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Über den Autor

Norbert Scheuer, geboren 1951, studierte physikalische Technik und Philosophie. Er lebt in der Eifel und arbeitet als Systemprogrammierer. Bei C.H.Beck erschienen der Roman «Flußabwärts» (2002), der Roman in Erzählungen «Kall, Eifel» (2006), der Roman «Überm Rauschen» (2009), der auf die Shortlist des «Deutschen Buchpreises» kam und 2010 von der Stadt Köln in der Reihe «Ein Buch für die Stadt» ausgewählt wurde, in einer überarbeiteten Neuauflage sein erster Roman «Der Steinesammler» (2010) und der Band «Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte» (2011). Norbert Scheuer erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt den Martha-Saalfeld-Förderpreis (2003), den 3sat-Preis beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb (2006), den Glaser-Preis (2006), den d.lit-Literaturpreis (2010) und den Rheinischen Literaturpreis Siegburg (2010).

Zum Buch

Rosarius Delamot weiß nicht, wer sein leiblicher Vater ist, vielleicht ein Archäologe, der das Straßennetz des antiken Römischen Reiches kartographiert hat und in Nordafrika verschollen blieb. Rosarius hat nur seine Mutter Kathy, er ist in seiner Jugend kleinwüchsig und spricht die ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens kein Wort. Aber er sieht die Dinge anders als gewöhnliche Menschen, sein Gehirn scheint ein unendlicher Speicher von kleinsten Wahrnehmungen und Erinnerungen zu sein. Als Kind hat er sich in Petra verliebt, die er nur «Peeh» nennen kann. Später, als normalgroßer Erwachsener, der Sprechen gelernt hat, wird eine Liebesgeschichte daraus. In seinen Träumen und in der Wirklichkeit lebt Rosarius sein eigenes Leben, in dem er die ganze Welt bereist und die Eifel, in der er mit Vincentini ein elektrisches Akupunkturgerät verkauft, das gegen jede Krankheit helfen soll. Als alter Mann im Heim wird er von Annie liebevoll gepflegt, ihm ist, als wäre seine Peeh endlich wieder da, als würde er ihr jetzt im Alter die abenteuerliche Geschichte seines Lebens erzählen, eine Geschichte über die Liebe, das Altern und das Vergessen. In seinem neuen, bewegenden, melancholisch-lichten Roman zeigt sich Norbert Scheuer wieder als ein großer, poetischer Erzähler.

 

Norbert Scheuer · Peehs Liebe

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Inhalt

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Epilog

Das macht uns arm bei allem Reichtum, daß wir nicht allein sein können, daß die Liebe in uns, so lange wir leben, nicht erstirbt.

Hölderlin, Hyperion

Für Elvira

Teil 1

Mein Name ist Rosarius Delamot. Ich bin mit dem Delamot verwandt, der in Kall ein Friseurgeschäft hatte. Kathy, meine Mutter, schickte mich alle zwei Monate zu ihm in den Salon. Delamot schnitt mir und auch Kathy die Haare gratis, das heißt, mir schor er alle meine fuchsroten Haare, weil er meinte, dass mir eine Glatze am besten stehe. Danach schickte er mich gleich wieder raus, ihm ging mein ständiges Summen auf die Nerven, das in den ersten dreiundzwanzig Jahren meines Lebens meine einzige sprachliche Äußerung blieb. Meine Haare kehrte Delamot, wie auch die Haare seiner anderen Kunden, in eine Ecke. Dort war unter dem Abfalleimer ein tellergroßes Loch im Boden versteckt, durch das sämtliche Haare in den dunklen Keller hinabschwebten.

Kathy hatte mir den ausgefallenen Vornamen Rosarius gegeben, weil ihr Ururgroßonkel so geheißen hatte. Sie war stolz auf diesen Vorfahren gewesen, der Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Eifel gezogen war, um Mausefallen und andere Haushaltsgegenstände zu verkaufen. Der Ururgroßonkel hatte ständig neue Methoden ausgetüftelt, wie man Mäuse am besten fing. Heute kann man sich nicht mehr vorstellen, wie wichtig gut funktionierende Mausefallen einmal waren. Unser Vorfahre war aber auch Dichter, Sänger und Revolutionär gewesen, der irgendwann nach Brasilien ausgewandert war, weil er wegen staatsfeindlicher Umtriebe eingekerkert und füsiliert werden sollte. Kathy erzählte von alten Briefen, in denen er berichtet habe, wie er in Brasilien zusammen mit Alexander v. Humboldt den Amazonas und den Orinoko befahren habe. Angeblich sei er mit Humboldt auf der Schildkröteninsel und auf dem Chimborazo gewesen. Kathy meinte, ohne ihn wären Humboldt und Bonpland niemals bis auf den Gipfel gekommen, und er sei allein, anders als die beiden, bis auf die eisige Bergspitze geklettert. Kathy erzählte auch von meinem Vater, der Archäologe gewesen sei und alle Straßen des Römischen Imperiums habe kartieren wollen. Zuletzt habe er nach einer Straße gesucht, die 300 nach Christus in gerader Linie von Kastell zu Kastell durch die Wüste von Resafa bis zum Euphrat geführt hätte. Wegen dieser, irgendwo unter dem Sand verborgenen, römischen Militär- und Handelsstraße habe der Archäologe uns verlassen.

In Rosarius’ Zimmer auf der Risahöhe lagen überall zerlesene Bücher mit Kommentaren an den Rändern oder über den Text gekritzelten Bemerkungen, kleine Zeichnungen, Hefte, in die er in den letzten Jahren Tausende Wege- und Straßennamen geschrieben hatte. Pilgerpfade, Kieswege, Namen von kopfsteingepflasterten Wegen für marschierende Truppen und Pferde, für den Verkehr mit Ochsenkarren. Tabula Peutingeriana, Straßen, die von China durch den Orient bis nach Europa führten, keltische Wege, Wege aus der La-Tène-Zeit, Via Militaris, Via Publica, Via Privata, alle Straßen des Römischen Imperiums, Via Claudia Augusta (15 v. Chr., erbaut unter Drusus) vom Veneto über Verona, Bozen (Pons Drusi), Meran (Statio Maiensis), durch den Vinschgau, über den Reschenpass, über Finstermünz und den Fernpass, über Füssen (Foetes) nach Augsburg (Augusta Vindelicorum), von dort über die Alpen nach Italien über die Via Raetia über Partenkirchen (Parthanum), Mittenwald (Scarbia) nach Innsbruck (Veldidena), über den Brenner nach Verona. Straßen, die vom Altertum bis in die Gegenwart Städte und Siedlungen miteinander verbanden. Straßen durch Wüsten, an Meeresküsten entlang, ein riesiges Spinnennetz aus Pfaden, Gassen, Schotterstraßen, Ringstraßen, holprigen Feldwegen zwischen Dörfern, aber auch Fernstraßen zwischen Metropolen, Straßen durch Wälder und Felder, durch alle Länder unserer Gedanken und Träume.

Als Annie im März 2002 zum ersten Mal das Zimmer von Rosarius betrat, murmelte dieser immerzu «Peeh», ein Laut, über den sie sich zunächst wunderte. Sie wusste damals noch nicht, dass Peeh der Name der Frau gewesen war, die Rosarius sein Leben lang geliebt hatte, wusste noch nicht, dass sie von seiner Lebensgeschichte in den Bann gezogen werden würde, von bruchstückhaften Erinnerungsbildern, von leise dahingemurmelten Wörtern, einem Singsang, dem sie bald aufmerksam lauschte, bald folgte wie Sirenenklang.

Wie Annie später erfahren sollte, war Rosarius kurz vor dem Krieg, im Frühjahr 1938, geboren. Als sie sich begegneten, feierte er gerade seinen vierundsechzigsten Geburtstag. Rosarius hatte noch volles krauses Haar, eine spitze gerade Nase und hellblaue lebhafte Augen. Auf dem Tisch in seinem kleinen Zimmer im Altenheim standen ein Plastikkerzenständer mit auswechselbaren Geburtstagszahlen, ein Blumenstrauß von seinem Freund Karl Höger und Reste eines Zitronensandkuchens, von dem Rosarius aß, indem er mit der Zeigefingerkuppe auf die Kuchenkrümel drückte, den zittrigen Finger zum Mund führte, um dann die Krümel genussvoll abzulecken.

Rosarius wohnte seit zwei Jahren im Seniorenstift auf der Risahöhe, seit er nicht mehr allein leben konnte. Er war, wie er erzählt hatte, in seiner Jugend und bis ins frühe Erwachsenenalter hinein klein und schmächtig gewesen, hatte damals kein Wort zu sprechen vermocht und stattdessen nur gesummt. Heute wäre er jedoch, wie Annie gleich bemerkte, ein großer stattlicher Mann gewesen, wenn er sich hätte aufrichten können, was ihm aber wegen eines Schlaganfalls nicht mehr möglich war. Der Schlaganfall hatte eine halbseitige Lähmung hervorgerufen und kleine Verletzungen in seinem Gehirn hinterlassen, weshalb Rosarius oft verwirrt war. Er schien dann nicht zu wissen, wo er sich befand, redete sehr langsam und leise, machte lange Pausen, schien nachzudenken, versuchte sich offenbar zu erinnern, wartete auf Wörter und Gedanken, die vielleicht in seinem Kopf wimmelten wie Millionen winzige blinde Tierchen, er summte dabei und murmelte, kaum hörbar, im Rollstuhl sitzend, vor sich hin.

Annie half Rosarius aus dem Rollstuhl, setzte ihn auf die Bettkante, zog ihm die Hose aus, machte ihn für die Nacht fertig. Er saß mit spillerigen, vernarbten Beinen auf dem Bett, und wie eine rotbraune Nacktschnecke richtete sich sein Geschlecht langsam aus dem krausen Schamhaar auf, wurde schön und samtweich. Er murmelte währenddessen irgendetwas im Eifeler Dialekt, einem Singsang, den sie immer noch nicht verstand, obwohl sie schon einige Jahre in Kall lebte. Dann zitierte er kaum hörbar ein paar Wörter aus dem «Hyperion», stille, stille, sage nicht, daß das Schicksal uns trennt, wir sind’s. Rosarius konnte ganze Passagen des «Hyperion» auswendig, der ein Teil seiner Sprache zu sein schien. Wenn er Annie ansah und in ihr Peeh zu erkennen glaubte, strahlten seine blauen Augen vor Glück, in diesem Moment hatte er etwas von einem klugen, spitzbübischen Jungen. Erinnerte sich Annie später daran, dann sah sie immer dieses glückliche Gesicht vor sich. Oft fragte sie sich, wie diese Frau wohl ausgesehen hatte, von der er immerzu erzählte, sie versuchte sich Peeh vorzustellen, wie Rosarius sie beschrieben hatte. Manchmal schien er geistig vollkommen klar zu sein, erwartete sie dann ungeduldig, um ihr von seiner Mutter Kathy, Peeh, Vincentini und einem Schatz, den der verrückte Strohwang gesucht hatte, zu erzählen. Die meiste Zeit aber memorierte er wie in Trance Straßennamen, als würde er sich im Labyrinth einer anderen Welt befinden. Rosarius hatte keine Angehörigen oder Verwandten mehr. Viele seiner Bücher, Aufzeichnungen, Habseligkeiten und wenige Fotografien aus seiner Jugend lagerten irgendwo in der Remise, wo sich auch die Besitztümer anderer Heimbewohner befanden. Dinge aus einem früheren Leben, für die kein Platz mehr in den kleinen Zimmern war.

Hin und wieder kam Karl Höger von Kall zur Risahöhe hinauf, um Rosarius zu besuchen, manchmal erschien auch Edgar Lambertz, ein Enkel Strohwangs, der glaubte, Rosarius wisse etwas über den Verbleib seines verschollenen Großvaters und dessen Schatz, den dieser jahrzehntelang in der Gegend von Kall gesucht hatte. Lambertz war knöchrig, hatte fettiges, zurückgekämmtes Haar, trug einen Ohrring und ein Kinnbärtchen, an dem er dauernd herumzupfte. Annie konnte Lambertz vom ersten Moment an nicht leiden. Karl Höger hingegen fand sie sympathisch, er war ein freundlicher Mann, der sein ganzes Leben lang als Lastwagenfahrer gearbeitet hatte. Höger hatte einen der großen Steinlaster gefahren, die früher Tag und Nacht zwischen dem Zementwerk und dem Kalksteinbruch gependelt waren. Rosarius war gern mit ihm im Büssing in der Gegend herumgefahren. Höger hatte beim Fahren von Ortschaften und Kontinenten erzählt, von fernen Ländern und Städten, hatte davon geredet, als würde er das alles genau kennen, als wäre er tatsächlich überall auf der Welt gewesen. Seinen ersten schweren Schlaganfall hatte Rosarius in der Fahrerkabine von Högers Lastwagen erlitten.

«Ich habe das erst gar nicht bemerkt, bis er plötzlich begann, komisches Zeug zu murmeln, und dann keine Wörter mehr fand», hatte Höger ihr erzählt. Höger hatte Annie auch gesagt, Rosarius habe selten die Eifel und die Gegend um Kall verlassen und doch sei er in Gedanken überall auf der Welt gewesen, wisse viele Dinge, auch wenn er seltsam und einfältig erscheine. «Verglichen mit dem, was wir über unser Leben und die Welt wissen könnten, sind wir doch alle dumm», hatte Höger zu ihr gesagt und sie dabei angesehen, gegrinst und mit seinen lustigen Augen gezwinkert. Seit seiner Pensionierung lebte er bei seiner Tochter, die ihn hin und wieder mit ihrem Auto bei Rosarius absetzte, dann zum Einkaufen ins Industriegebiet fuhr und ihn auf dem Rückweg wieder abholte.

Die Gebäude des Altenheims waren einst Verwaltungsgebäude des Bleibergwerks gewesen. Sie trugen die Namen der Stollen Risa und Viktoria, Bergwerksstollen, in denen früher einmal Hunderte von Menschen gearbeitet hatten. Die Häuser standen in einem verwilderten Park zwischen alten Eichen und Kastanienbäumen. Am Rande des Parks blühten Rapsfelder, die sich bis zu einem Birkenwäldchen erstreckten, oberhalb dieses Wäldchens begann das Bergschadensgebiet, eine eingezäunte, bleiverseuchte Gegend mit berghohen rotbraunen Geröll- und Kieshalden, dem Aushub eines einstmals großen Bergbaugebietes, wo jetzt nur noch Heidekraut und einige krüppelige Zirbelkiefern gediehen.

Annie saß während der Pause unter dem Vorbau des Lieferanteneingangs. Auf dem Gartentisch krabbelten Ameisen, deren Pfad zwischen einem Aschenbecher und Schokoladenkeksen verlief. Die Ameisen schleppten Larven, verschwanden mit ihnen unterhalb des Tisches in den Bodenrissen des Mauerwerks, da sie wahrscheinlich im Keller ihr Nest hatten. Annie dachte an das, was Rosarius erzählt hatte, an all die Haare, die der Friseur Delamot in seinen Keller hatte rieseln lassen. Sie fragte sich, was der wohl damit gemacht hatte. Es hatte keinen Zweck, Rosarius zu fragen, er antwortete nicht, sondern erzählte nur und wob ein Gespinst von Erinnerungen, in dem er sich selbst schon lange nicht mehr zurechtfand.

In der Küche wurde das Abendessen zubereitet, Geschirr klapperte, ein Radio spielte, der Ventilator blies Kochdunst nach draußen. Annie drehte sich eine Zigarette, rauchte und blickte auf die Rapsfelder, deren ranziger Geruch herüberwehte.

Gerade reparierte Bellarmin am Rande des Parks den Zaun des Truthahngeheges. Sein Hemd hatte er ausgezogen und über einen Strauch gelegt. Annie gefiel dieser schmächtige junge Mann, sie mochte seine bedächtigen, irgendwie edlen Bewegungen. Wenn er seiner Arbeit in Haus und Garten nachging, sah sie ihm gerne zu. Sie hatte ihm heimlich – nur für sich allein – den Namen Bellarmin gegeben.

Annie brachte das Abendessen mit einem Rollwagen in den Aufenthaltsraum, danach auf die Zimmer zu den Bewohnern, die im Bett lagen. Für Rosarius schnitt sie Brote in kleine Happen und tunkte sie in seinen Tee, danach bezog sie sein Bett frisch, half ihm beim Waschen, nahm ihm seine Zahnprothese aus dem Mund, spülte sie unter fließendem Wasser ab und legte sie in einen Becher.

Rosarius war überzeugt, seine Peeh endlich wiedergefunden zu haben. Anfangs hatte Annie noch versucht, ihm das auszureden, mittlerweile glaubte sie selbst, diese Frau zu sein. Sie setzte sich in den Sessel am Bett, schloss ihre Augen und hörte Rosarius’ Gemurmel zu. Er redete scheinbar wirres Zeug, zählte Straßennamen auf, Straßen des Römischen Imperiums, Straßen, die durch die Eifel nach Rom führten, von dort nach Libyen und durch die Wüste bis ans Rote Meer. Es schien, als würde er alle Straßen und Wege, die es je gegeben hatte, kennen. Dabei summte er, bekritzelte Blätter seines Heftes, die er dann ausriss und in den Spalt zwischen Wand und Bett steckte. Seine Lippen, Zähne und Zunge waren mit Tinte beschmiert, da er die Angewohnheit hatte, an der Füllfeder zu saugen.

Rosarius hatte nie richtig schreiben gelernt. Er formte seine Buchstaben und Wörter in einer winzigen, krakeligen, schwer zu lesenden Schrift. Mittlerweile konnte Annie sein Gekritzel einigermaßen entziffern. Sie dachte an den Schatz, von dem er redete. Was wäre, wenn es ihn wirklich gäbe. Sie träumte davon, sich von dem Geld einen der verlassenen Siedlungshöfe in der Gegend zu kaufen und Pferde zu halten. Dann müsste sie nicht länger als Pflegerin in einem Altenheim arbeiten.

Rosarius sprach leise von seiner Liebe zu Peeh. Annie glaubte nicht an diese Art Liebe, sie glaubte gar nicht an die Liebe, nirgendwo auf der Welt. Peeh, murmelte Rosarius, warum erzähle ich dir und wiederhole mein Leiden und rege die ruhelose Jugend wieder auf in mir? Warum bleib ich im Frieden meines Geistes nicht stille? Annie knipste den Fernseher aus, den eine Tagesschwester eingeschaltet hatte. Sie schaute neugierig in die Schubladen des alten Mannes. Rosarius erzählte, wie er in den Nachkriegsjahren mit Vincentini über die Dörfer gefahren war, zuerst, um von den Fliegerbomben zersplitterte Baumstämme aufzukaufen und an Holzfabriken weiterzuverhökern, später, als dieses Geschäft nichts mehr einbrachte, war Vincentini mit einem elektrischen Akupunkturgerät, das er Perseus nannte, durch die Eifel gereist und hatte kranke Leute behandelt.

Der Perseus war ein schuhkartongroßer Kasten. Wenn man ihn aufklappte, erblickte man im Inneren ein Bedienfeld mit zwei Regelknöpfen und eine goldene Anzeigenadel, die über einer Stromskala zitterte. In der rechten oberen Ecke war das Bildnis des griechischen Helden eingraviert, der die Meduse besiegt hatte. Vincentini war überzeugt gewesen, der Perseus helfe gegen jede Art von Krankheit, gegen Angst, Bluthochdruck, Bronchitis, Depressionen, Frigidität, Hautleiden, Herzschwäche, Verstopfung, Impotenz und sogar gegen Verblödung.

Rosarius redete von seiner Mutter Kathy, von seinem Vater, dem Archäologen, der auf der Suche nach einer unter dem Sand verborgenen alten Römerstraße durch die Wüste gereist war, erzählte die Geschichte von Strohwangs Schatzsuche. Mit einem Mal hörte Annie dem alten Mann aufmerksam zu, sah in sein schmunzelndes Gesicht, beobachtete, wie er in sich hineinlächelte. Seine Lippen bewegten sich kaum, während er murmelte, seine Augen unter den geschlossenen Lidern rollten. Vielleicht erfuhr sie mehr von diesem Geheimnis, sie musste Rosarius zuhören, als erzeuge seine Sprache, dieses Geflecht aus Erinnerungen, so etwas wie eine schöne Melodie.

 

Kathy war meine Mutter, ja, ich glaube, sie war wirklich meine Mutter. Kathy erzählte mir so viel. Sie dachte, ich verstehe nichts, sie wollte einfach nur mit jemandem reden, erzählen, was sie bewegte. Wenn sie es erzählt hatte, ging es ihr gleich viel besser. Vielleicht hat das Leben nur den Sinn, dass man am Ende jemandem eine Geschichte erzählt. Peeh, weil die Sprache ein großer Überfluß ist, das Beste bleibt doch immer für sich und ruht in seiner Tiefe. Ich war nie sicher, ob das, was Kathy sagte, der Wirklichkeit oder nur ihrer Fantasie entsprang, ich weiß nicht einmal, ob ich ihr leiblicher Sohn bin, obwohl sie mich liebevoll ihren Jungen und ihr einziges Glück nannte. Ich muss wohl Kathys Sohn gewesen sein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich jemanden wie mich freiwillig aussucht, es sei denn, man ist verrückt. Einmal, als sie sehr traurig war, erzählte sie, wie man sie abgeholt und in eine Klinik eingesperrt hatte, wo man ihr alles herausoperiert hatte, womit sie Kinder hätte bekommen können. Kathy war manchmal schon verrückt, traurig und übergeschnappt. Einmal meinte sie, sie habe mich gefunden wie die vielen Dinge, die sie einfach aufsammelte und mit nach Hause brachte. Vielleicht stimmt das ja, oder aber es stimmt nicht, und sie hat mich wirklich geboren. Ich stelle mir vor, wie ich aus Kathy gepresst worden bin und geschrien habe, laut und gellend geschrien und dann mein Leben gehabt habe, aber ich weiß jetzt nicht mehr, wie ich alt geworden bin, was alles passiert ist. Ich weiß nur, es müssen unendlich viele Dinge geschehen sein, und es muss Millionen über Millionen Dinge gegeben haben, Gerüche, Farben, Gefühle und Töne, Worte und Gedanken, bis ich hierherkam, wo ich nur noch herumliege und warte, bis ich sterben werde, zu Staub zerfalle, der schweben wird, winzige, im Sonnenlicht glimmende Staubpartikel, die irgendwann irgendwo auf Wegen, Straßen, auf Autos, in Wimpern, Grashalmen, in Nasen schnüffelnder Hunde hängen, Partikel, die Liebende auf ihren Lippen beim Küssen schmecken, die dann wieder im leisen Hauch aufwirbeln werden, über die ganze Erde hinweg, eine weite Reise, bis irgendwer mich einatmen wird, ohne dass er es merkt, und nichts mehr von dem da ist, was vorher war.

Annie wusch die alten Menschen, zog die Betten ab, achtete darauf, dass sie ihre Tabletten nahmen, wechselte Windeln oder Betteinlagen, holte frische Handtücher. Zuerst hatte sie sich vor den Gerüchen geekelt, den Exkrementen, vor welker Haut, aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, nahe am Verfall und Tod zu arbeiten. Es schien sie verändert zu haben. Annie machte meist Spät- oder Nachtdienst, ihre Kolleginnen waren verheiratet, hatten kleine Kinder und zogen daher Tagesschichten vor. Sonst hatte sie nicht viel mit ihnen zu tun, redete nur das Nötigste, sie galt als etwas sonderbar. Vielleicht lag es an Rosarius, dass sie noch im Altenheim arbeitete, vielleicht wollte sie wissen, was seine Geschichte gewesen war, oder vielleicht auch wegen Bellarmin, mit dem sie ab und zu sprach, zu dem sie sich hingezogen fühlte, obwohl er zehn Jahre jünger war als sie. Bellarmin hatte sein Studium unterbrochen und arbeitete seither als Hausmeister auf der Risahöhe, mehr wusste sie nicht von ihm.

Annie verstaute mit Bellarmin den Nachlass einer vor Kurzem verstorbenen Bewohnerin. Sie trugen die Habseligkeiten aus dem Zimmer der Frau durch den Park in die Remise, ein altes Gemäuer, in dem dicht gedrängt ausgemusterte Schränke standen. Schränke mit Kleidern sowie Kisten, Koffer, Bücher Verstorbener, die in aufeinandergestapelten Kartons an der Ziegelsteinwand verrotteten. Annie holte Kleidungsstücke aus einem Karton, probierte manches an, betrachtete sich im langen Lodenmantel in einem fleckigen Kleiderschrankspiegel, drehte sich wie im Tanz, hängte dann den Mantel in einen Schrank und steckte Mottenkugeln in die Manteltaschen. Vielleicht könnte sie den Mantel im Winter brauchen. Annie versorgte sich gelegentlich mit Kleidung aus dem Nachlass der Verstorbenen. Bellarmin gab ihr ein Heft, das er in einem Karton gefunden hatte, es enthielt die akribischen Reisenotizen und Tagebucheintragungen eines Archäologen, der im Orient eine Römerstraße gesucht hatte. Bellarmin sagte, er wolle den ganzen Nachlass der alten Leute in der Remise sichten und ordnen, Regale für die Bücher bauen, da sie sonst in der Feuchtigkeit bald nass und dann zerfallen würden. Er hatte Annie versprochen, alles, was Rosarius gehörte, für sie beiseite zu legen. Annie wusste noch nicht, was sie damit anfangen sollte, wollte die Sachen aber dennoch haben, wollte nicht, dass sie in die Hände von Lambertz gerieten. Vielleicht bargen sie ja ein Geheimnis, dem sie auf die Spur kommen konnte.