Von Karl dem Großen bis Maximilian I.
Verlag C.H.Beck
Das von Karl dem Großen errichtete Kaisertum des lateinischen Westens prägte die Geschichte Europas. Im kompakten Überblick erzählt dieses Buch von den mittelalterlichen Kaisern und analysiert das Kaisertum. Die Spannungen von Glanz und Gewöhnlichkeit, von Biographien und Institutionen, von Menschen und Mustern geben der gut verständlichen Darstellung ihren besonderen Reiz.
Bernd Schneidmüller lehrt als Professor am Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Heidelberg.
1 Einblicke
2 Antike Wurzeln – Byzantinische Konkurrenten
3 Entwürfe des Westkaisertums (800–855)
4 Der Triumph Italiens (855–924)
5 Die neue Mitte (919–1056)
6 Die zerrissene Einheit (1056–1137)
7 Das Heilige Reich (1138–1308)
8 Der erschöpfende Rangstreit (1308–1410)
9 Letzte Romzüge (1410–1519)
10 Ausblicke
Die Kaiser des Mittelalters 800–1519 Namen und Daten
Zum Nachschlagen und Weiterlesen
Register der Personen- und Ortsnamen
Kaisertum im lateinischen Mittelalter war gesteigerte Königsherrschaft. Ein neuer Titel und ein besonderes Erhebungsritual markierten den Übergang. Zumeist spendeten die Päpste Salbung und Krönung zum Kaiser in Rom, von 800 bis 915 den Königen der fränkischen Reiche, seit 962 nur noch den ostfränkisch-deutschen Königen. Im liturgischen Bund zweier Universalmächte wurde politischer Vorrang sakral ausgestaltet.
Der Glanz der Größe, die Nähe zu Gott und der besondere Auftrag in der Heilsgeschichte verzauberten die Menschen. Dagegen ernüchterte die Spannung zwischen gedachter Weltherrschaft und realer Begrenzung. Den eigenen Völkern das Höchste, wurden die Kaiser den anderen zum Ärgernis. Ihr Reich konnte den Nachgeborenen zum verlorenen Paradies, zur politischen Verheißung und zur Grimasse deutscher Brutalität gerinnen.
Kaiser und Reich – was in der gängigen Einzahl gesagt wird, soll hier in der Vielfalt betrachtet werden, in Dauerhaftigkeiten, Spannungen und Widersprüchen. Darum reduziert dieses Buch. Denn Kaiser gab und gibt es von der Antike bis in die Gegenwart. Auch wenn sie sich einzig auf Erden dachten, mussten sie oft die Mehrzahl aushalten. Im Mittelalter existierten zwischen 800 und 1453 über lange Zeit sogar zwei christliche Kaiser nebeneinander. Nur dem Kaisertum im lateinischen Europa gilt dieses Buch. Es spannt den Bogen von der tastenden Einrichtung 800 durch Karl den Großen bis zum Ende der Romzüge und dem Anbruch einer neuen Zeit an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert.
Auch wenn sich Europa seit dem 19. Jahrhundert von seinen Kaisern erlöste, wirkten manche Weichenstellungen und Erinnerungen sowie der Glanz ihrer Denkmäler weiter: Kaiserdome, Kaiserpfalzen, Kaisersäle, Kaiserschätze, Kaiserbilder, Kaisersagen, Kaisereichen, Kaiserausstellungen. Deutsch gemachte Kaiser des Mittelalters und das dreimal untergegangene Reich begleiteten vor allem die Geschichte der Deutschen vom 19. zum 21. Jahrhundert. Ihr Mittelalter lässt sich aus seiner neuzeitlichen Benutzung nicht mehr wirklich herausschälen. Im Blick über die Jahrhunderte kommt es freilich auf die Unterschiede an. Die unbedachte Rede von den «deutschen Kaisern» verkennt, dass es diese – staatsrechtlich korrekt – nur von 1871 bis 1918 gab. Im Mittelalter herrschten römische Kaiser. Die Titel für Kaiser und Reich entstanden mit der Zeit: Kaiser der Römer im 10. Jahrhundert, das Heilige Reich und bald das Heilige Römische Reich im 12. Jahrhundert, das Heilige Römische Reich deutscher Nation im ausgehenden 15. Jahrhundert. Das Anwachsen der Namen verrät den Wandel von Realitäten. In der changierenden Institution des Kaisertums wollen die Kaiser des Mittelalters in ihrer Vielfalt betrachtet werden, von Karl dem Großen bis zu Maximilian I.
Im Übergang von der Antike zum Mittelalter etablierten sich auf dem Boden des früheren weströmischen Reichs neue Königreiche. Die Monarchie wurde damit zur prägenden Herrschaftsform der alteuropäischen Geschichte. Bald verloren Völker ohne Königtum ihre Selbstständigkeit. Mühsam behaupteten sich später Organisationsformen von Städten und Gemeinden gegen Königtum und Adel. Über den Königreichen markierte das Kaisertum den Anspruch auf den höchsten Grad monarchischer Herrschaft. Stolz schmückten Angelsachsen, Ostfranken, Westfranken oder Spanier ihre Könige mit dem kaiserlichen Namen. Wirkmächtig und dauerhaft wurde das Kaisertum aber erst durch den exklusiven Erhebungsakt. Er bediente sich externer Legitimation, brauchte zeichenhafte Eindeutigkeit und zielte auf Öffentlichkeit.
Den fränkischen Königen war vom 5. bis zum 8. Jahrhundert die dritte Großreichsbildung neben dem oströmisch-byzantinischen Reich und der muslimischen Welt gelungen. Nun sollte der kaiserliche Name den neuen Glanz der Eroberer ausdrücken. Über viele Jahre wurde mit Ideen, Formen und Orten experimentiert. Endlich stiftete die Kaiserkrönung Karls des Großen durch den Papst 800 im römischen Petersdom Legitimation wie Tradition zugleich. Der Initialakt griff auf das antike Kaisertum der Römer zurück, setzte sich selbstbewusst mit der christlichen Kaiserherrschaft im griechischen Konstantinopel/Byzanz auseinander und schuf dem lateinischen Mittelalter eine neue Hierarchie. An ihr arbeitete sich Europa über ein Jahrtausend mehr oder minder heftig ab.
Rom war zugleich Zentrum des antiken römischen Weltreichs, akzeptierte Grablege der Apostelfürsten Petrus und Paulus, Sitz der Päpste, Stadt des römischen Volkes. Das alles bot dem neuen Kaisertum des Westens die ferne legitimierende Grundlage. Sämtliche Aktualisierungen griffen im ganzen Mittelalter immer wieder auf diese Fundamente zurück. Von Caesar und Augustus war das Kaisertum einst geschaffen worden. Die militärische Kommandogewalt (imperium) hatte den Kaiser (imperator) hervorgebracht. Antike Namen gaben den europäischen Sprachen die Wörter vor. Die romanische Welt und das Englische griffen auf den Imperator zurück, die germanischen oder slawischen Sprachen auf Caesar. Er wurde im Deutschen zum Kaiser, im Russischen zum Zar. Im mittelalterlichen Latein hieß der Kaiser Caesar, Augustus, Imperator.
Alte, gleiche Namen schienen Einheitlichkeit im Kaisertum zu verbürgen. Tatsächlich gab es einen Kernbestand bleibender Vorstellungen und Rituale. Die Wirkkraft dieses schmalen Repertoires ist erstaunlich genug. In der Entwicklung vom 8. bis zum 16. Jahrhundert existierte das Kaisertum aber vor allem aus beständigen Spannungen, Widersprüchen, Wandlungen. Seinen Nutzern diente es zur Legitimation. Dagegen veränderten sich die gelebten und gedachten Ausgestaltungen in changierenden Handlungs-, Bedeutungs- und Zeichensystemen.
Das beständige Vibrieren im Gefüge von Institution und Individuum kann weder in einer Geschichte der Institution noch in der Abfolge von Kaiserbiografien beschrieben werden. Menschen und Institutionen müssen vielmehr zusammenkommen, das Handeln und das Denken, die Ausgestaltungen und die Spielräume. Die mittelalterlichen Kaiser treten uns aus dieser Perspektivenkombination entgegen. Schon ihre Erhebungsakte sind besonders wichtig, offenbarten sie doch eine beständige Dynamik der Rituale, der Vorstellungen, der Ordnungen. Symbolische Handlungen bildeten Forderungen, Hoffnungen und Fakten ab. Das Kaisertum bot neben dem Imaginations- noch einen Gestaltungsraum. Vielfältig wurde die gesteigerte Würde genutzt: zur Bändigung der Untertanen, zur Aggression nach außen oder zum bloßen Strahlen. Dabei wechselten Größe und Gewöhnlichkeit.
In den Bedeutungskernen wie in den Gestaltveränderungen des Kaisertums treten über die Jahrhunderte drei prägende Kraftfelder hervor: universaler Anspruch, Rombezug und heilsgeschichtlicher Auftrag – Spannungen von römischem Kaisertum und deutscher Geschichte.
Universaler Anspruch: Seit der Antike wurde das Kaisertum grundsätzlich als die höchste Herrschaft in der Welt gedacht. Darum gab es eigentlich nur einen Kaiser über den Königen. Seit dem 4. Jahrhundert garantierte er auch die Einheit der christlichen Kirche. Das römische Kaisertum hatte der Geburt Christi den Raum bereitet, war also schon vor der Kirche vorhanden. Gleichwohl benötigte der Kaiser die Bischöfe und vor allem den römischen Papst auf dem Weg zum Heil. Kaisertum und Kirche präsentierten sich über alle Grenzen als universale Gewalten. Aus diesem Anspruch ergaben sich viele Konflikte über Gleichrangigkeit und Vorrang im Mit- und Gegeneinander.
Die Weltherrschaft des Kaisers wurde zwar immer wieder genannt. Im Umgang mit den Nachbarn und der Welt entwickelte sich freilich eine erstaunliche Pragmatik. Schon die karolingischen Nachfolgereiche gingen gleichberechtigt miteinander um, als sich das Kaisertum 962 mit dem ostfränkisch-deutschen Reich verband. Die Vielfalt Europas ließ den Vorrang eines Kaisers nicht mehr zu. Das Reich in der Mitte des Kontinents mit seinem Kaiser fiel im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und militärischen Wettbewerb ohnehin immer weiter hinter die Nachbarn im Westen und Süden zurück. Pragmatisch behalf man sich seit dem 13. Jahrhundert mit mehrdeutigen Ausgleichen: Die Weltherrschaft des Kaisers galt zwar als Gesetzgebungsgewalt und höchste Autorität. Doch ein König konnte Kaiser in seinem Königreich sein, wenn er in weltlichen Belangen keinen Höheren über sich anerkannte. Universalität war damit für ihre Träger nicht entwertet und für die Nachbarn erträglich. Die Kaiserkrönung verlieh keine reale Macht, sondern nur eine höhere Autorität. Der europäischen Nationalisierung entsprach im Spätmittelalter die Bestrebung, das Kaisertum vom römisch-deutschen Königtum aufsaugen zu lassen. Langsam verwischten sich die Unterschiede zwischen der Königswahl in Frankfurt, der Königskrönung in Aachen und der Kaiserkrönung in Rom.
Die Universalität formte das Amt und seine Autorität. Mit ihm trat die Person des Kaisers in ein fortwährendes Spannungsverhältnis. Das Kaisertum war langlebiger als die Kaiser. Im Spätmittelalter stellte man kaiserliche Leichname in vollem Ornat öffentlich aus. Auch wenn der Herr der Welt starb, so überdauerte die Weltherrschaft den vergänglichen Körper des Kaisers.
Rombezug und heilsgeschichtlicher Auftrag: Im 8. Jahrhundert veränderte die Neuorientierung der Päpste die Strahlkraft Roms, weg von den oströmischen Kaisern, hin zu den fränkischen Königen. Nach dem Ende des weströmischen Kaisertums 476 war Italien nur eine Randlandschaft im byzantinischen Reich geblieben. Dann wurde es zum Sehnsuchtsland der Völker West- und Mitteleuropas. Mit ihrer Akkulturation festigte sich der Vorrang des Bischofs von Rom als Nachfolger des Apostels Petrus. In immer neuen Schüben richtete sich die lateinische Christenheit auf die römische Kirche und den päpstlichen Primat aus. Die Kaiserkrönung Karls des Großen 800 im Petersdom vermittelte dem Frankenherrscher den erneuerten Glanz des römischen Reichs und dem Papst den Anspruch auf Verleihung der Kaiserkrone.
Ein wenig Statistik fängt die bunte Vielfalt in nüchternen Zahlen ein (vgl. die Tabelle im Anhang): Zwischen 800 und 1519 herrschten 30 Kaiser. Nach einer Experimentierphase bis 817 mit Erhebungsakten in Aachen (813, 817) und Reims (816) festigte sich seit 823 die Tradition der Kaiserkrönung in Rom (einzige Ausnahme Ravenna 892). Drei Kaiser mussten zweimal erhoben werden: Ludwig der Fromme (813/816), Lothar I. (817/823) und Ludwig IV. (1328). 25 Mal nahmen die Päpste die Kaiserkrönung selbst vor (darunter zwei «Gegenpäpste» 1084, 1328). Bei Abwesenheit der Päpste in Avignon spendeten zweimal bevollmächtigte Kardinallegaten die Krönung in Rom (1312, 1355). 25 Kaiser erlangten die Krone im römischen Petersdom (800, 823, 850, 875, 881, 891?, 896, 901, 915, 962, 967, 996, 1014, 1027, 1046?, 1084, 1111, 1155, 1191, 1209, 1220, 1328, 1355, 1433, 1452), zwei wegen römischer Unruhen ausnahmsweise in St. Johannes im Lateran (1133, 1312). Die vier Kaiserkrönungen in Aachen, Reims und Ravenna, alle zwischen 813 und 892 im ersten Jahrhundert des Kaisertums, entfalteten ebenso wenig Wirkung wie die beiden Erhebungsakte Ludwigs des Frommen (813) und Lothars I. (817) auf Weisung der kaiserlichen Väter ohne den Papst. Der Romzug zur Kaiserkrönung wurde aus unterschiedlichen Gründen von manchen Herrschern erst nach langen Königsjahren, von vielen überhaupt nicht angetreten. Von den 41 Königen, Mit- oder Gegenkönigen im ostfränkisch-deutschen Reich zwischen 919 und 1519 brachten es nur 19 zum Kaisertum. Zwischen 800 und 1519 standen 307 kaiserlose Jahre neben 413 Jahren mit einem Kaiser. Der liturgischen Bedeutung der Krönungszeremonie entsprach die Auswahl eines besonderen Tags im Kirchenjahr. Sechs Kaiserkrönungen erfolgten an Ostern (823, 892, 1027, 1084, 1355; Ostermontag: 1191), vier an Weihnachten (800, 875, 967, 1046), zwei an Pfingsten (1328, 1433) sowie je eine an Mariae Lichtmess (2. Februar: 962), Himmelfahrt (996) oder Peter und Paul (29. Juni: 1312).
Zahlen und Daten lassen bei allen Ausnahmen Muster erkennen: Kaiserliche Herrschaft im lateinischen Mittelalter blieb eine exklusive Auszeichnung. Sie wurde längst nicht allen fränkischen oder ostfränkisch-deutschen Königen zuteil. Der Romzug bot Herausforderungen, politisch wie militärisch. Rasch setzten sich die Päpste im Kampf um das Krönungsrecht durch. Der römische Petersdom mit dem Grab des Apostelfürsten blieb von 800 bis 1452 der angemessene Ort des Erhebungsakts.
Neben die antik-kaiserliche und die päpstlich-christliche Romidee schob sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts der Anspruch des römischen Volkes auf die säkulare Vergabe der Kaiserkrone. Diese kommunale Kaiseridee wurde von den Herrschern nicht aufgenommen. So blieb die Kaiserkrönung bis 1452 fest an die Päpste gebunden. Als Erster verzichtete Maximilian I. auf den Romzug und nahm 1508 mit päpstlicher Billigung den Titel «Erwählter Römischer Kaiser» an. Die letzte päpstliche Kaiserkrönung vollzog Clemens VII. 1530 an Karl V., nicht mehr in Rom, sondern in Bologna.
Wie ihre Konkurrenten in Byzanz verstanden sich die Kaiser der lateinischen Welt als Nachfolger der antiken römischen Herrscher. Neben Caesar und Augustus diente vor allem Konstantin der Große als Begründer des christlichen Kaisertums zur Legitimation. Der Römername ging von 801 bis 812 und durchgängig seit 982 in die Kaisertitel ein. In der Übertragung des Kaisertums (Translatio imperii) auf die Franken und dann auf die Deutschen entwickelte das Mittelalter dafür ein Verstehensmodell. Es ließ das Römerreich in der biblischen Tradition des Buches Daniel zum letzten der vier irdischen Weltreiche werden. Für den Bestand der Christenheit fiel damit dem römischen Kaisertum als dem Schutzherrn der römischen Kirche heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Ausdruck fand dieses Selbstbewusstsein in der Bezeichnung «Heiliges Reich» (seit 1157).
Römisches Kaisertum und deutsche Geschichte: Das Kaisertum blieb seit 962 dauerhaft mit dem ostfränkisch-deutschen Königtum verknüpft. Die Könige entstammten in der Regel Fürsten- und Grafenfamilien aus dem Reich zwischen Nordsee und Alpen. Mit Ausnahme der Doppelwahl von 1257 wurden die Thronkandidaturen anderer Könige und Fürsten vergeblich betrieben. Die beständige Aussicht auf kaiserliche Herrschaft veränderte Monarchie und Reichsgeschichte. Seit dem 11. Jahrhundert nannten sich die Herrscher nach ihrer Königswahl «König der Römer», ein Erwartungstitel auf die höhere Würde des Kaisertums. Bei der Entstehung des ostfränkischen Reichs im Zerfall des fränkischen Großreichs entwickelte sich das Miteinander von Königtum und Adelsverbänden zum Katalysator der Identitätsbildung. In einem langen Prozess vollzog sich über den Völkern der Franken, Sachsen, Bayern, Alemannen und Lothringer die deutsche Nationsbildung. Sie erfuhr ihre Gemeinschaft vor allem aus dem Kaisertum ihrer Könige, aus Triumphen in Italien und ganz Europa, aus imperialen Ansprüchen auf Vorrang in der Welt, aus der Nähe zur römischen Kirche.
Im 11. Jahrhundert verwob das Annolied die Ethnogenese der Deutschen mit ihrer angeblichen Beteiligung bei der Begründung des antiken Kaisertums unter Caesar. Zur Jahrtausendwende schrieb Gerbert von Aurillac begeistert an Otto III.: «Unser, unser ist das römische Reich!» Aus solchen Überzeugungen erwuchs der mittelalterliche Anspruch, das Kaisertum stehe allein den Deutschen zu. Die Unterschiede von König- und Kaisertum beschrieb der Sachsenspiegel im 13. Jahrhundert: «Die Deutschen sollen rechtmäßig den König wählen. Wenn dieser geweiht wird von den dazu eingesetzten Bischöfen und auf den Thron zu Aachen gesetzt wird, so hat er die königliche Gewalt und den königlichen Namen. Wenn ihn der Papst weiht, so hat er die Reichsgewalt und den kaiserlichen Namen.» Der Kaiser, so schrieb der Italiener Marinus von Fregeno 1479, herrsche in Deutschland und im ganzen Okzident. Das wirke sich auf die Ordnung von Imperium und Nation aus.
Die gesteigerte Königsherrschaft sicherte den Kaisern ein besonderes Potential. Drei Reiche verbanden sich in ihrem Imperium: Ostfranken-Deutschland, Italien und Burgund. Bis ins Spätmittelalter überstrahlte diese Mehrzahl der Kronen andere Monarchien. Der universale Anspruch und der Zugriff auf Rom als «Haupt der Welt» (caput mundi) führten aber nicht zu jener Nationalisierung des Reichs, wie sie die europäischen Nachbarn erlebten. Gerade in der Auseinandersetzung mit der kaiserlichen Universalität entdeckten die europäischen Könige und Völker die eigene Würde und Selbstständigkeit. Seit dem 12. Jahrhundert wurde der deutsche Geltungsanspruch mit scharfen Worten in Frage gestellt. Zunehmende Begegnungen in der mobileren Welt des Hoch- und Spätmittelalters brachten Emotionen und intellektuelle Auseinandersetzungen hervor. Stereotype Bilder erzählten von kaiserlicher Tyrannei und deutscher Barbarei. Immer wieder setzten sich die Völker mit dem Imperium als vermeintlicher Ordnungsmacht auseinander. Franzosen, Engländer oder Italiener nivellierten die Kaiser als «deutsche Kaiser» schließlich in die Gleichrangigkeit europäischer Herrscher.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Unterschiede hatten längst ein Europa der vielen Geschwindigkeiten entstehen lassen. Mit den Modernisierungsschüben in West- und Südeuropa konnte das Imperium im Hoch- und Spätmittelalter nicht mehr Schritt halten. Geglaubter Anspruch und politische Handlungsmacht klafften immer deutlicher auseinander. Niemals wurden die Spannungen zwischen römischem Kaisertum und deutscher Geschichte systematisch aufgelöst, weder gedanklich noch politisch. Darum erfuhren die Deutschen und ihre europäischen Nachbarn sowohl die Chancen als auch die Bürden des Kaisertums.*
* Für Anregungen und Korrekturen danke ich den Studierenden meiner Heidelberger Lehrveranstaltungen sowie den Kolleginnen und Kollegen des Zentrums für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Heidelberg. – Quellenzitate sind entweder vom Verfasser aus den Editionen übersetzt oder (teilweise modifiziert) aus den folgenden Buchreihen entnommen: Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe; Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit; Geschichte in Quellen 2: Mittelalter, 2. Aufl. 1978.
Am Weihnachtstag des Jahres 800 begründete Karl der Große das Kaisertum des europäischen Westens. Die neue Würde entwarf ein neues imperiales Konzept, das zukunftsträchtig auf die abendländische Geschichte einwirkte. Dabei begleiteten alte Traditionen und aktuelle Erfahrungen die Versuche des Frankenherrschers, sich in der römischen Geschichte einzunisten. Das Miteinander von fränkischen Königen und römischen Päpsten formte in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ganz wesentlich die gedankliche wie rituelle Ausgestaltung des Kaisertums. Den Verantwortlichen waren die antiken Voraussetzungen und die zeitgenössischen byzantinischen Ausformungen als Folien ihres Handelns präsent. Auch wenn die Quellen immer nur Splitter des kulturellen Lernens wie der politischen Auseinandersetzung bieten, zeigen sie, wie Vergangenheit und Gegenwart prägend auf das Experiment des Jahres 800 einwirkten. Deutlich wird das in der Übernahme der antiken Herrschertitel und im Ringen um die Nutzung des römischen Erbes. Karl mehrte seinen fränkischen und langobardischen Königstitel um den Namen des Kaisers (nomen imperatoris) und präsentierte sich als Lenker des römischen Reichs (imperium Romanum). Die römischen Herrschernamen Caesar und Augustus traten später noch hinzu. So bildete der Dreiklang Imperator Caesar Augustus die Signatur für ein Kaisertum, das auf antiken Voraussetzungen gründete und fränkische bzw. ostfränkisch-deutsche Königsherrschaft kraftvoll steigerte. Zum Verständnis mittelalterlicher Traditionen und Innovationen sind darum Skizzen der antiken und byzantinischen Folien notwendig.
Am Anfang des römischen Kaisertums standen Caesar († 44 v. Chr.) und Augustus († 14 n. Chr.), als Personen wie als Herrschernamen. Über Jahrhunderte hatte sich die römische Republik scharf von der anfänglichen Königsherrschaft abgesetzt und die Monarchie zum Gegenbild des politisch Richtigen stilisiert. Der Vorwurf intendierter Königsherrschaft wurde zum Instrument politischer Propaganda. Als im 1. Jahrhundert vor Christus eine Militärdiktatur die Prinzipien der Republik aushöhlte, bediente man sich darum weiter republikanischer Wort-und Denkhüllen. Die faktische Alleinherrschaft einer Person wurde nicht mit dem Königsnamen erfasst. Vielmehr baute man die republikanische Verfassung auf eine Person um, verstetigte bisher zeitlich beschränkte Ämter (Diktatur, Volkstribunat, prokonsularische Gewalt) und stellte die militärische Kommandogewalt über das Heer heraus (Feldherr = imperator). Durch die Aufnahme heroisierter Gründernamen wie Caesar und Augustus bildeten sich in der Herrschaft des Einzelnen bald eigene Traditionen aus. Die Verleihung von Ehrenzeichen und der posthume Senatsbeschluss zur Vergottung Caesars markierten den neuen Rang des Princeps und ließen eine Repräsentationskultur mit öffentlichen Herrscherbildern entstehen. Der Princeps garantierte in Kulthandlungen durch besondere Nähe zu den Göttern das Wohlergehen des Staats.
Ihre Basis fand diese Macht des Einzelnen in der Kommandogewalt über das Heer. Seine Akklamation begründete Herrschaft, Treueide festigten Loyalitäten. In Krisensituationen erhoben die Legionen ihre Generäle und sicherten ihnen durch den Einmarsch in Rom die Verleihung des Diadems. Widerpart dieses fragilen Gehorsamssystems war der Herrscherkult, der den Kaiser aus irdischen Konstellationen heraushob und mit dem Amt die Person sakralisierte. Der Kult entwickelte sich im östlichen Mittelmeerraum aus den Traditionen hellenistischer Herrscherverehrung. Dann diente er in noch nicht befriedeten Teilen des Westens zur Bindung regionaler Führungsschichten an Reich und Kaiserhaus. Und schließlich dehnte Vespasian (69–79) den Herrscherkult mit seinen Institutionen auf alle großen Provinzen des Westens aus. Um nicht völlig mit römischen Traditionen zu brechen, unterblieb eine Konkretisierung der Heiligkeit des Monarchen. Die Verknüpfung des Kaiserkults mit dem Kult der unbesiegbaren Sonne (Sol invictus) wollte den Herrscher aber von den Neigungen des Heeres unabhängig machen. Dabei begnügte sich der integrationsfreudige Vielgötterhimmel mit dem korrekten Kultvollzug und verlangte keine emotionale Frömmigkeit. Gerade dieser Unterschied von formalisiertem Handeln und religiös erfülltem Herzen führte zum unüberwindlichen Gegensatz mit dem Christentum. Wegen seiner Verpflichtung auf den einen Gott durfte es bloße Verehrungsgesten an andere nicht vollführen. Das wurde von den Römern als Verweigerung politischer Loyalität interpretiert.
Die Sakralisierung der Person entrückte den Kaiser in komplexen Zeichensystemen des höfischen Zeremoniells immer deutlicher von den Menschen. Sie begegneten ihm in seinen Bildern und warfen sich davor nieder (Proskynese). Dafür garantierte die Frömmigkeit (pietas) des Kaisers mit der Gunst der Götter das Wohlergehen des Reichs. Die römische Herrschaft zielte prinzipiell auf die Grenzen der Welt und schuf darin ein Reich ohne Grenzen. Die offenkundige Diskrepanz zwischen dem von außen bedrohten Reich und der postulierten Weltherrschaft des Kaisers wurde nicht gelöst. Diese Pragmatik, das Unmögliche weitgehend zu denken und das Mögliche zu akzeptieren, erhielt sich auch im Mittelalter.
Im 3. bis 5. Jahrhundert erwies sich die Integrations- und Wandlungsfähigkeit von Reich und Kaisertum auf verschiedenen Ebenen. Administrative und militärische Notwendigkeiten einer zunehmend von äußeren Feinden bedrohten Welt führten zu Zergliederung und Kontinuitätsbruch. Mit der Aufteilung in ein west- und oströmisches Reich ging die Verlagerung der Hauptstadt von Rom nach Konstantinopel (griechischer Name: Byzanz) unter Kaiser Konstantin in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts einher. Der Politikwechsel von Expansion zu Reaktion veränderte das römische Reich im Kern und ließ seine Eliten zu einem Schmelztiegel unterschiedlicher Ethnien und Kulturen werden. In Kämpfen um die Grenzen und im Sog der römischen Zivilisation entstanden seit dem 3. Jahrhundert die neuen Völker des Mittelalters, die ihre Identität als spätantike Randkulturen in den Erfahrungen von Wanderung und Eroberung ausbildeten. Die neuen Herrscher lehnten sich lange an die Kaiser an und bezogen ihre Rechtmäßigkeit aus deren Anerkennungen und Rangerhöhungen. So band das römische Reich die neuen Verbände in das eigene Herrschafts- und Verteidigungssystem ein. Verbündete stiegen in höchste Positionen der Reichsverwaltung auf und nahmen als Heermeister Einfluss auf die Besetzung des Kaisertums. In seinem Dienst definierten sich die multiethnischen Führungsschichten.