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Manfred G. Schmidt

Das politische System Deutschlands

Institutionen, Willensbildung und Politikfelder

3., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Dieses Buch ist ein Wegweiser durch das politische System der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Es behandelt sowohl das Regelwerk, das die Verfassung der Politik vorgibt, als auch die Verfassungswirklichkeit. Ausführlich erläutert Manfred G. Schmidt die politischen Institutionen, deren Funktionsweise sowie den Prozess der politischen Willensbildung. Zudem beleuchtet er die Staatstätigkeit in den wichtigsten Feldern der Innen- und Außenpolitik und in ihren Wechselwirkungen mit den politischen Institutionen und Prozessen. Dabei wird die Politik in Deutschland aus der Perspektive des internationalen und historischen Vergleichs erörtert und es werden ihre Stärken und Schwächen bewertet. Ein für die 3. Auflage neu verfasstes Kapitel ist den Möglichkeiten und Grenzen einer Europäisierung des Regierungssystems gewidmet.

Über den Autor

Manfred G. Schmidt ist Professor für Politische Wissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zuletzt erschien von ihm: Das politische System der Bundesrepublik (C.H.Beck,32016); The Rise and Fall of a Socialist Welfare State (mit Gerhard A. Ritter) (2013); Der deutsche Sozialstaat – Geschichte und Gegenwart (C.H.Beck, 2012); Demokratietheorien (52010); Wörterbuch zur Politik (32010); Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich (32005).

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I: Politische Institutionen, Akteure
und Willensbildung

Kapitel 1: Die Staatsverfassung der Bundesrepublik Deutschland

1. Ein langer «Weg nach Westen»

2. Alte und neue Pfade der Verfassungspolitik

3. Verfassungspolitische Weichenstellungen

4. Verfassung und Verfassungswirklichkeit

5. Strukturen politischer Herrschaft in der Bundesrepublik Deutschland

Kapitel 2: Wahlrecht und Wahlsystem

1. Wahlberechtigung und Wahlalter

2. Das Wahlsystem bei Bundestagswahlen

3. Bewertungen der personalisierten Verhältniswahl

4. Wahlrechtsreform?

Kapitel 3: Wähler und Wahlverhalten

1. Die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft

2. Wahlbeteiligung

3. Die Stimmenverteilung auf die politischen Parteien

4. Wählerverhalten: beweglicher als zuvor

5. Milieubindungen und Parteiidentifikation

6. Bundestags- und Landtagswahlen im Vergleich

Kapitel 4: Politische Parteien und Parteiensystem

1. Politische Parteien

1.1 CDU/CSU

1.2 SPD

1.3 FDP

1.4 Bündnis 90/Die Grünen

1.5 Die Linke

1.6 Die AfD

1.7 Parteimitglieder

2. Parteiensystem

2.1 Zahl der Parteien, Fragmentierungsgrad, Dominanz und Oppositionsoptionen

2.2 Trend zum «polarisierten Pluralismus»?

2.3 Konfliktlinien

2.4 Policy-Positionen der Parteien

2.5 Koalitionen

2.6 Regierungswechsel

Kapitel 5: Intermediäre Organisationen: Interessenverbände und Massenmedien

1. Die organisierte Gesellschaft

2. Herrschaft der Verbände? Die Lehre von den «Großen Vier»

3. Teils korporatistische, teils pluralistische Staat-Verbände-Beziehungen – aber kein «Verbändestaat»

4. Massenmedien als «Vierte Gewalt»?

Kapitel 6: Vom «negativen Parlamentarismus» zum parlamentarischen Regierungssystem

1. Ein parlamentarisches Regierungssystem der republikanischen Form – mit Parteiendominanz

2. Die soziale und parteipolitische Zusammensetzung des Deutschen Bundestags

3. Abstimmungsregeln – Parteienpolitik zwischen Mehrheitsdemokratie und Großer Koalition

4. Funktionen des Deutschen Bundestages

4.1 Wahlfunktion

4.2 Gesetzgebung

4.3 Kontrolle und Opposition

4.4 Interessenartikulation und Kommunikation

4.5 Repräsentation und Repräsentationslücken

5. Das mächtigste Parlament auf dem Kontinent?

Kapitel 7: Regieren im «halbsouveränen Staat»: die Exekutive des Bundes

1. Die Bundesregierung

1.1 Amt und Person der Bundeskanzler

1.2 Eine «Kanzlerdemokratie»?

2. Der Bundespräsident

3. Machtressourcen und Machtbegrenzungen der Bundesregierung

3.1 Machtressourcen: Kompetenzen, Staatsfinanzen, Verwaltungsführung

3.2 Machtbegrenzungen – warum Alleingänge für Bundesregierungen schwierig sind

3.3 Der Staat der vielen Vetospieler und Mitregenten

4. Bildung, Stabilität und Auflösung von Bundesregierungen

5. Die parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierungen seit 1949

Kapitel 8: Regieren im «halbsouveränen Staat»: Politik im Bundesstaat

1. Die Bundesländer

2. Mitregent und Vetospieler: der Bundesrat

2.1 Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung

2.2 Mitwirkung der Länder bei Verwaltung, Wahlen und Krisenmanagement

3. Der unitarische Bundesstaat

4. Polyzentrismus, Fragmentierung und Politikverflechtung

5. Hoher Kooperationsbedarf und Dauerwahlkampf

6. Sozialstaatsföderalismus

7. Die Föderalismusreformen I und II

8. Deutschlands Bundesstaat im Vergleich

Kapitel 9: Regieren mit Richtern

1. Verfassungspolitische Grundlagen und Organisation der rechtsprechenden Gewalt

2. Das Bundesverfassungsgericht

2.1 Struktur

2.2 Macht und Machtgrenzen

2.3 Spannungen zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik

3. Deutschlands Judikative zwischen Nationalstaat und Europäischer Union

4. Wirkungen des Bundesverfassungsgerichts auf die Demokratie

5. Suprematie des Rechts?

Kapitel 10: Deutschlands politische Führungsschicht

1. Wer regiert Deutschland?

2. Zusammensetzung und Rekrutierung der politischen Führungsschicht

2.1 Kontinuitätsbrüche

2.2 Rekrutierung und soziale Herkunft

2.3 Professionalisierung

2.4 Auf- und Abstiege

3. Werte, Gruppenzugehörigkeit und Zielvorstellungen

3.1 Wertorientierung und Ziele

3.2 Parteinähe und Parteimitgliedschaft

3.3 Ost-West-Unterschiede

3.4 Einstellungen zur Demokratie

4. Der Aufbau der politischen Generationen im Wandel

Teil II: Politikfelder

Einleitung

Kapitel 11: Außenpolitik: Vorfahrt für Handelsstaat und «Zivilmacht»

1. Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik nach 1949

2. Außenpolitik im Zeichen des Ost-West-Konflikts und des «Sonderkonflikts» mit der Sowjetunion

3. Eine neue deutsche Außenpolitik nach 1990?

4. Parteienwettbewerb, Exekutivmacht und Domestizierung der Außenpolitik

5. Die Außenpolitik im Regimevergleich

Kapitel 12: Politik mit Zweidrittelmehrheiten: Änderungen des Grundgesetzes

1. Zweidrittelmehrheiten und die Praxis der Grundgesetzänderungen

2. Bewertungen der Verfassungsänderungen

3. Die Politik der Verfassungsänderungen

4. Verfassungsänderungen im internationalen Vergleich

5. Zeitverzögerungen und Nichtentscheidungen

Kapitel 13: Staatsfinanzen

1. Wachsende Staatshaushalte: Vom Wiederaufbau zum Wohlfahrtsstaat

2. Die Finanzierung der Staatsaufgaben in Deutschland: der verschuldete «Steuer-» und «Sozialabgabenstaat»

3. Staatsfinanzen im Bundesstaat und im Kontext der EU

4. Deutschlands Staatsfinanzen im Vergleich

5. Determinanten der Staatsquote

6. Schlussfolgerungen

Kapitel 14: Wirtschaftsverfassung und wirtschaftspolitische Ergebnisse

1. Deutschlands Wirtschaftsverfassung

1.1 Soziale Marktwirtschaft

1.2 Die Verfassungswirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft

1.3 Handlungsspielräume, Parteiendifferenzen und große Herausforderungen

1.4 Deutschlands Wirtschaftsverfassung aus dem Blickwinkel vergleichender Politischer Ökonomie

2. Wirtschaftspolitische Ergebnisse: Wirtschaftswachstum, Arbeitslosenquote und Inflationsrate

3. Liberalisierungspolitik und ihre Grenzen

Kapitel 15: Sozialpolitik

1. Sozialstaatsstrukturen

1.1 Sozialstaatsschichten

1.2 Die Doppelstruktur des deutschen Sozialstaats

1.3 Der Sozialstaat der Machtaufteilung

2. Entwicklung der Sozialpolitik seit 1949

3. Internationaler Vergleich

3.1 Alter und Größenordnung der deutschen Sozialpolitik

3.2 Ein «konservativer Wohlfahrtsstaat»?

3.3 Sozialpolitische Regulierungen der Arbeitswelt im internationalen Vergleich

4. Antriebs- und Bremskräfte der Sozialpolitik

5. Wirkungen der Europäischen Union auf die Sozialpolitik in Deutschland

6. Wirkungen der Sozialpolitik

Kapitel 16: Bildungspolitik

1. Der Einfluss des Politik-Erbes auf die Bildungsfinanzen

2. Wirtschaftskraft, Bevölkerung im Ausbildungsalter und Bildungsbeteiligung

3. Politisch-kulturelle, arbeitsmarktökonomische und parteipolitische Fundamente der Bildungsausgaben

4. Föderalismus und Finanzierungskonkurrenz der öffentlichen Bildungsausgaben

5. Die Staat-Markt-Arbeitsteilung in der Bildungsfinanzierung

6. Bilanz

Kapitel 17: Umweltpolitik

1. Der späte Einstieg in die nationale Umweltpolitik

2. Phasen der Umweltpolitik des Bundes seit 1969

2.1 Die Etablierungsphase: 1969–1973

2.2 Umweltpolitik im Zeichen der Trendwende

2.3 Die dritte Phase: 1982–1998

2.4 Rot-grüne Umweltpolitik: 1998–2005

2.5 Schwarz-rote und schwarz-gelbe Umweltpolitik: 2005–2015

3. Warum die Umweltpolitik viel später als die Sozialpolitik institutionalisiert wurde

4. Deutschlands Umweltpolitik im internationalen Vergleich

5. Ungelöste Aufgaben

Kapitel 18: Die «Politik des mittleren Weges»

1. Der «mittlere Weg»

2. Institutionelle Bedingungen und Reproduktionsmechanismen des «mittleren Weges» vor 1990

3. Leistungsprofile des «mittleren Weges» vor und nach 1990

3.1 Ungleichgewicht zwischen Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Beschäftigung

3.2 Verluste bei der Preisstabilitätspolitik

3.3 Kontinuität des «Steuer-» und «Sozialabgabenstaates» mit kleinerem Staatsdienerheer und Nebenfolgen

3.4 Fragilere Strukturen des delegierenden Staates

3.5 «Mittlerer Weg» oder Liberalisierung des deutschen Kapitalismus?

4. Warum weiter auf dem «mittleren Weg»?

Kapitel 19: Europäisierung des politischen Systems? Tendenzen und Grenzen

1. Strukturen der Europäischen Union

2. Die These vom «neuen deutschen Regierungssystem»

2.1 Europäisierung der politischen Institutionen

2.2 Europäisierung der Staatsaufgaben: Tendenzen seit 1957

3. Beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen der Aufgabeneuropäisierung

4. Tendenzen und Grenzen der Europäisierung

Teil III: Bilanz

Kapitel 20: Leistung und Mängel der Politik in Deutschland

1. Leistung und Defizite: institutionelle und prozessuale Messlatten

1.1 Vorgaben des Grundgesetzes

1.2 Politische Unterstützung

1.3 Machtwechsel

1.4 Integration der Opposition

1.5 Machtaufteilung und Machtfesselung

2. Politikproduktion und Politikresultate

2.1 Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt

2.2 Problemlösungsfähigkeit

2.3 Fehlerkorrekturfähigkeit und Zukunftstauglichkeit

2.4 Lernfähigkeit

3. Ungelöste Probleme

4. Fazit

Verzeichnis der zitierten Quellen und der Literatur

Häufig verwendete Abkürzungen

Register

Verzeichnis der im Text genannten Personen

 

 

 

Verzeichnis der Tabellen

 

 

Tabelle 1: Wahlbeteiligung und Zweitstimmenverteilung bei den Bundestagswahlen seit 1949

Tabelle 2: Wählerverhalten bei der Bundestagswahl 2013

Tabelle 3: Die Mandateverteilung im Deutschen Bundestag seit 1949

Tabelle 4: Die Bundeskanzlerwahlen seit 1949

Tabelle 5: Die Wahl der Bundespräsidenten seit 1949

Tabelle 6: Die Bundesländer im Vergleich

Tabelle 7: Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, Antragsberechtigte und Adressaten

Tabelle 8: Die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich

Tabelle 9: Europäisierungsgrad nach Politikfeldern seit 1957

Vorwort

Dieses Buch ist die dritte, grundlegend überarbeitete, aktualisierte und um mehrere Kapitel erweiterte Auflage eines 2007 erschienenen Werkes, das die Leser über die Grundzüge der Politik in Deutschland[1] unterrichtet. Wie andere Einführungen zum Thema erörtert auch dieser Band die politischen Institutionen und ihre Funktionsweise und analysiert die wichtigsten politischen Akteure und Einrichtungen: Zur Sprache kommen vor allem die verfassungspolitischen Grundlagen, die Wählerschaft, die Parteien, die Bundesregierung und die Opposition, die Bundeskanzler und die Bundespräsidenten, der Bundestag, der Bundesrat, die Interessenverbände und die Massenmedien sowie die Judikative mit dem einflussreichen Bundesverfassungsgericht an der Spitze und die politische Führungsschicht in Deutschland.

Allerdings geht dieses Buch weit über die vorliegenden Einführungen zur Politik in Deutschland hinaus. Denn es erörtert nicht nur politische Vorgänge und politische Institutionen, es untersucht auch Politik im Sinne von politischer Gestaltung. Zudem werden in diesem Buch die Zusammenhänge zwischen politischen Institutionen, Abläufen und Entscheidungsinhalt erkundet. Dazu dient die Analyse der Staatstätigkeit in besonders wichtigen Politikfeldern. Diese reichen von der Verfassungspolitik und den Staatsfinanzen über die Wirtschafts-, die Sozial-, die Bildungs- und die Umweltpolitik bis zum Markenzeichen der innenpolitischen Staatstätigkeit im heutigen Deutschland: der «Politik des mittleren Weges».[2]

Das vorliegende Buch handelt aber nicht nur von der Innenpolitik, sondern auch von der Außenpolitik, einschließlich der Europäisierungstendenzen des Regierungssystems. Zweierlei spricht dafür: Das internationale Umfeld und auswärtige Mächte haben die Politik der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an tief geprägt. Zudem formte das Zusammenwirken von außen- und innenpolitischen Konstellationen die Bundesrepublik zu einem im internationalen Vergleich ungewöhnlich «offenen Staat»[3] und zu einer auch international Zeichen setzenden «Zivilmacht»[4].

Im weiteren Unterschied zu den meisten Einführungen zum Thema wird die Politik in Deutschland in diesem Buch, wo immer möglich und nötig, aus dem Blickwinkel des neuesten Standes des internationalen und des historischen Vergleichs betrachtet.[5]

Zudem wird das politische System Deutschlands auf den folgenden Seiten bewertet – anhand seiner Stärken und Schwächen im Lichte bewährter normativ-analytischer Messlatten politischer Leistungen[6] sowie, soweit Umfangsbeschränkungen dies erlauben, unter Berücksichtigung von Befunden des internationalen und des historischen Vergleichs. Das schließt die Überprüfung der Diagnose ein, die Politik in der Bundesrepublik Deutschland sei eine «Erfolgsgeschichte». Dieser Befund wird am Ende des vorliegenden Werkes durch eine Bewertung ersetzt, die neben den Vorzügen der Politik in Deutschland auch ihre Schwächen bedenkt.

Schließlich noch ein Wort zur Beobachtungsperspektive des Verfassers dieses Buches. Der Beobachtungsstandpunkt und die fachwissenschaftlichen Begriffe, Methoden und Theorien, mit denen die Fakten untersucht, die Dokumente ausgewertet und die Studien anderer Fachleute zu Rate gezogen werden, sind von einer Schule der Politikwissenschaft geprägt, die empirisch-analytisch ausgerichtet ist. Diese Schule strebt nach möglichst genauer und nachprüfbarer Beschreibung und Erklärung von politischen Institutionen, politischen Vorgängen und Staatstätigkeit, und zwar mit Hilfe von Hypothesen und Theoriebausteinen aus politikwissenschaftlichen und anderen sozialwissenschaftlichen Theorien mittlerer Reichweite. Die hier vorgelegte Studie zur Politik in Deutschland operiert insbesondere mit einem erweiterten politisch-institutionalistischen Ansatz, der sich in der politikwissenschaftlichen Erforschung von Institutionen und Staatstätigkeit bewährt hat.

Geschrieben wurde das vorliegende Buch nicht nur für das Fachpublikum, sondern für einen größeren Leserkreis. Es wendet sich gleichermaßen an Studierende, Lehrende und anderweitig tätige Absolventen des Faches Politische Wissenschaft und angrenzender Disziplinen, insbesondere der Soziologie und Wirtschaftswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Philosophie und Rechtswissenschaft, sowie an alle an Fragen der deutschen Politik Interessierten.

In dieses Buch wurde das einschlägige fachwissenschaftliche, vor allem das deutsch- und englischsprachige Schrifttum, eingearbeitet. Wie schon in der 2. Auflage wurden der hiermit vorgelegten 3., aktualisierten Auflage die Kapitel über Massenmedien (Kapitel 5.4) und Bildungspolitik (Kapitel 16) hinzugefügt. Hinzu kam das neue Kapitel über die Tendenzen und Grenzen der Europäisierung des Regierungssystems (Kapitel 19). In allen Kapiteln des Buches erstreckt sich der Untersuchungszeitraum auf die Zeit von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 bis zum Redaktionsschluss im April 2016.

Bei der Anfertigung der 3. Auflage des Deutschland-Buches kam mir erneut zuverlässige Hilfe zugute. Vielmals danke ich Privatdozentin Dr. Ute Wachendorfer-Schmidt, meiner Frau, für die genaue Durchsicht und fachkundige Kommentierung des Manuskriptes. Dr. Sebastian Ullrich und Carola Samlowsky vom Verlag C.H.Beck danke ich für die Betreuung des Werkes. Für Korrekturlesen, Recherchen, Mithilfe bei der Literaturbeschaffung und Schreibarbeiten danke ich vor allem Ingeborg Zimmermann und Nils Holzbecher sehr herzlich. Zutiefst zu Dank verpflichtet bin ich zudem der Universitäts-Augenklinik Heidelberg – allen voran Prof. Dr. med. Gerd U. Auffarth, Privatdozent Dr. med. Saadettin Sel und Assistenzarzt Tawfic Swaid. Ohne ihre fachkundige Vorbereitung, Durchführung und Nachbehandlung mehrerer Augenoperationen seit Anfang dieses Jahres hätte ich dieses Buch nicht fertigstellen können.

Der Redaktionsschluss des Werkes war Anfang Juni 2016.

 

 

 

    1 «Deutschland» dient im Folgenden, soweit nicht ausdrücklich das Staatsgebiet des Deutschen Reichs bis 1945 gemeint ist, als Kurzbezeichnung für «Bundesrepublik Deutschland».

    2 Siehe Kapitel 18.

    3 Di Fabio 1998.

    4 Vgl. Maull 1992, 2006 sowie Kapitel 11 in diesem Buch.

    5 Vgl. Caramani 2014a, Powell/Strøm/Dalton 2015, Schmidt 2012a, Wagschal u.a. 2015, Wehler 2008.

    6 Vgl. Kapitel 20.

TEIL I
Politische Institutionen, Akteure und Willensbildung

Kapitel 1   Die Staatsverfassung der Bundesrepublik Deutschland

Deutschland ist das Land der vielen politischen Umbrüche. Allein im 20. Jahrhundert durchlebte es mehr fundamentale Regimewechsel als andere etablierte Demokratien. Der Wandel von der konstitutionellen Monarchie zur Weimarer Republik nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mündete in eine umstrittene, instabile Demokratie.[1] Sie wurde schon 14 Jahre später – 1933 – von der nationalsozialistischen Diktatur abgelöst. Diese steuerte Deutschland innen- und außenpolitisch in die «Katastrophe»[2]. Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur 1945 folgten die «Jahre der Besatzung»[3]. Nun gabelten sich die Wege für rund viereinhalb Jahrzehnte. In der Sowjetischen Besatzungszone marschierte die Sowjetische Militäradministration im Verein mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in einen diktatorischen Sozialismus.[4] In den westlichen Besatzungszonen hingegen wurde – nach dem Ende der «kriegerischen Okkupation»[5] eines «besiegten Feindstaates»[6] – der Boden für eine föderative verfassungsstaatliche Demokratie bereitet. Das geschah zunächst in einer «Liberalisierungsdiktatur»[7], die von den westlichen Besatzungsmächten gelenkt wurde und auf die Unterstützung insbesondere der christdemokratischen, sozialdemokratischen und liberalen Parteien der westdeutschen Länder setzte. Mit den Landtagswahlen vor 1949 und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 begann der zweite Anlauf zur Demokratie in Deutschland. Er blieb zunächst auf den Westen des geteilten Landes beschränkt. In seinem Ostteil wurde noch im selben Jahr die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet. Diese stand im Zeichen des Aufbaus einer Diktatur, die an sowjetische Traditionen sowie an kommunistische und linkssozialistische Konzepte der Weimarer Republik anknüpfte und den «SED-Staat»[8] schuf. Die Teilung Deutschlands in West und Ost wurde 41 Jahre später durch die Herstellung der staatsrechtlichen Einheit Deutschlands beendet. Mit ihr hörte die DDR zu existieren auf. Nun konnten West- und Ostdeutschland im Verfassungsgewande der Bundesrepublik zusammenwachsen.

1. Ein langer «Weg nach Westen»

Deutschland hat einen «langen Weg nach Westen»[9] hinter sich, einen langen Weg hin zu einer verfassungsstaatlichen Demokratie. Mittlerweile aber zählt das Land zu den seit mehreren Dekaden stabilen liberalen Demokratien. Diesem Kreis gehören, selbst bei großzügiger Zählung, nicht mehr als rund drei Dutzend Staaten an: neben den nordamerikanischen und den westeuropäischen Ländern beispielsweise auch Japan und Australien.[10] Die Mitgliedschaft in diesem exklusiven Klub ist ein Erfolg der Bundesrepublik Deutschland, den in ihrem Geburtsjahr kaum jemand erwartet hatte.[11] Zu groß schienen dafür die Erblasten des NS-Staates zu sein, zu schwer die Hinterlassenschaften des Krieges und der Kriegsfolgen, zu schmal die wirtschaftliche Basis, zu negativ die Erfahrungen mit der Demokratie der Weimarer Republik und zu gewaltig die innen- und außenpolitischen Herausforderungen des neuen, noch unter dem Besatzungsstatut stehenden Staates.

Dass Deutschlands zweiter Anlauf zur Demokratie dennoch glückte, im Gegensatz zum ersten Versuch, der mit der Auflösung der Weimarer Republik endete, hat viele Ursachen.[12] Zu ihnen gehört die vollständige öffentliche Diskreditierung der NS-Diktatur. Für eine «Dolchstoßlegende» war 1945 im Unterschied zu 1918/19 kein Platz mehr. Zugute kam der Bundesrepublik Deutschland – vor allem infolge des aufbrechenden Ost-West-Konflikts – eine weitsichtigere Politik der westlichen Siegermächte als 1918/19: Diese eröffnete dem westdeutschen Teilstaat die Chance der Teilhabe an den inter- und supranationalen Organisationen des Westens. Zugute kam ihm überdies das abschreckende Beispiel der sozialistischen Diktatur, die in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR auf den Bajonetten der Roten Armee von den Kadern der SED, ihrer Gefolgschaft und ihren Mitläufern errichtet wurde. Verantwortlich für die Verwurzelung der Demokratie in der Bundesrepublik waren nicht zuletzt das «Wirtschaftswunder», der in der deutschen Geschichte beispiellose wirtschaftliche Aufschwung vor allem der 1950er und 1960er Jahre, und eine Sozialpolitik, die tatkräftig zum Abbau der Hypotheken der NS-Diktatur, des Krieges und der Nachkriegszeit beitrug. Durch Wirtschaftsaufschwung und Sozialpolitik wurde «Wohlstand für alle»[13], so die griffige Formel des damaligen Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard, für die große Mehrheit der Bürger fassbar. Das kam der Anerkennungswürdigkeit der demokratischen Staatsform und ihrer faktischen Anerkennung zugute.

Demokratiefördernd wirkten auch Mechanismen des politischen Systems. Diese begünstigten stabile Regierungen und integrierten die parlamentarische Opposition. Insbesondere aufgrund der Gliederung in Bund und Länder hatte jeder Verlierer einer Bundestagswahl die Chance, durch Siege bei Landtagswahlen in den Ländern an die Regierung zu gelangen und gegebenenfalls über den Bundesrat im Bund mitzuregieren. Dieser Mechanismus trug maßgeblich zur Einbindung der Opposition bei, entschärfte den Nullsummenspielcharakter von Wahlen im Lande, erleichterte dem Wahlverlierer die Akzeptanz der Niederlage und milderte somit die hohe Spannung zwischen den parteipolitischen Lagern. Zur Demokratieverwurzelung trug auch die Verfassung bei – das «Grundgesetz» vom 23. Mai 1949 mitsamt seinen Änderungen. Das Grundgesetz definiert das verfassungsrechtliche Spielregelwerk der Politik in der Bundesrepublik. Es tut dies in einer Weise, die für Machtaufteilung sorgt, die zugleich Interessenausgleich sowie Kompromisssuche fördert, und die der Verfassung und ihrer Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht die höchste Autorität beimisst. Beides – die verfassungspolitischen Vorgaben des Grundgesetzes und die Verfassungsauslegung durch das Bundesverfassungsgericht – werden in Deutschland in hohem Maße akzeptiert, und zwar in der Politik ebenso wie in der Gesellschaft und der Wirtschaft.

Weil das so ist, erlaubt die Analyse der Staatsverfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit besonders aufschlussreiche Einblicke in den politischen Betrieb des heutigen Deutschlands. Deshalb beginnt dieses Buch beim verfassungsrechtlichen und politischen «Überbau» – und nicht bei der wirtschaftlichen «Basis» oder bei der Gesellschaft, so wichtig diese als Rahmenbedingungen der Politik auch sind.

2. Alte und neue Pfade der Verfassungspolitik

An der verfassungspolitischen Willensbildung für Westdeutschland wirkten viele mit – nicht nur die Alliierten, wie die von rechter und linker Seite vertretene Auffassung nahelegt, das Grundgesetz sei auf den Bajonetten der Besatzungsmächte entstanden. Sicherlich hatten die Westalliierten die Initiative zur Verfassungsbildung ergriffen. Zweifellos hatten sie verfassungspolitische Vorgaben festgeschrieben: Liberaldemokratisch, konstitutionalistisch und föderalistisch musste die westdeutsche Staatsverfassung sein, und die Wiedergeburt eines starken Staates sollte sie verhindern. Zudem hatten die Westalliierten in die verfassungspolitische Willensbildung massiv eingegriffen. Doch Entwurf, Beratung und Erstellung der Verfassung, die Beschlussfassung über sie und ihre Annahme in den Parlamenten waren das Werk deutscher Verfassungsspezialisten und Politiker. Auch der Name der Verfassung – «Grundgesetz» – offenbart dies. Er sollte das Provisorium der Verfassung betonen, solange Deutschland geteilt war.

Die Weichenstellungen des Grundgesetzes spiegelten die Bestrebungen der Siegermächte wie auch der Landespolitiker wider, den neuen deutschen Staat in enge Grenzen zu verweisen. Starke Länder, ein schwacher Zentralstaat sowie mächtige Barrieren gegen den Wiederaufstieg eines Machtstaates – das waren zentrale politische Leitideen auf beiden Seiten. Die Architekten des Grundgesetzes knüpften zudem an Traditionen liberaler Verfassungstheorien aus Westeuropa und Nordamerika an: Die liberaldemokratischen Strukturen, die Konstitutionalisierung der Demokratie und die Stärkung der Grundrechte zeugen hiervon. Unübersehbar waren die Lehren, die aus der politischen Geschichte Deutschlands von 1919 bis 1945 und in Abgrenzung zum DDR-Sozialismus gezogen wurden: Sie liefen auf einen Institutionenneubau hinaus, der von einem antitotalitären «Geist der Gesetze» durchweht und vom Bestreben, Strukturmängel der Weimarer Reichsverfassung zu vermeiden, geprägt war.[14] Auf dieser Basis wurden die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht festgeschrieben und somit ein «Grundrechtestaat»[15] geschaffen. Hierauf gründet auch die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüter und Deuter der Verfassung. Und hier liegt zudem der Beweggrund für die Entscheidung, die verfassungspolitische Position des Bundespräsidenten zu schwächen und das Amt des Bundeskanzlers zu stärken.

Das Grundgesetz spiegelt den Ausgleich zwischen unterschiedlichsten Bestrebungen wider. Der Zwang zum Kompromiss war groß, denn die Verfassung musste die Zustimmung der politischen Parteien, der Landtage und der westlichen Siegermächte erlangen. Schon an den Beratungen des Herrenchiemseer Verfassungskonvents war je ein stimmberechtigter Vertreter der Länder beteiligt.[16] Komplizierter als im Verfassungskonvent verlief die Willensbildung im Parlamentarischen Rat, der für die Ausarbeitung des Grundgesetzes zuständigen, erstmals am 1. September 1948 einberufenen Versammlung, die am 8. Mai 1949 das Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit beschloss. Der Parlamentarische Rat bestand aus 65 von den elf Landtagen der Westzonen gewählten Abgeordneten sowie aus fünf Vertretern Berlins, das unter dem Viermächtestatus stand und dessen Vertreter deshalb nur mit beratender Stimme teilnahmen. Die Willensbildung im Parlamentarischen Rat stand im Zeichen der innerdeutschen Politik und des ständigen Dialogs mit den drei westlichen Militärgouverneuren, die über ihre Verbindungsoffiziere die Verhandlungen des Rates beaufsichtigten – mit Vergünstigungen und nachrichtendienstlichen Mitteln, auch mit Telefonabhörung.[17]

Die parteipolitische Machtverteilung im Parlamentarischen Rat nahm die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien nach 1949 weitgehend vorweg – abgesehen von den drei kleinsten Parteien: Auf die CDU/CSU und die SPD entfielen im Parlamentarischen Rat jeweils 27, auf die FDP fünf und auf die Deutsche Partei, das Zentrum und die Kommunistische Partei Deutschlands je zwei Sitze. Zur absoluten Mehrheit war folglich eine Koalition unabdingbar und zur Zweidrittelmehrheit eine Große Koalition aus Unionsparteien und SPD – so wie später auch im Falle fast aller Verfassungsänderungen.[18]

Diese Kräfteverteilung, die Hürden für die Mehrheit und die besatzungspolitischen Rahmenbedingungen erzwangen im Parlamentarischen Rat folgenreiche Kompromisse. Die Dominanz der Ländervertreter und das Streben der Alliierten nach einem schwachen Zentralstaat fanden ihren Niederschlag in einem Bundesstaat mit schwachem Zentrum und wechselseitiger Abhängigkeit von Bund und Ländern. Ferner wurden Kirchen und Gewerkschaften von der Verfassung besser bedacht als beispielsweise die Verbände der Unternehmer und die Beamtenschaft. Die Letzteren galten weithin als Gegner der Weimarer Republik oder als Träger oder Parteigänger des NS-Staates. Dass schließlich dem Grundgesetz von 1949 die Wehr- und die Notstandsverfassung fehlten und es somit den Ernstfall ausgeklammert habe, so das Urteil von mit Carl Schmitt liebäugelnden Staatsrechtslehrern, ist ohne die damals gegebene Suprematie der Alliierten nicht zu verstehen.

Von großer Durchschlagskraft war auch das Patt zwischen SPD und Unionsparteien. Es verlangte beiden Seiten Opfer ab: der SPD beispielsweise den Verzicht auf soziale Grundrechte und den Unionsparteien die Lossagung von der verfassungsrechtlichen Festschreibung konservativer Gesellschaftskonzepte. Das Patt zwischen SPD und CDU/CSU schlug sich zudem in der wirtschaftspolitischen Offenheit des Grundgesetzes nieder. Das Grundgesetz ist zwar «eine Sperre für den Sozialismus», so die Worte des späteren Bundespräsidenten Roman Herzog.[19] Doch schreibt es die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums fest und erklärt Enteignungen für zulässig, sofern diese dem Wohle der Allgemeinheit dienen und angemessene Entschädigungen gezahlt werden. Überdies spiegelt das Grundgesetz einen Kompromiss der Demokratievorstellungen der großen Parteien wider: Die SPD liebäugelte mit einer sozialstaatlichen Mehrheitsdemokratie auf der Grundlage einer politisch regulierten, demokratisch verfassten Wirtschaft mit möglichst hohem Gemeinwirtschaftsanteil. Die bürgerlichen Parteien hingegen strebten nach einer institutionell gebändigten Demokratie mit hohen Barrieren gegen eine von Linksparteien getragene Mehrheitsherrschaft und setzten auf eine weitgehend privatautonome Wirtschaft.

3. Verfassungspolitische Weichenstellungen

Sechs grundlegende Weichenstellungen nahmen die Architekten des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat für den politischen Betrieb in der Bundesrepublik Deutschland vor: Rechtsstaat, Republik, Demokratie, Bundesstaat, Sozialstaat und einen, wie es später hieß, zum Völkerrecht und zu den internationalen und supranationalen Organisationen «offenen Staat».[20]

All diese Weichenstellungen fanden – nach langem Tauziehen – die erforderlichen Mehrheiten: Am 8. Mai 1949 nahm der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit 53 zu 12 Stimmen an – gegen sechs Stimmen aus der CSU und gegen je zwei Stimmen der Deutschen Partei, des Zentrums und der Kommunistischen Partei. Am 12. Mai 1949 stimmten die Militärgouverneure der westlichen Alliierten dem Grundgesetz mit gewissen Vorbehalten zu und setzten, wie in den Frankfurter Dokumenten angekündigt, zugleich das Besatzungsstatut in Kraft. Die Vorbehalte der Alliierten betrafen den Artikel 29 über die Neugliederung des Bundesgebietes und die Bestimmungen über die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik. Im Zeitraum vom 18. bis 21. Mai 1949 wurde das Grundgesetz von den westdeutschen Landesparlamenten mit der in Artikel 144 vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit angenommen. Nur der bayerische Landtag stimmte wegen unzureichender Berücksichtigung eines föderalen Staatsaufbaus mehrheitlich gegen die Verfassung, bekräftigte aber zugleich die Zugehörigkeit des Landes Bayern zur Bundesrepublik Deutschland durch Anerkennung der Rechtsverbindlichkeit des Grundgesetzes.[21] Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet, und mit Ablauf dieses Tages trat es in Kraft. Zunächst galt die neue Verfassung nur für die Länder Baden, Bayern, Bremen, Großberlin (dort wurde es durch die Vorbehaltsrechte der Alliierten suspendiert), Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern (die seit 1952 zusammen mit Baden das Land Baden-Württemberg bilden). In anderen Teilen Deutschlands sollte das Grundgesetz nach deren Beitritt in Kraft treten. So geschah es im Saarland nach dessen Eingliederung in die Bundesrepublik 1957 und 1990 im Osten Deutschlands durch den Beitritt der Länder der DDR zur Bundesrepublik Deutschland.

Rechtsstaat Mit der Vorgabe des Rechtsstaates folgten die Verfassungsgeber des Grundgesetzes den Traditionen der europäischen und nordamerikanischen Verfassungstheorie und -praxis, mit denen die nationalsozialistische Diktatur gebrochen hatte. Rechtliche Zähmung und geordnete Einhegung der politischen Gewalten sind Leitideen des Grundgesetzes, und die Verhinderung des «Leviathans»[22], des autoritären Staates, wie auch des «Behemoths»[23], des Unstaates, ist sein Programm. Rechtsstaat bedeutet vorrangige Bindung der Staatsgewalten an Verfassung und Gesetz – nicht an Vorgaben der Staatspartei, wie im Falle der DDR und der Sowjetunion, oder an den «Führerbefehl», wie im NS-Staat. Rechtsstaat heißt ferner Trennung und Ausbalancierung der Staatsgewalten – Exekutive, Legislative und Judikative – im Unterschied zu ihrer Konzentration wie im autoritären Staat oder ihrer Fusion wie im Totalitarismus. Rechtsstaat bedeutet zudem richterliche Nachprüfbarkeit von Tun und Lassen der Legislative und der Exekutive durch fachgeschulte unabhängige Richter, nicht durch Laienrichter oder eine der Politik hörige Richterschaft. Ferner schreibt der Rechtsstaat ein Rückwirkungsverbot vor: Niemand darf auf der Basis eines Gesetzes bestraft werden, das zum Zeitpunkt der fraglichen Tat nicht in Kraft war. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes sieht zudem die Gewährleistung persönlicher Grundrechte der Bürger vor, die ihrerseits die Legislative, die Exekutive und die Judikative als unmittelbar geltendes Recht binden.

Der Rechtsstaat kann, was viele übersehen, unterschiedliche Formen annehmen, etwa auch konstitutionell-monarchische. Ein demokratischer Rechtsstaat kam in Deutschland erstmals mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 zum Zuge. Dieser Weichenstellung folgten die Verfassungsgeber der Bundesrepublik und ergänzten sie durch die Vorgabe eines «sozialen Rechtsstaates». So lautet der in Artikel 28 I des Grundgesetzes verankerte Kompromiss der bürgerlichen und der sozialdemokratischen Kräfte im Parlamentarischen Rat. Eine folgenreiche Weichenstellung! Denn im Unterschied zum liberalen Rechtsstaat will der «soziale Rechtsstaat» weit mehr als den Schutz der Freiheits- und Eigentumsrechte. Er sieht auch Eingriffe in die Güterordnung zwecks sozialen Ausgleichs vor.

Republik Die Architekten des Grundgesetzes richteten die Staatsverfassung zudem auf den «republikanischen Rechtsstaat» aus (Artikel 28 Grundgesetz). Damit wurde ein Begriff der Staatsformenlehre verwendet, der ursprünglich ein Gemeinwesen bezeichnete, in dem die politische Herrschaft in einer verfassten Herrschaftsordnung um des gemeinsamen Besten willen auszuüben war, im Gegensatz zur Despotie oder zur Oligarchie. Im engeren Sinn meint Republik einen Freistaat, der die Staatsgewalt an die Verfassung bindet und auf der Volkssouveränität beruht. Und im spezielleren Sinne benennt Republik eine Staatsform, in der das Staatsoberhaupt für eine begrenzte Zeitspanne gewählt wird – im Unterschied zur Monarchie, in der das Staatsoberhaupt durch Erbfolge oder Wahl in der Regel auf Lebenszeit bestellt wird.

Demokratie Das Grundgesetz verlangt außerdem eine demokratische Staatsverfassung, und zwar eine Demokratie mit parlamentarischem Regierungssystem, also mit einer Regierung, die aus dem vom Volk gewählten Parlament hervorgeht und von ihm abberufen werden kann. Das ist die Abgrenzung von der Weimarer Reichsverfassung mit ihrem starken Präsidenten und die Absage sowohl an den Präsidentialismus beispielsweise US-amerikanischer Spielart als auch an den Semipräsidentialismus, bei dem sowohl der Regierungschef als auch der Staatspräsident an der Führung der Regierungsgeschäfte maßgeblich beteiligt sind, wie in der Fünften Republik Frankreichs. Das Grundgesetz hingegen sieht eine Demokratie mit einem institutionell starken Bundeskanzler und einem institutionell schwachen Bundespräsidenten vor. Dies ist die verfassungsrechtliche Grundlage der «Kanzlerdemokratie»[24]. Zudem hat die «betont antiplebiszitäre Haltung des Grundgesetzes»[25] der Repräsentativdemokratie Vorfahrt gegeben – nicht der Direktdemokratie, wie in der Schweiz. Überdies schreibt das Grundgesetz den politischen Parteien eine aktive Rolle in der Politik zu – ein Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte. «Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit», so bestimmt es der Artikel 21 des Grundgesetzes. Allerdings enthält er auch strenge Auflagen für die innere Verfassung der Parteien, insbesondere freie Wahlen und innerparteiliche Demokratie sowie öffentliche Rechenschaftslegung über Herkunft der Parteifinanzen und Parteivermögen.

Die Architekten des Grundgesetzes setzten überdies auf eine zur Selbstverteidigung befähigte Demokratie. Als «militante» oder «wehrhafte Demokratie» ging diese Weichenstellung in die Fachsprache ein. An das Verbot verfassungsfeindlicher Organisationen war dabei vor allem gedacht und daran, die Grundrechte von Verfassungsgegnern zu beschneiden – jeweils durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Auch das unterscheidet die Bundesrepublik von der Weimarer Republik, die äußerste Toleranz auch für Demokratiegegner gewahrt hatte.

Überdies basiert die Demokratie der Bundesrepublik auf Grundrechten, d.h. auf der Anerkennung freiheitlicher Bürgerrechte und der Menschenrechte. Die Grundrechtsbindung setzt dem Handeln der Staatsgewalten enge Grenzen. Auch demokratisch zustande gekommene Mehrheiten müssen die Grundrechte respektieren. «Mehrheitstyrannei» (im Sinne etwa des Verstoßes von Mehrheitsbeschlüssen gegen Grundrechte) ist unzulässig. Auch wäre eine «Volksdemokratie» nach Art der ehemaligen DDR mit den Grundrechten unvereinbar.

Bundesstaat Kaum weniger wichtig ist die verfassungspolitische Vorgabe eines Bundesstaates. Mehr noch: Die Verfassungsgeber versahen den Bundesstaat in Artikel 79 III des Grundgesetzes mit einer Ewigkeitsgarantie – ebenso die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte des Artikels 1 und die Verfassungsgrundsätze des Artikels 20. Die Weichenstellung zugunsten des Bundesstaates schreibt einen polyzentristischen Staat vor. Dieser besteht aus den Gliedstaaten, den Ländern, und ihrem Zusammenschluss, dem Bund – im Unterschied zum Einheitsstaat wie in Großbritannien, Frankreich oder Schweden, dem diese Form der vertikalen Machtaufteilung fremd ist. Mit der Parteinahme für den Bundesstaat knüpften die Verfassungsgeber an Staatstraditionen an, die im deutschsprachigen Raum tief verwurzelt sind. Deren Leitideen sind Machtaufteilung, Minderheitenschutz und Integration heterogener Gesellschaften – bei gleichzeitiger Wahrung relativer Autonomie oder zumindest gesicherter Mitwirkungsrechte der Gliedstaaten. Damit wurden auch in Deutschland die Traditionen der nichtmajoritären Konfliktregelung wieder aufgegriffen, die in den modernen Proporz- bzw. Konkordanzdemokratien, beispielsweise der Schweiz, gang und gäbe sind.[26]

Zu den in Deutschland tief verankerten Staatstraditionen gehört ferner – im Unterschied zu der Schweiz und den USA – ein exekutivlastiger Bundesstaat. Auch diese Tradition griffen die Verfassungsgeber des Grundgesetzes auf, indem sie die Länder über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken ließen – und im Falle der Verfassungsänderung und bei zustimmungspflichtigen Gesetzen sogar mit Vetomacht ausstatteten. Im deutschen Bundesrat aber sitzen nicht gewählte Volksvertreter der Länder, wie im Senat der USA oder im Schweizer Ständerat, sondern Repräsentanten der Länderexekutive mit imperativem Mandat. Ferner gaben die Verfassungsarchitekten dem Bundesstaat eine sozialpolitische Verpflichtung mit auf den Weg: Er soll ein «sozialer Bundesstaat» sein, so schreibt es der Artikel 20 des Grundgesetzes vor. Das «soziale Staatsziel» des Grundgesetzes Damit kommt die fünfte zentrale Weichenstellung des Grundgesetzes ins Spiel: das «soziale Staatsziel»[27]. Zwar ist vom Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz nicht ausdrücklich die Rede, dennoch ist es präsent, wie der Begriff des «sozialen Bundesstaats» in Artikel 20 und der des «sozialen Rechtsstaats» in Artikel 28 zeigen. Zudem benennt der Artikel 72 mit der «Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet» eine Voraussetzung für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes – bis 1994 hatte er gar die «Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse» gefordert. Insoweit schreibt die Verfassung der Politik ein «soziales Staatsziel» als Staatsfundamentalnorm vor. Diese Norm verpflichtet zur Sozialpolitik und legt fest, sie «mit den Mitteln des Rechts, zur Entfaltung der Rechte und unter Wahrung der Rechte des Einzelnen zu realisieren»[28]. Dies schließt anspruchsvolle Pflichten wie die Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens ein. Zu den Pflichten gehören die Gewährleistung des Existenzminimums (im Sinne der Verhinderung materieller Not), die «Gewähr elementarer personaler Dienste (Erziehung, Betreuung, Pflege)», ferner «die Minderung und Kontrolle von Abhängigkeiten», der Ausgleich krasser Wohlstandsunterschiede und Schutz gegen «schlechterstellende Ungleichheit»[29].

«Offener Staat» Schließlich sieht Deutschlands Staatsverfassung den «offenen Staat»[30] vor. Gemeint ist die grundsätzliche Offenheit für die Teilung von Souveränitätsbefugnissen mit inter- oder supranationalen Organisationen, sofern dies verträglich mit den Normen des Grundgesetzes ist. Der Bund ist berechtigt, durch Gesetz «Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen» zu «übertragen», heißt es in Artikel 24 I des Grundgesetzes. Er öffnet mit einer Kann-Bestimmung die Tür zur Mitgliedschaft beispielsweise in der Europäischen Union, wobei hierfür, ebenso wie für die folgenden Bestimmungen des Artikels 24, weder die Zweidrittelmehrheit im Parlament noch die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist.[31] Der Bund kann sich zudem zwecks Friedenssicherung in ein militärpolitisches System kollektiver Sicherheit einbringen, so der Artikel 24 II. Das ist der verfassungsrechtliche Pfad zur alsbald folgenden Mitgliedschaft in der NATO, dem Militärbündnis der westlichen Länder. Und der Artikel 24 III schreibt vor, dass der Bund zwecks Regelung zwischenstaatlicher Konflikte «Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten wird», wie später dem Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag. Abgerundet wird die verfassungspolitische Weichenstellung zum «offenen Staat» durch den völkerrechtsfreundlichen Grundgesetzartikel 25. Der erklärt die «allgemeinen Regeln des Völkerrechtes» zum «Bestandteil des Grundgesetzes» und gibt ihnen Vorrang vor den Gesetzen – im Unterschied zur Rechtstradition der anglo-amerikanischen Demokratie, die vom «Vorrang nationaler Gesetze vor dem Völkerrecht»[32] ausgeht. Mit dem «offenen Staat» erwarb Deutschland die Vorteile der Mitwirkung an nationalstaatsübergreifenden Arrangements. Auch das ist neu in der deutschen Verfassungsgeschichte – und zugleich gut erklärbar: Der «offene Staat» ermöglichte der Bundesrepublik die Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft und die Mitgliedschaft in den Bündnissen der westlichen Demokratien nach 1949.

4. Verfassung und Verfassungswirklichkeit

Verfassungen setzen Spielregeln für den politischen Betrieb. Ob diese befolgt oder missachtet werden, muss die Erforschung der Verfassungswirklichkeit klären. Die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland stand zunächst noch im Zeichen der Spaltung Deutschlands und der Oberhoheit der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. «Deutschland hat sich ein Grundgesetz gegeben, dessen geografischer Geltungsbereich durch die Macht des Ostens, dessen Souveränitätsrechte durch die Mächte des Westens beschränkt werden.» Mit diesen Worten leitete Ernst Friedländer in der Wochenzeitung Die Zeit vom 19. Mai 1949 seinen Kommentar zur Verabschiedung des Grundgesetzes ein.[33] Rechtlich basierte die Oberhoheit der westlichen Siegermächte auf dem Besatzungsstatut vom Mai 1949. Dieses Statut verlieh der Bundesrepublik ein durch Vorrang des Besatzungsrechts eingeschränktes Selbstverwaltungsrecht.[34] Dem Besatzungsstatut zufolge blieb die oberste staatliche Gewalt zunächst bei den westlichen Besatzungsmächten. Zu ihren Befugnissen gehörten der Eingriff in verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte sowie weitreichende Vorbehaltsrechte in der Außen- und Außenwirtschaftspolitik, in Reparationsfragen und in Angelegenheiten der Industrie, der Dekartellisierung, der Militärpolitik sowie des Schutzes und der Sicherheit der Besatzungsstreitkräfte. Auch die Hoheit über die Verfassung verblieb bei den Besatzungsmächten: Änderungen des Grundgesetzes bedurften der ausdrücklichen Zustimmung der Besatzungsbehörden, selbst einfache Gesetze unterlagen ihrem Einspruchsrecht.

Zwar wurde das von deutscher Seite, aber auch von Beratern der US-amerikanischen Militäradministration kritisierte Besatzungsstatut im März 1951 durch die Außerkraftsetzung eines Teils der Vorbehaltsrechte der Alliierten revidiert. Seine rechtliche Gültigkeit verlor es aber erst mit dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrags im Jahre 1955.[35] Gleichzeitig wurden auch die Alliierte Hohe Kommission sowie die Dienststellen der Landeskommissare aufgelöst. Die Bundesrepublik Deutschland, bis dahin ein «penetriertes politisches System»[36], erhielt nunmehr die Souveränität über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten – allerdings eingeschränkt durch Vorbehaltsrechte der Westalliierten hinsichtlich des Status von Berlin, eines Notstandes und eines Friedensvertrages. Ganz aufgelöst wurden die Vorbehaltsrechte der Alliierten erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich), der die außenpolitischen und internationalen Aspekte der Herstellung der staatsrechtlichen Einheit Deutschlands regelte, einschließlich der sicherheitspolitischen Anliegen der Nachbarstaaten des wiedervereinigten Deutschlands, insbesondere Polens.

Trotz Souveränitätsbeschränkungen prägte das Grundgesetz den politischen Betrieb in Deutschland nachhaltig – und mit zunehmendem Lebensalter der Bundesrepublik nachhaltiger. Davon zeugt die auf den folgenden Seiten beschriebene Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Staatsverfassung.

Rechtsstaat Auf dieser Grundlage wuchsen durch Gesetz und Verfassung gebundene Staatsgewalten heran, die durch Grundrechte eingehegt werden und den Bürgern einen in der Regel engmaschigen Rechtsschutz gewährleisten. Das belegen zahllose Abhandlungen und Berichte – unter ihnen auch international vergleichende Bilanzen, beispielsweise die seit 1972 jährlich erscheinenden Berichte von Freedom House über den Zustand der politischen Rechte und der Bürgerrechte in den souveränen Staaten der Welt.[37] Gleiches zeigt die vergleichende Demokratieforschung:[38] Während viele Demokratien «defekt» sind, insbesondere aufgrund massiver Mängel des Rechtsstaates, gehört die Bundesrepublik zu den insgesamt intakten Demokratien. Das hat den Bürgern ein höheres Maß an Mitsprache und Rechtssicherheit als je zuvor verschafft.

Allerdings gibt Deutschlands Rechtsstaat auch Anlass zu Kritik: Dass er zu formalistisch sei und die Sorgen der kleinen Leute zu wenig bedenke, beklagen einige. Andere befürchten, Gefahrenprävention und überzogenes Sicherheitsdenken würden auf einen «Abbau»[39] rechtsstaatlicher Strukturen hinauslaufen. Exzessive Überwachungs- und Abhörpraktiken in- und ausländischer Geheimdienste vor und nach der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands bestärken diese Befürchtung.[40] Und zu den Schattenseiten der sich als Raum der Freiheit und des Rechts verstehenden Europäischen Union gehören Rechtsbrüche wie die nahezu systematische Missachtung der Schuldengrenzen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und die Außerkraftsetzung der «no bailout»-Klausel bei der Rettung der von Refinanzierungskrisen überwältigten Euro-Staaten mit Griechenland an der Spitze. Grenzwertig sind ferner die Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank im Zuge der Euro-Rettung, die einer Staatsfinanzierung gleichkommen. Die Nichteinhaltung von einwanderungsrechtlichen Regularien des Dublin-Abkommens in der 2015 aufbrechenden «Flüchtlingskrise», um ein letztes Beispiel zu nennen, gehört ebenfalls nicht zu rechtsstaatlich vorzeigbaren Leistungen der Europäischen Union.[41]

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