Martin Strohmeier
Lale Yalçın-Heckmann
Die Kurden
Geschichte, Politik, Kultur
Verlag C.H.Beck
Dieses Buch schildert umfassend und allgemeinverständlich die Geschichte der Kurden in drei Teilen von ihrer Islamisierung im 7. Jahrhundert über das Aufkommen des Begriffs «Kurdistan» im 12. Jahrhundert bis zu den jüngsten Entwicklungen im syrischen Bürgerkrieg. Der vierte und letzte Teil ist der gegenwärtigen kurdischen Gesellschaft gewidmet, die von traditionellen Organisationsformen wie Familien und Stämmen ebenso geprägt ist wie von den Auswirkungen der Modernisierung, von inneren Konflikten und nicht zuletzt erheblichen Wanderungsbewegungen, sei es in die Städte, in den Westen der Türkei oder ins Ausland.
Martin Strohmeier ist Professor für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der University of Cyprus in Nikosia/Republik Zypern.
Lale Yalçın-Heckmann ist Ethnologin, Forschungskoordinatorin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung und Privatdozentin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Verzeichnis der Karten
Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Tabellen
Hinweise zu den Karten
Hinweise zur Schreibweise und Aussprache von Wörtern und Namen
Einleitung
Erster Teil: Sprachen und Kulturen
1.: Das Land: Kurdistan als geographischer und politischer Begriff
2.: Die Menschen: Mythen und Fakten
3.: Sprachen und Literaturen: Vielfalt und Restriktion
4.: Religionen: Die Dominanz des Islams
Zweiter Teil: Geschichte der Kurden bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
1.: Die Kurden im Mittelalter: Integration in die islamische Völkergemeinschaft
2.: Kurden, Osmanen und Perser: Kurdische Herrschaften zwischen zwei Großreichen
3.: Das 19. Jahrhundert: Osmanische Reformen,ausländische Einflüsse und kurdische Reaktionen
4.: Der Beginn des 20. Jahrhunderts: Das Aufkommen des Nationalismus unter den Kurden und das Ende des Osmanischen Reiches
Dritter Teil: Die Kurden im 20. und 21. Jahrhundert
1.: Die Kurden in der Republik Türkei: Rebellion, Repression, Assimilation und Integration
2.: Die Kurden im Irak: Zwischen Autonomie und Auslöschung
3.: Die Kurden in Iran: Sprachliche Affinität und politische Konfrontation
4.: Die Kurden in Syrien und im Libanon: Unsicherer Status, Diskriminierung, die PKK und der Bürgerkrieg in Syrien
5.: Die Kurden in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, insbesondere Armenien und Aserbaidschan: Kulturelle Förderung und Deportationen
Vierter Teil: Wirtschaft und Gesellschaft am BeispielSüdost-Anatoliens
1.: Sozialstruktur und Entwicklung
Demographische Entwicklung der Türkeiund die Kurden
Binnenmigration und Verstädterung
Bildung
Gesundheit
Industrie und Arbeitsmarkt
Südost-Anatolien: Ein Fall von Unterentwicklung?
2.: Bauerntum, ländliche Produktionsformenund Landbesitz
3.: Haushalt und Familie
4.: Stamm und Herrschaft in Kurdistan
5.: Geschichte und Gegenwart eines kurdischen Dorfes oder: Ausblick auf das «Lokale» in der «globalisierten» Welt
6.: Postskriptum
Anhang
Anmerkungen
Einleitung
Erster Teil
1. Das Land
2. Die Menschen
3. Sprachen und Literaturen
4. Religionen
Zweiter Teil
1. Die Kurden im Mittelalter
2. Kurden, Osmanen und Perser
3. Das 19. Jahrhundert
4. Der Beginn des 20. Jahrhunderts
Dritter Teil
1. Die Kurden in der Türkei
2. Die Kurden im Irak
3. Die Kurden in Iran
4. Die Kurden in Syrien und im Libanon
5. Die Kurden in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, insbesondere Armenien und Aserbaidschan
Vierter Teil
1. Sozialstruktur und Entwicklung
2. Bauerntum, ländliche Produktionsformen und Landbesitz
3. Haushalt und Familie
6. Postskriptum
Statistische Daten zu Kurden in der Türkei
1. Demographie
2. Migrationsbewegungen und Anteil der Kurden in der Türkei (nach Provinzen)
3. Bildungsstand
4. Gesundheitsversorgung in der Türkei
Glossar
Ausgewählte Daten zur kurdischen Geschichte
Literatur
Register
1. Von Kurden bewohnte Städte und Regionen (Türkei, Iran, Irak, Syrien und Armenien) 21
2. Kurdische Sprachen 29
3. Provinzratswahlen vom 29.3.2009, Stimmenanteile der DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft) 117
4. Die politische Lage der Kurden in Syrien und im Irak (März 2016) 176
5. Geschätzter Anteil der Einwohner kurdischer Muttersprache 1990 192
(Fotografie Nr. 2–8: Enver Özkahraman)
1. Die Zeitung Kürdistan 88
2. Kurdenprotest in der Türkei 109
3. Flüchtlingstreck irakischer Kurden in die Türkei 143
4. Cici Bibi 188
5. Alter Mann mit Pfeife 189
6. Kurdische Zeltsiedlung auf der Bergweide 210
7. Hochzeitszug in Hakkari 213
8. Das Dorf Anitos 236
1. Geschätzter Anteil kurdischer Muttersprachler in der Türkei (1935–1990) 190
2. Mittelwert der erwünschten Kinder nach Regionen der Türkei (1993) 250
3. Rate der Säuglingssterblichkeit und Fertilität nach ausgewählten Regionen der Türkei (1993 und 1998) 250
4. Volkszählungen in der Türkei und Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung 251
5. Hochrechnung des Anteils der kurdischen Bevölkerung in verschiedenen Regionen der Türkei (1990) 251
6. Bevölkerungszahl, -dichte und -zuwachsrate sowie Netto-Migrationsrate einiger Provinzen 256
7. Geschätzter Anteil der Kurden in verschiedenen Provinzen der Türkei in den Jahren 1965 und 1990 257
8. Bildungsstand in der Türkei und im Südosten 1990 258
9. Zahl der Patienten pro Arzt und Krankenbetten pro 10.000 Personen nach Regionen der Türkei (2002) 259
Die Karten 1 und 2 basieren auf den Karten 1, 2 und 4 in David McDowalls A Modern History of the Kurds (London/New York 1996/1997, S. XIII, XIV, XVI) und wurden anhand der Karten «Vorderer Orient: Ethnische Gruppen – Die emische Perspektive» (Tübinger Atlas des Vorderen Orients der Universität Tübingen, TAVO A VIII 13) und «Vorderer Orient: Sprachen und Dialekte» (TAVO A VIII 10) von den Verfassern modifiziert und vom Verlag neu erstellt. Die Prozentzahlen in Karte 1 stellen nur grobe Schätzungen dar.
Karte 4: © Peter Palm, Berlin
In unserem Kontext haben wir es mit vier Sprachen zu tun: Kurdisch, Arabisch, Persisch und Türkisch bzw. dem bis 1928 in arabischer Schrift geschriebenen Osmanisch. Die Lateinschrift des Türkischen bietet keine Schwierigkeiten; es verfügt über einige vom Deutschen abweichende bzw. gegenüber dem Deutschen zusätzliche Laute. Auf die Wiedergabe von arabischen und persischen Begriffen und Namen in wissenschaftlicher Umschrift – für Kurdisch gibt es keine allgemein akzeptierte Transkription – wurde verzichtet, weil dies die Verwendung zahlreicher Sonderzeichen notwendig gemacht und den Satz sowie die Lesbarkeit erschwert hätte; entsprechend werden beispielsweise weder bestimmte arabische Konsonanten noch Dehnungszeichen bei langen Vokalen gesetzt. Vielmehr wurde eine Kompromisslösung angestrebt. Die Schreibweise lehnt sich so eng wie möglich an die Aussprache an, versucht aber auch, der Transkription einigermaßen gerecht zu werden. Inkonsequenzen sind nicht vermeidbar gewesen. Ein Beispiel: Eine der Aussprache angenäherte Schreibweise des arabischen Namens Muhammad lautet im persischen Kontext Mohammed; eine mögliche kurdische Transkription wäre Mihemed. In beiden Fällen ist der «arabischen» Schreibweise der Vorzug gegeben worden. Die verwendeten Zeichen werden folgendermaßen ausgesprochen:
c |
türk., dsch wie in Dschungel, z.B. cumhuriyet |
ç |
türk., tsch wie Tscherkessen, z.B. çavuş |
dh |
arab., entspricht dem stimmhaften th in engl. this, z.B. madhhab |
ğ |
türk., nur in der Wortmitte und am Wortende vorhandener Buchstabe, der einen kaum hörbaren Reibelaut darstellt und häufig eine Längung des vorausgehenden Vokals zur Folge hat, z.B. doğu («Osten») |
gh |
arab., entspricht dem hochdeutsch ausgesprochenen r in fahren, z.B. ghaiba |
ı |
türk. (i ohne Punkt), gesprochen wie das e in Rose, z.B. Diyarbakır |
î |
langes î wie in Jîn |
q |
arab./pers., ein am hinteren Gaumen erzeugtes k (nicht kw!), z.B. Qom, Naqschbandiya |
s |
stimmloses s wie in Haus, z.B. sunna, Husain |
ş |
türk., Lautwert sch, z.B. Muş |
th |
stimmloses th wie in engl. thing |
x |
kurd., ch wie in Bach |
y |
wie das deutsche j, z.B. Ayyubiden, Yeziden |
z |
stimmhaftes s wie in Sonne, z.B. Zand, Yeziden |
Häufige Begriffe wie Aga und Scheich sowie zahlreiche geographische Namen (z.B. Mosul) werden in eingedeutschter Form (zumeist gemäß Duden) wiedergegeben.
In den kurdischen Bergen, wo die türkische Armee ihre Wachtposten in Dörfern oder in deren Nähe unterhält, gab es bis in die achtziger Jahre einen Beruf, den man als «Mauleselunternehmer» bezeichnete. Reşit, dessen Familie nach einem Aufstand in dieser Region im Jahr 1930 in den Westen der Türkei deportiert worden war und der dort als Kind gut Türkisch gelernt hatte, übte diesen Beruf aus. Seine Familie kehrte nach mehreren Jahren in ihr Heimatdorf zurück, «dieses Loch zwischen den Bergen», wie Reşit sich auszudrücken pflegte. Er war Jäger und unterhielt sich gern mit den Soldaten und Offizieren der Gendarmeriewache und übernahm den einträglichen Gütertransport mit Mauleseln für das Militär. Er transportierte den Vorrat für die Soldaten, die im Winter genauso wie die Dorfbewohner von der Außenwelt abgeschnitten waren. Seine Arbeit brachte ihn in näheren Kontakt zu den Soldaten; er schloss Freundschaft mit ihnen und konnte sie, wenn nötig, um Hilfe bitten. Eines Tages wollte Reşit mit seinem Sohn, der zum Militärdienst musste, in die Stadt. Zusammen mit zwei anderen Dorfbewohnern «mietete» er das Auto eines ihm bekannten Feldwebels (çavuş), um sich von ihm dorthin fahren zu lassen. Während der Fahrt unterhielten sie sich lebhaft und laut auf Kurdisch, worauf der Feldwebel, ein Türke einfacher Bildung aus dem Schwarzmeergebiet, plötzlich gereizt das Gespräch unterbrach: «Hört auf mit dieser ekelhaften Sprache!» Die Mitfahrer waren erstaunt und schwiegen. Dann sagte Reşit langsam und mit sicherer, ruhiger Stimme und verschmitztem Blick: «Çavuş, wir wissen, dass wir alle aus Zentralasien stammen und Brudervölker sind, aber die Sprache kannst du uns nicht verbieten …»
Reşit lebt nicht mehr. In der Auseinandersetzung zwischen den «Brudervölkern» bzw. in dem Krieg zwischen PKK-Guerilla, türkischer Armee und kurdischen Dorfschützern wurde er getötet. Die Arbeit, die er verrichtete, ist nicht mehr gefragt; die türkische Armee ließ überallhin Straßen bauen, ihre Versorgung liegt heute nicht mehr in den Händen von Mauleselunternehmern.
Die Personen sind in vielfältiger Weise in das Geschehen eingebunden: Der çavuş, der im Einsatz gegen kurdische Schmuggler ist, bessert sein karges Gehalt mit Taxifahrten für die kurdische Bevölkerung auf. Reşit, ein «integrierter» Kurde, bestreitet von seiner Arbeit im Dienst der Armee seinen Lebensunterhalt und wird später (die Geschichte spielt 1981) Dorfschützer (korucu). Die Begebenheit führt verschiedene Facetten kurdischen Alltags vor Augen: Ambivalenzen von Identität und Ideologie, situationsbedingtes oder pragmatisches Handeln und Denken, wechselseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander. Was veranlasste den çavuş, das Kurdische als «ekelhaft», also als minderwertig zu bezeichnen? Hatte er sich sprachlich ausgegrenzt gefühlt? Wie erklären sich Reşits Souveränität in seiner Behandlung des çavuş, sein selbstbewusster Ton und seine ironische Anspielung auf die angeblich gemeinsame Herkunft von Türken und Kurden?
Es sind solche Alltagssituationen, an denen sich die komplexen historischen Beziehungen und sozialen Prozesse zwischen Türken und Kurden ablesen lassen. Eine ethnische Identität, die von einer nationalen abweicht, kann im Alltag eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit haben. Ethnische Identität kann aber auch zugespitzt und bewusst verwendet werden, um die Unterschiede zwischen beiden Identitäten zu unterstreichen. Die von Reşit und seinen Landsleuten gesprochene Sprache ist hier der Gegenstand solcher Prozesse. Für sie gehört ihre Sprache zu ihrem Selbstverständnis und wird nicht aus «patriotischen» Gründen gesprochen. Der çavuş reagiert auf seine Ausgeschlossenheit aggressiv. Diese Haltung drückt nicht mehr allein seine persönliche Frustration aus, sondern greift auf dubiose Ideologien zurück, die sich auf die ethnisch-nationale «Überlegenheit» von Türken über Kurden beziehen. Reşit weiß um die Unangemessenheit der Intervention des çavuş. Er spielt mit der Zweideutigkeit dieser Ideologie und betont die Gemeinsamkeit der Herkunft von Türken und Kurden, akzeptiert sie aber nur um den Preis der Gleichwertigkeit der eigenen Sprache. Kurdisch zu sprechen kann man ihm nicht verbieten; dies ist eine wesentliche Komponente seines Selbstverständnisses als Kurde und als Bürger des türkischen Staates.
In dieser Episode ist der Umgang mit Geschichte von großer Bedeutung. Geschichte und Geschichtsbewusstsein sind zentral für ethnische und nationale Identitäten, die keineswegs immer zusammenfallen. Eine soziale Gruppe kann ein Bewusstsein von objektiven Kriterien wie Sprache und Religion haben, die sie von anderen sozialen Gruppen unterscheiden; dies bedeutet aber nicht, dass sie ihre Identität nur auf diese Kriterien beziehen muss. Geschichte wird immer wieder neu geschrieben, Geschichtsbewusstsein konstituiert sich immer wieder aufs Neue. Akteure in ungleichen Machtverhältnissen – sei es auf der individuellen oder auf der gesellschaftlichen Ebene – können historische Konstrukte benutzen, um diese Verhältnisse zum eigenen Vorteil zu ändern. Die Unstimmigkeit zwischen unterschiedlichen Konstrukten, die in unserer Geschichte zum Konflikt führte, und die Diskrepanz von Fremd- und Selbstsicht (d.h. wie die Kurden von anderen gesehen werden und wie sie sich selbst sehen) sind wichtige Elemente des Verhältnisses der Kurden zu anderen Völkern. Seit Beginn ihres «nationalen Erwachens», also seit sie ihre Sprache und Kultur als Basis einer nationalen Identität einsetzen, mussten die Kurden (bzw. ihre nationalistischen Vorkämpfer) erleben, dass ihr Selbstbild (ihr historisches Konstrukt) von anderen nicht ohne weiteres akzeptiert wurde, beispielsweise ihnen eine eigene Identität versagt wurde oder sie als «wildes Bergvolk» galten, wenn sie im Westen nicht sogar gänzlich unbekannt waren. Diese frustrierende Erfahrung machte ein Mitglied der kurdischen Studentenvereinigung Hivi, das sich vor dem Ersten Weltkrieg zum Studium in der Schweiz aufhielt:
«An dem Tag, an dem ich in die Pension in Lausanne einzog, fragte mich die Vermieterin vor den anderen Gästen, die aus mehr als zehn verschiedenen Ländern kamen: ‹Monsieur, Sie kommen aus Istanbul, sind Sie Türke oder Grieche?› In meinem gebrochenen Französisch antwortete ich: ‹Weder Türke noch Grieche.› Auf ihre Frage: ‹Zu welchem Volk gehören Sie dann?› antwortete ich: ‹Ich bin Kurde.› Alle Gäste am Tisch schauten mich verdutzt an, als ob sie etwas ganz Sonderbares gehört hätten. Natürlich schämte ich mich. Und ich war verletzt, dass ich zu einem Volk gehörte, das niemand kannte. Glücklicherweise waren zwei Russen zugegen, die mir aus meiner Verlegenheit halfen und etwas zu den Kurden und Kurdistan sagen konnten. Am nächsten Tag saß ich nach dem Frühstück im Salon. Die Pensionswirtin fragte: ‹Sie sagen, dass Sie Kurde sind. Wo ist denn ihr Land?› Ich öffnete die Landkarte, die dort lag, zeigte auf die Stadt Diyarbakır, über der der Name Kurdistan in großen Buchstaben geschrieben stand, und sagte: ‹Da komme ich her.›»1
Im Jahre 1998 jährte sich zum hundertsten Mal die Gründung einer Zeitung mit Namen Kürdistan. Zwar war den Herausgebern und Autoren von Kürdistan die Forderung nach einem Staat gleichen Namens noch fremd, weil sie sich als loyale Untertanen des Osmanischen Reiches, wenn auch – zusammen mit türkischen Reformern – als Gegner des autokratisch herrschenden Sultans Abdülhamid verstanden. Aber die Grundlagen wurden geschaffen für ein Programm, wie es Nationalisten überall auf der Welt propagieren: Rückbesinnung auf Glanzzeiten des eigenen Volkes, Forderung nach Überwindung von Abhängigkeit und Rückständigkeit sowie nach Modernität. Die kurdische Nationalbewegung, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts herausbildete, lenkte ihr Augenmerk auf zwei Punkte: Zum einen galt es, den Kampf um die von ihr beanspruchten Rechte der Kurden bzw. die Einheit der Kurden zu führen. Zum anderen wurden die Modernisierung der kurdischen Gesellschaft und die Zurückdrängung traditioneller Identitäten und Strukturen als Voraussetzungen für «nationalen» Fortschritt angesehen. Während Letzteres ansatzweise realisiert worden ist, konnte das längst nicht von allen Kurden verfolgte Projekt der staatlichen Einheit nicht bewerkstelligt werden. Bis heute leben die Kurden nicht in einem eigenen Staat, sondern vor allem in Iran, in der Türkei, im Irak und in Syrien. Während die Kurden im Irak der Unabhängigkeit am nächsten gekommen sind, widersetzt sich in den anderen drei Ländern ein Teil der Kurden seit Jahrzehnten staatlichem Homogenisierungsdruck sowie Repressionen und kämpft um politische und kulturelle Anerkennung sowie Autonomie.
Die vor über 70 Jahren auf die Kurden-Republik von Mahabad gemünzte Aussage kann noch heute als konzise Definition der Kurdenfrage im allgemeinen gelten: «Ihre seltsam widersprüchlichen Elemente – Stammeskriege, rivalisierende Imperialismen und konkurrierende Gesellschaftssysteme, mittelalterliche Ritterlichkeit und idealistischer Nationalismus – veranschaulichen die Komplexität der kurdischen Frage. Sie betrifft ein Volk, das nie vereint war und das jetzt auf fünf Staaten aufgeteilt ist, von denen keiner den nationalistischen Bestrebungen der Kurden wohlwollend gegenübersteht».2
Die kurdische Frage besteht also nicht nur aus einem Konflikt zwischen Türken und Kurden, Arabern und Kurden bzw. Iranern und Kurden oder den Regierungen der Türkei, Irans und Iraks. Sie ist auch nicht in ein Schema von Unterdrückern und Unterdrückten zu pressen. Vielmehr gibt es in der kurdischen Gesellschaft selbst Spannungen, die herrühren aus einem starken Entwicklungsgefälle, unterschiedlichen Orientierungen der Führungsschichten und dem Konflikt zwischen noch vorhandenen Stammesstrukturen und Ansätzen zu einer bürgerlichen Gesellschaft. Abgesehen davon hat die kurdische Problematik allgemeinere Dimensionen. Insbesondere seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme des Ostblocks und dem Wegfall der alten bipolaren Machtkonstellation haben sich in Europa und an seinem Rand gewalttätige Konflikte entzündet, in deren Mittelpunkt Fragen von Ethnizität, Minderheiten, Nationalismus und Demokratie stehen.
Die Kurden leben in einer Region, die von strategischer Bedeutung ist. Wasserreichtum und Ölvorkommen sind ein so bedeutender Faktor, dass weder die Türkei noch der Irak auf diese Ressourcen verzichten können, auf die auch die Kurden Ansprüche erheben. Damit ist Kurdistan auch für die westliche Welt von geopolitischer Bedeutung. Dies hat zu einem lebhaften Interesse an den Ereignissen und Personen beigetragen. In den sechziger und siebziger Jahren war es der legendäre Kurdenführer Mustafa Barzani, der die westliche Öffentlichkeit beschäftigte. Seit den achtziger Jahren sind es die PKK in der Türkei und der Überlebenskampf der irakischen Kurden sowie die Transformation ihres Gebiets in eine autonome Region, denen weltweite Aufmerksamkeit zuteil wurden.
Trotz der publizistischen Präsenz der Kurden in den Medien besteht ein Mangel an aktuellen, umfassenden und zuverlässigen Informationen zur Geschichte und Gegenwart der Kurden. Mit dem vorliegenden Buch wird versucht, diese Lücke zu schließen. Es wendet sich an Leserinnen und Leser, die Hintergrundkenntnisse zur Berichterstattung in den Medien suchen. Darüber hinaus ist es für all jene von Interesse, die sich über die Rolle der Kurden in der Geschichte und ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen informieren wollen.
Das Buch besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil werden zunächst Herkunft, Sprachen und Religionen der Kurden dargestellt, anschließend werden wichtige Ereignisse und Entwicklungen in der kurdischen Geschichte beschrieben. Der dargestellte Zeitraum erstreckt sich von der Islamisierung der Kurden im 7. Jahrhundert über das Aufkommen des Begriffs «Kurdistan» im 12. Jahrhundert und kurdische Fürstentümer zwischen den Reichen der Osmanen und Perser bis hin zur Entwicklung des kurdischen Nationalismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (Teil II). Ein Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Situation der Kurden besonders in Iran, im Irak und in der Türkei bis in unsere Zeit (Teil III).
Im vierten Teil werden Wirtschaft und Gesellschaft der Kurden unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Südosten der Türkei analysiert. Ausgehend von der sozioökonomischen Lage werden die Auswirkungen der Modernisierung und gesellschaftlichen Differenzierung dargestellt. Zentrale Instanzen der sozialen Organisation wie Haushalt und Familie werden ebenso vorgestellt wie unterschiedliche Produktions- und Lebensformen. Auch die für die kurdische Gesellschaft immer noch relevanten traditionellen Stammes- und Führungsstrukturen werden ausführlich erläutert. Die Akzentsetzung auf die Türkei bot sich aus zwei Gründen an. Zum einen konnte aus eigener Feldforschung geschöpft werden; zum anderen ist über die Kurden in der Türkei sehr viel mehr bekannt als über jene in den anderen Staaten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Türkei trotz aller Einschränkungen eine kritische Öffentlichkeit besitzt, die begonnen hat, die kurdische Frage zu diskutieren. Letzthin haben Vorschläge der gegenwärtigen Regierung und des Präsidenten Hoffnungen auf eine Gewährung umfassender kultureller Rechte für die Kurden geweckt.
Der Begriff Kurdistan ist umstritten. Der Einfachheit halber verwenden wir ihn zur Bezeichnung des Gebiets, in dem Kurden, in veränderlicher Zahl und nicht immer die Mehrheit bildend, leben. Zu einem so verstandenen Kurdistan zählen große Teile der Ost- und Südost-Türkei, Nordwest-Irans und des Nord-Irak.
Die Teile I bis III wurden von Martin Strohmeier verfasst, Teil IV von Lale Yalçın-Heckmann. Das Kapitel 1 (Teil III) über die Kurden in der Türkei und die Einleitung entstanden in Zusammenarbeit. Da der Anmerkungsapparat möglichst knapp gehalten werden sollte, wurde auf Einzelnachweise teilweise verzichtet.
Die Autoren danken Dr. Harald Schüler (Nürnberg) für die Erstellung der Karten «Provinzratswahlen 2009, Stimmanteile der DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft)», «Geschätzter Anteil der Einwohner kurdischer Muttersprache 1990» und seine Hilfen bei der Interpretation statistischer Fragen. Dank gilt auch unserer ersten Leserin Angela Zerbe und Dr. Bärbel Reuter für ihre Mitarbeit an den Korrekturen. Dr. Ludwig Paul (Göttingen) und Dr. Walter Posch (Bamberg) haben wertvolle Hinweise beigesteuert.
Die Idee zu diesem Buch geht zurück auf Gespräche mit Professor Dr. Ulrich Haarmann (Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Moderner Orient in Berlin), der auch die Kontakte zum Verlag C.H.Beck hergestellt hat. Zur Bestürzung seiner Kollegen und Freunde, denen er fachlich und menschlich stets Vorbild war, ist er am 4. Juni 1999 im Alter von 56 Jahren einem schweren Leiden erlegen.
Nikosia und Nürnberg, 1. Mai 2016
Martin Strohmeier
Lale Yalçın-Heckmann