Aldo Cazzullo
Kriminalroman
Aus dem Italienischen
von Petra Kaiser
C.H.Beck
Über 65.000 verkaufte Exemplare in Italien
Ein temporeich erzählter, aufregender Kriminalroman
Eine Geschichte Italiens zur Zeit der Resistenza
Moresco ist tot, ermordet. Es ist der Tag der Befreiung, der 25. April 2011. Vor mehr als 65 Jahren wurde Virginia am Ende des Kriegs qualvoll zu Tode gebracht. Und Alberto hat Moresco insgeheim immer eine Mitschuld am Tod seiner großen Liebe gegeben. Als Partisanen waren beide in sie verliebt, doch als sich Virginia schließlich für Alberto entscheidet, schickt Kommandant Moresco sie auf eine gefährliche Mission. Sie wird verhaftet und von den Deutschen und italienischen Faschisten gefoltert. Hatte Moresco wirklich alles getan, um sie zu retten? Wie besessen stellte sich Alberto ein Leben lang diese Frage. Er wollte damals auch keinen Anteil, als Moresco im Namen der Partisanen dem Pfarrer die Hälfte des Kriegsschatzes abnahm, den die italienische Armee bei ihrem Rückzug in Abba zurückgelassen hatte. Und dann geschieht keine drei Tage nach dem ersten ein zweiter Mord, und zwar an dem Altfaschisten Vergnano, der vor langem am Tod Virginias beteiligt war. Alberto scheint der Täter zu sein. Doch die Dinge sind nicht ganz so, wie sie scheinen.
Das Wein- und Trüffelstädtchen Alba im Piemont ist der Schauplatz dieser temporeich erzählten aufregenden Geschichte. Knapp und ohne Belehrung wird das komplexe Geflecht der Beziehungen seiner Bewohner entworfen, das seit Jahrzehnten auf Lüge, Verrat und Bestechung, auf alten Verpflichtungen und politischer Zugehörigkeit, aber auch auf Freundschaft und Liebe fußt.
Aldo Cazzullo wurde 1966 in Alba geboren. Er ist Schriftsteller und Journalist, hat viele Jahre für La Stampa gearbeitet. Sein Schwerpunkt liegt in der internationalen und italienischen Politik. Er hat zahlreiche Bücher in diesem Themenfeld veröffentlicht und wurde vielfach für diese ausgezeichnet. „Bitter im Abgang“ ist sein erster Roman, der ebenso preisgekrönt ist.
Petra Kaiser, geboren 1953 in Düsseldorf, ist Soziologin und hat mehrere Jahre in Italien gelebt. Seit 1992 übersetzt sie sowohl wissenschaftliche Werke als auch Belletristik, u.a. von Niccolò Ammaniti, Umberto Eco, Marcello Fois, Margaret Mazzantini, Andrea Molesini, Luigi Pintor und Simona Vinci. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Titel der italienischen Originalausgabe: «La mia anima è
ovunque tu sia. Un delitto. Un tesoro. Una guerra. Un amore»,
erschienen bei Mondadori, Mailand 2011
© Aldo Cazzullo 2011
Für die deutsche Ausgabe:
1. Auflage. 2014
Für die deutsche Ausgabe:
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2014
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typographie, Conny Hepting
Umschlagabbildung: Mann im Weinberg, Weinberg © Aldo Pavan/Getty Images 177598320;
Mann © Ilona Wellmann/Trevilli on Images IWN20831
ISBN Buch 978 3 406 66038 2
ISBN eBook 978 3 406 66077 1
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In dem Gefühl, wie großartig der Mensch in seinem normalen menschlichen Dasein ist, brach er auf zu den höchsten Gipfeln, in das urwüchsige Land, das ihm helfen würde, im Strudel des schwarzen Windes zu bestehen. Und im Augenblick des Aufbruchs spürte er, dass er im Namen des wahren italienischen Volkes dazu bestimmt war, sich mit allen Mitteln gegen den Faschismus aufzulehnen. Diese höchste Machtfülle war berauschend, weitaus berauschender jedoch war das Bewusstsein, dass es richtig und gerecht war, davon Gebrauch zu machen. Und auch körperlich hatte er sich noch nie so sehr als Mann gefühlt. Herkules gleich bezwang er Wind und Erde.
Beppe Fenoglio, Il partigiano Johnny
Als Domenico Moresco tot aufgefunden wurde, sah zunächst alles nach einem Herzinfarkt aus. Ein harmloser Dornenkratzer an der Stirn, sonst nichts, keine andere Verletzung, die auf ein Verbrechen schließen ließ. Schon gar nicht an einem Ostersonntag, der in diesem Jahr auf den Tag der Befreiung fiel. Und warum auch? Warum sollte jemand Moresco, den ehemaligen Partisanenführer, ermorden, und ausgerechnet an einem in doppelter Hinsicht hochheiligen Feiertag? Dennoch wurde die Polizei verständigt.
Moresco war eine bedeutende Persönlichkeit. Einer der reichsten Männer Albas, vielleicht sogar ganz Italiens. Mit seinem Wein hatte er sich ein kleines Imperium aufgebaut. Kein Vergleich zu Tibaldi natürlich. Aber sein Wein war etwas Besonderes. Tibaldi war eine weltbekannte Marke, der größte Weinproduzent Europas, Moresco nur etwas für Kenner. Die Weine von Tibaldi gab es in jedem Supermarkt, die von Moresco nur in Weinhandlungen. In den Chinarestaurants stand der Weiße von Tibaldi ganz oben auf der Weinkarte, während der Chardonnay von Moresco von den Mächtigen in Shanghai getrunken wurde. Tibaldis Barbera war eine Goldgrube, Morescos Barbaresco ein Mythos.
Der Kommissar merkte schnell, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Schon bei seiner Ankunft im Wald oberhalb von Costamagna hatte er einen roten Panda wegfahren sehen, der es für einen Sonntagmorgen ungewöhnlich eilig hatte. Außerdem hatte man an Morescos Geländewagen einen Reifen zerstochen. Die Erde an seiner kleinen Schaufel war noch feucht – offenbar hatte er gerade etwas ausgegraben. Beim Sturz hatte sein massiger Körper von eins achtzig, Ergebnis von achtzig Jahren ausgiebiger Ess- und Trinkgelage, einen messerscharfen Abdruck in den feuchten Grund gezeichnet. Rundherum Spuren von Stiefelsohlen.
Der Kommissar dachte, dass bei Morescos Tod rein gar nichts in Ordnung war. Aber das wunderte ihn nicht. Inzwischen wusste er, dass es hierzulande grausam zuging, wenn nötig, noch grausamer als in seiner Heimat im Aspromonte. Selbst mit dem Hund stimmte etwas nicht. Er saß nicht etwa winselnd neben seinem Herrchen, bellte nicht einmal, sondern fraß halb versteckt hinter einer Buche an einem Trüffel.
Mit einem Gewehrschuss sprengte Domenico Moresco den Türriegel und das gesamte Schloss des Pfarrhauses.
«Bist du verrückt? Willst du die ganze Stadt aufwecken? Auch Spitzel und Faschisten?»
«Die Faschisten kuschen und werden schön brav die Klappe halten, die haben kapiert, dass ihre Zeit vorbei ist. Ich kann nicht die ganze Nacht mit Klopfen verbringen. Und in der Kirche war ich seit zwanzig Jahren nicht mehr, verdammt …»
«Und da hast du dir gedacht, wennschon, dennschon. Bravo. Hör wenigstens auf zu fluchen. Es bringt schon genug Unglück, mit der Waffe in der Hand in die Kirche einzudringen.»
«Still, Alberto! Und schön brav die Klappe halten, wie die Faschisten, hörst du? Der Pfarrer kommt schon», sagte Moresco und grinste siegessicher.
Auch Don Tadini hatte ein Gewehr in der Hand. In solchen Zeiten konnten selbst die Priester schießen. Und überhaupt, seit man ihm dieses goldene Kuckucksei ins Nest gelegt hatte, schlief er mit dem Gewehr unterm Bett.
«Wer ist da?»
«Wir sind’s, Priester. Kein Grund zu schreien. Hör auf zubrüllen.»
Die leicht abschätzige Anrede hatte Moresco absichtlich gewählt. Er wollte ihn nicht bloß einschüchtern, sondern ihm unmissverständlich zu verstehen geben, dass sich mit dem Krieg alles verändert hatte. Nun hatte er keine Angst mehr vor ihm, ja nicht einmal mehr besonderen Respekt. Selbst die Landarbeiter und die Armen der Stadt würden sich nicht mehr ehrfürchtig vor dem Pfarrer verneigen.
«Was wollt ihr?»
«Das weißt du genau.»
Da begriff Don Tadini, dass es für ihn schlecht aussah.
Amilcare Braida war immer schon der Überzeugung gewesen, der November sei ein guter Monat zum Sterben. Vor allem hier in den Langhe.
Im November beginnt in den Langhe der Wein zu reifen, die Trüffel sprießen. Die Blätter an den Weinstöcken werden bunt, rot, granatapfelfarben, violett, rubinrot. Noch ist es nicht kalt, und am Ende der sonnigen Tage senkt sich der Nebel herab wie eine Decke. Tatsächlich hatte Amilcare Braida nicht mehr lange zu leben. Jetzt aber schien ihm ein vorzeitiger Tod, den er immer für einen Glücksfall gehalten hatte, übereilt. Es war nicht so, dass er sich davor gefürchtet hätte. In seiner Partisanenzeit hatte er den Tod etliche Male, wenn nicht gesucht, so doch erwartet. Und in den langen Winternächten hatte er seinen Kampfgefährten, den Garibaldini wie den Autonomen, die Geschichte von Kleobis und Biton erzählt; sein Griechischlehrer hatte sie an jedem ersten Schultag zum Besten gegeben, um die neuen Gymnasiasten zu beeindrucken, als wolle er gleich einmal testen, wer von ihnen der Grausamkeit der Klassiker gewachsen war. Die Mutter von Kleobis und Biton war eine Priesterin der Hera. Als sie eines Tages zum Opferfest in den Tempel musste, aber kein Ochsengespann zur Verfügung stand, spannten sich die Brüder selbst ins Joch und zogen den Wagen. Gerührt betete die Mutter zur Göttin Hera und bat, ihren beiden Söhnen zum Dank das Beste angedeihen zu lassen, was ein Mensch erreichen könne. Am nächsten Tag fand sie die beiden tot vor. «Das Beste ist, nie geboren zu werden oder früh zu sterben.»
Die Partisanen reagierten unterschiedlich. Die Garibaldini waren empört; ihrer Meinung nach war der Mensch zur Tat geschaffen, zum Sieg, zur Revolution, der Tod war was für Faschisten; und bald kursierte das Gerücht, Amilcare bringe Unglück. Die Autonomen hörten ihm zwar schweigend zu, aber auch sie zeigten sich nicht besonders beeindruckt. Alle blickten zu Tobia, dem Anführer, der für alles eine Erklärung hatte.
«Wie weit haben sie den Wagen gezogen?», fragte er.
«Fünfundvierzig Stadien.»
«Als da wären?»
«Ungefähr acht Kilometer.»
«Versuch du mal, einen Ochsenwagen acht Kilometer weit zu ziehen. Da kriegst du auch einen Herzschlag. Vor allem bei den vielen Zigaretten, die du rauchst.» Diese Antwort hatte Amilcare gefallen. Das war auch einer der Gründe, warum er sich schließlich den Autonomen angeschlossen hatte.
Zu guter Letzt hatten ihm die Zigaretten keinen Infarkt beschert, sondern Schlimmeres. Inzwischen hatte sich Amilcare damit abgefunden, dass er sterben würde, ohne den Roman seines Lebens beenden zu können. Aber die Geschichte vom Schatz der Vierten Armee, die durfte nicht unvollendet bleiben, die musste er unbedingt noch aufschreiben, bevor er starb.
Im Bademantel stand Antonio Tibaldi auf der Terrasse. Im April ebenso wie im Dezember fuhr er gerne in den Süden. Im Sommer war es überall heiß, auch in Alba. Ende April jedoch war es in Alba an manchen Tagen noch recht winterlich. Deshalb fuhr er gern Ende April, bevor die ersten Touristen kamen, und Anfang Dezember, nachdem die letzten wieder weg waren, in seine Villa auf Capri. Seine Freunde aus Neapel sagten zu ihm, er gleiche Axel Munthe oder sogar Tiberius, wenn er mit dem Gestus des Ästheten oder des Kaisers auf den Horizont deutete, um seinen Gästen den Vesuv, Sorrento oder Praiano zu zeigen, die dann, um ihm einen Gefallen zu tun, so taten, als wäre ihnen das völlig neu. Tibaldi ließ sie reden. Über Tiberius wusste er gerade mal, dass er ein antiker römischer Kaiser war. Über Axel Munthe, dass er schwul war.
Tibaldi war kein besonders kultivierter Mensch. Aber sagenhaft reich und stets auf der Hut. Als junger Mann war er ein richtiges Arbeitstier gewesen. In der Resistenza hatte er nicht gekämpft. Es war ihm gelungen abzutauchen, allerdings nicht in irgendein Loch wie so mancher Feigling, der sich in dieser Zeit tot stellte. Die Priester hatten ihn aufgenommen und bei sich im Seminar versteckt. Monatelang durfte er das Haus nicht verlassen, nicht einmal nachts. Denn die Faschisten waren ganz in der Nähe stationiert. Deshalb hatte ihm Pater Bergoglio, der Rektor, streng verboten, sich draußen blicken zu lassen. Wenn Deutsche gesehen wurden oder es nur das Gerücht gab, sie seien in den Bergen gesehen worden, brachte ihm der Pater einen Talar und verlangte, dass er sich als Priester verkleidete. Und als auch das Seminar requiriert wurde, nahm Pater Bergoglio ihn zu sich ins Pfarrhaus. Tibaldi machte alles mit. Er war dem Priester dankbar dafür, dass er ihm den Krieg erspart hatte und ihm offenbar aufrichtig zugetan war. Doch manchmal bekam er Schuldgefühle, schämte sich wie ein Deserteur und bat darum, gehen zu dürfen, um mit seinen Freunden zu kämpfen. Dann nahm Pater Bergoglio seinen Kopf zwischen die Hände und flüsterte: «Sei still. Geh schlafen. Deine Zeit kommt noch. Bald wird ein neuer, nicht weniger wichtiger Krieg ausbrechen, und dann musst auch du kämpfen. Aber jetzt musst du dich ausruhen.»
Das Handy klingelte. Es war das Büro in Alba. Tibaldi zuckte widerwillig. Sein Sekretär verstand und nahm den Anruf entgegen. Tibaldi hörte ihn nur ein paar knappe Fragen stellen «Was ist passiert?» Dann: «Um wie viel Uhr?» Und schließlich: «Wo wurde er gefunden?» Der Sekretär wirkte nicht sonderlich erschüttert. Er dachte gerade darüber nach, wie er die Nachricht am besten überbringen könnte, ohne seinen Chef zu stören, da hörte er diesen ein wenig leiser als gewöhnlich sagen: «Wer ist es diesmal?» «Domenico Moresco. Herzinfarkt. Na ja, immerhin war er schon weit über achtzig …»
Beim Anblick der finsteren Miene seines Chefs verstummte er. Ein Fauxpas, dachte er insgeheim. Allerdings war Tibaldi mindestens fünf Jahre jünger als der Tote. Der Sekretär hielt den Atem an. Aber er war schon in viel größere Fettnäpfchen getreten bei diesem komischen, misstrauischen Mann, der lächelte, wenn andere schwarzsahen, und dessen Miene sich verfinsterte, wenn alles scheinbar bestens lief, und der selbst bei der Polizei seine Leute hatte, die ihn über alles informierten, auch wenn in der Stadt eigentlich nie irgendetwas passierte.
«Dottore, die Beerdigung ist bestimmt erst in zwei Tagen. Und die amerikanischen Gäste reisen heute Abend ab. Also, alles kein Problem …»
Aber Tibaldi war schon dabei, den Bademantel abzuwerfen. «Bestell den Hubschrauber. Wir kehren sofort nach Alba zurück.»