Stefan Breuer

Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

Einleitung

ERSTES KAPITEL

Boden

Reiner Chthonismus und Fundamentalismus

(Lagarde, George-Kreis, Hofmannsthal, Borchardt, Klages, Niekisch)

Entzauberter Chthonismus und Nationalismus im Kaiserreich

(Fechner, Ratzel, Moeller van den Bruck, Langbehn)

Entzauberter Chthonismus und Nationalismus in der Weimarer Republik

(Baeumler, Freyer, Boehm, Winnig, Jünger)

Depotenzierung des Bodens I: Nationalismus, Neoaristokratismus und planetarischer Imperialismus

(Treitschke, Riehl, Zehrer, Otto Straßer, Nietzsche, Hielscher, Spengler, Jünger)

Depotenzierung des Bodens II: Nationalsozialismus

(Feder, Rosenberg, Hitler, Darré)

ZWEITES KAPITEL

Blut

Ein ganz besonderer Saft

Anthropologie und Entropologie: Der gobinistische Rassenbegriff

(Gobineau, Vacher de Lapouge)

Rezeption in Deutschland I: Wagner, Nietzsche

Rezeption in Deutschland II: Ammon, Woltmann

Dynamisierung des Rassenbegriffs

Rassenhygieniker

(Ploetz, Fischer, Lenz)

Völkische

(Langbehn, Lange, Bartels, Hentschel)

Nordische

(Günther)

Nationalisierung des Gentilcharismas

(Chamberlain, Alldeutsche, Moeller van den Bruck)

Eine deutsche Rasse?

(Merkenschlager, Saller)

DRITTES KAPITEL

Volk, Nation

Typologie der Nationsbegriffe

Denker der Staatsnation

(Sybel, Treitschke)

Denker der Volksnation

(Lagarde, Riehl, Langbehn)

Nationalismus und Nation I: Alter Nationalismus

(Hasse)

Nationalismus und Nation II: Neuer Nationalismus

(Stapel, Boehm, Freyer, Jünger)

Nationalismus und Nation III: Völkischer Nationalismus

(Lange, Chamberlain, Fritsch)

Nationalsozialismus und Nation

(Gregor Straßer, Rosenberg, Himmler, Darré, Hitler)

VIERTES KAPITEL

Politische Herrschaft I: Der innere Staat

Typen der Legitimität und der Führerauslese

Die Bismarckverfassung und die verfassungspolitischen Positionen der Rechten

Exklusion im Nationalstaat: Treitschke

Varianten der Exklusion

Fundamentalpolitisierung und Cäsarismus im Kaiserreich

(Wagner, Langbehn, Nationalsoziale)

Die erblegitimistische Reaktion in Weimar

(Deutschnationale Volkspartei)

Nationalisierung des Nationalismus

Verfassungsnahe Rechte und Präsidialsystem

(Carl Schmitt, Ring, Deutsches Volkstum)

Strategien der Legitimierung

(Schotte, Jung, Papen/Gayl, Tat, Schleicher)

Die revolutionäre Rechte I: Führerauslese

(Moeller van den Bruck, Jünger, sozialrevolutionärer Nationalismus, Hitler)

Die revolutionäre Rechte II: Veralltäglichung des Charismas

(Hitler, Gregor Straßer, Moeller van den Bruck, Jünger)

FÜNFTES KAPITEL

Politische Herrschaft II: Der äußere Staat (Imperialismus)

Typologie

Nationalimperialismus im Kaiserreich I: Alter und neuer Nationalismus

(Treitschke, Moeller van den Bruck)

Nationalimperialismus im Kaiserreich II: Fundamentalistischer und völkischer Nationalismus

(Lagarde, Bartels, Chamberlain, Langbehn)

Gescheiterte Synthese: Der Alldeutsche Verband

Nationalimperialismus in der Weimarer Republik

(Moeller van den Bruck, Boehm, Stapel, Jünger, Hielscher, Tat, Niekisch)

Neoaristokratischer Imperialismus

(Woltmann, Reimer, Günther, Nietzsche, Breysig, Jung)

Imperialismus in der NSDAP

Exkurs: Imperialismus und Reichsideologie

SECHSTES KAPITEL

Wirtschaft und Soziales

Das ewig protestierende Deutschland und die Wirtschaft

Nationalismus in der Nationalökonomie

Varianten des ökonomischen Nationalismus: Treitschke, Wagner

Grenzgänger und Hybride: Nationalsoziale und Völkische

Ambivalenz des Kriegssozialismus: Plenge und Moellendorff

Pseudoholismus in der Weimarer Republik

(Spengler, Moeller van den Bruck, Othmar Spann, Deutsches Volkstum, Ring, Deutsche Rundschau)

Renaissance des Staatssozialismus

(Tat, Schleicher, Otto Straßer, Sozialrevolutionäre Nationalisten)

Positionen der NSDAP

(Feder, Gregor Straßer, Reupke, Funk, Hitler)

SIEBTES KAPITEL

Bevölkerung und Familie

Formen der Bio-Macht

Pro- und Antinatalismus

Bedingter Antinatalismus

(Nietzsche, Günther, Tille, Schallmayer, Lenz)

Bedingter Pronatalismus

(Burgdörfer, Harmsen)

Pro- und Afamilialismus

Profamiliale Konzepte

(Riehl, Ipsen, Stapel)

Afamiliale Konzepte

(Wagner; Klages, Ehrenfels, Jünger)

Afamilialismus und Männerbund

(Blüher; George-Kreis, Hentschel)

Kontinuitäten

ACHTES KAPITEL

Kultur und Zivilisation

Hauptdeutungsmuster

Von der Antithese zur Gleichrangigkeit

(Chamberlain, Lange, Bartels)

„Bruch mit der Civilisation“

(Leopold Ziegler; George-Kreis)

Die Kultur der Zivilisation

(Moeller van den Bruck)

Die Kultur der NSDAP

(Goebbels, Rosenberg, Hitler)

NEUNTES KAPITEL

Religion

Typologie

Neutralisierung und Funktionalisierung der Religion im alten Nationalismus

(Treitschke)

Nichtchristliche Erlösungsreligiosität I: Varianten der Selbsterlösung

(Hartmann, Drews, Mathilde Ludendorff, Bergmann)

Nichtchristliche Erlösungsreligiosität II: Varianten der Fremderlösung

(George-Kreis, Hielscher)

Erlösungsfreie Religiosität: Nietzsche

Nietzsche-Nachfolge

(Plenge, Spengler; Jünger; Niekisch, Moeller van den Bruck)

Schwundstufen christlicher Erlösungsreligiosität I: Lagardes Nationalmystik

Schwundstufen christlicher Erlösungsreligiosität II: Chamberlains Warenhaus der Weltanschauungen

Im Schatten Chamberlains: Völkische, neoaristokratische und neonationalistische Auslegungen

Religion in der NSDAP

(Eckart, Rosenberg, Goebbels, Hitler)

ZEHNTES KAPITEL

Antisemitismus

Typologie

Gemäßigter Antisemitismus

(Treitschke, Stoecker, Hasse, Rassenhygieniker)

Radikaler Antisemitismus

(Antisemitenparteien, Fritsch, Bartels, Blüher, Lagarde)

Paranoider Antisemitismus

(Ahlwardt, Böckel, Marr, Chamberlain, Dinter)

Exkurs: Vernichtungsantisemitismus im 19. Jahrhundert?

(Schopenhauer, Wagner, Nietzsche)

Der doppelte Antisemitismus der NSDAP

(Das Programm von 1920, Feder, Darré, Gregor Straßer, Eckart, Rosenberg, Hitler)

 

Die zweite Rechte. Ein Aufriß

Literaturverzeichnis

Abkürzungen

Literatur

 

Personenverzeichnis

Einleitung

Ordnung ist ein Lieblingswort der politischen Rechten. Als sich im März 1848 in Paris die Gegenrevolution formierte, nannte sie sich Partei der Ordnung; und auch in den beiden deutschen Revolutionen von 1848 und 1918 dauerte es nicht lange, bis man nach der Wiederherstellung von Recht und Ordnung rief.1 Heinrich von Treitschke verteidigte 1874 die „aristokratische Gliederung der Gesellschaft“ als eine ebenso gerechte wie notwendige Ordnung (ARB IV, 152); Friedrich Nietzsche, der vorerst nichts mehr zu verteidigen sah, forderte dazu auf, „über die Notwendigkeit neuer Ordnungen nach(zudenken), auch einer neuen Sklaverei“ (NW II, 252). Im Ersten Weltkrieg zählte Johann Plenge die „Freiheit der Ordnung“ zu den Ideen von 1914, die diejenigen von 1789 ablösen sollten (Plenge 1915a, 206). Einige Jahre später wies Edgar Julius Jung der ‘großen konservativen Gegenrevolution’ die Aufgabe zu, „eine neue Ordnung, ein neues Ethos und eine neue abendländische Einheit unter deutscher Führung“ zu begründen, um die „Auflösung der abendländischen Menschheit“ in letzter Stunde zu verhindern (Jung 1932a, 380). „Die große Aufgabe der Politik“, hieß es, „ist die Ordnung unter Ungleichen, sei es unter Menschen oder unter Völkern“ (Jung 1933, 103). Carl Schmitt schloß 1929 seinen Vortrag über Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen mit der Vergilschen Formel: „Ab integro nascitur ordo“, um zehn Jahre später diese Aufgabe durch die „Tat des Führers“ für erledigt zu erklären (Schmitt 1988, 132, 312).

Die Ordnung, die von der Rechten erstrebt wurde, war nicht irgendeine. Sie war gedacht als natürliche Ordnung, als Ordnung, die dem Grundprinzip der menschlichen Natur entsprach, ja der Natur schlechthin: der Ungleichheit. Schon als die erste französische Revolution das europäische Ancien Régime erschütterte, waren dessen Verteidiger wie Edmund Burke oder Friedrich Gentz dem Verlangen nach rechtlicher und politischer Gleichheit im Namen der ‘wahrhaften Ungleichheit der Menschen’ entgegengetreten, die die einen zur Niedrigkeit, die anderen zu Höherem bestimme (GG II, 1027). Später legitimierten die Konservativen in Preußen ihre politischen Privilegien mit der Ungleichheit der „natürlichen Gruppen und organischen Gliederungen des Volkes“; und auch der rechte Liberalismus stand nicht an, angesichts des wachsenden politischen Gewichts der Massen der Ungleichheit vor der Freiheit den Vorzug zu geben.2 Mit dem Satz von der ursprünglichen Ungleichheit der Menschen, so Treitschke, habe alles politische Denken zu beginnen (Treitschke 1918, I, 19).

Die Reihe läßt sich mühelos fortsetzen. Daß die neue Ordnung eine Ordnung der Ungleichheit sein müsse, stand für Nietzsche ebenso fest wie für Otto Ammon, der die Ungleichheit für so „unabänderlich wie die mathematischen Wahrheiten und ewig wie die Gesetze, die den Gang unseres Planetensystems regeln“, hielt (Ammon 1900, 297). Ein Paul de Lagarde wollte die Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit durch drei andere Prinzipien ersetzen: „Das Recht zu werden, was zu werden Gott uns aufgab, Ungleichheit, welche allein einen polyphonen Satz ermöglicht, Gotteskindschaft“ (SDV I, 425); ein Julius Langbehn statuierte: „Gleichheit ist Tod, Gliederung ist Leben“ (Langbehn 1943, 141). Mochte es 1919 noch die Ansicht einer Minderheit sein, „daß wir den Satz von der Gleichberechtigung alles dessen, was Menschenantlitz trägt, für eine durch die Wirklichkeit täglich widerlegte Lehr-Meinung halten, deren tatsächliche Ausführung ein Verbrechen gegen unser Volk bedeuten würde“, so war es ein knappes Jahrzehnt später der Führer der kommenden Mehrheitspartei, der sich zum „Gedanken der Wertunterschiede der Völker“ und zur „Überzeugung von der Ungleichheit des spezifischen Wertes der einzelnen Rassen“ bekannte.3 Norberto Bobbio hat deshalb vollkommen recht, wenn er in der Präferenz für das, was die Menschen ungleich macht, das Wesensmerkmal der rechten Ideologie und der ihr entsprechenden Politik sieht (Bobbio 1994, 76ff.).

Die Frage ist allerdings, ob Ungleichheit so ohne weiteres mit Ordnung zusammengeht, wie dies die Rechte verspricht. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Geschichte der modernen Rechten zeigt, daß es hier allen Grund zur Skepsis gibt. Die französische Forschung unterscheidet seit langem zwischen mehreren rechten ‘Familien’, die keineswegs in Eintracht und Harmonie leben (Rémond 1985); ähnliches gilt für die italienische Rechte (Chiarini 1995), und auch für Deutschland mehren sich die Untersuchungen, die sich nicht länger von der Fiktion einer einheitlichen, ultrastabilen Rechten leiten lassen. In den Arbeiten von Geoff Eley und David Blackbourn stellt sich die Rechte des Kaiserreichs als ein eher chaotisches Ensemble von heterogenen und widersprüchlichen Richtungen dar (Eley 1980; 1991; Blackbourn und Eley 1984). Woodruff D. Smith machte im deutschen Imperialismus das Gegeneinander von ‘Weltpolitik’ und ‘Lebensraum’ sichtbar (Smith 1986). Die sogenannte Konservative Revolution erwies sich bei näherer Betrachtung als eine Konstruktion ex post (Breuer 1993), und auch der Nationalsozialismus stellt sich mehr und mehr als ein dilatorischer (Leer-)Formelkompromiß heraus, der in seinem ideologischen Polyzentrismus genau der polykratischen Praxis entsprach, die nach 1933 zur Regel wurde (Lepsius 1994, 119ff.; Kroll 1998, 309). Ungleichheit mag der gemeinsame Nenner aller rechten Bewegungen und Bestrebungen sein. Aber offenbar lassen sich von diesem Ausgangspunkt aus höchst unterschiedliche Ordnungen generieren, so daß die Intention, Ordnung durch Ungleichheit zu stiften, durch den Pluralismus der Ordnungsvorstellungen konterkariert wird.

Wie hätte es auch anders sein sollen? In den Jahrzehnten, die auf die Revolution von 1848/49 folgten, verwandelte sich Deutschland in eine moderne Industrienation, in der die Politik einer fortschreitenden Fundamentaldemokratisierung unterlag. Damit entfielen die strukturellen Voraussetzungen für die vormoderne Rechte, den historischen Konservatismus, der sich der neuzeitlichen Staatsbildung ebenso widersetzt hatte wie der Herauslösung des Marktes aus dem Oikos. Die sich neu bildende Rechte nahm zwar manches von ihrem Vorläufer auf, jedoch nicht ohne es mit modernen Elementen zu legieren. Von daher die Erscheinungen eines Nationalkonservatismus, der die Stabilität und die Expansion des von Bismarck geschaffenen Nationalstaates zu seiner Sache machte; eines Sozialkonservatismus, der die Sozialreform gegen die Demokratie auszuspielen suchte; und eines Liberalkonservatismus, wie er namentlich in der Reichs- und Freikonservativen Partei seinen Ausdruck fand (Kondylis 1986, 296ff., 415; Müller 1984; Schildt 1998, 105f.). Keine dieser Richtungen vermochte indes den Konservatismus vor der inneren Auszehrung zu bewahren. Als 1918 die Gründung einer neuen Rechtspartei anstand, wollte niemand mehr sie konservativ nennen.

Heterogenität und Unübersichtlichkeit wurden noch dadurch gesteigert, daß die neue Rechte von Anfang an auch Zustrom vom ehemaligen Antagonisten der alten Rechten erhielt, dem Liberalismus. Dieser entschied sich in seiner Mehrheit 1867 dafür, die Einheit der Freiheit voranzustellen und wurde zum Nationalliberalismus, der sich in der Folgezeit nur allzu oft als ‘Liberalnationalismus’ entpuppte (Wehler 1995, 228ff., 946ff.). Im Kaiserreich ordneten sich starke Kräfte dieses Nationalliberalismus selbst der Rechten zu und stellten einen Großteil der Mitglieder des nationalistischen Alldeutschen Verbandes.4 Die neue Rechte speiste sich damit ebensosehr aus einem nach links gerückten, liberal gewordenen Konservatismus, wie aus einem nach rechts gerückten Liberalismus. Und sie erhielt darüber hinaus wichtige Impulse von einer überwiegend von Intellektuellen getragenen, politisch nicht eindeutig zu lokalisierenden, radikalen Modernitätskritik, die je nach Standpunkt als ‘Kulturpessimismus’ oder als ‘ästhetische Opposition’ erscheint.

In den Grundpositionen der deutschen Rechten habe ich versucht, die Ordnungsvorstellungen dieser neuen, fluktuierenden und oszillierenden Rechten zu systematisieren. Dazu habe ich einen intellektuellen Raum konstruiert, der durch Grenzbegriffe, Idealtypen markiert ist und zugleich durch die Anordnung dieser Grenzbegriffe auf gedanklichen Achsen eine innere Struktur erhält. Die erste Achse drückt die unterschiedliche Haltung gegenüber dem aus, was die Soziologie, wie immer auch vage, als Modernisierung bezeichnet. Am einen Pol, der Kürze halber mit ‘Progression’ bezeichnet, stehen alle diejenigen, die die funktionale Differenzierung sowie die Durchsetzung formal-operativer, berechenbarer Strukturen in den zentralen Lebensordnungen bejahen, mithin für die „Steigerung der subjektiven Rationalität und objektiv-technischen ‘Richtigkeit’ des Handelns als solche“ eintreten (Weber 1973, 530). Am anderen Pol finden wir diejenigen, die zwar die funktionale Differenzierung z.T. hinnehmen, nicht aber die formale Rationalisierung: die Vertreter des Fundamentalismus, die sich zunächst um eine religiös begründete Weltablehnung kristallisieren, mit fortschreitender Rationalisierung aber sich von religiösen Traditionen abkoppeln, die Weltablehnung zur Zeitablehnung abmildern und Erlösung von innerweltlichen Instanzen wie der Kunst oder der Nation erwarten. Zwischen diesen beiden Extrempositionen findet sich ein Mittelfeld, eine Interferenzzone, die durch vielfältige Kompromisse gekennzeichnet ist, etwa derart, daß man die ‘einfache Modernisierung’ im Sinne Ulrich Becks akzeptiert, der ‘reflexiven Modernisierung’ hingegen Widerstand entgegensetzt (zu diesen Konzepten: Beck 1986).

Die zweite Achse drückt die Stellung der Rechten zu jener Dimension der Modernisierung aus, für die sich der Begriff der Inklusion eingebürgert hat.5 Während die vormodernen Gesellschaften stratifizierten Typs überwiegend „Exklusionsgesellschaften“ waren (Castel 2000, 20), beruhen moderne, funktional differenzierte Gesellschaften darauf, daß im Prinzip jeder gleichen Zugang zu allen Funktionssystemen hat. Korrelativ zur Ausdifferenzierung der Funktionssysteme mit ihren je spezifischen Leistungsrollen vollzieht sich eine Herausbildung von Publikumsrollen, „die die Inklusion der Gesamtbevölkerung in das jeweilige Sozialsystem über komplementär zu den Leistungsrollen definierte Formen der Partizipation sichern“ (Stichweh 1988, 261). Dies geschieht vorerst im Rahmen des Nationalstaates bzw. der Nation, die entsprechend als „der vielleicht erfolgreichste Inklusionsbegriff der Moderne“ angesehen werden kann (287).

Natürlich ist dieser Begriff als solcher weder rechts noch links. Aber er bot der Rechten die Chance, sich von Exklusion auf Inklusion umzustellen und zugleich die Präferenz für Ungleichheit weiterzuverfolgen: via Externalisierung der Ungleichheit in die Weltgesellschaft. Diese Chance wurde auf unterschiedliche Weise wahrgenommen. Im fundamentalistischen Lager bildete sich ein nationalreligiöser Fundamentalismus, der in der Nation das geeignete Mittel sah, um die Welt von der Moderne zu erlösen. Am Gegenpol entstand ein progressiver Nationalismus, der sich in zwei Strömungen differenzierte: den alten Nationalismus, der zwar die generelle Inklusion bejahte, gleichwohl bei der Inklusion ins politische System für eine restriktive Lösung optierte, und den neuen Nationalismus, der in bezug auf die politische Inklusion offener war, auch wenn er sich von bestimmten Formen der internen Exklusion ebenfalls nicht gänzlich verabschieden mochte. In der Interferenzzone zwischen Progression und Regression plazierte sich ein völkischer Nationalismus, der hinsichtlich der politischen Inklusion in ähnlicher Weise changierte wie der progressive Nationalismus.

Mit diesen vier Typen des Nationalismus ist freilich das Spektrum rechter Orientierungen noch nicht erschöpft. Denkbar war einmal eine weitere Steigerung der Inklusion über den organisatorischen Rahmen des Nationalstaates hinaus, wie sie vom planetarischen Imperialismus angestrebt wurde. Denkbar war aber auch eine Abkehr vom Prinzip der Inklusion, die sowohl unter progressivem als auch unter regressivem Vorzeichen realisiert werden konnte. Im ersten Fall ergab sich ein Neoaristokratismus, der, wenn schon nicht hinsichtlich des Erwerbs von Statuspositionen, so doch hinsichtlich der sozialen Schließung auf naturalistische Argumente zurückzugreifen pflegte; im zweiten Fall ein ästhetischer Fundamentalismus, der eine Kumulierung von Statuspositionen für das Genie vorsah. In einer Epoche, die so sehr auf Inklusion setzte, waren diese Positionen eigentlich zur Marginalität verurteilt. Doch konnten sie unter Umständen, im Bündnis mit einer nationalistischen Bewegung, zu erheblicher Wirksamkeit gelangen, wie etwa die Rolle des Neoaristokratismus in der NSDAP belegt. Im oben gezeigten Schema sind die verschiedenen Positionen zusammengefaßt.

Bei der Arbeit mit diesen Typen muß man sich stets bewußt halten, daß es sich um Analyseinstrumente handelt, um gedankliche Konstrukte, nicht um die Wirklichkeit selbst. Diese ist vielgestaltig, mehrdeutig. Ein Richard Wagner ist zu ein und derselben Zeit nicht nur ein ästhetischer Fundamentalist, sondern auch ein nationalreligiöser Fundamentalist, ja manchmal sogar der Verfechter eines nicht der politischen Rechten zuzuordnenden ‘moralischen’ Fundamentalismus. Der Nietzsche der Geburt der Tragödie ist noch ein ästhetischer Fundamentalist, aber auch schon ein Neoaristokrat. Hitler ist zur gleichen Zeit Neoaristokrat, völkischer Nationalist und Neonationalist. Diese Vieldeutigkeit schließt aber nicht aus, daß es Prioritäten, Präferenzen, Schwerpunkte gibt, und wenn auch nur auf Zeit. Heinrich von Treitschke hat sich eindeutig für den alten, nicht für den neuen Nationalismus ausgesprochen. Theodor Fritsch war weder für den einen noch für den anderen, sondern für den völkischen Nationalismus. Die Texte Ernst Jüngers aus den 20er Jahren sind durchweg dem neuen Nationalismus zuzuordnen. Der Arbeiter von 1932 dagegen vertritt den planetarischen Imperialismus. Wer solche Zuordnungen als Reifikation von Idealtypen zurückweist, sollte sich darüber klar sein, daß er damit die idealtypische Methode überhaupt verwirft. Idealtypen stehen nicht nur unter dem Gebot der Sinnadäquanz, sondern auch unter demjenigen der Kausaladäquanz. Wenn sie nicht dazu dienen, Erscheinungen zu identifizieren, die ihnen näher oder ferner stehen, sind sie nutzlos.

Das Typentableau markiert Grundpositionen. Aber auch nicht mehr. Weder handelt es sich um Abbilder der Realität noch um Totalsichten der Welt oder wenigstens der Gesellschaft. Aus der Stellung zur formalen Rationalisierung und zu Exklusion/Inklusion ergeben sich gewiß mancherlei Konsequenzen für die Gestaltung der politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Ordnungen, doch keine zwingenden Vorgaben darüber, wie etwa das Verhältnis von Exekutive und Legislative oder die Distribution der Revenuen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen zu gestalten sei, ob in der Bevölkerungspolitik ein eher pro- oder antinatalistischer Kurs angebracht und welcher Kunststil den modernen Lebensbedingungen am angemessensten ist. Gerade im Fall der rechten Ideologien ist nicht anzunehmen, daß den Grundpositionen jeweils eindeutige Positionen in den verschiedenen Lebensordnungen und Handlungsfeldern entsprechen, gehören sie doch zur Gruppe der aggregate ideologies im Sinne von Woodruff D. Smith (1986, 14f.). Sie sind nicht, wie etwa das Totalitätsdenken der idealistischen Philosophie oder der materialistischen Dialektik, aus einem Grundprinzip entwickelt, sind keine Systeme im Sinne Kants, sondern lose Verbindungen heterogener Elemente, die nicht im emanatistischen Sinne zu deduzieren, vielmehr zunächst erfahrungswissenschaftlich zu registrieren und sodann kulturwissenschaftlich zu verknüpfen sind.

Deshalb dieses, sachlich und methodisch an die Grundpositionen anschließende Buch. Um die für die Rechte charakteristischen ideologischen Aggregate zu erfassen, habe ich – nach einigen Vorklärungen über die Leitbegründungen für Ungleichheit – für die verschiedenen Lebensordnungen und Handlungsbereiche jeweils feldspezifische Idealtypen konstruiert, die sich auf ideale Ordnungen der politischen Herrschaft, der Wirtschaft, der Religion etc. beziehen, wobei ich mich möglichst eng an die konzeptionellen Vorgaben in den untersuchten Texten selbst gehalten habe. In einem zweiten Schritt werden diese Typen dann mit den Grundpositionen abgeglichen, um Wahlverwandtschaften und Inkompatibilitäten deutlich zu machen. Am Ende ergibt sich auf diese Weise für jede Grundposition ein Set von Optionen und Präferenzen, die zwar nicht zwingend sind, aber immerhin bestimmte Wahrscheinlichkeitsannahmen erlauben.

Bei der Auswahl der Texte habe ich mich nicht auf die organisierte Rechte beschränkt. Gewiß kommt der Publizistik der großen rechten Parteien und Verbände eine zentrale Rolle für jede Arbeit zu, die sich mit dem Selbstverständnis der Rechten befaßt. Aber es wäre eine unangemessene Verengung des Spektrums, wenn man sich nur darauf konzentrieren würde. Wesentliche Konzepte wurden von Autoren formuliert, die sich von den Organisationen fernhielten und sie nicht selten mit Skepsis oder Sarkasmus beurteilten – Paul de Lagarde, Oswald Spengler, Ernst Jünger sind nur einige besonders herausragende Beispiele. Außerdem bliebe die Dynamik unberücksichtigt, die namentlich gegen Ende der Weimarer Republik eine starke Oszillation nach rechts auslöste, auch bei Gruppen, die nur in bestimmten Politikfeldern Affinitäten in dieser Richtung aufwiesen, sich ansonsten aber darum bemühten, sie durch andere, sei es christliche, sei es liberale oder soziale Präferenzen zu balancieren – man denke etwa an die Deutsche Demokratische Partei, die sich mit dem rechten Jungdeutschen Orden zur Deutschen Staatspartei verband, oder an die Bewegung der Deutschen Christen innerhalb des Protestantismus. Das Einzugsgebiet der Rechten war stets größer, als es der aktuelle Pegelstand der Parteien und Verbände vermuten ließ, weshalb auch eine Untersuchung über den ‘Geist’ der Rechten gut daran tut, den Horizont nicht zu eng abzustecken.

Mit diesem Buch liegt nun das Mittelstück des Triptychons vor, an dem ich seit gut zehn Jahren arbeite. Daß es diese Form annehmen würde, hat sich erst im Laufe der Zeit ergeben, nicht zuletzt aufgrund der vielen Anstöße und Anregungen, die ich von anderen erfahren habe. Rainer Kühn, seinerzeit Lektor bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, hat dafür gesorgt, daß aus einer Gelegenheitsarbeit die Anatomie der Konservativen Revolution wurde. Ernst Osterkamp hat meinen Blick auf die literarischen Repräsentanten der Rechten gelenkt und damit den Ästhetischen Fundamentalismus initiiert. In der Folgezeit haben vor allem die Einladungen literarischer und philosophischer Gesellschaften zu Vorträgen und Diskussionen dazu beigetragen, meine Positionen schärfer zu profilieren. Genannt seien die Stefan-George-, die Rudolf-Borchardt-, die Ludwig-Klages- und die Thomas-Mann-Gesellschaft, ferner das Nietzsche-Forum Weimar, die Theodor-Heuss-Stiftung, der Oldenburger Kunstverein und die Straßburger Forschungsgruppe um Louis Dupeux. Viel profitiert habe ich von einem dreisemestrigen Projekt über ‘Herrschaftssystem und Familienpolitik im Nationalsozialismus’, das ich gemeinsam mit Wolfgang Voegeli an der Hochschule für Wirtschaft und Politik durchgeführt habe. Meiner Hochschule habe ich für die Gewährung zusätzlicher Hilfskraftstunden zu danken, Matthias Brosch für die Überlassung zahlreicher Kopien aus der völkischen Publizistik, Ina Schmidt für ihre unermüdliche und findige Unterstützung bei der Erschließung des Quellenmaterials. Die Verantwortung für die Fehler in diesem Buch würde ich gerne abschieben, aber leider hat sich dafür niemand gefunden.

Zur Vermeidung eines unruhigen Schriftbildes wurde darauf verzichtet, pseudowissenschaftliche Termini wie ‘Rasse’, ‘nordisch’, ‘semitisch’, ‘arisch’ etc. durchgängig in Anführungszeichen zu setzen. Auch wurden sämtliche Hervorhebungen in den Zitaten gelöscht. Die Quellenangabe erfolgt im Text mit Nachname und Erscheinungsjahr. Wird der Verfasser im Text genannt, nur mit Erscheinungsjahr. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Zitaten aus dem gleichen Werk wird nur die Seitenzahl angeführt. Häufig benutzte Werke werden unter Sigel zitiert.

 

 

 

     1 Vgl. Marx 1969, 58; Siemann 1985, 77; Liebe 1956, 107.

     2 Vgl. den Gründungsaufruf der Deutsch-Konservativen Partei von 1876 sowie das Revidierte Programm von 1892: Treue 1961, 65, 78; Schildt 1998, 97. Zu den Liberalen siehe Sheehan 1983, 184ff., 224ff.

     3 Bamberger Erklärung des Alldeutschen Verbands, zit. n. Lohalm 1970, 18; Hitler, R III.1, 85. Ähnlich sahen es Neoaristokraten wie Edgar Julius Jung (1930, 101), neue Nationalisten wie Moeller van den Bruck (1931, 217), planetarische Imperialisten wie Oswald Spengler (1973, 1121f.), ästhetische Fundamentalisten wie Friedrich Wolters (1923, 54) oder nationalreligiöse Fundamentalisten wie Ernst Niekisch (1930a, 183).

     4 Vgl. Stegmann 1970, 53, 225, 227, 230, 246, 321, 400ff.

     5 Ich verwende den Begriff in der engen Fassung, die Luhmann ihm durch die Bindung an unterschiedliche Formen der primären Differenzierung verliehen hat (Luhmann 1995a, 142f.). Die noch von Luhmann selbst vorgenommene Erweiterung, die die gegenwärtige Diskusssion in der Soziologie bestimmt, muß hier unberücksichtigt bleiben: vgl. Luhmann 1995b, 237ff.; Nassehi 1997; Göbel und Schmidt 1998.

ERSTES KAPITEL

Boden

Einem Ordnungsdenken, das in der Natur selbst die letzte Wurzel aller Ungleichheit verankert wissen möchte, bietet sich der Boden, die Erde in ihrer vielfältigen Gestalt, als Ausgangspunkt an. So sah es bereits die Romantik, die aus dem „festen Boden alles Himmlische, Göttliche“ hervorgehen sah. So sah es auch die völkisch-antisemitische Bewegung der Jahrhundertwende, die die „Eigenart des Bodens“ als eines „göttlichen, unantastbaren und unvermehrbaren, aber grundlegenden Heiligtums“ beschwor, „das ungeschmälert, also auch unbelastet, auf Kinder und Enkel übergehen müsse“; und Martin Heidegger wollte in seiner Rektoratsrede von 1933 die Universität auf die „erd- und bluthaften Kräfte“ verpflichten.1 Boden und Erde: das sollten die durch Arbeit, Kultur, Geschichte wohl modifizierbaren, im Wesen dennoch unveränderlichen Bedingungen sein, aus denen alles hervorwuchs und in die alles wieder zurückkehrte, der mütterliche Grund, der „ohne Geist und Sünde“ war (Klages 1944, 486). Es war deshalb keineswegs aus der Luft gegriffen, wenn Thomas Mann 1929 von einem um sich greifenden ‘Chthonismus’ sprach, einem Willen zum „großen Zurück ins Nächtige, Heilig-Ursprüngliche, Lebensträchtig-Vorbewußte, in den mythisch-historisch-romantischen Mutterschoß“, der schon die reaktionäre Romantik geprägt habe und zu seiner Zeit maßgeblich dafür verantwortlich sein sollte, daß der Nationalismus eine romantische,’völkische’ Einfärbung erhielt (Mann 1994, 129ff.).

Nach dem Historischen Wörterbuch der Philosophie ist unter Chthonismus eine Auffassung zu verstehen, die die als personifiziert gedachte Erde in den Mittelpunkt von Glaube und Kult stellt (HWPhil I, 1017). Im vollen Sinne dieser Definition kam Chthonismus innerhalb der Rechten jedoch eher selten vor. Weitaus charakteristischer waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Kompromißbildungen, in denen sich ein ‘entzauberter’ Chthonismus mit Arbeitsmetaphysik und Fortschrittsorientierung verband.2 Aus dieser „Konfundierung von Fortschritt, Kultur, Kunst und Religion in einem spiritualisierten Evolutionismus“ (Gebhard 1984, 406) erwuchsen die Vorstellungswelten des Panpsychismus, des psychophysischen Parallelismus, der Mikrokosmos-Makrokosmos-Spekulation, der monistischen Alleinheitslehren und der Neomystik, die auch auf die sich formierende moderne Rechte ihren Eindruck nicht verfehlten und allerlei Kombinationsversuche stimulierten. Allerdings, und auch darin irrt Thomas Mann, gab es auch dies: eine Rechte, die den Boden sowenig sakralisierte wie das Blut und in beiden nur abhängige Größen sah. Auch der Nationalsozialismus läßt sich, entgegen einer verbreiteten Annahme und entgegen seiner eigenen Parole von Blut und Boden, nicht als Chthonismus deuten.

Reiner Chthonismus und Fundamentalismus

Wie sehr die Bedeutung des Chthonismus für die deutsche Rechte überschätzt wird, zeigt sich schon bei einem Blick auf die fundamentalistischen Strömungen, die das Erbe der konservativen Fortschrittskritik angetreten hatten. Schopenhauer, der allerdings wegen seiner kantianischen Erkenntnistheorie nur mit Einschränkungen hier zugerechnet werden kann, sah in der nach Zeit und Raum gegliederten Welt die schlechteste alle möglichen und war schon deshalb jedweder Verklärung der Erde und des Bodens abhold. Richard Wagner erklärte ganz in diesem Sinne Zeit und Raum gar zu „Tyrannen, welche das Erscheinen großer Geister zu völligen Anomalien, ja Sinnwidrigkeiten machen, worüber dann die in Zeit und Raum sich ausstreckende Allgemeinheit, wie zum Vergnügen jener Tyrannen, mit einem gewissen Rechte sich lustig machen darf“3. Leopold Ziegler, von Schopenhauer und Wagner nicht weniger beeinflußt als von Eduard von Hartmann, sprach zwar hin und wieder vom „Erdgeist“, setzte diesen aber durchweg gleich mit Hartmanns Fassung des Hegelschen Weltgeistes: „Der menschliche Wille zur Erkenntnis ist jener selbe Erdgeist, der ‘als ein Maulwurf die Oberflächen dieses Planeten aufwühlte, schon lange ehe er zum menschlichen ‘Selbst’-Bewusstsein entwickelt war, er war schon vor allem Bewusstsein auf die Wege bedacht, die er einstmals zu gehen haben würde“ (Ziegler 1903, 108).

Im nationalreligiösen Fundamentalismus Paul de Lagardes fungieren Erde und Boden als bloßer Arbeitsgegenstand sowie als Objekt strategischer Erwägungen. Wert erhalten sie erst durch die in sie investierte menschliche Arbeit oder durch die Machtspiele der Großstaaten (SDV I, 34f., 42f.). Je gläubiger die Menschen sind, desto mehr werden sie zu „Fremdlingen auf der Erde“ (177), werden sie zu Mitgliedern einer Gemeinde, die göttlichen, nicht physischen Ursprungs ist. Auch die Nationsbildung ändert daran nichts, ist doch das Vaterland nur der irdische Leib der Idee (115ff.,259, 274).

Etwas mehr Eigengewicht kommt der Erde, wie der Natur überhaupt, im George-Kreis zu. Sie wird perzipiert als ein Gefüge von Urkräften, von außermenschlichen Mächten, die einer eigenen Gesetzlichkeit gehorchen und diese auch den Menschen aufnötigen, solange sie noch ‘grundnah’ leben (Thormaehlen 1962, 82). Der Mensch vermag aber in gewisser Weise die Natur zu bannen, ihr seinen Willen aufzuzwingen.4 Dies ist unproblematisch, solange es allein durch das Medium der Magie geschieht, zu der auch die Sprachmagie (und mit ihr: die Dichtung) gerechnet werden muß. Vollzieht sich die Naturbeherrschung indes über Wissenschaft, kann eine Lage eintreten, in der der Mensch wurzellos wird und ins Bodenlose stürzt – eine Gefahr, die George am eindrucksvollsten in Der Mensch und der Drud beschworen hat (GW II, 212):

„DER DRUD

Das tier kennt nicht die scham der mensch nicht dank.

Mit allen künsten lernt ihr nie was euch

Am meisten frommt.. wir aber dienen still.

So hör nur dies: uns tilgend tilgt ihr euch.

Wo unsre zotte streift nur da kommt milch

Wo unser huf nicht hintritt wächst kein halm.

Wär nur dein geist am werk gewesen: längst

wär euer schlag zerstört und all sein tun

Wär euer holz verdorrt und Saatfeld brach ..

Nur durch den zauber bleibt das leben wach.“

Das kann man als Chthonismus deuten. Aber man sollte darüber die Gegengewichte nicht vergessen, die dem bei George die Waage halten. Bei aller Vorliebe für Hirten und Bauern war er doch fest davon überzeugt, daß nur im Dichter, im Genius, der „Urgrund“ Stimme zu werden vermochte (vgl. Wolters 1996, 39). Nicht der Natur als solcher galt seine Verehrung, sondern der kulturell und geschichtlich vermittelten Natur. In den höchsten Regionen der Kunst, hieß es unmißverständlich in den Blättern für die Kunst, verschwinden alle natürlichen Bedingtheiten (Landmann 1965, 68). Und Maximin, der von George inthronisierte Gott, war ein ortloser Gott, eine creatio ex nihilo (Emrich 1979, 126). George mag hin und wieder den Grund gefeiert haben. Der eigentlich von ihm gesuchte und immer wieder bezogene Standort aber war derjenige am Rande des Abgrunds (Gruenter 1969, 151).

Auch im Kreis um Hofmannsthal galt der Vorrang der Kunst unbedingt. Wohl sah es, insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg, so aus, als sei in Hofmannsthal im Zusammenhang mit seinem neu entdeckten Patriotismus auch eine Neigung zur Verklärung des Bodens erwacht, machte er doch nun die besondere Qualität der österreichischen Dichtung im Verhältnis zur deutschen an der stärkeren landschaftlichen Bindung fest, die dem österreichischen Wesen, sogar im Geschichtlichen und im Sittlichen, einen naturhaften Zug verleihen sollte (Hofmannsthal 1979, II, 16ff., 60, 374). Entsprechend groß war die Begeisterung, als Hofmannsthal die Literaturgeschichte Josef Nadlers entdeckte, in der er genau diesen Gedanken durchgeführt sah.5 Seit 1918 trat er, im privaten Kreis wie öffentlich, für Nadler ein und steckte namentlich Borchardt mit seinem Enthusiasmus an (Volke 1974; Wyss 1997). Eine Bekehrung zu Nadlers Blut-und-Boden-Determinismus war aber damit nicht verbunden. In seinen nachgelassenen Notizen von 1924–1928 hielt er Nadler vor, festlegen zu wollen, was nicht festzulegen sei. Die Methode, alles Höhere des Menschen aus seinem Niedersten zu entwickeln, sei bedenklich, eine Art Freudianismus, der falsch und entstellend werde, sobald er sich des Individuums bemächtige: „Das höhere Recht des Individuums besteht in der Überwindung der Gebundenheiten“ (1979, III, 150, 639).

Rudolf Borchardt stellte in seiner Würdigung Nadler in eine Reihe mit Karl Otfried Müllers Werk über die Dorer (1824) – eine Schrift, der schon Baeumler die Entdeckung der Lokalmythologie und der chthonischen Religion zugeschrieben hatte (Borchardt 1973, 259ff.; Baeumler 1965, 156). Das eigentlich Chthonische wurde indes von Borchardt eher beiläufig behandelt. Als Nadlers bahnbrechende Leistungen erschienen ihm vielmehr Entdeckungen, die sich auf kulturelle Vorgänge bezogen, wie z.B. die Aufzeigung der Bildungsgeschichte des Mitteldeutschen oder die Lösung des Problems der Romantik (Borchardt 1973, 261). In einer späteren, überwiegend ablehnenden Auseinandersetzung gelangte er zu einer ähnlichen Kritik wie Hofmannsthal. An der Behandlung Goethes etwa würde sich aufzeigen lassen, „daß die Nadlerschen Darstellungsprinzipien die Grenze, die ihnen Goethes geschichtliche Erscheinung – nicht sie allein, aber sie allerdings durchaus – setzt, nur überschreiten können um an ihr zu zerfallen“. Goethe, dieser große Seher, sei eben „nicht nur Sohn seines Volkes, sondern auch Vater seines Volkes“, womit jede wie immer geartete naturhafte Determinierung ausgeschlossen sei (383, 387).

Deutlich mehr in die von Thomas Mann anvisierte Richtung geht dagegen das Denken von Ludwig Klages. In Anknüpfung an das, was er als Bachofens Herzgedanken bezeichnete, pries er „die in sich geschlossene Vollkommenheit des mütterlich umfangenden Chthonismus“, der während der gesamten Vorgeschichte und noch während eines Teils der Geschichte das Leben der Menschheit bestimmt habe, bis er durch den „Einbruch des friedenstörenden Gegenwillens“ – der außerraumzeitlichen Macht des Geistes – zerstört worden sei (Klages 1988, 227). Schon in der griechischen Antike und vollends dann im christlichen Mittelalter habe das „Scheidewasser des Geistes“ den Kontakt „zwischen dem Menschen und den chthonischen Menschen“ gelöst und die Völker „aus dem nährenden Brodem ihrer Haus-, Wald- und Fluridole“ gerissen (1944, 282). Die „chthonische Substanz“ wurde vom „saugenden Transzendentalpunkt“ des wissenschaftlichen Geistes verschlungen und durch bloße „Dinge“ und schließlich nur mehr Zahlen ersetzt, die reine Objektivationen dieses Geistes waren (291). Das aber bedeutete für Klages zugleich die Zerstörung der Welt. Da

„nur in einem eigentümlichen Mittelbereich zwischen der kosmischen und der organischen Welt, im Bereich der anorganischen Vorgänge der Erdoberfläche, die Rechnung hinreichend stimmt, um die Geistesherrschaft auch durchzuführen, während die Welt des organisch Lebendigen als ein beständiges Wunder draußen bleibt, so ist es keineswegs eine zufällige Folgeerscheinung, sondern gehört zum Prozesse selbst als die unmittelbare Bekundung seiner Herkunft aus der Wirklichkeitsfeindschaft des Willens, wenn aus der Mechanik eine Technik herauswuchs, als deren Ziel sich immer deutlicher die Vertilgung unzähliger Tiergeschlechter, ja schließlich aller Lebewesen des Erdballs herausschält“ (Klages 1981, 724).

Klages’ Haltung gegenüber diesem Zerstörungsprozeß war ambivalent. Auf der einen Seite ließ er durchblicken, daß es möglich sei, ihn aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen. Dabei attestierte er dem germanischen Wesen eine besondere Befähigung dazu, stelle es doch eine geglückte „Mischung aller Erdelemente“ dar, die bis in die „feuerflüssigen Allnebel“ hinabreiche (1944, 250). Entsprechend erschien ihm auch das Dritte Reich als eine aufhaltende Macht, weil es die „Gauverbände“ wiederbelebe, in denen Klages ein chthonisch-symbiotisches Element entdecken wollte (1936, 325). Auf der anderen Seite stand die nicht minder ausgeprägte Überzeugung, der ‘letzte Mohikaner’ zu sein (1981, 768; Schröder 1992, 952, 1105). Heute, da zum erstenmal die Lebengelöstheit und Wirklichkeitsfremdheit des Sachdenkens entlarvt werde, sei es für eine Umkehr „zu spät“ (Klages 1981, 393): „Man kann nicht durch irgendwelche Maßnahmen den Geist aus dem Leben ausschalten oder ihn unwirksam machen oder in die Botmäßigkeit des Lebens zurückzwingen, geschweige zurückkehren in irgendeine Vergangenheit“ (1423). Auch die Ablehnung allen ‘Tätertums’ und die Präferenz für Kontemplation (Schröder 1992, 1182, 1224) spricht nicht für Regression in einem politischen oder sozialen Sinne, so daß auch von hier aus Thomas Manns These mit einem Fragezeichen zu versehen ist.

Am ehesten entspricht dieser These noch das Werk eines Autors, der von Mann nicht erwähnt wird: Ernst Niekischs Entscheidung. Mit ihm vollzog der Verfasser, der einen wechselvollen Weg vom Räterevolutionär über die rechte Sozialdemokratie bis zum neuen Nationalismus à la Winnig und Jünger hinter sich hatte, einen Schwenk in das Lager der fundamentalistischen Zivilisationskritik, der mit einer Verklärung der Mächte des Bodens und des Blutes einherging. Deutschland, so behauptete Niekisch, sei seiner selbst gewiß und stabil gewesen, solange es nur von Bauern und Helden bewohnt war. Das Land, die Erde, sei ein Überpersönliches gewesen, „das unantastbar durch die Jahrhunderte die menschlichen Geschicke formte und als ein Heilig-Überliefertes ehrfürchtig von den Vätern übernommen, gebietend den Kindern hinterlassen wurde“ (Niekisch 1930a, 9). Erst durch die ständige Verstärkung des politischen Gewichts jener Landesteile des Reiches, in denen römisches Erbe überwog, sei es zu einem Substanzverlust und zu wachsender Verstädterung gekommen, in deren Gefolge das deutsche Wesen ins Individualistische und Materialistische entartet sei. Die „Flucht des deutschen Menschen aus der Lebensgesetzlichkeit seines Raumes“ habe zweimal zur Katastrophe geführt: zuerst zum Untergang des staufischen Kaisertums, dann zum Weltkrieg und zum Versailler Frieden, der den endgültigen Sieg der städtischen Lebensform und des Westens gebracht habe. Mit der vollständigen Unterwerfung unter die moderne Industrie- und Weltwirtschaft sei das Ende der deutschen Geschichte nur noch eine Frage der Zeit: „Auf dem Asphalt moderner Städte, in grauen Mietskasernen, verflüchtigt sich die geheimnisvolle Gewalt von Blut und Boden“ (53, 25, 73, 47, 18f.).

Abhilfe bot in dieser Lage allein ein rigoroser Wechsel in Zeit und Raum. Es galt seit langem abgerissene Fäden wiederaufzunehmen zu der Zeit vor Karl dem Großen und noch weiter zurück, „hinter die Zeit förmlich, in der zuerst sich eines Römers Fuß auf deutsche Erde setzte. Durch unsere Geschichte wurde unser Schicksal verdorben; wir müssen wieder alle die vielen Wege zurückwandern, die sich inzwischen als Sackgassen, als Pfade in Irrgärten und andere Verhängnisse erwiesen haben“ (166). Räumlich galt es, den Schwerpunkt Deutschlands aus den romanisierten Gebieten des Südens und Westens nach Osten zu verlagern, durch Verbindung mit slawischem Bauerntum den Weg zurück zur Scholle zu finden (117f.). Flucht aus der Stadtwelt, Flucht aus der Zivilisation, Flucht aus der Weltwirtschaft: dies war in Niekischs Augen die conditio sine qua non für die Wiedergewinnung des Heiligen und Göttlichen, das das deutsche Wesen ursprünglich ausgezeichnet hatte: „Dem deutschen Volke tut der Mut zu seinem Barbarentum not; seine Stärke ruht in Germaniens Wäldern; je tiefer es sich dorthin zurückzieht, desto mehr findet es sich selbst. Es braucht die Schluchten des Teutoburger Waldes, um den Welschen die Köpfe abschlagen zu können“ (100). Das war eine ‘Entscheidung’, die in der deutschen Rechten begreiflicherweise auf wenig Resonanz stieß. Niekisch selbst schwächte sie auch gleich wieder dahingehend ab, daß dieser Rückzug nicht den Verzicht auf Panzer und Maschinengewehre bedeutete.

Entzauberter Chthonismus und Nationalismus im Kaiserreich

Chthonismus in reiner Form, im Sinne einer Rückkehr zum Kult der personifizierten Erde unter gleichzeitiger Abkehr von funktionaler Differenzierung und Rationalisierung, ist in der deutschen Rechten nur eine Randerscheinung gewesen. Wie aber steht es mit abgeschwächten, modifizierten Formen, bei denen der Kosmos, die Erde immer noch als Subjekt mit Seele und Willen gedacht wird, zugleich aber als ein Wesen mit erkennbaren, rationalen Strukturen, die vom wissenschaftlichen Verstand aufgehellt werden können? Das 19. Jahrhundert ist schließlich nicht nur das Jahrhundert der Arndt, Arnim und Görres, es ist auch und sehr viel mehr dasjenige der Oken und Carus, Lotze und Fechner, deren Tätigkeit einseitig erfaßt wird, wenn man sie nur als Übertragung theologischer oder philosophischer Totalitätsmodelle auf das Gegenstandsfeld der Wissenschaft versteht (Gebhard 1984, XIV). Mindestens ebensosehr handelte es sich um eine Rationalisierung dieser Modelle, um einen Vermittlungs- und Versöhnungsversuch zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft, bei dem die Kategorien der ersteren ebensoviel an Zauber einbüßten, wie die der letzteren anthropo- und psychomorphisiert wurden.6 Es spricht viel für die Vermutung, daß sich daraus ein entzauberter Chthonismus ergab, der sich leicht mit dem Fortschrittsbewußtsein der zweiten Jahrhunderthälfte verbinden konnte und dadurch auch für die progressiven Strömungen der Rechten, insbesondere für den Nationalismus, adaptierbar war.

Das Bestreben, die exakten Wissenschaften mit dem aus der religiösphilosophischen Tradition übernommenen Bedürfnis nach Ganzheit und Sinn zu versöhnen, läßt sich in exemplarischer Formulierung im Werk Gustav Theodor Fechners studieren, das auf das Denken der Epoche einen kaum zu überschätzenden Einfluß ausgeübt hat. Friedrich Paulsen in der Philosophie, Wilhelm Wundt in der Psychologie, Friedrich Ratzel in der Geographie, der Friedrichshagener Dichterkreis in der Literatur – das sind nur einige der Namen, auf die die Ideen Fechners gewirkt haben (Fick 1993, 44ff.). Ausgehend von sinnesphysiologischen Forschungen, die betont erfahrungswissenschaftlich gehalten waren, unternahm Fechner in zahlreichen Werken, darunter Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen (1848), Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits (1851) und Elemente der Psychophysik (1860), den Versuch, die Vereinbarkeit des empirischen Wissens über den gesetzlichen Aufbau der Natur mit der, wie er meinte: zu Unrecht aufgegebenen Ansicht zu versöhnen, „daß die ganze Natur göttlich und beseelt sei“ (Fechner 1901, I, VI). Fechner akzeptierte dabei die für die neuere Metaphysikkritik grundlegende Negation einer besonderen Substanz und eines festen Sitzes der Seele und lehnte es ab, „in der Orientirung über die Wirklichkeit zu einer unfasslichen Hinterwirklichkeit zurückzugehen“ (Fechner 1860, II, 417). Statt dessen hielt er sich ausschließlich an den empirischen Zusammenhang zwischen dem Physischen und dem Psychischen und definierte die Psychophysik als das Verfahren, „die thatsächlichen functionellen Beziehungen zwischen den Erscheinungsgebieten von Körper und Seele möglichst genau festzustellen“ (I, 8f.). Aus der Negation eines punktuellen Sitzes der Seele leitete er die Folgerung ab, der ganze (menschliche) Körper sei Träger der seelischen Prozesse, woraus sich im Umkehrschluß ergab, daß alles Seelische an physiologische Prozesse gebunden sei (II, 393). Damit war der Kern der Lehre vom psycho-physischen Parallelismus etabliert: alle körperlichen Vorgänge waren danach begleitet von seelischen Vorgängen, alles Seelische hatte sein Pendant im Körperlichen, so daß sich Metaphysik und Sinnesphysiologie gewissermaßen wechselseitig interpretierten, als Wissensformen, die sich auf unterschiedliche Erscheinungsweisen ein und desselben Wesens bezogen (Fick 1993, 38f.).