Verlag C.H.Beck
Nur acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ging es im kommunistischen Osten Deutschlands um Demokratie, Freiheit und Wiedervereinigung. Etwa eine Million Menschen beteiligten sich in über 700 Orten der DDR. Ilko-Sascha Kowalczuk schildert den Volksaufstand in seiner ganzen Vielschichtigkeit und lenkt den Blick auf die Großstädte ebenso wie auf die vielen mutigen Menschen in der Provinz. So entsteht ein breites Panorama einer gesellschaftlichen Bewegung, die die SED-Diktatur bis ins Mark erschütterte.
Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967, Dr. phil., Historiker, war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission «Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit» und arbeitet seit mehreren Jahren als Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR (2. Auflage 2009); Die 101 wichtigsten Fragen DDR (2009) sowie Stasi konkret (2013).
Vorwort
1. Kalter Krieg gegen die eigene Gesellschaft: Der Aufbau des Sozialismus
2. Stalins Tod und der «Neue Kurs»
3. Der Aufstand in den Großstädten
Berlin
Dresden
Halle
Leipzig
Magdeburg
4. Der Aufstand in der Provinz
Mecklenburg-Vorpommern
Brandenburg
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Sachsen
5. Die Rache der Herrschenden
Hinrichtungen in der Sowjetarmee?
6. Internationale Reaktionen
7. Die Zukunft des 17. Juni: Nachbetrachtung
Auswahlbibliographie
Register
Der «17. Juni 1953» war jahrzehntelang ein geschichtspolitisch umstrittenes Ereignis. In der DDR ist er schon zwei Tage nach den Ereignissen offiziell als «faschistischer Putschversuch» denunziert worden. In sowjetischen Dokumenten findet sich diese Charakterisierung bereits am Mittwoch, den 17. Juni 1953. Damit folgten die Kommunisten ihrer Logik, dass Angriffe gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht nur von außen gesteuert, inspiriert und organisiert sein könnten. Und da in der Bundesrepublik die ehemaligen Faschisten an der Macht seien – so die damals offizielle SED-Lesart –, konnte es sich nur um einen «faschistischen Putschversuch» handeln. Erst in den späten 1970er und den 1980er Jahren ist diese Deutung häufiger durch die Charakterisierung als «konterrevolutionärer Putschversuch» abgeschwächt worden, ohne dass die zuerst erfolgte Bezeichnung verschwunden wäre. Eine öffentliche Auseinandersetzung fand selbstredend nicht statt. Aber jedem Schulkind ist beigebracht worden, dass an diesem Tag der US-amerikanische Imperialismus – so wie in Ungarn 1956 – vergeblich versucht habe, den Sozialismus in der DDR zu beseitigen. Schulbuchautoren und SED-Historiker trugen mit ihren Propagandaschriften ebenso zu diesem Geschichtsbild bei wie Schriftsteller, Dramaturgen, Theaterregisseure oder Schauspieler. Die vielen Funktionäre, Propagandisten und Lehrer taten dies ohnehin. Das ging zum Teil so weit, dass selbst Familien, in denen die Ereignisse ganz anders erlebt worden waren, aus Angst gar nicht mehr über den Tag sprachen. Der «17. Juni» wurde zum Tabu.
Diese ideologische Indoktrination blieb nicht folgenlos. Auch in Gruppen, die der SED-Diktatur kritisch oder ablehnend gegenüberstanden, fand eine Auseinandersetzung mit den Ereignissen, ihren Ursachen und Folgen, nur selten statt. Gerade Nachgeborenen, also jenen, die die Ereignisse selbst nicht erlebt hatten, blieb der «17. Juni» nicht selten verdächtig – vielleicht war ja etwas dran an den SED-Einschätzungen. Auch die Herrschenden vergaßen das Ereignis nicht. Noch in den 1980er Jahren fragten interne Überprüfungen selbst bei jenen, die damals noch Jugendliche gewesen waren, ab, wie sie sich am 17. Juni 1953 verhalten hatten. Und nichts könnte den Schock, den die SED-Führung damals erlitt, besser verdeutlichen als ein berühmter Wortwechsel vom 31. August 1989. An diesem Tag traf sich die Generalität des Ministeriums für Staatssicherheit in Ost-Berlin zu einer turnusmäßigen Dienstbesprechung bei Minister Erich Mielke. Es ging um die politische Lage in der DDR. Die Agonie des Systems war kaum noch zu übersehen. Die MfS-Spitze zeigte sich besorgt. Bezeichnenderweise fragte Mielke: «Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?» Der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Gera, Oberst Dieter Dangrieß, beruhigte seinen Minister: «Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.» Wie wir wissen, irrte der Oberst, der nur Tage später noch zum Generalmajor befördert worden ist.
Aber auch in der Bundesrepublik ist der «17. Juni 1953» geschichtspolitisch benutzt worden. Er gab der jungen Demokratie gleichsam einen legitimatorischen Schub. Vor allem aber nützte er der Regierung: Kanzler Adenauer und die Unionsparteien gewannen im September 1953 die Bundestagswahlen überlegen – noch Monate zuvor war das nicht zu erwarten gewesen. 1953 zum gesetzlichen Feiertag erhoben und 1963 zum nationalen Gedenktag erklärt, erfuhr der «17. Juni» auch in der Bundesrepublik wissenschaftliche Umdeutungen und ist geschichtspolitisch für innenpolitische und deutschlandpolitische Strategien und Debatten instrumentalisiert worden. Infolge der neuen bundesdeutschen Deutschland- und Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt verlor der Feier- und Gedenktag allerdings zunehmend an Bedeutung. Zuletzt war er wenig mehr als eine sozialpolitische Errungenschaft – ein arbeitsfreier Tag. Es scheint daher nur folgerichtig, dass er 1990 als Feiertag zugunsten des 3. Oktober, des nunmehrigen Tags der deutschen Einheit, aufgegeben wurde. Dahinter verbirgt sich jedoch eine nicht unproblematische Geschichtssicht. Denn am 3. Oktober 1990 wurde lediglich staatsmännisch nachvollzogen, was die ostdeutsche Gesellschaft im Verbund mit den Gesellschaften der anderen Ostblockstaaten zuvor ermöglicht hatte.
Der 17. Juni 1953 steht wie der 9. Oktober 1989 (Leipzig) symbolisch für ein Ereignis, in dem die Gesellschaft versuchte, Freiheit zu erlangen. Erst im Laufe der Jahre nach 1990 drang zunehmend ins öffentliche Bewusstsein, was sich im Juni 1953 tatsächlich in der DDR zugetragen hatte. Die Ereignisse konnten umfassend erforscht und analysiert sowie von propagandistischen und geschichtspolitischen Verzerrungen befreit werden. Vor allem der Erinnerungsboom aus Anlass des 50. Jahrestages des Volksaufstandes 2003 mit vielen Veranstaltungen, Publikationen, Spiel- und Dokumentarfilmen zeigte schließlich, dass ihm in der nicht gerade reichhaltigen deutschen Freiheitsgeschichte ein besonderer Platz zukommt.
Vom 9. bis 12. Juli 1952 fand die 2. SED-Parteikonferenz statt. Laut Parteistatut vom Juli 1950 konnte das SED-Zentralkomitee zwischen den turnusmäßigen Parteitagen eine «Parteikonferenz» einberufen, um «über dringende Fragen der Politik und Taktik der Partei» abstimmen zu lassen. 1949 diente die 1. Parteikonferenz dazu, die offene Umwandlung der SED in eine Leninsche Partei neuen Typus zu verkünden. Auch die 2. SED-Parteikonferenz hatte zum Ziel, etwas zu propagieren, was tatsächlich längst begonnen hatte. Beide Konferenzen brachten keine neue Politik, kündigten aber eine verschärfte Gangart, neue Formen von Repressionen und die kompromisslose Umsetzung der proklamierten Zielvorstellungen an.
Am ersten Tagungstag hielt Walter Ulbricht, der mächtigste SED-Funktionär zwischen 1946 und 1971, eine sechsstündige Grundsatzrede. Unter frenetischem Beifall rief er die historisch gewordenen Worte in die tobende Halle hinein: «In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.» Die SED-Führung hatte die DDR von Anfang an nach sowjetischen Vorgaben und Mustern geformt und geleitet. Sie hatte aber aus taktischen Gründen vermieden, vom Aufbau des Sozialismus zu sprechen. Im Frühsommer 1952 war jedoch aus ihrer Sicht der Zeitpunkt gekommen, die seit Kriegsende 1945 verfolgten Ziele offen zu propagieren. Die wichtigste Frage, die sogenannte Machtfrage, schien geklärt. Wozu eine «historische Parteikonferenz», die lediglich einen Kurs verkündete, der bereits seit Jahren verfolgt wurde?
Dafür gab es zwei Gründe. Der eine betraf die «deutsche Frage»: Mit dem Bekenntnis zum Aufbau des Sozialismus machte die SED-Führung deutlich, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands nur denkbar sei, wenn ein sozialistisches Gesamtdeutschland entstehen würde. Die Wiedergewinnung staatlicher Souveränität im Rahmen der westeuropäischen Integration durch die Bundesrepublik, die mit dem Deutschlandvertrag und der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Mai 1952 politische Realität geworden war, hatte die SED-Führung in Zugzwang versetzt und trieb sie dazu, ihre Zukunftsvorstellungen von einer kommunistischen Gesellschaft zu zementieren. Zweitens sollten Entwicklungen beschleunigt und unumkehrbar gemacht werden, die bereits vor der Parteikonferenz in Gang gesetzt worden waren. Dazu zählten etwa der Ausbau des Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze, der Aufbau von bewaffneten Streitkräften, die Vorbereitungen für eine groß angelegte Verwaltungsreform, die Reorganisation der Ministerien, die weitere Formierung einer zentral geleiteten Industrie, der weitere Umbau des Rechtswesens, die Militarisierung der Gesellschaft, die Fortführung der Hochschulreform und anderes mehr. Zugleich forcierte die SED-Führung den Sowjetisierungsprozess der Gesellschaft. Dazu zählten die geplante Kollektivierung der Landwirtschaft, die Verschärfung des Kirchenkampfes oder der Kampf gegen selbstständige Unternehmer, Handwerker und Gewerbetreibende.
Die SED-Führung hatte in Konsultationen mit der Moskauer Führung diesen neuen Kurs besprochen und schließlich am 2. Juli 1952 einen Brief an Stalin gerichtet, in dem sie ihn um Zustimmung für die Beschlüsse bat. Er segnete sie ab. Die Beschlüsse betrafen die gesamte Bevölkerung, da alle sozialen Schichten mehr oder weniger gezwungen wurden, sich dem gesteigerten Entwicklungstempo und der einseitigen wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen. Auch die Auswirkungen dieser Politik bekam die gesamte Gesellschaft zu spüren. Die Läden wurden leerer und das erarbeitete Geld wertloser.
Sowenig die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz auf demokratische Weise herbeigeführt worden waren, so wenig war daran gedacht, sie demokratisch umzusetzen. Vielmehr sollte der Sozialismus mittels Repressionen und Verfolgungen, von ideologischen Kampagnen begleitet und in einer Atmosphäre des Terrors etabliert werden. Die Delegierten reisten ab, um die Beschlüsse im ganzen Land zu verkünden. Dabei schlug ihnen nur selten Sympathie entgegen. Viele Menschen waren bestürzt über die drohende Militarisierung, von der besonders die Jugend betroffen war. Aber auch Handwerker, Bauern sowie Klein- und mittelständische Unternehmer zeigten sich besorgt. Sie befürchteten Enteignungen und Zwangskollektivierungen. Immer wieder wiesen die Funktionäre von der Basis die Zentrale in Berlin darauf hin, welche Vorstellungen weit verbreitet seien. So berichtete ein Genosse aus der Farbenfabrik in Wolfen, dass SED-Mitglieder der Meinung seien, «die Diktatur des Proletariats […] führe» dazu, «dass nun die Betriebsleiter nichts mehr zu sagen hätten». Diese Konsequenz trug die SED-Führung nicht mit. Sie war auf Fachleute angewiesen, bestand aber darauf, in allen Fragen des Staates und der Gesellschaft die letzte Entscheidungsbefugnis auszuüben. Die DDR war als zentralistischer Staat gebildet worden, den die SED dominierte, auch wenn ihre «führende Rolle» erst 1968 «verfassungsrechtlich» verankert worden ist. Bereits am 17. Oktober 1949, also nur zehn Tage nach der Gründung der DDR, hatte die SED-Parteiführung verfügt, dass alle Erlasse, Gesetze, Verordnungen und Beschlüsse vor der Verabschiedung durch die Volkskammer oder die Regierung vom SED-Politbüro bzw. vom Sekretariat des Politbüros bestätigt werden mussten.
Als die 2. Parteikonferenz tagte, war die «Diktatur des Proletariats» bereits so weit aufgebaut worden, dass es niemanden mehr wunderte, dass eine Parteikonferenz und nicht die Regierung solche weitgehenden, die gesamte Gesellschaft berührenden Beschlüsse fasste. Gleichzeitig zeigte sich, dass viele Parteilose die Konsequenzen nicht überblickten und sich die meisten Parteifunktionäre außerstande sahen, ihnen diese zu erläutern. Der Mehrheit der Bevölkerung aber war bewusst, «dass der Aufbau des Sozialismus eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands mit sich bringen wird». Zum damaligen Zeitpunkt, sieben Jahre nach Kriegsende, war die deutsche Teilung in den Köpfen noch lange nicht zementiert. Fast alle hofften, die Spaltung sei eine vorübergehende Erscheinung. Mit der Verkündung des Aufbaus des Sozialismus trat Ernüchterung ein, ohne dass die Hoffnungen verschwanden. Die «Verschärfung des Klassenkampfes», wie Ulbricht im Anschluss an seinen Lehrmeister Stalin pausenlos verkündete, bedeutete eine Verschärfung des Terrors. Ein Parteisoldat aus Angermünde brachte dies überspitzt auf den Punkt: «Jetzt haben wir endlich die Diktatur des Proletariats. Wer jetzt nicht mitmacht, wird kurzerhand umgelegt. Auf den Tag habe ich schon lange gewartet.» Der Genosse freute sich zu früh. Mord und Totschlag zählten nicht zum geplanten Programm. Dieses Zitat verdeutlicht aber, welche Atmosphäre in der Gesellschaft herrschte.
Durch einen erheblichen Produktionsanstieg und die Beseitigung der Kriegsfolgen sollte der Vorkriegslebensstandard der Bevölkerung erreicht und bis Ende 1955 überschritten werden. Das galt besonders für den Verbrauch von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern. Laut den Plänen sollten zum Beispiel die landwirtschaftlichen Erträge um 25 Prozent und die Arbeitsproduktivität um 72 Prozent erhöht werden. Diese Versprechen konnten jedoch nicht eingelöst werden. Ende 1952 war der Vorkriegsstand in der Verbrauchsgüterindustrie nicht annähernd erreicht worden. Das lag auch an der weitreichenden Militarisierung der Gesellschaft, die im Umfeld der 2. SED-Parteikonferenz einsetzte und erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Folgelasten nach sich zog. Die FDJ übernahm im Mai 1952 die Patenschaft über die Kasernierte Volkspolizei (KVP). Bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1962 zählte fortan zu ihrer zentralen Aufgabe, Jugendliche für Polizei und Militär zu gewinnen. Auch die Bildung der «Gesellschaft für Sport und Technik» (GST) 1952 stand im Zeichen der Militarisierung, die allerdings bereits in den Jahren zuvor begonnen hatte. Zudem hatte die 2. Parteikonferenz den Aufbau «nationaler» Streitkräfte proklamiert. Bereits im Frühjahr 1952 notierte Staatspräsident Wilhelm Pieck bei einem Besuch in Moskau, die «pazifistische» Phase der DDR-Politik sei zu beenden und Armee und Rüstungsindustrie aufzubauen. In der DDR waren zu diesem Zeitpunkt rund 500.000 Soldaten der sowjetischen Besatzungsarmee stationiert. Die Moskauer und Ostberliner Führungen schickten sich an, die DDR zur militärisch am dichtesten besetzten Fläche Europas werden zu lassen. Die KVP bzw. deren Vorläufer verfügten Anfang 1952 über etwa 50.000 Angehörige. Ende des Jahres waren es bereits 90.000 und Mitte 1953 über 110.000 Mann.
Der Produktion wurden in einem sehr kurzen Zeitraum 60.000 junge, in der Industrie dringend benötigte Facharbeiter entzogen. Da viele Kasernen erst gebaut oder saniert werden mussten – die meisten alten Kasernen waren von der sowjetischen Armee besetzt –, kam es zeitweilig, abgesehen von einigen zentralen Prestigebauten wie der neu gegründeten Stalinstadt (später: Eisenhüttenstadt) oder der Berliner Stalinallee, zu einem Stillstand im zivilen Bauwesen. Die Orientierung der Wirtschaft auf die Schwerindustrie war der Aufrüstung geschuldet, was eine Vernachlässigung der Leicht- und Textilindustrie in nicht geringem Maße nach sich zog. Die gesamten Militarisierungs- und Kriegsfolgekosten (Reparationsleistungen) betrugen 1952 20 Prozent und 1953 16 Prozent aller öffentlichen Ausgaben. Das war der mit Abstand größte Posten im zentralistischen DDR-Staatshaushalt, der umso schwerer wog, als dringend benötigte Investitionsmittel für die zivile Wirtschaft und den Wiederaufbau der Städte und Gemeinden fehlten.
Die staatseigene Industrie war zum beherrschenden Sektor der DDR-Wirtschaft geworden. Seit Juni 1951 propagierte die SED die Losung «Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen» und erklärte, es komme darauf an, den volkseigenen Sektor in Industrie, Landwirtschaft, Verkehr, Handel und Finanzen weiterzuentwickeln. Der Anteil der Volkseigenen Betriebe (VEB) wuchs ständig. Mitte 1949 gab es knapp 1800, 1950 zählte man schon insgesamt 5000 VEB. 1953 arbeiteten dort 1,7 Millionen Beschäftigte. Drei Jahre zuvor waren es nur knapp die Hälfte gewesen. Dieser Anstieg hatte auch damit zu tun, dass die Mitte 1946 gebildeten Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG), in denen über 200 der wichtigsten Großbetriebe der SBZ zusammengefasst worden waren, bis Ende 1953 schrittweise von der DDR zurückgekauft und in VEB umgewandelt wurden.
Zwar gelang es bis 1953 unter Mühen, die zerrüttete Wirtschaft wieder aufzubauen. Die Stahlerzeugung etwa, die 1946 auf 150.000 Tonnen abgesunken war, stieg bis 1953 wieder auf 2,1 Millionen Tonnen an. Ähnliche Leistungen verbuchten die Energiewirtschaft und die Chemieindustrie. Demgegenüber blieb die Entwicklung der Konsumgüterindustrie aber zurück. Trotz vieler Versprechungen der SED-Führung war der Lebensstandard niedrig. Fett, Fleisch und Zucker mussten rationiert werden, die Lebensmittel- und Energiezuweisungen (Kartensystem) waren sehr knapp bemessen, viele Güter waren Mangelware, die Qualität ließ oft zu wünschen übrig. Die hohen Preise in den HO-Läden erwiesen sich für die meisten Arbeiter als unerschwinglich. Das Durchschnittseinkommen betrug 1952 308 Mark. In den HO-Läden kosteten ein Kilo Zucker 12 Mark, ein Kilo Butter 24 Mark oder ein Kilo Schweinefleisch 15 Mark. Außerdem belasteten eine noch immer zerrüttete Infrastruktur, Stromsperren, schlechte Wasserqualität und Rationierungen den Alltag. Beklagen durfte man sich nicht über diese schlechten Lebensumstände. Ein 56-jähriger Kaufmann etwa hatte 1952 und 1953 in mehreren privaten Briefen plastisch die Lebenssituation geschildert und das politische System für die unhaltbaren Zustände verantwortlich gemacht. Im Mai 1953 verhaftete ihn das Anfang 1950 offiziell gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS), dessen Mitarbeiterstamm sich bis Ende 1952 auf knapp 11.000 nahezu verzehnfachen sollte. Wie in der Sowjetunion galten Versorgungsprobleme nicht als Folge einer verfehlten Politik, sondern wurden einer stetig steigenden Sabotagearbeit zugeschrieben.
Neben den Großbauern machte die Propaganda des Regimes vor allem den privaten Großhandel und das private Transportgewerbe für die Versorgungsprobleme verantwortlich. Im Dezember 1952 begann die SED-Führung, ihnen die wirtschaftliche Existenzgrundlage zu entziehen. Zehntausende Menschen waren davon direkt betroffen. Es war vorgesehen, innerhalb von drei Monaten den gesamten privaten Großhandel zu liquidieren – eine Zeitspanne, die sich allerdings als zu kurz erweisen sollte. Das Perfide an dieser Aktion war, dass Privatunternehmern Verfehlungen und Verbrechen nachgewiesen werden mussten, selbst wenn sie diese gar nicht begangen hatten. Insgesamt wurden in diesem kurzen Zeitraum über 3000 Betriebe überprüft, und gegen über 2100 sind Strafverfahren eingeleitet worden. Polizei und Stasi verhafteten fast 2300 Personen. Der Staat beschlagnahmte ein Vermögen in Höhe von über 335 Millionen Mark. Betroffen waren alle Industrie- und Handelszweige. In diesen Betrieben hatten über 36.000 Personen gearbeitet.
Nach der 2. Parteikonferenz verschärften sich auch die Steuerpolitik und die Praxis beim Eintreiben von Steuer- und Ablieferungsschulden, unter denen vor allem Bauern und die Mittelschichten zu leiden hatten. Für ihre Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik benötigte die SED-Führung finanzielle Mittel, die sie auf diese Weise vor allem bei den Mittelschichten aufzutreiben suchte. Deren ökonomische Leistungskraft war aber durch die politischen Entscheidungen der letzten Jahre bereits erheblich beeinträchtigt. Die SED propagierte ein «Sparsamkeitsregime», das wiederum vor allem Selbstständige traf. Hausbesitzern, in West-Berlin arbeitenden, aber in Ost-Berlin lebenden Personen, Großbauern und vielen anderen, insgesamt über zwei Millionen Menschen, wurden die Lebensmittelkarten entzogen, sodass sie nur noch in den überteuerten HO-Läden einkaufen konnten. Fahrpreise, Preise für Genussmittel und Lebensmittel schnellten in die Höhe. Wer beim Diebstahl erwischt wurde, musste mit drastischen Strafen als Saboteur rechnen. Fünf Männer sind im Januar 1953 in Halle zu hohen Haftstrafen verurteilt worden, weil sie angeblich Zement in einem Gesamtwert von 2394 Mark veruntreut hatten. Eine Frau wurde vom Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow im Februar 1953 gar zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, weil sie sechs Taschentücher mit nach Hause nahm. Von solchen Urteilen gab es 1952/53 Tausende; allein im März 1953 liefen 3500 entsprechende Verfahren. Im Mai 1953 saßen etwa 66.400 Häftlinge in Zuchthäusern, Gefängnissen und Arbeitslagern, die Mehrheit davon waren Arbeiter.
Nach der 2. Parteikonferenz lag der Schwerpunkt neben dem Auf- und Ausbau der Schwerindustrie auf der Kollektivierung in der Landwirtschaft. Zwar war es bis zum Juli 1952, beginnend im April 1952, bereits zu vereinzelten Gründungen von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) gekommen, aber in dieser Phase verliefen diese weitgehend auf freiwilliger Basis. Das änderte sich nun. Als Ergebnis der Bodenreform gab es 1950 auf dem Gebiet der DDR nahezu 889.000 landwirtschaftliche Betriebe, davon rund 95 Prozent in privater Hand. Die Agrarproduktion hatte in den wichtigsten Produktionsbereichen das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Daher erwies es sich als wirtschaftlich geradezu töricht, die Sozialstruktur auf dem Land nach der Bodenreform ein zweites Mal zu verändern. Allerdings waren die Bauern neben dem gewerblichen Mittelstand die zweite große Gruppe Selbstständiger, die dem von der SED betriebenen Aufbau des Sozialismus «objektiv» entgegenstanden. Die Großbauern sollten als soziale Gruppe beseitigt, die Klein- und Mittelbauern kollektiviert werden. Das führte dazu, dass 1952 bis zum 17. Juni 1953 mehr als 15.000 Bauern ihre eigenen Höfe verließen und in den Westen flüchteten. Hinzu kam noch, dass Tausende Neubauern die Landwirtschaft verließen, sodass ernsthafte Versorgungslücken entstanden.
Bereits 1952 waren knapp 900 Bauernhöfe in Grenzkreisen enteignet worden, weil an der innerdeutschen Grenze seit Mai 1952 Zwangsumsiedlungen «zum Schutz der Demarkationslinie» in großem Stil durchgeführt wurden – insgesamt wurden 1952 während dieser Aktion, die intern als «Aktion Ungeziefer» firmierte, etwa 12.000 Menschen, die als politisch unzuverlässig galten, aus einem 5 km breiten Grenzstreifen vertrieben. Ebenso viele flüchteten in den Westen, Dutzende erhielten zum Teil hohe Zuchthausstrafen, weil sie Widerstand gegen die Zwangsumsiedlung leisteten oder organisierten. Nach der 2. Parteikonferenz sind dann bis zum Juni 1953 Tausende weitere Höfe enteignet und zwangskollektiviert worden. Dabei kam es zu sehr vielen Prozessen mit drastischen Strafzumessungen. Bewusst überzogene Steuererhebungen und Ablieferungssollvorgaben waren weitere Druckmittel. Damit sind Tausende in den Ruin getrieben worden. Bis zum 1. Juni 1953 kam es zu annähernd 5000 LPG-Zwangsgründungen. Noch dominierten in der Landwirtschaft aber privatwirtschaftliche Betriebe, allerdings mit einer Betriebsgröße unter 20 Hektar. Durch die Volkserhebung vom 17. Juni 1953 ist die erste Zwangskollektivierung abgebrochen und zum Teil sogar rückgängig gemacht worden. Erst in einer zweiten Kollektivierungsphase – 1958/60 – ist dann die Masse der landwirtschaftlichen Betriebe zu etwa 20.000 LPG zwangsvereinigt worden.
Die erste Welle der Zwangskollektivierung 1952/53 war von mannigfachen Repressionen begleitet. Immer wieder kam es deshalb in den Dörfern zu spontanen Widerstandshandlungen und Unmutsäußerungen der Bevölkerung. In Dähre zum Beispiel, einem kleinen Dorf in der Altmark, ist ein Bauer (40 Hektar) zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er das völlig überzogene, aber politisch bewusst so kalkulierte Ablieferungssoll nicht erfüllen konnte. 80 Bewohner des Dorfes versammelten sich daraufhin vor dem Gebäude, in dem der Bauer verurteilt worden war. Sie befreiten ihn unter anderem mit dem Ruf «Wir wollen frei sein, wie unsre Väter waren!». Der Bauer flüchtete in den Westen. Vier Bewohner, die sich an der Befreiung beteiligten, erhielten kurz darauf Haftstrafen zwischen sechs Monaten und dreieinhalb Jahren Zuchthaus.