, beschließt das Buch.[7]

1. Die Bibeln des Judentums und des Christentums

Was ist «die Bibel»?

Auf den ersten Blick mag die Frage, was «die Bibel» ist, verwundern. Man könnte ein Buch aus dem Regal ziehen, auf dessen Einband «Die Bibel» steht, und damit die Frage für beantwortet halten. Würde man die Frage allerdings Menschen verschiedener Sprache, Konfession oder Religion stellen, dann sähen die von ihnen zur Beantwortung beigebrachten Bibeln sehr unterschiedlich aus. Eine deutsche Lutheranerin würde vermutlich eine Lutherbibel, vielleicht ein Erbstück von 1912 oder eine Neuausgabe von 2017, vorzeigen, ein deutscher Katholik eine Einheitsübersetzung aus dem Jahr 2016, eine reformierte Christin aus der Schweiz die «Zürcher Bibel» in der Revision von 2007. Diese Bibeln unterscheiden sich nicht nur in der Übersetzung und deren Revisionen voneinander, sondern auch hinsichtlich der Anzahl sowie der Anordnung der in ihnen enthaltenen Bücher. Der Blick würde sich weiten durch Bibeln in anderen europäischen Sprachen, etwa durch die «King James Version» und die «New Revised Standard Version», zwei englische Bibelübersetzungen mit je eigenem sprachlichem Profil und unterschiedlicher theologischer Prägung. Das Bild würde sich noch weiter differenzieren, wenn man über den Bereich des gegenwärtigen westlichen Christentums hinausblickt. Das Alte Testament eines orthodoxen Christen, etwa aus Armenien oder Russland, enthält Bücher, die sich in den westeuropäischen Bibelausgaben nicht finden. Blicken wir in andere Epochen der Geschichte des Christentums, wird das Panorama noch bunter: Im Neuen Testament eines syrischen Christen aus dem 3. Jahrhundert fände sich anstelle der vier Evangelien ein Buch mit dem Titel «Diatessaron», das eine Erzählung vom Leben und Wirken Jesu Christi mit Erzählungen aus allen vier Evangelien des sonst bekannten Neuen Testaments enthält. Juden aus dem Mittelalter würden eine hebräische oder arabische Bibel beisteuern, solche aus dem antiken Alexandria dagegen eine griechische. Diese jüdischen Bibeln würden sich in Umfang und Anordnung der in ihnen enthaltenen Bücher voneinander unterscheiden.

Schon diese Überlegungen zeigen, dass es «die Bibel» nicht gibt. Bibeln existieren vielmehr seit jeher in unterschiedlichen Umfängen, Anordnungen und Sprachen.[1] Die eingangs gestellte Frage «Was ist die Bibel?» wäre deshalb wohl am besten so zu beantworten, dass man einen Bücherschrank mit Bibeln unterschiedlicher Übersetzungen, verschiedenen Umfangs und je eigener Anordnung der in ihnen enthaltenen Bücher zusammenstellt. Damit würde die Vielfalt von jüdischen und christlichen Bibeln von der Antike bis zur Gegenwart vor Augen geführt. Diese Vielfalt ist Ausdruck der lebendigen Geschichte des Verhältnisses von Judentum und Christentum, die durch ihren Bezug auf die biblischen Schriften zugleich miteinander verbunden und voneinander getrennt sind. Sie ist darüber hinaus ein Reflex der Geschichte des Christentums, seiner historischen Ausprägungen und verschiedenen Konfessionen. «Die Bibel» als Sammlung der verbindlichen, autoritativen Schriften von Judentum und Christentum ist demnach nicht nur Glaubensgrundlage, sondern auch Zeugnis ihrer gemeinsamen und ihrer je eigenen Geschichte, die sich bis in die Gegenwart hinein in der Mannigfaltigkeit ihrer Lebens- und Glaubensformen widerspiegelt.

Auf diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede, auf Einheit und Vielfalt, verweist bereits der Name: «Bibel» ist von biblía abgeleitet, dem griechischen Begriff für «Bücher». Der Singular heißt biblíon und bedeutet «Buch, Schrift, Dokument».[2] Das macht deutlich, dass die Bibel ein Buch ist, das jedoch viele Bücher in sich versammelt. Gelegentlich wird sie deshalb auch «Buch der Bücher» genannt, wobei die Doppeldeutigkeit – «ein Buch, das aus vielen Büchern besteht» und «das wichtigste, das eigentliche Buch» – gern in Kauf genommen wird.

Die entsprechende Terminologie findet sich schon in der Bibel selbst. Bereits die griechische Übersetzung des hebräischen Begriffs sefarim («Bücher») in Daniel 9,2 nennt die biblischen Schriften biblía. In 1. Makkabäer 12,9 heißen sie «heilige Bücher» (tà biblía tà hagía); bei den jüdischen Autoren Philo von Alexandria (ca. 15 v. Chr.–ca. 40 n. Chr.) und Flavius Josephus (ca. 37–ca. 100 n. Chr.) begegnen die Bezeichnungen «heilige Bücher» (hieraì bíbloi) und «heilige Schriften» (hieraì grafaí) für die Tora, aber auch für weitere Schriften, die im Judentum autoritative Geltung erlangten.[3] Paulus nennt die Schriften Israels mit einem ähnlichen Ausdruck «heilige Schriften» (grafaì hagíai, Römer 1,2). Verwandt ist die Bezeichnung «heilige Bücher» (hierà grámmata) in 2. Timotheus 3,15. Später ist dann von «Büchern des Alten Bundes» und «Büchern des Neuen Bundes» die Rede. Hieronymus spricht im 4. Jahrhundert davon, dass er «viele Bücher der Heiligen Bibliothek» besitze.[4] Vom 9. Jahrhundert an ist die Bezeichnung «Bibel» dann als Sammelbezeichnung für die Bücher des Alten und Neuen Testaments geläufig.[5] Es gab demnach von Beginn an ein Bewusstsein dafür, dass «die Bibel» aus vielen Büchern besteht, es sich also eigentlich um einen Pluralbegriff handelt.

Die Bibel ist demnach genau genommen kein Buch, sondern eine Büchersammlung oder eine «Bibliothek». In dieser Form – als Sammlung meist mehrteiliger Bücher, etwa der fünf Bücher der Tora (bzw. des Pentateuch) oder der vier Evangelien – wurde sie lange Zeit produziert und auch bildlich dargestellt. Ein Beispiel ist die Abbildung aus dem Codex Amiatinus, einem der bedeutendsten Bibelkodizes des frühen Mittelalters.[6] Zu sehen ist Esra vor einem Schrank, in dem sich die Bibel in neun Bänden befindet. Vorlage für diese Zeichnung dürfte das Skriptorium eines Klosters sowie dessen Leiter gewesen sein.

Der Prophet Esra, Codex Amiatinus, frühes 8. Jahrhundert, aus einem Kloster in Northumbrien

Dass ein Buch (oder ein Kodex) die gesamte jüdische oder christliche Bibel enthält, ist erst seit der Erfindung des Buchdrucks die gängige Herstellungs- und Verbreitungsform geworden. In den vorangegangenen Jahrhunderten war die Vielfalt der Bibel dagegen auch physisch wahrnehmbar. Darin spiegelt sich ihre komplexe Entstehungsgeschichte wider, die mit der Abfassung einzelner Schriften beginnt, die dann in vielfältigen, miteinander verwobenen und sich gegenseitig beeinflussenden Prozessen zur jüdischen und zur christlichen Bibel geworden sind. Diese Vielfalt der Bibel wahrzunehmen, ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie bewusst macht, dass wir es nicht mit einer fest umgrenzten Sammlung zu tun haben, sondern mit einer Zusammenstellung, die in Umfang und Textgestalt variiert und deren Grenzen zu anderen Schriften oft durchlässig sind.

Jüdische und christliche Bibeln

Der auffälligste Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Bibeln besteht darin, dass christliche Bibeln aus zwei Teilen bestehen: dem nur christlich so genannten «Alten Testament» und dem «Neuen Testament». Jüdische Bibeln enthalten dagegen nur solche Schriften, die auch im «Alten Testament» begegnen. Allerdings sind jüdische Bibeln nicht einfach mit einem christlichen «Alten Testament» identisch. Eine christliche Bibel ohne das Neue Testament ist noch keine jüdische Bibel, sondern nur ein Altes Testament. Das wird noch genauer darzulegen sein.

Jüdische und christliche Bibeln unterscheiden sich aber auch in ihrer äußeren Erscheinungsform. Im Judentum wurden biblische Bücher seit der Antike auf Rollen geschrieben, dem bis zum dritten nachchristlichen Jahrhundert auch in anderen antiken Kulturen, etwa in Ägypten, Griechenland und Rom, vorherrschenden Buchformat. Auf einer Rolle befand sich ein wichtiger Teil der Bibel, etwa die Tora, das Buch eines großen Schriftpropheten (etwa Jesaja, allein die Jesajarolle aus Qumran ist über acht Meter lang) oder das Zwölfprophetenbuch, das die kürzeren Prophetenbücher versammelt.[7] Rollen wurden noch bis ins Mittelalter hinein hergestellt, allerdings setzte sich seit dem 4. Jahrhundert das Kodexformat immer stärker durch. Kodizes wurden aus aufeinandergelegten Blättern, anfänglich aus Holz oder Wachs, später aus Papyrus oder Pergament, hergestellt, die ähnlich wie bei heutigen Büchern am Rand zusammengebunden wurden, was eine deutlich praktischere Handhabung ermöglichte. Buchrollen erhielten dadurch einen besonderen Status. Im Judentum zeigt sich dies bis in die Gegenwart darin, dass im Synagogengottesdienst aus Torarollen vorgelesen wird.

Die Christen verwendeten dagegen von Beginn an Kodizes für ihre Schriften. Das ist umso bemerkenswerter, als die gottesdienstliche Praxis der Verlesung der Schriften Israels aus Rollen Jesus und seinen frühen Anhängern, aber auch Paulus und seinen Mitarbeitern, die alle selbst aus dem Judentum stammten, vertraut war. In Lukas 4,16–20 wird beschrieben, wie Jesus in der Synagoge zu Nazaret aus einer Rolle mit dem Buch des Propheten Jesaja liest, die vor der Verlesung aufgerollt und danach wieder zusammengerollt wird. Ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um eine historische Begebenheit handelt, gibt diese Schilderung den Gebrauch «heiliger Schriften» in der Synagoge zutreffend wieder.

Christliche Manuskripte sind dagegen von den ältesten greifbaren Zeugnissen aus dem 2. Jahrhundert an nahezu ausschließlich Kodizes, keine Rollen.[8] Über mögliche Gründe dafür ist viel diskutiert worden. Es können verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt haben, die sich nicht gegenseitig ausschließen. So könnten bereits in früher Zeit Jesusworte oder Spruchsammlungen zur Bewahrung und Verbreitung aufgezeichnet worden sein. Dafür mögen sich Kodizes angeboten haben, weil sie handlich und leicht zu transportieren waren. Wandernde Missionare und Apostel könnten auch Kodizes mit Evangelien oder Apostelbriefen auf ihren Missionsreisen mit sich geführt haben, um daraus in den Orten, an denen sie missionierten, vorzutragen. Vielleicht sollten auch die Briefe des Paulus oder mehrere Evangelien in Kodizes zusammengebunden werden, um auf diese Weise einen Schriftenbestand zu schaffen, auf den in frühchristlichen Gemeindeversammlungen zurückgegriffen werden konnte. Jedenfalls waren Kodizes preiswert herzustellen und ermöglichten eine praktische Verwendung in Gemeindeversammlungen und auf Missionsreisen. Nicht zuletzt dürften Kodizes als unspektakuläre, preisgünstige Produkte dem sozialen Status der meisten Christen und der Stellung christlicher Gemeinden in den ersten Jahrhunderten eher entsprochen haben als aufwändig hergestellte Schriftrollen.

Die christlichen Schriften der ersten Jahrhunderte waren demnach schon von ihrer äußeren Erscheinung her deutlich von jüdischen Schriftrollen unterschieden. Kodizes waren in dieser Zeit kleine Bücher von etwa 15 bis 25 Zentimetern Höhe, hatten also Taschenbuchformat. Sie enthielten zunächst in der Regel eine Schrift (etwa ein Evangelium oder einen Brief), später dann auch mehrere Schriften, etwa zwei oder sogar vier Evangelien oder mehrere Paulusbriefe. Derartige Bücher wurden in christlichen Gottesdiensten verwendet, die in den ersten Jahrhunderten in Privathäusern stattfanden. Solche Bücher konnten sich aber auch im Privatbesitz befinden und zur häuslichen Lektüre verwendet werden.[9] Ab dem 4. Jahrhundert wurden auch größere, mitunter aufwändig gestaltete Kodizes mit den biblischen Schriften hergestellt. Berühmte Exemplare sind der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus aus dem 4. Jahrhundert. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich im nichtchristlichen Bereich beobachten, wo in dieser Zeit ebenfalls prachtvoll gestaltete Kodizes mit Texten, etwa von Homer oder Vergil, entstanden.[10]

Der Eindruck einer christlichen Bibel als eines Buches, das die Schriften Israels und die Texte des frühen Christentums gemeinsam enthalten würde, war demnach in der Frühzeit schon von der äußeren Erscheinung dieser Schriften her nicht gegeben. Sowohl die Vorstellung von einem «Neuen Testament» als auch diejenige eines Zusammenhangs mit den Schriften Israels als einem «Alten Testament» bewegte sich zunächst vor allem auf der Ebene theologischer Diskurse und fand erst viel später Ausdruck in der Herstellung von Büchern, die diese Schriften gemeinsam enthielten.

Die Schriften der jüdischen Bibel sind überwiegend auf Hebräisch, einige auch auf Aramäisch abgefasst,[11] wogegen auf Griechisch verfasste oder nur in einer griechischen Übersetzung erhaltene Schriften keinen Eingang in sie fanden. Dieser Prozess fiel in eine Zeit, in der sich das Judentum nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 neu formierte. Die «jüdische Bibel», die in dieser Zeit entstand, wurzelt zwar – wie auch die christliche Bibel – in Entwicklungen, die weit in die Geschichte Israels zurückreichen. Sie hat sich jedoch in der Form, in der sie im Judentum bis heute Anerkennung und Verbindlichkeit erlangt hat, erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung herausgebildet.

Mitunter wird dieser Prozess mit einer angeblichen «Synode» verbunden, die in Jamnia (Jabne), ca. 20 Kilometer südlich des heutigen Tel Aviv, stattgefunden haben soll. Heinrich Grätz hatte diese Synode 1871 aufgrund von Angaben aus der rabbinischen Literatur konstruiert.[12] Jamnia hatte für die Formierung des rabbinischen Judentums in der Zeit zwischen den beiden jüdisch-römischen Kriegen der Jahre 66–70 und 132–136 große Bedeutung. Es hat aber sicher keine «Synode» gegeben, auf der Umfang und Text der Hebräischen Bibel festgelegt worden wären. Schon der Begriff überträgt die Form späterer kirchlicher Versammlungen auf das antike Judentum. Die Annahme, auf einer «Synode» der Juden sei eine verbindliche Schriftensammlung festgelegt worden, ist anachronistisch und wird den komplexen Prozessen, die zur Formierung der jüdischen Bibel geführt haben, nicht gerecht.[13] Vielmehr ist davon auszugehen, dass in der Zeit nach dem Schicksalsjahr 70 vom rabbinischen Judentum Traditionen und Schriften gesammelt wurden, die künftig die Grundlage des jüdischen Selbstverständnisses bilden sollten. Unstrittig waren dabei die Tora und das Korpus der prophetischen Schriften, während bezüglich der «Ketuvim», der «Schriften», Diskussionsbedarf bestand. Gleichzeitig entwickelte sich mit der Mischna, der schriftlichen Fixierung mündlicher Lehrmeinungen antiker jüdischer Gelehrter, eine Sammlung von Auslegungen, die an praktischer Bedeutung die Bibel bald übertreffen sollte. Sie wurde ihrerseits Gegenstand umfangreicher Interpretationen, die in der Gemara, der «Vollendung» des Lehrinhalts, enthalten sind. Mischna und Gemara bildeten später den Talmud, das vorrangige literarische Studienobjekt im spätantiken, mittelalterlichen und heutigen Judentum.

Ein wichtiger Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Bibeln besteht darin, dass in Erstere auch solche Schriften Aufnahme fanden, die nicht in hebräischer oder aramäischer Sprache verfasst wurden oder nur in Übersetzung vorliegen. In den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche haben diese den Status kanonischer bzw. deuterokanonischer Schriften, in den reformatorischen Kirchen gelten sie dagegen als «apokryph».[14] Es handelt sich dabei um die Bücher Judit, Weisheit, Tobias, Sirach, Baruch, das 1. und 2. Makkabäerbuch, Zusätze zu den Büchern Daniel und Ester sowie das Gebet Manasses.[15] Sie entstammen dem Judentum der Zeit des Zweiten Tempels, wurden aber nach dem Jahr 70 nur noch im Christentum weiter überliefert, da sie im rabbinischen Judentum als griechischsprachige Dokumente den hebräischen Texten gegenüber nicht als ebenbürtig galten. Ihr Sonderstatus in den reformatorischen Kirchen erklärt sich daraus, dass die Reformatoren von der Vorherrschaft der lateinischen Bibelübersetzung (der Vulgata) zu den Ursprachen der Bibel – Hebräisch für das Alte, Griechisch für das Neue Testament – zurückkehren wollten und die Texte aus diesen Sprachen übersetzten. Damit folgten sie dem humanistischen Impuls, die Lektüre der antiken Schriften auf die Originalzeugnisse zu stützen und sich nicht auf spätere Übersetzungen zu verlassen. Vor der Reformation gehörten diese Schriften dagegen in allen christlichen Kirchen zur Bibel, ohne dass sie von den anderen Schriften unterschieden worden wären. Sie sind in der Vulgata enthalten, die sich ihrerseits an der Septuaginta orientiert, die die hebräischen bzw. aramäischen Schriften in griechischer Übersetzung sowie die gerade genannten Schriften enthält, für die kein hebräischer oder aramäischer Text bekannt war.[16] Bemerkenswerterweise fehlen diese Bücher auch in Auflistungen der Bücher des «Alten Testaments» bei einigen antiken christlichen Theologen, die sich demnach ebenfalls an den Schriften mit hebräischer Grundlage orientierten (siehe unten, Abschnitt «Tanak», «Altes Testament» und «Neues Testament»). Der Status dieser Schriften war offensichtlich bereits im antiken Christentum nicht eindeutig, was für die reformatorische Entscheidung ebenfalls eine Rolle gespielt haben kann.[17]

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