György Dalos
Für, gegen und
ohne Kommunismus
ERINNERUNGEN
Deutsche Bearbeitung
von Elsbeth Zylla
C.H.BECK
«Wenn man als heranwachsender Jude in Ungarn zu denen gehörte, die das ‹Tagebuch der Anne Frank› lasen, das auf Ungarisch 1958 erschienen war, dann fühlte man sich spontan von der politischen Kraft angezogen, die dem Leid zumindest zeitweilig ein Ende gesetzt hatte.»
György Dalos kommt 1943 als Sohn ungarisch-jüdischer Eltern in Budapest zur Welt. Der Einmarsch der Sowjetarmee und die Befreiung des Budapester Ghettos im Frühjahr 1945 retten die Familie vor der Deportation in ein deutsches Vernichtungslager. Als Heranwachsender zieht er die Lehren aus diesen Ereignissen und wendet sich dem Kommunismus zu. 1960 tritt er dem Kommunistischen Jugendverband bei und wird als glühender Anhänger der Ideologie mit einem Studienplatz in Moskau belohnt. Auch sein literarisches Schaffen profitiert vom sowjetischen Regime. Er ist gerade einmal 21 Jahre, als sein erster Gedichtband veröffentlicht wird. Doch in der Zeit intellektueller Reifung bleiben ihm auch die Widersprüche des Systems nicht länger verborgen, gegen die er Stellung bezieht. So wird er zunehmend mit den Schattenseiten des Regimes konfrontiert. Publikationsschwierigkeiten, Observierungen durch die Polizei und schließlich die Inhaftierung lassen ihn zum Dissidenten werden. Damit beginnt für ihn, seine Familie, aber auch für seine literarischen Ambitionen eine graue Zeit.
In aller Schärfe, aber auch mit dem ihm eigenen Humor lässt György Dalos in seinen Erinnerungen ein halbes Jahrhundert real existierenden Sozialismus wieder lebendig werden.
György Dalos ist freier Autor, Historiker und Osteuropaspezialist. 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2015 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Im Verlag C.H.Beck sind von demselben Autor zuletzt erschienen: Der letzte Zar. Der Untergang des Hauses Romanow (22017); Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart (22015).
PRÄLUDIUM: Frühe Deutschstunden
1. KAPITEL: Russland, bevor ich es kennenlernte
2. KAPITEL: Moskau, frühe Sechzigerjahre
3. KAPITEL: Sturm oder Drang
4. KAPITEL: Begegnungen mit der Weltgeschichte
5. KAPITEL: Das Schaltjahr 1968
6. KAPITEL: Vom Umdenken zum Hungerstreik
7. KAPITEL: Jahre der Windstille. 1971–1976
8. KAPITEL: Das zweite Buch
9. KAPITEL: Hin- und hergerissen
10. KAPITEL: Der lange Abschied
11. KAPITEL: Simonygasse 2/6
Personenregister
Dem Andenken von János Vida
PRÄLUDIUM
Mütterlicherseits trug meine Familie den Namen «Berliner». Mein Großvater Ármin war der Älteste von fünf Geschwistern. Gemeinsam mit seinen Eltern sowie mit Hugó, Róza, Jenny und Alfréd, dem Jüngsten, übersiedelte er Ende des 19. Jahrhunderts aus der damals zur k. u. k. Monarchie gehörenden nordslowakischen Kleinstadt Dolny Kubin nach Budapest. Warum die Familie diese Schicksalswende auf sich nahm, lässt sich nur erahnen. Kubin, ein armseliges Nest, das – abhängig von der Ethnie seiner Bewohner – auch «Unterkubin» oder «Alsókubin» genannt wurde und in dem mein Urgroßvater Berliner, dessen Vorname verschollen ist, als Kantor der jüdischen Gemeinde tätig war, erlangte Ruhm einzig durch den dort lebenden slowakischen Nationaldichter Pavol Országh Hviezdoslav. Dieser war ein lupenrein Ungarisch sprechender Rechtsanwalt, den meine Verwandten nur «Országh Pali bácsi» (Onkel Paulchen Országh) nannten. Seine Poesie nahmen sie nicht ernst, sondern betrachteten sie allenfalls als Freizeitbeschäftigung. Möglicherweise konnte sich die jüdische Gemeinde in Kubin, deren Synagoge heute als Kino und Kulturhaus dient, den Luxus eines eigenen Vorsängers nicht leisten. Wer weiß, wie viele «Berliner» dort lebten und in welchen Bereichen des Broterwerbs sie sich gegenseitig Konkurrenz machten – auf meiner Reise nach Kubin im Sommer 2001 entdeckte ich auf dem ramponierten jüdischen Friedhof immerhin noch sechs Grabstellen mit diesem Namen.
Abb. 1 Dolny Kubin, ehemals Österreichisch-Ungarische Monarchie, heute Slowakei – Stammort der Familie Berliner
Was aber suchten die Wirtschaftsflüchtlinge namens Berliner ausgerechnet in der Ein-Millionen-Stadt Budapest mit ihren 200.000 jüdischen Einwohnern? Eine vakante Kantorstelle für den Urgroßvater konnte sich dort kaum finden lassen. Für andere Tätigkeiten aber war er schon allein deshalb ungeeignet, weil sogar jüdisch geführte Firmen den Sabbat meist als Arbeitstag betrachteten. So blieb mein anonymer Ahn laut Familienüberlieferung erwerbslos und hütete die fünf Kinder, während seine Frau Mathilde die Todsünde der Sabbat-Maloche auf sich nahm. Immerhin hatte sie, so die Fortschreibung der Legende, eine Stelle als «persönliche Putzfrau» bei dem jüdischen Großindustriellen Manfréd Weiss, dem «Stahlkönig», der von Kaiser Franz Joseph mit dem ungarischen Titel «Freiherr von Csepel» geadelt worden war. In dessen Wohnung mussten täglich, selbst zu Pessach oder dem jüdischen Neujahrsfest, die Bücher entstaubt und die Spinnweben weggefegt werden. Sicherlich wurde meine Urgroßmutter für ihren Glaubensbruch relativ gut bezahlt, denn vier von ihren fünf Kindern konnten nicht nur Ungarisch, sondern waren auch des Deutschen in Wort und Schrift mächtig. Der Jüngste von ihnen, Alfréd, der mit melancholischem, ausdrucksvollem Blick von einer alten Fotografie über meinem Bett in Budapest immer noch auf mich herabschaut, schrieb auf der Suche nach einer Arbeitsstelle deutsche Sütterlin-Briefe, in denen er «die löbliche Direction» des jeweils angesprochenen Unternehmens «hochachtungsvoll und ergebenst» auf sich aufmerksam machte.
Tante Jenny arbeitete ein Leben lang als Außenhandelskorrespondentin verschiedener Firmen, mit Ausnahme der Jahre, in denen die Judengesetze dazu führten, dass sie entlassen wurde. 1945 konnte sie ihre gewohnte Arbeit bei der inzwischen verstaatlichten Firma «Ferunion» wieder aufnehmen. Ihre Deutschkenntnisse gingen über das beruflich Erforderliche weit hinaus. Jedenfalls hörte sie in den Dreißiger- und Vierzigerjahren regelmäßig den deutschen Rundfunk und zitierte immer wieder in künstlich-hysterischem, parodistischem Ton die Reden Adolf Hitlers. Allerdings kannte sie offensichtlich auch den Flüsterhumor des «Dritten Reiches». So erzählte sie mir von einem angeblichen Zettel, den die Gegner des «Führers» an ein Reiterdenkmal des Altkaisers gehängt haben sollten: «Lieber Wilhelm, steig herunter/und regiere du uns wieder./Und in diesen schlechten Zeiten/lass den Hitler lieber reiten.» Dieser Vierzeiler war der erste deutsche Vers, den ich mit acht oder neun Jahren auswendig konnte.
Mein Großvater Ármin, in dessen Zeugnis das Unterrichtsfach Ungarisch nur mit dem Prädikat «gut» versehen war, während sein Deutsch als «ausgezeichnet» klassifiziert wurde, brachte es zum Angestellten bei der ungarisch-österreichischen «Victoria Dampfmühle AG» und schrieb aus der russischen Kriegsgefangenschaft korrekt deutsche, wegen der beiderseitigen Militärzensur etwas wortkarg gehaltene Postkarten an meine Großmutter Malvine. So etwa am 15. November 1917 aus Krasnojarsk in Sibirien: «Ich theile Dir mit, dass ich gottlob vollkommen gesund bin und hoffe auch von euch dasselbe hören zu können.» Oder direkt an meine damals fünfjährige Mutter: «Sei nur weiter ein braves und folgsames Kind, dann werde ich Dir ein sehr schönes Geschenk mitbringen.» Aus diesem Geschenk sollte leider nichts werden: Ármin Berliner geriet in den Wirrwarr des beginnenden russischen Bürgerkriegs und blieb verschollen.
Abb. 2 Der Großvater Ármin Berliner
Der andere Zweig meiner Abstammung, die Sippschaft von Vaters Seite, hieß «Deutsch» und lebte ursprünglich im Banat, genauer in der Stadt Lugoj, auch Lugos oder Lugosch. Auch diese rumänische Ortschaft, die sich kaum näher zu kennen lohnt, gehörte damals zur Donaumonarchie, und die Familie Deutsch zog ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die vom Wiener Bürgermeister und passionierten Antisemiten Lueger als «Judapest» verhöhnte ungarische Hauptstadt. Die Familie galt jedoch, vielleicht von der Erinnerung ein wenig geschönt, als vergleichsweise wohlhabend. Mein Opa Deutsch hieß Viktor und war mit Leontine Nagel verheiratet, Tochter des Textilhändlers Nagel. Mag sein, dass die Mitgift in dieser Ehe eine Rolle spielte, aber vom Vermögen eines Krösus konnte kaum die Rede sein. Jedenfalls versicherte mir fast siebzig Jahre später in Westberlin der liebenswürdige Theatermann Ivan Nagel, ein Neffe meiner Großmutter Leontine, dass seine Eltern ihr Vermögen vollständig verloren hätten. Nach dem Erlass der Judengesetze 1938 war es ihnen zwar zunächst gelungen, einen Teil ihres Kapitals zu retten, doch dann verbrauchten sie fast ihren gesamten Reichtum aufgrund der hohen Kosten, die ihnen entstanden, als sie während der deutschen Besatzung und der 1944 von den Ungarn organisierten Massendeportationen untertauchen mussten. Was noch übrig blieb, verwendeten sie für die Flucht vor den Kommunisten, deren Verstaatlichungswahn sogar die Kurzwaren nicht verschonte. Jedenfalls widmete sich ihr Sohn Ivan nach seinem Studium in Zürich und Heidelberg einem für die Enteignung weniger empfindlichen Stoff, namentlich der Philosophie. Obwohl ich mit ihm manch angenehmes und freundschaftliches Gespräch führte, zeigte er sich bis zuletzt nicht geneigt, die verwandtschaftliche Beziehung zur Kenntnis zu nehmen.
Abb. 3 Lugoj, ehemals Österreichisch-Ungarische Monarchie, heute Rumänien – Stammort der Familie Deutsch
Dafür, dass auch die Familie Deutsch aus dem Vollen schöpfen konnte, sprechen zwei schriftliche Belege, die allerdings eine zum Märchenhaften tendierende verbale Ergänzung benötigen. Der eine ist ein alter Briefumschlag mit der Postanschrift «Melinda-Straße», wo die Familie über ein Grundstück und eine «prächtige Villa» verfügt haben soll. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um eines der bescheidenen Sommerhäuser am Budaer Schwabenberg, aber das dazugehörige Grundstück hoch über der Stadt war wirklich begehrt und damit viel wertvoller als das Haus selbst. Jedenfalls mussten meine Großeltern den Prachtbau samt Garten aufgrund «pekuniärer Schwierigkeiten» Ende der Dreißigerjahre veräußern und sich mit weit bescheideneren Wohnstätten in Pest zufriedengeben. Die weitere Geschichte der solcherart verscherbelten Immobilie war gruselig: Der neue Besitzer stellte sie im Frühjahr 1944 dem Stab des Holocaust-Administrators Adolf Eichmann als Büro beziehungsweise Unterkunft zur Verfügung. Allerdings blieb Viktor Deutsch von den Folgen der Aktivitäten des Obersturmbannführers verschont, denn er starb an schwerer Diabetes ausgerechnet in meinem Geburtsjahr 1943, während meine Großmutter Leontine die bösen Zeiten im Ghetto überlebte und kurz nach der Befreiung von Budapest ihrem Gatten ins Jenseits folgte.
Ein anderes Indiz für das Hab und Gut der Familie Deutsch war der lange und ermüdende Briefwechsel mit den Behörden, den meine Großmutter mütterlicherseits als Sachwalterin meiner Interessen über ein riesengroßes, 108 Wohnungen umfassendes, stark bombengeschädigtes Budapester Mietshaus führte, von dem ein erheblicher Teil eindeutig Oma Leontine gehörte. Ihre beiden Söhne, mein Vater Andor und sein Bruder Dénes, weilten nicht mehr unter den Lebenden, und so fiel die Erbschaft einerseits ihrer Tochter zu, meiner Tante Bözsi, andererseits mir selbst, wobei ich als unmündiger Nachfahre natürlich keine Verfügungsgewalt über den Besitz hatte. Möglicherweise wirkte der Zustand des Hauses angesichts der zu erwartenden Renovierungskosten auf die Habgier des Staates mäßigend, denn erst 1952 gelang es meiner Tante und mir, unseren Hausteil dem werktätigen Volk zu schenken. Bis dahin erhielten wir regelmäßig Rechnungen über Steuer- und Baukosten plus Verzugszinsen in phantastischer Höhe, die weder Tante Bözsi von ihrer Witwenrente noch meine Mutter mit ihrem Gehalt als Schreibkraft, später Pförtnerin begleichen konnten. Um dieses große Loch zu stopfen, verzichteten wir auf die ohnehin nur symbolische staatliche Entschädigung, auf die wir aufgrund der uns offiziell in dem großen Mietshaus zustehenden Quadratmeter ein Anrecht gehabt hätten. Diese Wohnfläche brauchten wir nicht, denn unsere Restfamilie hatte seit 1928 – unterbrochen durch ein paar Monate des Aufenthalts im Ghetto – eine Wohnung gemietet, die inzwischen ebenfalls verstaatlicht worden war: zwei Zimmer, kein Bad, dafür ein Innenklo. Die Wohnung war sehr zentral gelegen, nur einen Katzensprung entfernt vom – wer hätte das gedacht – Berliner Platz, den man allerdings schon bald in «Marxplatz» umbenannte.
Dénes, das älteste der drei Deutsch-Kinder, noch vor dem Umzug nach Budapest in Lugoj geboren, war ein bekannter Journalist, Mitarbeiter des angesehenen deutschsprachigen Tageblatts «Pester Lloyd». Dort arbeitete er, solange es erlaubt war, Juden in der «christlichen» Presse zu beschäftigen. Der «Lloyd» galt als liberal-konservative, in seinem Feuilleton sogar linksliberale Zeitung. Mein Onkel Dénes schrieb auf Deutsch unter dem aus dem Skandinavischen kommenden Pseudonym «Ivor», der sonst eher als Vorname gebräuchlich war. Wahrscheinlich stand dahinter die Befürchtung, mit dem Namen «Deutsch» als Jude erkennbar zu sein. Als Auslandskorrespondent berichtete er unter anderem aus Genf über die Kongresse des Völkerbundes, des Vorläufers der UNO, dessen zwei Amtssprachen Französisch und Englisch ihm keinerlei Schwierigkeiten bereiteten. In dem kosmopolitischen Milieu der Schweiz knüpfte er zahlreiche Kontakte, hauptsächlich zu Briten, wobei sich vor allem diese für ihn als verhängnisvoll erwiesen. Zuerst wurde er als Jude zum waffenlosen Arbeitsdienst einberufen, was ihm als Diabetiker vor allem wegen der hülsenfruchtreichen Kost und der schlechten Insulinversorgung Qualen bereitete. Später, während der deutschen Besatzung, deportierte man ihn aufgrund einer speziellen Liste als verdächtiges angelsachsenfreundliches Element in das Lager Balf bei Sopron, wo er im Januar 1945 vom Wachpersonal erschlagen wurde, ähnlich wie sein Kompaniekamerad Antal Szerb, ein Literaturhistoriker und Romancier, der ansonsten über einen scheinbar einwandfreien katholischen Taufschein verfügte, um den ihn mancher beneidet hatte.
Sein Name war mir seit meiner frühesten Kindheit geläufig, denn Antal Szerb war der Neffe von Zsigmond Szerb, einem berühmten Internisten und Schüler von Professor Röntgen, der im selben Haus und sogar auf derselben Etage wie wir zwei nebeneinanderliegende Wohnungen gemietet hatte. Die eine war sein Privatdomizil mit Vollkomfort, die andere diente als Arztpraxis, wo meine Großmutter Malvine dreizehn Jahre lang als Sprechstundenhilfe tätig war. Wenn man bedenkt, dass sie außer der Elementarschule nur über die formale Qualifikation einer staatlich geprüften Näherin verfügte, müssen wir ihre Anstellung bei einem angesehenen Arzt im Krisenjahr 1929 als eine besondere soziale Maßnahme anerkennen. Der Arbeitsvertrag beinhaltete neben dem eher bescheidenen Gehalt die Übernahme der Heizkosten für unsere Wohnung, was angesichts der unfreundlichen Witterung Mitteleuropas im Winter als wahre Wohltat gepriesen wurde. Böse Zungen schrieben damals diese Großzügigkeit den schönen Augen meiner Großmutter sowie ihrer sprichwörtlichen Ähnlichkeit mit der letzten ungarischen Königin Zita zu. Dr. Szerb war bereits schon früher zum Gegenstand des Budapester Klatsches geworden, als er, jahrzehntelang notorischer Junggeselle, im zarten Alter von sechzig Jahren die viel jüngere Steyrerin Christine Rauch heiratete, die zudem eine uneheliche, damals bereits erwachsene Tochter in Leoben hinterließ.
Die ansonsten gegenseitige Bewunderung zwischen dem Arzt und seiner Hilfskraft zeigte sich nach 1941, als Dr. Szerb aufgrund des zweiten, bereits rigideren Judengesetzes meine Großmutter entlassen musste, sie aber illegal noch eine Weile weiterbeschäftigte und die Lieferung des Heizmaterials bis zu ihrer Zwangsumsiedlung in das Ghetto nicht einstellte. Dr. Szerb war katholischer Jude und besaß sicherlich keine schlechteren Taufdokumente als sein unglückseliger genialer Neffe. Was ihm aber wahrscheinlich mehr half, war die Tatsache, dass selbst die wildesten Judenfresser der «christlich-nationalen» Herrscherschicht auf seine Fachautorität mit besonderem Schwerpunkt Magengeschwür und Gallenstein kaum verzichten konnten. Die Umgangssprache bei den Szerbs war Deutsch. Frau Christine gab zwar ihr Bestes, um Ungarisch zu lernen, doch auch ihren großen Hund rief sie auf Deutsch zur Ordnung, wenn dieser die Gäste mit allzu lautem Bellen empfing: «Luxi, du dumme Gans!» Der Herr Doktor starb 1962 im Alter von 95 Jahren und gewährte mir noch eine Audienz in seinem Arbeitszimmer, wo er keine Praxis mehr führte. Er saß im schneeweißen Kittel und mit viereckiger Arztmütze auf dem Kopf in seinem imposanten samtenen Fauteuil. Nach seinem Tod löste die Witwe, die übrigens 104 Jahre alt werden sollte und ihre nicht mehr reisefähige Tochter ab und zu in Leoben besuchte, die Ordination auf. Aus dem Nachlass schenkte sie mir einige Schätze: ein Liebessonett ihres Neffen Antal an seine Frau aus dem Todeslager Balf, ein Manuskriptexemplar der auf Deutsch verfassten Memoiren des Professors und schließlich dessen samtenen Lehnstuhl, der als einziges antikes Möbelstück bis heute in meiner winzigen Budapester Wohnung steht. Ab und zu möchte ich mich gern hineinsetzen, fühle mich aber in diffuser Weise unbefugt – dieses Relikt aus besseren Zeiten gehört immer noch zu Dr. Szerb.
Tante Bözsi hatte den Ruf eines außergewöhnlich praktischen Menschen – am Mut der Verzweiflung mangelte es ihr gewiss nicht. Als Mann und Sohn bereits in die Armee zum Zwangsdienst einberufen worden waren – arbeits- oder wehrpflichtige Männer konnten nur schlecht untertauchen – und sie selbst mit ihrer elfjährigen Tochter Zsuzsanna im Ghetto festsaß, organisierte sie, mit Hilfe von Bestechungsgeld aus dem traurigen Rest des Vermögens, falsche Pässe. Mit diesen in der Handtasche verließ sie während der zum Einkauf genehmigten zwei Stunden das Judenviertel und quartierte sich mit ihrem Kind im Kurhotel Lukács als Badegast ein. Es war schon Ende November, die Rote Armee stand vor den Toren Budapests, aber die türkischen Bäder der Donaumetropole wurden noch immer von den bessergestellten Wehrmachtsoffizieren und SS-Chargen frequentiert, die von dem hübschen, arisch-blonden kleinen Mädchen und seiner feschen, klares Deutsch sprechenden Mutter entzückt waren. Nur einmal verdächtigte die Gestapo meine Tante, einer Jüdin beim Untertauchen geholfen zu haben. Doch es gelang ihr, glimpflich davonzukommen, wenn man davon absieht, dass die kurze, höfliche «Anhörung» zum Ausbruch ihrer für die Sippe Deutsch so typischen Zuckerkrankheit beitrug, die mich vierzig Jahre später, wenn auch in milderer Form, ebenfalls ereilen sollte.
Zwar überlebte sie die Zeiten von Krieg und Verfolgung, doch zugleich verlor sie im deutschen KZ ihren Ehemann und ihren Sohn, als Opfer des ungarischen Regimes außerdem ihre zwei Brüder. Von der ehemals gut situierten, vornehmen Bürgerlichkeit blieb nur noch die nominelle Abstammung übrig, deren Stigma die Tochter Zsuzsanna noch ein Jahrzehnt lang verfolgte. In den Fünfzigerjahren wurde ihr als «klassenfremdem Element» der Zugang zum Hochschulstudium verwehrt – eine der Ursachen, warum sie mit ihrem Mann, einem Straßenbauingenieur, im Dezember 1956 nach dem Ungarnaufstand mit der großen Fluchtwelle das Land verließ und sich im westfälischen Münster niederließ. Zwei Jahre später emigrierte auch Tante Bözsi auf legalem Wege und erhielt als im Westen lebendes Opfer des Holocaust eine bescheidene Wiedergutmachungsrente. Vor ihrer Abreise machte sie sich große Sorgen um meine Zukunft. Offensichtlich ging es ihr hauptsächlich darum, mich vor der körperlichen Ungeschicklichkeit und Sportphobie zu retten, die ihren heiß geliebten kleinen Bruder, meinen Vater, ausgezeichnet hatte. Jedenfalls spendierte sie mir in den letzten Jahren ihres Ungarnaufenthalts einen Tanzkurs, Schwimmunterricht sowie private Deutschstunden. Die ersten beiden Geschenke erwiesen sich als komplette Fehlinvestition, der Beitrag zum Sprachunterricht hingegen war erfolgreicher.
Vor meinen intellektuellen Interessen hatte Tante Bözsi großen Respekt. Zu meinem fünfzehnten Geburtstag kaufte sie mir sogar den gerade erschienenen, für damalige Verhältnisse sehr teuren Gedichtband des lungenkranken, melancholischen Lyrikers Árpád Tóth. Bevor sie das Buch erwarb, informierte sie sich vorsichtshalber bei literarisch gebildeten Bekannten, ob die poetischen Talente «dieses Tóth» wirklich den Ladenpreis von 28 Forint rechtfertigten. Im Übrigen sträubte sie sich heftig gegen die Perspektive, dass ich in den Fußstapfen meines Vaters Lyriker werden könnte. «Dieser Tóth» infizierte mich allerdings mit einer fanatischen Liebe für alles Gereimte, die mir zeitlebens erhalten blieb. Bereits als Jugendlicher las ich regelmäßig die Autoren der Budapester Moderne, deren Werke im legendären Journal «Nyugat» veröffentlicht worden waren, vor allem die Gedichte der Poeten Ady, Babits, Kosztolányi, von der jüngeren Generation Attila József und Miklós Radnóti. Deren Übersetzungstätigkeit war überwältigend – allein von Goethes «Wanderers Nachtlied» gab es achtzehn, von Edgar Allan Poes «The Raven» mehr als zwanzig ungarische Versionen –, so dass ich mir neben der ungarischen auch ausländische, vor allem französische Dichtung aneignete, querbeet von Villon bis Rimbaud. Für mein frisches Gehirn bedeutete dies zunächst vor allem, die heiligen Texte auswendig zu lernen, und ich entwickelte die Sehnsucht, eigene Verse zu schreiben.
Diese am wenigsten beabsichtigte Folge von Tante Bözsis Großzügigkeit hing nicht zuletzt mit der Krankheit des modernen Klassikers Tóth zusammen. Tuberkulose galt in Ungarn als Volksepidemie, und einige Formen waren unheilbar, so auch die «galoppierende Schwindsucht», an der mein Vater kurz nach Kriegsende starb. Meine Großmutter Malvine nannte sie einfach «die Galoppierende» und bereicherte damit meinen deutschen Wortschatz. Mit zehn Jahren wurde bei mir nach einer Lungenentzündung mit hohem Fieber der böse Erreger diagnostiziert, den die kommunistischen Behörden wie einen speziellen Klassenfeind bekämpften. So verschlug es mich 1954 für ein Dreivierteljahr in ein Kindersanatorium, von dessen damaligen Behandlungsmethoden mich neben den in einer Hostie dargebotenen bitteren Antibiotika am meisten das üppige Essen beeindruckte. Jedenfalls weckte der Aufenthalt in den Bakony-Bergen mein erhöhtes Interesse an allem, was mit der Erkrankung der Atemorgane zusammenhing, Ohne ein Kenner der Musik zu sein, sympathisierte ich mit Frédéric Chopin und verspürte starkes Mitgefühl mit der Kurtisane Violetta aus Verdis «La Traviata», die ich aus dem «Buch der Oper» kannte. Im August 1955, als ich in der Mittagssendung unseres Volksradios die Nachricht vom Tode Thomas Manns hörte, wusste ich, ohne eine Zeile von ihm gelesen zu haben, dass es sich um den Autor des «Zauberberg» handelte, und nahm mir vor, irgendwann den Roman in der Bezirksbibliothek auszuleihen, um das darin Beschriebene mit meinen Erfahrungen als ehemaliger Träger des Koch-Bazillus vergleichen zu können.
Im Unterschied zu Tante Bözsi erhob meine Großmutter die geistigen und musischen Fähigkeiten meines Vaters in den Himmel. Andor Deutsch war in ihren Augen ein polyglottes Genie gewesen, das mindestens ein Dutzend Sprachen kannte und ganz nebenbei zwei Gedichtbände veröffentlichte. Dabei habe er eigentlich Arzt werden wollen, studierte sogar angeblich ein paar Semester an der Sorbonne und brach das Studium nur ab, weil er aufgrund der Rassengesetze als Jude in Ungarn keine beruflichen Chancen gehabt hätte. Um dennoch über die Runden zu kommen, war er gezwungen, Sprachunterricht zu geben, was er mit einer sogenannten lachenden Methode tat, was zur Folge hatte, dass seine Schüler angeblich, während sie sich vor Lachen den Bauch hielten, spielerisch Grammatik und Syntax lernten. Er selbst begnügte sich nicht mit dem Erreichten, sondern begann sofort nach der Befreiung von Pest im Januar 1945, Russisch zu lernen, indem er sowjetischen Offizieren als Vorbereitung zur Eroberung Berlins praktische Deutschstunden gab. Was hätte nicht alles aus diesem Talent werden können, sagte meine Großmutter Malvine immer wieder, wenn nicht die Tuberkulose …, wenn nicht die Zwangsarbeit …, wenn nicht der Krieg …, wenn nicht der Faschismus … «Aber du, mein Lieber», fügte sie hinzu, «du wirst das alles erreichen können.»
Ob mein armer Vater tatsächlich je Paris erblickt hat, wage ich stark zu bezweifeln. An der ihm nachgesagten Begabung für Fremdsprachen wird jedoch einiges zutreffend gewesen sein: In seinen Papieren fand ich eigene und fremde Gedichte, die er selbst ins Deutsche und Französische übersetzt hatte. Die «lachende Methode» des Sprachunterrichts ist durch einige Zeitungsannoncen in jüdischen Blättern nachgewiesen, allerdings handelte es sich dabei immer um Englischlektionen. Angesichts der Struktur der Wohnung, die ich selbst bis 2004 bewohnt habe, ahne ich nur, dass sich diese «lachenden» Stunden in einer gewissen räumlichen Enge abgespielt haben müssen, nämlich im «Kleinen Zimmer» hinter verschlossener Tür, während im «Großen Zimmer» die Familienmitglieder auf Zehenspitzen gingen und mit häufigem Pssst und entsprechenden Handzeichen die Ruhe des Unterrichts hüteten.
Abb. 4 Hochzeit meiner Eltern im August 1942 – vor der Synagoge. Rechts vor dem jungen Ehepaar Großmutter Malvine, vor meiner Mutter Cousine Zsuzsanna, zweite Reihe links außen Györgyi Vándor (1922–2000)
Die zwei dünnen Gedichtbände, 1940 und 1942 veröffentlicht, habe ich bis heute aufbewahrt. Sie erschienen im Selbstverlag, was aufgrund von Subskriptionen aus dem Freundeskreis möglich wurde. Die Texte selbst verraten keinen begnadeten Poeten, sondern eher einen netten Amateur, der übrigens, dem Beispiel seines älteren und bekannteren Bruders folgend, ebenfalls das Pseudonym «Ivor» statt des verräterischen Namens Deutsch bevorzugte. Er ließ sich dieses sogar behördlich als Zweitnamen bestätigen, was aus seinem Meldezettel und der Sterbeurkunde hervorgeht. Ich selbst wurde 1943 als György Alfréd Deutsch geboren, und mein Name wurde erst 1950 auf Wunsch meiner Großmutter Malvine zu «Dalos» magyarisiert. Warum das eigentlich so war, weiß ich nicht mehr. Aber hätte ich sie gefragt, dann wäre vielleicht als Antwort einer ihrer immer wiederkehrenden deutschen Lieblingssprüche gekommen: «Für alle Fälle.»
Berliner und Deutsch – die auf Maria Theresias Geheiß gewählten Familiennamen für die nach Osteuropa eingewanderten Juden wiesen häufig auf den Ort hin, an dem diese ursprünglich gelebt hatten. Falls beide Familienzweige aus Preußen oder aus anderen Königs- oder Fürstentümern des Reiches stammten, so kann ihr Erscheinen in der Monarchie nur damit erklärt werden, dass sie die strenge, aber berechenbarere Haltung der katholischen Kaiserin bevorzugten im Unterschied zu den Schikanen des als aufgeklärt gepriesenen protestantischen Friedrich II., von unbedeutenderen deutschen Herrschern gar nicht erst zu reden. Bei den «Berlinern» war dies gewiss der Fall, doch was die Familie Deutsch betrifft, so gelangten einige von ihnen offenbar über lange Umwege in den Banat – jedenfalls soll eine der Ururgroßmütter «Anna Tedesco» geheißen haben. Die verbal überlieferten Ursprünge der Familie haben mich in meiner Kindheit viel beschäftigt, und rückblickend ahne ich in ihnen etwas Schicksalhaftes im Sinne «Nomen est omen» – als hätte meine starke Verbundenheit mit Deutschland etwas mit diesem ungewollten «Urheimat-Effekt» zu tun.
Maßgebend für die Wahl der geographischen Richtung waren allerdings Tante Bözsi sowie Großmutter Malvine, die zu sagen pflegte, Deutsch sei «trotz alledem» die wichtigste Kultursprache, die sich ein «Airopeer» aneignen müsse. Die ältere vornehme Dame, die sie für meine privaten Deutschstunden erwählten, war Frau Bíró, die ihre kärgliche Pension als ehemalige Angestellte einer Versicherungsgesellschaft durch Unterricht für Halbwüchsige aufbessern musste. Es kann auch sein, dass die Privatstunden dazu beitrugen, ihre Einsamkeit mit Hilfe der Schülerinnen und Schüler, die allesamt ihre Enkel hätten sein können, zu bewältigen. Denn die Devise «trotz alledem» galt für sie, die alle Familienmitglieder im Jahre 1944 verloren hatte, noch mehr als für uns. Sie war keine ausgebildete Sprachlehrerin, kümmerte sich wenig um Grammatik und begann sofort mit der Konversation. Nachdem sie etwas auf Deutsch gesagt hatte, übersetzte sie es ins Ungarische und ließ es mich wiederholen. Die neuen Wörter oder Sätze schrieb ich in ein Notizbuch. In der nächsten Stunde sollte ich dann berichten, was ich in der Zwischenzeit erlebt hatte.
Ziemlich früh begann sie, mich mit der Liebe zur deutschen Dichtung zu infizieren. Ihre Bücherregale bestanden mehrheitlich aus deutscher Literatur, die sie auf unbekannte Weise aus dem Weltenbrand gerettet hatte. Den «Faust» fand sie für mein Alter zu kompliziert und Goethes Lyrik zu erotisch – Gedichte von Heinrich Heine «sowieso». Zudem sei dieser dem Glauben seiner Ahnen untreu geworden und habe sich taufen lassen. So verlegten wir uns auf Friedrich Schiller und begannen mit der Ballade «Die Bürgschaft» – einer relativ einfachen und garantiert unerotischen Geschichte über den Mann Damon, den Dionys, Tyrann von Syrakus, wegen versuchten Attentats zum Tode verurteilt. Dieser fleht «um drei Tage Zeit,/bis ich die Schwester dem Gatten gefreit», und lässt seinen besten Freund als Geisel bei dem Herrscher zurück. Er hat einen Rückweg voller dramatischer Hindernisse zu bewältigen und kommt erst in dem Augenblick an, als sein Freund gekreuzigt werden soll. Der Wüterich Dionys fühlt sich von der Kraft der Freundschaft tief berührt, begnadigt den Attentäter und bittet die beiden, ihn als Dritten in ihrem Bunde zu betrachten. Frau Bíró las mir das lange Gedicht vor, erzählte es zum besseren Verständnis mündlich nach, und beim Happy End funkelten echte Tränen in ihren Augen. Sie lieh mir das Buch mitsamt einem alten Glossar und erteilte mir den Auftrag, Schillers Poem zu lesen und beim nächsten Mal über den Inhalt auf Deutsch Bericht zu erstatten.
Ich war damals vierzehn Jahre alt, überwand ungefähr wie Damon den angeschwollenen Bach, das gotische Buchstabenmeer und schuf mit Hilfe eines vorsintflutlichen deutsch-ungarischen Wörterbuchs in ein paar Tagen eine ungarische Version der «Bürgschaft». Reim und Rhythmus des Originals beachtend, tippte ich sie auf der Schreibmaschine der Marke Kappel, die meinem verstorbenen Vater gehört hatte, sorgfältig ab. Frau Bíró war über die Leistung verblüfft, bat mich aber ängstlich, über den nächsten Lehrstoff, die Ballade «Der Handschuh», lieber auf Deutsch zu referieren. «Nicht dass du dich zu sehr anstrengst», lautete die schonungsvolle Erklärung.
Ich besuchte damals die siebte Klasse der Budapester Hauptschule in der ehemaligen Andrássy-Straße, die zu Beginn des Schuljahres noch den Namen «Stalin» trug. In den Tagen des Volksaufstands wurde sie zu Ehren der Aufständischen in «Straße der ungarischen Helden» umbenannt. Diese pathetische Bezeichnung wurde von der sich nur langsam etablierenden Regierung Kádár zunächst zu «Straße der ungarischen Jugend» abgeschwächt, bis man der prachtvollen Allee dann endgültig, oder zumindest für die nächsten dreißig Jahre, den Namen «Straße der Volksrepublik» gab. Die Schwankungen zwischen Bruch und Kontinuität zeigten sich auch in anderen Bereichen. So trennte sich die herrschende Partei von ihrer kompromittierten früheren Bezeichnung «Partei der Ungarischen Werktätigen» und nannte sich nun «Sozialistische Arbeiterpartei». Das offizielle Publikationsorgan hieß nicht mehr «Szabad Nép» (Freies Volk), sondern nunmehr «Népszabadság» (Volksfreiheit), eine Zeit lang sogar ohne das im ganzen Ostblock obligatorische Motto «Proletarier aller Länder, vereinigt euch». Offenbar waren die Herrschenden kurz nach dem Aufstand wenig geneigt, die Proletarier zu irgendwelchen Zusammenschlüssen zu ermuntern.
Abb. 5 Klassenfoto, auf dem Hof der Hauptschule, deren Anschrift innerhalb des Schuljahres 1956/57 viermal wechselte
Die größte Fragwürdigkeit des Schuljahres 1956/57 war jedoch die zeitweilige Abschaffung des Russischen als Pflichtfach, eine direkte Forderung der Aufständischen vom 23. Oktober, welche, wie unsinnig sie auch war, das neue System nicht gleich rückgängig zu machen wagte. Stattdessen gab es die fakultative Wahl zwischen Deutsch, Englisch und Französisch – allerdings fehlten zu diesen Sprachen die staatlich genehmigten Schulbücher für Anfänger. So lernte ich die von mir frei gewählte deutsche Sprache aus dünnen, improvisierten Broschüren mit eilig zusammengestelltem grammatikalischem Material, mit Beispieltexten und konzeptionell wenig überzeugenden Wörtersammlungen. Aus dem vorsichtig und möglichst unpolitisch zusammengestellten Stoff blieb mir allein das Kinderlied «Fuchs, du hast die Gans gestohlen» in Erinnerung, während die parallelen Privatstunden bei Frau Bíró mich mit Sprüchen bereicherten wie Schleiermachers «Die Eifersucht ist eine Leidenschaft,/die mit Eifer sucht,/was Leiden schafft.» Ohnehin hatte die bereits stabiler gewordene Staatsmacht im Herbst 1957 die Lingua Latina des sowjetischen Machtbereichs wieder in ihre Rechte eingesetzt, und wir mussten mit Hilfe der rehabilitierten Russischbücher wie zuvor die Geschichten von den heldenhaften Partisanen und braven Pionieren büffeln. Da ich weiterhin Deutsch lernen wollte, blieben mir die Gespräche in der winzigen Wohnung von Frau Bíró bis zu meinem Abitur erhalten.
Wie bereits erwähnt, machte mich meine Deutschlehrerin unbeabsichtigt auf Autoren aufmerksam, die sie für meine unverdorbene Jugend als nicht empfehlenswert einschätzte. Jedenfalls wollte ich mir die gotische Schrift und die Wörterbucharbeit ersparen und entlieh den «Faust» lieber in ungarischer Übersetzung aus der Bezirksbibliothek. Allerdings verspürte ich nach dem Lesen des ersten Monologs nicht den leisesten Wunsch, das Buchdrama bis zu Ende zu lesen, obwohl mich die Legende von dem Gelehrten, der seine Seele verkauft, um ewige Jugend zu erlangen, durchaus fesselte. Zum Glück wurde im Filmmuseum genau zu dieser Zeit René Clairs «Pakt mit dem Teufel» gezeigt, einer der vielen Weststreifen der frühen Fünfziger, die nach dem Volksaufstand plötzlich zugelassen wurden, vielleicht zur Beruhigung der intellektuellen Gemüter. Michel Simon und Gérard Philipe in der Doppelrolle des Faust beziehungsweise Mephisto versprachen mir eine ungemein leichtere Verdauung der Handlung als das Lesen. Ähnliche Bequemlichkeit hielt mich auch von anderen Büchern fern, so von Stendhals «Rot und schwarz», dessen französische Verfilmung, ebenfalls mit Gérard Philipe sowie mit Danielle Darrieux, lange Schlangen vor den Budapester Premierenkinos zur Folge hatte. Das galt auch für den Tolstoi-Kassenschlager «Krieg und Frieden» mit Audrey Hepburn als Natascha und Henry Fonda als Pierre Besuchow. Die Zauberkraft der Leinwand hielt mich leider noch viele Jahre lang vom Genuss des Originalwerks ab.
Zugunsten Goethes schloss ich einen Kompromiss: In einem Antiquariat kaufte ich von meinem Taschengeld die «Ausgewählten Gedichte» in der ungarischen Jubiläumsausgabe des Goethejahrs 1949. Wie jede Ausgabe bürgerlicher Klassiker war auch dieses Buch mit dem damals üblichen «marxistischen Vorwort» versehen, das dem naiven Leser, quasi als Gebrauchsanweisung, erklären sollte, was für ein Buch er in der Hand hielt. Der Autor war diesmal ein hervorragender linker jüdischer Publizist aus der Vorkriegszeit, Andor Németh (= Deutsch), der erstaunlicherweise ohne Lenin- und Stalin-Zitate auskam und sich lediglich auf Friedrich Engels’ Goethekritik berief, der zufolge der große Dichter einerseits ein «weltverachtendes Genie», andererseits leider ein «enger Philister» gewesen sei. Engels war mir zur Zeit meiner vorkommunistischen Jugend lediglich durch das berühmte Konterfei der Gründerväter des Sozialismus bekannt. Bei Goethe suchte ich, der ahnungslosen Warnung meiner Deutschlehrerin folgend, die Erotik – und fand sie. In der Ballade «Die Braut von Korinth» geht es um die illegale Liebesnacht der Tochter einer christlichen Familie mit dem Sprössling einer heidnischen Sippe, die mit dem Feuertod der Geliebten endet. In der indischen Legende «Der Gott und die Bajadere» verbringt Mahadöh auf seinem irdischen Weg, als junger Mann verkleidet, «eine süße Nacht» mit dem «verlornen schönen Kind». Als die Bajadere ihn am nächsten Morgen tot auffindet, springt sie während der Verbrennungszeremonie freiwillig in die Flammen, aus denen sie jedoch der «Götterjüngling» auf seinen Armen herausträgt. Neben der düsteren Verbindung von Sexualität und Tod empfand ich Goethes empathischen Blick auf die Welt fremder Religionen als besonders aufregend, da er meinem zwischen jüdischen und christlichen Impulsen schwankenden Glauben einen möglichen Ausweg versprach. «Der Gott und die Bajadere» kann ich noch heute auswendig – allerdings nicht im Original, sondern in Árpád Tóths kongenialer ungarischer Nachdichtung.
Auf Heinrich Heine machten mich die Geschwister Berliner aufmerksam. Tante Jenny erzählte mir, dass sie seinerzeit im deutschen Rundfunk einige Male die «Loreley» gehört habe, deren Text sie mir vollständig rezitierte. Allerdings durfte im «Dritten Reich» der Name des Juden Heine nicht genannt werden, daher wurde das bereits zum Volksgut gehörende Gedicht jedes Mal als «Lied eines unbekannten Dichters» gekennzeichnet. Onkel Hugó wiederum zitierte mir Heines angeblich letzte Worte aus seiner «Matratzengruft»: «Dieu me pardonnera, c’est son métier» (Gott wird mir verzeihen, das ist sein Beruf). Die in der französischen Sprachmelodie verpackte Frivolität fand ich bezaubernd. Hinzu kam eine ungarische Rundfunksendung im Februar 1956 zum 100. Todestag von Heinrich Heine. Dem Geist der Zeit entsprechend wurde er als Revolutionär, fast als Kommunist gefeiert, der für weltliche und kirchliche Autoritäten nur beißenden Spott übriggehabt habe. Heines beispiellose Radikalität illustrierte man anhand des ergreifenden sozialkritischen Lieds über die schlesischen Weber. Das Pathos fand ich überzeugend, aber die letzten Worte des Dichters gefielen mir besser. Jedenfalls suchte ich diesmal in den Regalen von Frau Bíró den Originaltext im gotischen Buchstabenmeer, schrieb ihn in mein Notizheft und übertrug sowohl die Loreley als auch das Weber-Gedicht zwischen zwei Schulstunden ins Ungarische. Danach nahm ich mir die Übersetzung des Gedichts «Im Oktober 1849» vor, mit dem Heine dem verlorenen ungarischen Freiheitskrieg Tribut gezollt und diesen mit dem Untergang der Nibelungen verglichen hatte: «Wenn ich den Namen Ungarn hör,/Wird mir das deutsche Wams zu enge …». Bei meinem stark ausgeprägten Nationalstolz war es unvermeidlich, Parallelen zum Volksaufstand 1956 zu ziehen, der bei aller «Bewunderung der ganzen Welt», wie in den Radiosendungen von Free Europe immer wieder betont wurde, von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde. Warum aber wollte ich unbedingt den bereits existierenden drei ungarischen Versionen des Gedichts eine vierte hinzufügen? Vielleicht betrachtete ich den Nachweis der eigenen Reim- und Rhythmusfertigkeit als Bestätigung meines noch konturlosen Ichs. Vielleicht auch waren die frühen Stilübungen nichts anderes als Versuche eines dicklichen Jungen mit Plattfüßen, wenigstens geistigen Sport zu treiben.
Im Dezember 1956 stieß ich bei einem Spaziergang auf dem von Panzern und Kanonen halb zerstörten Leninring plötzlich vor einer ausgebrannten Buchhandlung auf einen Verkaufsstand und zahlte für Heines «Deutschland. Ein Wintermärchen» genau zwölf Forint, die Hälfte meiner von der Großmutter gewährten monatlichen Apanage. Es handelte sich um eine broschierte Ausgabe des ungarischen Friedenskomitees. Zuerst verschlugen mir die 27 «Capita» des Poems den Atem, dann verschlang ich den Anmerkungsapparat, der aufgrund der zahllosen Anspielungen fast so lang wie der Primärtext geraten war. Am Ende hatte ich mich nicht nur königlich amüsiert, sondern fühlte mich auch üppig gebildet: Enorme literarische und zeitgeschichtliche Kenntnisse wurden mir auf weniger als hundertzwanzig Seiten im Plauderton dargeboten, wie im Feuilleton einer Zeitung von einem besonders sentimentalen und humorvollen Redakteur. Das «Wintermärchen» mit seinem ambivalenten, schamhaften Patriotismus beeinflusste für mehrere Jahrzehnte mein Deutschlandbild. Erst viel später fiel mir auf, dass Heines Weg von Göttingen nach Hamburg ausschließlich durch den Westen Deutschlands, also die zukünftige Bundesrepublik führte.
Zwischen dem Abschluss der Hauptschule 1958 und dem Beginn des Gymnasiums suchte ich mir in den Sommerferien für einen Monat einen Schülerjob. Die Baufirma, in der meine Mutter als Pförtnerin arbeitete, wies mich einem Ingenieur zu, dem ich bei der Geländevermessung helfen sollte, indem ich seine Rohrlibelle mit dem dazugehörigen Gestell trug und während der Messungen festhielt. Dieser nicht besonders lukrativen Beschäftigung verdankte ich mein erstes Einkommen, das mir die Finanzierung kultureller Bedürfnisse ermöglichte: Ich begann Bücher zu kaufen, unter anderem die DDR-Ausgabe des «Wintermärchens», aber der wirklich echte Luxus war für mich das Theater. Schon früher hatte ich für die Bühne geschwärmt und gemeinsam mit einem Schulfreund vor den Künstlereingängen Autogramme berühmter Schauspieler gesammelt, aber Eintrittskarten waren für uns zu teuer, und die meisten erfolgreichen Aufführungen, so etwa die Inszenierung von Anne Franks Tagebuch, lernte ich erst nach dem Ende der Spielzeit aus Rundfunkübertragungen kennen. Nun gönnte ich mir ein billiges Abonnement für die Saison 1958/59, das den Besuch von acht Vorstellungen im Nationaltheater beziehungsweise in dessen Kammerspielen ermöglichte. Höhepunkt der Spielzeit war zweifellos Bertolt Brechts «Furcht und Elend des Dritten Reiches». Der Autor war ein Geheimtipp – abgesehen von zwei erfolglosen Inszenierungen der «Dreigroschenoper» 1928 und 1945 war er in Ungarn nie aufgeführt worden. Nun galt er, ähnlich wie Dürrenmatt und Frisch, als «modern», und dieses Wort wirkte kryptisch und verlockend, fast so wie dreißig Jahre später der Begriff «postmodern».
Die Entdeckung Brechts kam beim ungarischen Publikum gut an, Furore machte insbesondere die «Mutter Courage» im Madách-Theater mit Manyi Kiss, die angeblich eigens nach Berlin gereist war, um Helene Weigel in dieser Rolle sehen zu können. Bereits vor der Reprise der «Dreigroschenoper» war der Mackie-Messer-Song aufgrund von Rundfunksendungen in aller Munde. «Furcht und Elend» war eine Inszenierung, die eigens für die besten Schauspieler des Nationaltheaters gemacht zu sein schien – so für Erzsi Somogyi mit ihrem erschütternden Telefongespräch in der Szene «Die jüdische Frau», die im Berliner Ensemble ebenfalls von Helene Weigel gespielt wurde. Außerdem war ich von dem Lied der «Moorsoldaten» beeindruckt sowie von der Idee, dass der Vorspann der einzelnen Szenen auf eine Leinwand projiziert wurde, in meinen Augen eine unerhörte Modernität.