Verlag C.H.Beck
Daß wir ohne Sklaverei leben, ist nicht selbstverständlich. Dieser Zustand ist historisch errungen und kann wieder verloren gehen. Die Anzahl der in Unfreiheit geratenden Menschen steigt täglich; damit drohen die Menschenrechte zu wertlosem Papier zu werden. Dieses Buch zeigt, was hier auf dem Spiele steht. Es schildert, worin Sklaverei bestand, wie Lieferzonen für die stetig steigende Sklavennachfrage entstanden, wie sich die Sklaverei seit der Antike entwickelte und weltweit durchgesetzt wurde.
Egon Flaig hatte bis zu seiner Emeritierung 2014 den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Rostock inne.
Wer Globalisierung sagt,
der sagt auch Weltgeschichte;
wer Weltgeschichte sagt,
der sagt auch Universalismus.
In memoriam Heinz-Dieter Kittsteiner
(† Juli 2008)
Einleitung
1. Kapitel: Politische Anthropologie der Sklaverei
Die Vielfalt der Formen von Unfreiheit
Das «Wesen» der Sklaverei – intrusiv/extrusiv
Gewalt, «Schonräume» und Anreize
Sklavistische Gesellschaft und Ökonomie
Intrusive Sklaverei und die Dichotomie Metropole/Peripherie
2. Kapitel: Sklaverei in antiken Gesellschaften
Sklaverei im Orient, in Ägypten und im Judentum
Sklaverei im frühen und klassischen Hellas
Verlangt stärkste Freiheit nach schlimmster Sklaverei?
Die hellenistische Ära und Karthago
Rom. Expansion und intrusive Sklaverei
Transformationen in Kaiserzeit und Spätantike
Sklaverei im politischen Denken. Kritik und Apologie
3. Kapitel: Ein interkontinentales sklavistisches System: Die islamische Welt
Moslemische Expansionen und Versklavungswellen
Eunuchie und Mamlukentum. Ein sklavistisches Staatswesen
Afrika wird zur Lieferzone
Die islamische Kolonisierung Afrikas
Afrikanischer Sonderweg: Staaten als Fangapparate
Sklavenhaltung und Rechtspraxis im Islam
Sklavenaufstände
Wer darf versklavt werden? Das religiöse Argument
4. Kapitel: Wie entstand der Hautfarben-Rassismus?
Rassismus – farblos und mit Hautfarbe
Der Fluch über Ham
Rassische Zusammenstöße in der islamischen Welt
5. Kapitel: Schwarzafrika. Selbstzerstörung einer Lieferzone
Massensklaverei in der Produktion
Fataler Zirkel: Pferd und Krieg im Sudan
Menschenverluste durch die Versklavungen
6. Kapitel: Der unwahrscheinliche Weg zur transatlantischen Sklaverei
Frühes Mittelalter: Europa kollabiert
Sklavenfreie Gebiete. Nordwesteuropas schmaler Sonderweg
Mittelmeerische Sklaverei und portugiesische Expansion
Umstrittene Sklaverei – «Regeln der Menschenrechte»
Option für die Plantage – Option für die Sklaverei
Afrikanische Menschenverkäufer. Regionen und Reiche
Europäische Menschenkäufer. Sklavenhandel als Geschäft
7. Kapitel: Sklavistische Systeme in der Neuen Welt
Regionale Vielfalt
Das dichotomische System: Mutterland und sklavenhaltende Provinz
Der Sonderfall Nordamerika
«Color-Line» und Sklavenkultur
Debatten: transatlantische Sklaverei in globaler Perspektive
8. Kapitel: Der Kampf um die Abschaffung der Sklaverei
Der evangelikale Abolitionismus. Erste Verbote
Haiti. Einziger erfolgreicher Sklavenaufstand der Geschichte
‘Econicide’ – ein hochprofitables System politisch stürzen
Humanitärer Kolonialismus – die Abolition in Afrika
Gedächtnispolitik gegen historische Wahrheit und Menschenrechte
Anmerkungen
Literaturhinweise
Die Menschenrechte sind entstanden im Kampf gegen die Sklaverei; sie stehen, solange diese schlimmste persönliche Unfreiheit geächtet bleibt, und fallen, sobald die Sklaverei wiederkehrt. Hieran bemessen sich die Chancen eines politischen Universalismus, welcher die Menschheit zu einen vermag. Sklaverei hat seit Jahrtausenden existiert, fast überall, auch in ‹vorstaatlichen› Gesellschaften, ob bei den nordamerikanischen Cherocee, den Tupinamba Südamerikas, den polynesischen Maori oder den alten Germanen; sie bestand in allen Hochkulturen. Eine Geschichte der Sklaverei kann deshalb nur aus einer Kombination von winzigen Ausschnitten bestehen. Die hier gewählte Perspektive ist weltgeschichtlich.[1] ‚Weltgeschichte’ heißt niemals, die empirisch erfassbaren Phänomene – etwa von Sklaverei – aus allen Epochen und Kulturen enzyklopädisch zu addieren. Ein solches Unternehmen wäre nicht bloß aussichtslos, sondern nach Max Weber auch sinnlos, würde bedeutungslosen Schutt von Tatsachen anhäufen. Seitdem der Begriff «Weltgeschichte» im 18. Jh. aufkam, besagt er: menschliche Kulturen unter dem Aspekt einer übergreifenden Bewegungsrichtung im zeitlichen Verlauf zu betrachten. Es sind diejenigen historischen Phänomene ins Auge zu fassen, an denen sich jene Bewegungsrichtung besonders deutlich erkennen läßt. Einem Teil der Menschheit ist es gelungen, die Sklaverei beinahe global abzuschaffen. Das ist der tiefste Bruch in der Weltgeschichte. Er ist nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil der politische Wille sogar die «Gesetze des Weltmarktes» durchbrochen hat. Eine besondere kulturelle und politische Dynamik hat das bewirkt. Wie läßt sie sich begreifen? Gewiß nicht, wenn wir weiterhin glauben, Menschen handelten gemäß ihrer Interessen. Historische Kulturwissenschaft lehrt uns anderes: Die sogenannten Interessen werden, wie Hume sagte, regiert von Meinungen; Max Weber hätte gesagt: von «Weltbildern»; die moderne Kulturwissenschaft sagt: von «Sinnsystemen». Menschen handeln sehr wohl aus «Motiven», doch sie handeln in der Regel nicht gemäß ihrer «Interessen». Freilich sind «Motive» nicht sozialgeschichtlich zu erfassen, sondern nur, indem man die kulturspezifischen Sinnsysteme näher besieht. Die hier praktizierte Kulturgeschichte weiß sich der Soziologie von Pierre Bourdieu verpflichtet. Daher kommt sie nicht umhin, sich auf Politische Anthropologie einzulassen. Die Darstellung begnügt sich nicht mit Sozialgeschichte und muß die Aussage von Peter Kolchin – «Sklaverei ist zuerst und vor allem ein Arbeitssystem» – zurückweisen angesichts jener Politischen Anthropologie, welche Orlando Patterson in «Slavery and Social Death» (1982) und Claude Meillassoux in «Anthropologie de l’Esclavage» (1986) entworfen haben.
Ins Blickfeld kommen hier lediglich die antike Sklaverei, die islamische und die transatlantische. Dabei war die antike Sklaverei unter quantitativen Gesichtspunkten nicht herausragend. Die islamische war die umfangreichste der Geschichte; die transatlantische ist bedeutsam, weil sie von Anfang an bekämpft wurde und weil ihre politische und teilweise gewaltsame Abschaffung der Hebel war, um die Sklaverei weltweit zu beseitigen. Wichtiger als die Epochen sind die Aspekte. Historische Darstellungen zur Sklaverei behandeln überwiegend die Sklavenhaltung und lassen den Prozeß des Versklavens selber allzu oft unbeachtet. Doch das Versklaven schafft politische Apparate und Verhaltensweisen, die sich gravierender und nachhaltiger auf die Geschichte der Versklaver ausgewirkt haben als die Sklavenhaltung. Soweit es sein Umfang zuläßt, möchte dieses Büchlein dem abhelfen. Den Impuls, es zu schreiben, erhielt ich anläßlich einer Diskussion im Wissenschaftskolleg zu Berlin im Juni 2004. Es nahm seine vorliegende Gestalt an, versehen mit Anregungen von den Kollegen und Stipendiaten des Trierer Graduiertenkollegs, mit kritischer Einhilfe von Jürgen Osterhammel und Markus Völkel, mit Entgegenkommen und Rat von Frau Zeile und nicht zuletzt mit anfeuerndem Zuspruch Karina Kellermanns.
Will man die Sklaverei als äußerste Form von Unfreiheit begrifflich bestimmen, dann kommt man nicht umhin, sie mittels prägnanter Unterschiede abzugrenzen. Verdeutlichen wir das an Beispielen. Zum ersten am stalinistischen Gulag: Er entstand als Agglomeration von Lagern in einer Phase außerordentlicher politischer Repression; die Häftlinge waren meist durch Justizwillkür Verurteilte. Das Gulag-System, welches anfänglich (1930–1940) sechs Millionen, dann (1941–1945) vier, schließlich (1945 bis 1954) fünf Millionen Insassen zählte, beruhte somit auf der ‹gesetzlichen Form› der Strafgefangenschaft, willkürlich verlängert oder verkürzt.[2] Zum zweiten am NS-Konzentrationslager: Ihre Insassen stellten drei verschieden Schnittmengen dar: die Opfer von interner politischer Repression, von kriegerischer Unterwerfung, von einer Politik des Völkermords. Die Inhaftierung war nicht rechtsförmig, daher war die Unfreiheit lebenslang, der frühe Tod der Häftlinge – etwa durch Überarbeitung – nicht bloß in Kauf genommen, sondern großenteils bezweckt.
In beiden Fällen machten die Repressionsorgane totalitärer Staaten, aus freien Menschen Unfreie und hielten diese mit Zwangsmitteln in ihrem Zustand – vorwiegend segregiert in Lagern. Der Gewalteinsatz gegen Widerstand – latenten oder offenen – war enorm; doch die private Verfügung über die Gefangenen blieb minimal. Die Opfer regelrecht zu verkaufen, wie eine Ware, war völlig ausgeschlossen. Diese Systeme endeten, sobald der betreffende Staat seine Politik änderte, bzw. militärisch zerschlagen wurde.
Ein anderes Bild bieten die Formen von weltweit zunehmender persönlicher Unfreiheit unserer Gegenwart. Erstens die Vertrags-Knechtschaft: Unternehmen locken mit Arbeitsverträgen Menschen in entlegene Regionen, wo sie den Arbeitgebern hilflos ausgeliefert sind und in Unfreiheit fallen, die sich eventuell über Jahrzehnte erstreckt. Das passiert vor allem in Brasilien und Südostasien, Teilen Indiens und einigen arabischen Ländern. In vielen dieser Länder ist die Praxis zwar gesetzlich verboten, doch die lokalen Behörden sind nicht fähig oder willens, sie zu unterdrücken.[3] Zweitens die Schuldknechtschaft: Menschen verpfänden sich selber, um mit einem Darlehen aus einer Notlage herauszukommen. Wenn Art und Dauer des Dienstes nicht fixiert sind, bleibt die Schuld bestehen, die Abhängigkeit wird lebenslänglich und kann sich auf die Kinder ausweiten. Das dürfte die weltweit am meisten verbreitete Form von persönlicher Unfreiheit sein; sie ist besonders in Indien – mit 15 bis 20 Mio Betroffenen – anzutreffen. Es handelt sich um ein privates Verhältnis ökonomischer Ausbeutung, welches jedoch über hohe soziale Akzeptanz verfügt. Solange die Behörden darin keine Unfreiheit erkennen wollen, ist polizeiliche Intervention nicht erwartbar.[4] Drittens der Kinderverkauf: Kinderarbeit leisten weltweit rund 200 Millionen; es bleibt im Dunkeln, wieviele davon regelrecht verkauft wurden. Die meisten Opfer stammen aus Südostasien, doch auch in Westafrika ist das Phänomen verbreitet. Diese private Ausbeutung von heranwachsenden verschleppten Menschen mündet in lebenslange Unfreiheit, obwohl die betreffenden Staaten meist internationale Abkommen unterzeichnet haben und polizeilich eingreifen müßten. Viertens die erzwungene Prostitution: in Westeuropa werden ständig zwischen 120.000 und 500.000 Frauen zur Prostitution gezwungen, die Mehrheit von ihnen stammt aus Osteuropa. Die Einschleusung der durch Pseudo-Verträge gelockten oder regelrecht geraubten Frauen übernehmen kriminelle Banden, die praktisch Menschenhandel betreiben. Zwar ist durch polizeiliche Intervention diese Verknechtung sofort beendbar, aber grausame Exempel schrecken die Opfer davon ab, die Behörden zu Hilfe zu rufen. Die Unfreiheit kann darum – inmitten von Gesellschaften, die polizeilich pazifiziert sind – über Jahre gehen.[5]
In diesen vier Fällen wäre erwartbar, daß die Behörden – sofern solche existieren – die Unfreiheit polizeilich beenden. Das Verhältnis ist nicht legal. Somit handelt es sich in diesen Fällen nicht um eine Institution. Aber Sklaverei ist eine soziale und politische Institution.
Zwei Beispiele illustrieren den Unterschied. Zum einen die ‹Pseudo-Leibeigenschaft›: Die Nachkommen der schwarzen Sklaven in Mauretanien werden bis heute als solche ‹Leibeigene› gehalten. Leibeigene Kinder können wie Sklaven verkauft werden; sie sind bis heute beliebte Geschenke auf maurischen Hochzeiten. Ähnliches geschieht anderswo in Nord- und Westafrika, auch in einigen arabischen Ländern. Zum anderen die private Aneignung von Kriegsgefangenen: im Sudan führte das islamische Regime einen immer wieder unterbrochenen Dauerkrieg gegen die nichtmoslemischen Stämme des Südens; dabei übten die islamischen Stämme ihre vorkoloniale Praxis, blutige Razzien gegen die Dörfer der Dinka und anderer durchzuführen und diese Menschen zu deportieren, zu verteilen, zu verschenken oder zu verkaufen. Über 80.000 Opfer haben die christlichen Hilfsorganisationen bis zur Unabhängigkeit des Südens freigekauft.[6]
Offensichtlich unterscheiden sich die letzten beiden Phänomene grundsätzlich von allen anderen: hier ist die Unfreiheit eine sozial akzeptierte Institution; und eben aus diesem Grunde ist es auch hier allein möglich, völlig legal die Opfer zu verkaufen wie eine Ware. Wir müssen also diese beiden Fälle unter die Kategorie ‹Sklaverei› stellen. Folglich ist es nicht zulässig, erzwungene Prostitution oder Vertragsknechtschaft als Sklaverei zu bezeichnen; denn eine sklavenähnliche Situation ist noch keine Sklaverei. Die obigen Formen der Unfreiheit unterscheiden sich erheblich voneinander; sie stellen jeweils soziale Verhältnisse eigener Art dar. Sie zu untersuchen verlangt nach scharf umrissenen Begriffen, und dabei kommt es nicht darauf an, was die Betroffenen erleiden. Das Ausmaß des Leidens ist von außen nicht zurechenbar, und es ist kein Kriterium für Sklaverei. Zwar lassen sich Grade von Zwang und Entbehrung abschätzen. Im stalinistischen Gulag und in den NS-Konzentrationslagern waren Entbehrung und Disziplinierung schlimmer als in den meisten sklavistischen Systemen. Doch diese Formen der Unfreiheit gleichzusetzen mit Sklaverei hieße einen Begriff metaphorisch verwenden.
Im Römischen Recht findet sich der Satz des Juristen Ulpian: «Die Sklaverei setzen wir dem Tode gleich».[7] Diese Gleichsetzung hat der Soziologe Orlando Patterson aufgegriffen: «Das Wesen der Sklaverei besteht darin, daß der Sklave – in seinem sozialen Tod – am Rande lebt: zwischen Gemeinschaft und Chaos, Leben und Tod, dem Heiligen und dem Profanen».[8] Ganz ähnlich bezeichnet der Anthropologe Claude Meillassoux die Sklaven als «Nichtgeborene und Tote auf Bewährung». In einem Prozeß der ‹Verfremdung› werden Versklavte ständig zum Fremden gemacht, wobei vier Vorgänge das Verfremden in Gang halten:[9]
1. Entsozialisierung: Sie verlieren ihre Heimat, werden aus den Sozialisationsarealen herausgerissen, welche den Menschen schützen und erziehen. 2. Entpersönlichung: Sklaven werden zu käuflichen und verkaufbaren ‹Dingen›; als solche bezeichnet man sie auch; demgemäß erleiden sie vorwiegend körperliche Strafen, womit man sie einer ‹Vertierung› aussetzt. 3. Entsexualisierung: Vor allem die afrikanischen Sklavereitypen transformieren die versklavten Frauen in geduldige, fügsame und ausdauernde Arbeitskräfte, indem sie sie abtrennen von ihren reproduktiven Fähigkeiten. Ihre Mutterfunktion wird stillgelegt, es sei denn, die Herren wollten absichtlich Sklaven züchten. 4. Entzivilisierung: Der versklavte Mensch ist verwandtschaftslos und ohne anerkannten sozialen Status. Er ist ausschließlich abhängig von seinem Herrn, daher kein Element eines kulturellen ‹Netzes›, sondern sozial atomisiert.[10]
Wie die Betroffenen ihren Zustand erfahren, hängt einerseits davon ab, auf welche Weise sie versklavt wurden, anderseits welche Dispositionen sie mitbringen. Orlando Patterson hat die diversen Versklavungsweisen wie folgt aufgelistet.[11] 1. Gewaltsame Aktionen: a) durch Krieg oder räuberische Überfälle (Razzien), b) durch Tributzahlungen in Form von Menschen, c) durch Entführungen. 2. Rechtsförmige oder gerichtliche Versklavung: a) zur Tilgung von Schulden, b) als Kriminalstrafe. 3. Als familiale Strategie: a) Kinderaussetzung, b) Kinderverkauf, c) freiwilliger Selbstverkauf, um die ökonomische Situation der Familie zu verbessern. 4. Biologische Reproduktion: Sklavische Geburt.
Patterson hat ferner die Unterscheidung zwischen dem ‹intrusiven Typ› und dem ‹extrusiven› eingeführt:
Intrusiv ist eine Sklaverei, wenn die Sklaven überwiegend als Fremde in die sklavistische Gesellschaft importiert werden. Extrusiv ist sie, wenn die Sklaven überwiegend aus der eigenen Gesellschaft stammen. Meillassoux hat sämtliche Sklaverei für intrusiv gehalten, da er nur afrikanische Daten berücksichtigte, und behauptet, «der Zustand der Sklaverei ergibt sich niemals aus einem internen Prozeß sozialer Differenzierung».[12] Dem hat Patterson zu Recht widersprochen. Extrusive Sklaverei war weit verbreitet und historisch gewiß dauerhafter als die drei intrusiven Sklavereien, welche dieses Buch behandelt. Wo der extrusische Typ vorherrscht, wie etwa im China seit der Han-Zeit, oder im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Korea, oder im Russland des 17. u. 18. Jhs., dort fiel eine beachtliche Menge von Menschen aus der eigenen Gesellschaft unentwegt in die Sklaverei, in der Regel durch Ausstoßung oder gerichtliche Verurteilung. Diese ‹Gefallenen› wurden gänzlich herausgelöst aus sämtlichen familialen, sozialen und politischen Bindungen – ihr Vermögen eingezogen, ihre Ehe annulliert, sämtliche Verwandtschaftsbeziehungen aufgelöst – und mit einem gewissen rituellen und symbolischen Aufwand (Rasur, Haartracht, Sträflingkleidung, Brandmarkung usw.) ‹verfremdet›, zu Fremden gemacht. Extrusive Sklaverei erfordert meist willkürlich arbeitende Gerichte und rigorose Strafsysteme. Die Gesellschaft zahlt hohe soziale und kulturelle Kosten, um ständig Mitglieder auszustoßen: die Selektion der Opfer schüchtert vor allem die sozialen Unterschichten ein und untergräbt deren Vertrauen in das Rechtsystem, ja unterminiert die Bereitschaft, sich politisch einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Das befördert politische Desintegration. Gemeinschaften mit hohem politischem Zusammenhalt bevorzugen daher – bei schweren Delikten – die Todesstrafe und vermeiden das strafweise Versklaven von Zugehörigen, so etwa der antike Bürgerstaat oder die muslimische Gemeinschaft. Auch im neuzeitlichen Spanien, Frankreich, Italien arbeiteten lebenslängliche Sträflinge auf öffentlichen Baustellen, schufteten in Minen oder ruderten Galeeren. Doch sie wurden niemals als menschliche Ware verkauft, sondern blieben ‹Staatssklaven›; diese Form der Unfreiheit war also keine Sklaverei im strengen Sinne. In Russland und China war dieser Typ der Versklavung vorherrschend und vermengte sich mit der Kaufsklaverei, obwohl mehrmals chinesische Kaiser dies zu verhindern suchten. Neben der Strafsklaverei stieg in Russland der Selbstverkauf in private Sklaverei in solchem Maße an, daß unter Peter dem Großen Russland zu einer sklavistischen Gesellschaft wurde; als einzige unter allen christlichen Kirchen akzeptierte die russische vorbehaltlos diese Praxis. In China wurden nicht allein die Verurteilten zu Staatssklaven, sondern auch ihre Familien; ihre Gesamtzahl war groß, auch wenn sie in dem volkreichen Land einen geringen Prozentsatz ausmachten. Den extrusiven Typ schlechthin verkörperte Korea vom 10. Jh. bis zum 19. Jh., wo die hohen Steuern und die öffentlichen Frondienste viele Menschen bewogen, sich in die Sklaverei mächtiger Aristokraten zu begeben, so daß bisweilen mehr als 1/3 der Einwohner versklavt waren.[13] Versklavungsweisen, die typisch sind für extrusive Sklaverei – wie z.B. gerichtliche Verurteilung –, können intrusive Sklaverei speisen, falls man die Betroffenen exportiert. Alle Sklaverei enthält insofern ein intrusives Element, als Versklavte immer ein wenig deportiert werden; denn zumindest ihre Heimat müssen sie verlassen.
Die Versklavung ist immer traumatisch, obschon in unterschiedlichem Ausmaß: Die Versklavten verlieren ihr Heim und die vertraute Umgebung; sie werden herausgerissen aus ihrer genealogischen Verankerung, denn sie verlieren die Gräber ihrer Vorfahren und die Erinnerung an dieselben. Sie verlieren ihre Eltern, ihre Kinder, ihre Ehepartner, ihre Verwandten überhaupt; und sie werden nie mehr Verwandte haben, solange sie Sklaven bleiben. Sie verlieren ihre Traditionen und ihre Bräuche, weil man solche nur gemeinsam haben kann. Beim intrusiven Typ ist die Verlustbilanz noch größer: Deportation und Sprachlosigkeit kommen hinzu. Während der langen Märsche oder Transporte verlieren Versklavte jegliche Hoffnung, jemals wieder in die Heimat zu gelangen; die Erfahrung, inmitten einer Masse von Mitsklaven wie eine Viehherde getrieben zu werden, traumatisiert sie dauerhaft. Der Wille der Deportierten ist bereits weitgehend gebrochen, bis sie dort ankommen, wo sie verkauft und verwandt werden. Sie verlieren ihre Sprache; denn ihre Herren befehlen ihnen in einer fremden Sprache, und mit ihren Mitsklaven werden sie in einem Kauderwelsch sprechen, den sie sich schnell aneignen müssen. In den meisten Tätigkeiten kommen sie über einen Sklaven-Slang nicht hinaus und bleiben buchstäblich sprachlos. Je schlechter sie diesen Sklavenslang sprechen, je weniger sie die Befehle verstehen, desto schneller werden sie mißhandelt. Sie verlieren ihre Kultur; und sie können sich eine neue Kultur nur unter sehr günstigen Bedingungen aneignen. Sie verlieren ihre Religion; denn sie können den Kult nicht alleine ausüben.
Genauer besehen ist für diese Menschen die Welt untergegangen. Denn die Welt ist für Menschen nicht in erster Linie die materielle Welt, sondern die semantische Welt: eine Welt von Bedeutungen, von Werten und von letztem Sinn. Die Versklavten befinden sich in einem fast totalen Sinnverlust: schlagartig sind sie bar aller Lebensziele, ja ohne jeglichen Lebenszweck. Wie endgültig dieser Sinnverlust ist, hängt davon ab, in welchem Maße sie sich mit ihrer neuen Situation abfinden. Wie die Sklaven ihre Lage erfahren, hängt auch ab von den kulturellen Dispositionen und Fertigkeiten, welche sie mitbringen, und vor allem von den Tätigkeiten, die ihr Herr ihnen auferlegt. Dadurch ergeben sich riesige Abstände, was Lebenslage und Chancen angeht. Deshalb bilden Sklaven fast nie eine soziale Klasse. Trotz der Unterschiedlichkeit sind mehrere Grunderfahrungen gemeinsam: 1. Atomisierung. Herausgerissen aus ihrer Herkunftsgruppe, werden sie einzeln verkauft; somit hat jeder ein Einzelschicksal. Freundschaften entstehen kaum, weil die Herren ihre Sklavenschaft ethnisch und kulturell zu mischen pflegen. Dieses Unvertrauen steigert sich noch in sozial schwachen Positionen, wo man um die elementarsten Ressourcen gegeneinander kämpft. 2. Familienlosigkeit. Sklaven können keine starken emotionalen Bindungen eingehen. Sie haben keine Frau und keine legitimen Kinder. Paarweises Zusammenleben hängt stets an der Gnade des Herrn; jederzeit kann er die Personen auseinanderreißen.[14] 3. Verlust des Selbstvertrauens. Immer wieder droht Sklaven körperliche Mißhandlung, selbst in guten Positionen. In den meisten sklavistischen Systemen muß die Sklavin und oft auch der Sklave für den Herrn sexuell verfügbar sein. Das raubt dem Sklaven jede Würde, die man als Mann oder als Frau zu beanspruchen sucht. Ständig von Misshandlung bedroht, verlieren sie ihre Selbstachtung und ihr Selbstvertrauen. Daher empfinden sie sich selber als minderwertige Wesen.
Somit wird einerseits verständlich, warum Sklaven – egal in welcher Kultur – so selten Aufstände machten. Sklavenaufstände fanden nicht dort statt, wo die Befindlichkeit der Sklaven ans Unerträgliche grenzte, sondern dort, wo den Sklaven Spielraum zum Atmen blieb und wo entschlossene Organisationskerne sich heranbilden konnten. Anderseits wird ersichtlich, wie diese Erniedrigten wahrgenommen werden; sie erscheinen als dumm, höchstens fähig zu Gerüchtemacherei und zu hinterlistigen Intrigen, als antriebsschwach, als schmeichlerisch, als feige. Solche Menschen scheinen minderwertig zu sein. Ein spontaner sozialer ‹Protorassismus› wirkt: Die Freien tendieren dazu, Sklaven für minderwertig von Natur zu halten.
Die Definition von Meillassoux und Patterson ist häufig kritisiert worden: Viele Sklaven waren – etwa im alten Rom – beauftragt, Gewerbe zu treiben, Häuser oder Vieh zu kaufen; sie schrieben Rechnungen, diktierten Briefe, unterrichteten freie Kinder, und führten Musikstücke auf. Eine stattliche Quote von Sklaven agierte unentwegt in denselben Bereichen und auf dieselbe Weise wie die Freien. Sie waren demnach nicht ‹marginalisiert›, nicht am ‹Rand›. Gewiß, legt man die sozialen Aktivitäten von Sklaven zugrunde, dann scheint die Kategorie des ‹sozialen Todes› unbrauchbar zu sein, da im Alltag die Grade der relativen Eingliederung in die Gesellschaft wichtig waren.[15] Doch die Kategorie des ‹sozialen Todes› meint eine ‹institutionelle Marginalität›: Zwar können Sklaven Rollen und Tätigkeiten ausüben, welche im sozialen Gefüge hochwichtige sind; doch sobald ihr Herr – aus welcher Laune auch immer – es will, stürzen diese Sklaven in einen Zustand weitgehender Isolierung, Marginalisierung, Entbehrung und völliger Erniedrigung; ein Wink ihres Herrn reduziert sie zum Nichts.[16] Ein solches Ausmaß von Statusinkonsistenz gibt es nur in der Sklaverei. Diese extreme Möglichkeit ist latent vorhanden und rechtlich garantiert; darum ist der Sklave tatsächlich ‹sozial tot›, obwohl ihm gelegentlich sogar herrschaftliche Aufgaben anvertraut werden.
Andere Historiker halten sämtliche Definitionen der Sklaverei für unzulänglich, weil keine imstande wäre, die Vielfalt der konkreten Situationen sklavischen Lebens einzufangen. Indes, diese Vielfalt ist eben nur möglich in der Sklaverei. Warum? Weil in allen asymmetrischen Beziehungen die stärkere Seite in der Lage ist, die schwächere in unterschiedliche Situationen hineinzudrängen. Je größer das Machtpotential des Überlegenen ist, desto unterschiedlicher können diese Situationen sein. In der Sklaverei ist es am größten, weshalb der Herr den Sklaven auf vielfältigste Weise gebrauchen kann. Darum findet man Sklaven in einer verblüffenden Mannigfaltigkeit von Rollen und Funktionen. Diese Vielfalt erschwert interkulturelle Vergleiche: Innerhalb ein und derselben Kultur geraten Sklaven in dermaßen unterschiedliche Situationen, daß die Spannweite dieser Situationen erheblich größer ist als die Differenz zwischen den rechtlichen Regelungen verschiedenster Kulturen.[17] Die Unterschiedlichkeit der sklavischen Lebenssituationen läßt in der Tat zunächst daran zweifeln, daß ein gemeinsamer Nenner sie alle bestimmt. Doch das ist eine optische Täuschung. Gerade das Sklavenverhältnis ermöglicht diese Vielfalt. In anderen Formen von Herrschaft ist die Möglichkeit, über beherrschte Menschen zu verfügen, weit geringer; daher können diese auch gar nicht in so unterschiedliche Situationen – was Tätigkeiten und Funktionen angeht – geraten.[18]
Sklaverei ist ein Zwangssystem, in welchem Gewalt gebraucht wird. Sie ‹verfremdet› den Versklavten, wie Moses Finley darlegt:
«Die potentielle oder tatsächliche Anwendung von nackter Gewalt ist natürlich bei der ganzen Sachlage eine unausweichliche Konsequenz, aber sie ist auch mehr als das. Wenn ein Sklave ein beseelter Besitz ist, nicht eigentlich eine Person, und dennoch biologisch unzweifelhaft ein menschliches Wesen, muß man institutionalisierte Verfahren erwarten, die ihn als Menschen herabsetzen und seine menschliche Eigenschaften verdrängen, so daß man ihn von Menschen, die kein Besitz sind, unterscheiden kann. Körperliche Züchtigung und Folter stellen eines dieser Verfahren dar.»[19]
Die bloße Möglichkeit, eine besondere Menschengruppe physisch zu mißhandeln, macht aus ihnen ‹Andere›. Hier stellt sich die Frage nach ‹Schonräumen›. Manche Kulturen begrenzen das legitime Maß von willkürlicher Machtausübung mit Schutzgesetzen, z.B. religiös gebotene Arbeitsruhe oder Tötungsverbote. Wo überhaupt keine Schutzbestimmungen den Sklaven ‹Schonräume› verschaffen, dort ist das System am flexibelsten; denn der Zugriff ist dann rein rechtlich total. Faktisch ist er niemals total, weil es keine totale Herrschaft geben kann. Finley hielt solche Schutzbestimmungen für irrelevant.[20] Das entspricht einer ‹objektistischen› sozialgeschichtlichen Perspektive: wenn die Schutzbestimmungen das fundamentale Verhältnis nicht antasten, dann sind sie kosmetische Elemente an einem unmenschlichen System. Indes, die Kulturanthropologie betrachtet das Problem auch unter dem Aspekt, wie die Akteure ihre Situation erfuhren. Und dann sind Schutzbestimmungen keineswegs irrelevant, sondern schaffen Unterschiede, was das Leiden und die Qualen der Erniedrigten angeht. Für die Erfahrung des Sklaven und für die Erfahrung des Herrn ist nicht nur der Alltag konstitutiv, sondern der mögliche Grenzfall an Brutalität. Beide Seiten wissen, daß er eintreten kann und was er bedeutet. Sie versuchen daher, ihm auszuweichen, denn beide verlieren dabei: der Herr verliert für viele Wochen – oder für immer – die Arbeitskraft eines Sklaven, für den er teuer bezahlt hat; und der Sklave verliert die körperliche Integrität oder gar das Leben.
Jedenfalls bekunden Schutzgesetze den Willen des politischen Systems, das kollektive politische Interesse gegen das individuelle Interesse des Sklavenhalters durchzusetzen: während dieser daran interessiert ist, im Ernstfall über eine unbegrenzte Abschreckung zu verfügen, liegt jenem daran, die individuelle Willkür einzudämmen, um das Funktionieren der Institution Sklaverei reibungsfrei zu halten.
Die soziale Effizienz von Strafsystemen und Schutzgesetzen hängt demgemäß nicht zuletzt davon ab, in welchem Grade die Öffentlichkeit präsent ist, wenn Strafen beschlossen und dann vollzogen werden. In den Plantagenkolonien der Karibik schränkten Sklavengesetzbücher die Strafgewalt des Herrn erheblich ein. Verglichen mit dem klassischen Athen, wo anscheinend keinerlei Schutzbestimmungen galten,[21] war der Handlungsspielraum des Herrn begrenzt. Dennoch sagt uns das wenig darüber, wie gewaltsam und erniedrigend ein Herr seine Sklaven behandelte. Ob er sich an Rechtsnormen hielt oder nicht, hing vor allem davon ab, wie weit eine spezifische Öffentlichkeit bemerkte, was er tat, und es tadelte oder billigte. In Gesellschaften mit gering ausgebildeten öffentlichen Räumen der Kommunikation weitete sich der Handlungsspielraum des Herrn, trotz aller rechtlichen Regelungen. Denn was in der Abgeschirmtheit eines Herrenhauses passierte, entzog sich weitgehend der sozialen Kontrolle. Darum ist es unmöglich, festzustellen, in welcher Kultur die faktische Verfügung über den versklavten Menschen am schlimmsten war.
Als falsch hat sich die Annahme erwiesen, die Produktivität von Sklavenarbeit steige, wenn Schutzbestimmungen fehlten und die Ausbeutung nicht behinderten. Die größere Verfügung über den Sklaven machte die Sklavenarbeit nicht produktiver.[22] Höhere Produktivität wurde – außer bei monotonen und gefährlichen Tätigkeiten wie etwa in Mühlen, Bergwerken, Steinbrüchen – weit mehr über die Motivation erreicht als über den Zwang.
Hierher gehört auch die Frage, inwieweit die Praxis, Sklaven freizulassen, sich auf deren ‹Mentalität› auswirkte, also auf Einstellungen, Verhalten und Vorstellungen. Denn manche sklavistische Gesellschaften, so vor allem die römische, aber auch die islamische, ließen in ansehnlichem Umfang Sklaven frei. War diese Aussicht glaubwürdig, spornte sie dazu an, die Anforderungen des Herrn besonders gut zu erfüllen. Eine hohe Freilassungsquote führte in die Sklaverei nicht bloß ein reales Moment von ‹Hoffnung› ein, sondern auch die Vorstellung des ‹Verdienstes›. Damit veränderte sich die Erfahrungsstruktur der Versklavten. Denn nun ließ sich die Versklavung interpretieren als Schicksal, die Freilassung aber als Verdienst, welches für jeden Sklaven theoretisch erlangbar wäre. Den Sklavenhaltern gestattete diese Ideologie, sich am Schicksal unschuldig zu wähnen, dafür sich verantwortlich zu fühlen für die Belohnung von Verdiensten. Als Richter über das Wohlverhalten fiel ihnen das Strafen leichter, ebenso wie die Überausbeutung der ‹schlechten› Sklaven.[23] Wenn in der Vorstellungswelt der Sklaven die Polarität von Schicksal und Verdienst sich verankerte, dann gerieten Sklaven, denen die versprochene Freiheit nicht gegeben wurde, in ein Dilemma: Sie mußten entweder annehmen, dass Ungerechtigkeit und Intrigen sie um die eigentlich verdiente Belohnung brachten – so stiegen Misstrauen und Haß auf die Mitsklaven, selten auf den Herrn –, oder sie gaben sich selber die Schuld, hielten sich für unfähig, die eigene Situation zu ändern und kamen zur Ansicht, das eigene Schicksal verdient, vielleicht sogar selber bewirkt zu haben und eigentlich minderwertig zu sein.
Regelmäßige Freilassungen signifikanten Umfangs entsolidarisieren die Sklaven, denn als Anwärter auf die Freiheit konkurrieren sie miteinander um das höchste Ziel überhaupt. Gerade die oberen Schichten der Sklaven, welche bei Aufständen die Rolle von organisatorischen und ideologischen Kernen übernehmen würden, haben die größten Chancen, freigelassen zu werden und am wenigsten Grund, sich mit ihren Mitsklaven zu solidarisieren.
Der Althistoriker Moses Finley unterschied zwischen ‹Gesellschaften mit Sklaverei› und genuinen ‹Sklavenhaltergesellschaften›. Letztere besitzen drei Merkmale: 1. Der Sklavenanteil beträgt mindestens 20% der Bevölkerung, 2. Sklaven tragen maßgeblich bei zur Erzeugung des gesellschaflichen Mehrprodukts, 3. sie durchdringen alle kulturellen Bereiche. Finley behauptete, es habe nur fünf solche ‹Sklavenhaltergesellschaften› gegeben, zwei in der Antike – Hellas und Rom –, drei in der Moderne, nämlich Brasilien, die Karibik und der Süden der USA.[24] Seltsamerweise gehören alle fünf zur westlichen Kultur. Ein großer Teil der Historiker übernahm sowohl Finleys Unterscheidung wie auch seine Fünferzahl. Doch Orlando Patterson stellte fest, daß es demnach sehr viele ‹Sklavenhaltergesellschaften› gegeben hat; und Noel Lenski hat nachgewiesen, daß Finleys Konzepte tendenziös und untauglich sind.[25] Die Finleysche Differenz ist somit historisch unhaltbar. Ferner hielt Finley die Sklaverei für «eine späte und relativ seltene Form von Zwangsarbeit».[26] Ein kardinaler Irrtum, wie Patterson aufgewiesen hat.
Claude Meillassoux hat diesen Ansatz grundsätzlich zurückgewiesen: «Es leuchtet wirklich nicht ein, daß die Sklaverei nur ein Produktionsverhältnis sein soll».[27] Es sei irrelevant, für welche ökonomischen Tätigkeiten die Sklaven eingesetzt werden. Vielmehr sei wichtig, ob die Sklaverei sich erwartbar in der Zukunft reproduziert:
«Sklaverei als Gesellschaftssystem existiert dann, wenn sich eine gesonderte Klasse von Individuen herausbildet, die ein und demselben Stand angehören und sich kontinuierlich und institutionell erneuern, so daß die Funktionen, die diese Klasse erfüllt, ständig gesichert sind und sich auch die Ausbeutungsverhältnisse sowie die davon profitierende Klasse regelmäßig und kontinuierlich als solche erneuern.»
Demnach gab es in der Geschichte sehr viele sklavistische Gesellschaften. Trotzdem bleibt es sinnvoll, eine sklavistischen Produktionsweise zu unterscheiden von einer bloß sklavistischen Gesellschaft. Erstere setzt die Sklaven zum großen Teil im gewinnträchtigsten Produktionszweig ein, und zwar so, daß er ohne Sklaven zusammenbräche. Das war der Fall im Nordosten Brasiliens, in der Karibik und in den Südstaaten der USA, nicht aber in der griechischen oder römischen Antike. Hingegen kann in sklavistischen Gesellschaften schon eine Sklavenquote von 1% die Sklaverei omnipräsent machen, je nachdem in welchen sozialen Bereichen man Sklaven verwendet. Im amerikanischen Süden vor dem Bürgerkrieg waren es etwa 33%; im Athen der klassischen Zeit dürfte diese hohe Quote kaum je erreicht worden sein.
Wie andere Gelehrte glaubte auch Meillassoux, die hohe Ausbeutungsrate lasse nicht zu, daß Sklaven in quasi-familialen Verhältnissen sich genügend reproduzierten, folglich benötige jede sklavistische Gesellschaft einen ständigen Import von versklavten Menschen. Indes, das ist ein Irrtum. Das beeindruckendste Gegenbeispiel liefern die Südstaaten der USA; doch es gibt einige andere. Läßt man Sklaven in Pseudo-Familien sich reproduzieren, dann muß man ihnen mehr freie Zeit zugestehen. Praktisch entsteht dann eine Pseudo-Leibeigenschaft. Doch in der Leibeigenschaft ist die Verfügung über den verknechteten Menschen eingeschränkt und die Rate der Ausbeutung scheinbar deutlich niedriger. Dagegen könne – so Meillassoux – die Ausbeutung des Sklaven bis zum Maximum getrieben werden: er muß nicht für seine eigene Reproduktion sorgen, weil sein Nachfolger militärisch, sozial oder juristisch produziert wird; die Akkumulation von Profiten sei in der ‹reinen› Sklaverei viel höher. Ferner drohe hier eine politische Gefahr: Da Leibeigene viel besser in die Gesellschaft integriert sind, besitzen sie eine höhere Widerstandskraft; die Gefahr von Aufständen steige qualitativ, folglich müsse die Herrenklasse sich kriegerisch organisieren.[28]
Diese Überlegung unterschlägt einen wesentlichen kulturellen Faktor, nämlich die Motivation des Sklaven, seine Arbeit ordentlich – vielleicht sogar sehr gut – zu machen. Dazu bedurfte es starker Anreize; das Leben in einer Pseudo-Familie bot solche. Beide Seiten gewannen: der Sklave gewann Freiräume, eine unerwartete emotionale Heimat und eine stärkere Lebenserfüllung, der Herr gewann eine höher motivierte Arbeitskraft und obendrein Sklavenkinder, welche die momentane Sklavengeneration ersetzten. Selbstverständlich ist diese Motivation einer Zwangslage geschuldet. Doch als Motivation ist sie eben etwas anderes als die Einwirkung von Gewalt.
Besonders deutlich ist das dort, wo Sklaven regelmäßig und in signifikanten Quoten freigelassen wurden, wie etwa in der römischen Antike. Die Freilassung war einer der effektivsten Mechanismen, um die Sklaverei als Institution zu stabilisieren. Ihr ökonomischer Effekt war beträchtlich: die Aussicht auf Freilassung trieb den Sklaven zu höheren Leistungen an; die Ausbeutungsrate stieg. Ließ der Herr den Sklaven auf eigene Rechnung wirtschaften, damit dieser sich freikaufte, dann erarbeitete sich der Sklave seine Freiheit üblicherweise in kurzer Zeit; der Herr konnte sich mit der Ablösesumme mindestens einen neuen Sklaven kaufen: da dieser jünger war, verlängerte sich die Ausbeutungszeit. Dem Herrn entstanden deutliche Gewinne durch die Verkürzung der Amortisation.[29] Freilassung war gewiß der stärkste Anreiz, aber andere Anreize vermochten ähnliches, beispielsweise der Aufstieg in der Sklavenhierarchie oder aber das Leben in einer Pseudo-Familie mit eigenen Kindern.
Viele Gelehrte hielten die Sklaverei für ökonomisch unrentabel. Moderne Untersuchungen zeigen das Gegenteil.[30] Wie rentabel Sklaverei jeweils ist, hängt davon ab, wie der Sklavenhalter den unfreien Menschen einsetzt. Wenn Moses Finley die Rentabilität auf die Zwingmacht des Herrn zurückführt – Sklaverei könne sehr rentabel sein, weil sie die umfassendste Verfügung über den abhängigen Menschen gestattet, man nicht bloß über dessen Arbeitskraft verfüge, sondern über den Arbeiter selber –,[31] dann negiert er die subjektive Dimension: Ganze Sklavenheere konnten hochmotiviert sein, sehr rentabel zu arbeiten.
Sklavistische Gesellschaften, in denen die Sklaven sich nicht genügend biologisch reproduzieren, sind angewiesen auf Nachschub. Die Art dieser Zufuhr richtet sich danach, ob ein intrusiver Typ der Sklaverei vorliegt oder ein extrusiver. Extrusive Sklaverei schöpft aus dem ‹inneren› Menschenreservoir. Freilich dürfen die Mechanismen des internen Versklavens nicht überansprucht werden, andernfalls droht eine Gesellschaft in verfeindete soziale Gruppen auseinanderzubrechen. Sklavistische Systeme mit hohem Bedarf an Sklavenzufuhr kommen nicht umhin, sich Sklaven von außerhalb ihres Herrschaftsgebietes zu besorgen – entweder indem man sie sich verschafft durch Razzien und Kriege, oder indem man sie kauft. Die ‹Fremdheit› der Opfer braucht man nicht rituell und symbolisch zu produzieren, sondern kann sie bequem als mitgelieferte Eigenschaft einkaufen. Man bezahlt lediglich die ‹Fangkosten› und die Deportationskosten. Eventuell führen die Sklavenhalter ständig Kriege, um sich die Sklaven selber zu besorgen; sie benutzen also ihre Heere oder Flotten als ‹Fang-Apparate› (Meillassoux). Falls sie sich die Sklaven nicht selber kriegerisch beschaffen, sondern bereits Versklavte einkaufen – wie das die Europäer an der afrikanischen Küste taten –, dann benötigen sie leistungsfähige Deportations-Apparate. Die Dynamik der intrusiven Sklaverei enthält – von Anfang an – eine Tendenz zur ‹globalen› Deportation.[32]
Intrusive Sklaverei entzieht ihrer geopolitischen Umwelt permanent Menschen, also die kostbarste soziale Ressource überhaupt. Sie erzeugt geographische Zonen, die Menschen liefern, also ‹Lieferzonen›. Solche Lieferzonen fungieren als ‹Peripherie›, welche unablässig Menschen an die ‹Metropole› abgibt. Damit ist eine dichotomische Entwicklung eingeleitet:
a) In den Lieferzonen nehmen die Versklavungen zu. Das geschieht teils ‹indirekt›, indem die gerichtliche Praxis, Verurteilte zu versklaven, stimuliert wird, ebenso wie die Gewohnheit, Familienangehörige zu verkaufen; teils geschieht es ‹direkt›, indem diejenigen Kriege sich vervielfachen, bei denen die Aussicht besteht, Gefangene zu machen. Solche Versklavungsprozesse können längst intern bestanden haben; doch die Nachfrage von außen beschleunigt und intensiviert sie. Die sklavenimportierende Metropole verändert also die sozialen Abläufe im Innern der betroffenen Kulturen.
b) Eine militärisch überlegene Metropole braucht die Sklaven nicht unbedingt zu kaufen. Will sie ihren Militärapparat beschäftigen, dann beschafft sie sich Sklaven mit kriegerischen Einfällen in die Lieferzone.
c) Sie kann ihren Militärapparat auch schonen für ‹wichtigere› Zwecke. Sie muß dann ihre Überlegenheit in eine dauerhafte politische Überordnung transformieren, um Tributleistungen in Form von Sklaven zu verlangen. Islamische Emirate und Sultanate praktizierten diesen Brauch in großem Stil. Tributpflichtige Stämme werden versuchen, auf Kosten schwächerer Nachbarn die geforderte Sklavenzahl zu besorgen; damit erfolgt der Prozeß des Versklavens de facto durch Krieg, den die Metropole stimuliert, ohne daß er sie etwas kostet. Solche Tributleistungen deformieren die politischen Vorgänge und Verhältnisse in der Lieferzone erheblich.
d) In jedem Falle spaltet sich die Lieferzone politisch: die siegreichen Stämme oder Staaten werden zu Sklavenjägern; die unterliegenden Völker werden zu dauerhaften Opfern von regelmäßigen Razzien. Ist diese Spaltung eingetreten, dann ist die Nachfrage aus der Metropole kein wichtiger Faktor mehr, um die Versklavungen in Gang zu halten. Denn die sklavenjagenden Staaten verändern sich dermaßen, daß ihre neue soziale Struktur sie auf häufiges Kriegführen festlegt.
e) In extremen Fällen, so im Sahel-Sudan des Spätmittelalters, verwandeln sich versklavende Ethnien oder Staaten zu hypertrophen sklavistischen Systemen, welche nun selber auf ständige Zufuhr angewiesen sind, insbesondere wenn sie ‹Militärsklaverei› pflegen; in diesem Falle nimmt die Quote derjenigen Sklaven, die sie an die Metropole verkaufen, deutlich ab. Die Versklavungen innerhalb der Lieferzone bekommen eine autonome Dynamik, unabhängig von der externen Nachfrage seitens der Metropole.
f) Kriege in der Lieferzone sind keine ‹normalen› Kriege. Den Angreifern geht es nicht um Land oder Prestige, sondern darum die Menschen des Feindes selber gefangen zu nehmen. Daher kennen diese Kriege keine Kompromisse und enden nicht mit Friedensverträgen. Diese Kriege sind für die Angegriffenen sehr verlustreich, zumal ihr Widerstand oft verzweifelt ist; die Kriegführung ist äußerst grausam. Alle Versklavungskriege tendieren zum Genozid, obwohl der Genozid gerade nicht das Ziel des Krieges ist.
g) Irgendwann sind größere Gebiete der Lieferzone ‹leergejagt›. Die Versklaverstaaten müssen daher ihre militärische Reichweite in Stufen ausdehnen. Sie geraten aneinander, und letztendlich bekriegen sie einander mit der Absicht, den jeweils Besiegten zum Sklavenreservoir zu degradieren. Dieser Prozeß ist unaufhaltsam. Einzig eine überlegene Macht von außen kann ihn mit politischen und militärischen Mitteln stoppen.
Sklavistische Gesellschaften des intrusiven Typs erzeugen einen dichotomischen geopolitischen Großraum mit divergierenden Chancen kultureller Entwicklung:
Eine Sklavenkarawane durchquert die Sahara (Stich von K.-W. Gentz)
a) In der Metropole besteht ein Überschuß an Arbeitskraft; dort kann eine reiche Stadtkultur erblühen mit hochentwickeltem Handwerk, hoher politischer Partizipation, mit dauerhaften Traditionen und verfeinerter geistiger Kultur.
b) In der Peripherie vereinseitigt das unablässige Kriegführen die soziale und kulturelle Entwicklung. Die Sieger entwickeln eine ‹prädatorische› (räuberische) Produktionsweise, welche sie von unaufhörlichen Beutekriegen abhängig macht und ihre sonstigen kulturellen Aktivitäten allmählich erstickt. Die bejagten Gesellschaften gleiten in soziale Anomie: Elementare rechtliche oder administrative Verhältnisse schwächen sich ab und brechen zusammen, Rechtsnormen verankern sich nicht, weil die ethnischen, religiösen oder staatlichen Verbände sich ständig auflösen und umbilden, wobei gemeinsame moralische Horizonte verschwinden. Die Verwüstungen der Infrastruktur unterbrechen immer wieder die Herausbildung von Hochkulturen, machen schon vorhandene Ansätze wieder zunichte.
c) Dieses Verhältnis zwischen stabiler Metropole und destabilisierter Peripherie bleibt so lange bestehen, wie die Metropole den kriegerischen Staaten der Peripherie militärisch überlegen ist.
Folglich zwingen sklavistische Gesellschaften des intrusiven Typs ihren Nachbarn eine Unterentwicklung auf. Unterentwicklung im Sinne einer Peripherie-Metropolen-Struktur gibt es nicht erst mit dem kapitalistischen Weltmarkt. Sondern sie entsteht mit einem System, das eine ständige Zufuhr von Menschen benötigt.
Die Nachfrage in der importierenden Metropole ist nicht unbedingt entscheidend für das Ausmaß und den Rhythmus des Versklavens. Doch sie bleibt wichtig, insofern ihr Anstieg die Prozesse des Versklavens beschleunigt. Das gilt nicht bloß für die intrusive Sklaverei. Auch bei extrusiver Sklaverei führt ein erhöhter Bedarf an Sklaven zu Veränderungen mit weitreichenden sozialen Folgen: dann geraten die sozial schwächeren Schichten einer Gesellschaft in einen gefährlichen Strudel, der immer mehr Menschen in die Sklaverei schlingt.
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