Israel und die verborgenen
Ursprünge der Bibel
Aus dem Englischen von Rita Seuß
Verlag C.H.Beck
Israel Finkelstein beschreibt in seinem bahnbrechenden Buch die Geschichte des Königreichs Israel konsequent aus archäologischer Sicht. In diesem schon 722 v. Chr. untergegangenen, von der Bibel als sündig verworfenen und von der Forschung vergessenen Reich findet er die wahren Ursprünge von zentralen biblischen Erzählungen.
Für die Bibel waren die Könige von Israel treulose Sünder – im Gegensatz zu den Königen von Juda. Das hat dazu geführt, dass man vom Königreich Israel über die biblische Sicht hinaus wenig weiß. Israel Finkelstein rekonstruiert auf der Grundlage von jahrzehntelangen Ausgrabungen erstmals dessen wahre Geschichte. Dabei zeigt sich das überraschende Bild eines altorientalischen Reiches, das viel weiter entwickelt war als das südlich angrenzende Königreich Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem. Hier, in Israel, standen in Wirklichkeit der Palast und der Tempel, die später den legendären Königen David und Salomo zugeschrieben wurden. Hier entstanden so zentrale Erzählungen wie die vom Stammvater Jakob oder vom Auszug aus Ägypten. Dass dieses Königreich erobert, verworfen und vergessen wurde, aber sein Name und seine Mythen schließlich um die Welt gingen, ist das eigentliche Wunder, das Israel Finkelstein höchst anschaulich erklärt.
Israel Finkelstein, geb. 1949, ist Professor für Archäologie an der Universität Tel Aviv und Leiter eines Grabungsteams in Megiddo. Er wurde 2005 mit dem hochdotierten Dan-David-Preis ausgezeichnet, gehört zu den führenden Archäologen in Israel und gilt als “einer der wichtigsten Innovatoren” (FAZ). Durch zahlreiche Veröffentlichungen und Gastprofessuren in Chicago, Harvard und Paris ist er international renommiert. Bei C.H.Beck erschien von ihm u.a. “Keine Posaunen vor Jericho” (mit N. A. Silberman, Sonderausgabe 2006).
EINLEITUNG: WARUM EIN BUCH ÜBER DAS KÖNIGREICH ISRAEL?
Geschichtsschreibung und historische Erinnerung
Neue Entwicklungen in der Archäologie
Die persönliche Perspektive
1. DIE AUSGANGSSITUATION:
SICHEM UND DIE KANAANÄISCHEN STADTSTAATEN
Sichem in der Spätbronzezeit
Die Amarna-Zeit
Die Sichem-Koalition
Die Anti-Sichem-Koalition
Die territorialen Ambitionen Sichems
Das Ende der Spätbronzezeit
Das Bergland und die Ebenen in der Eisenzeit I
Das Bergland
Schilo
Gab es eine größere Kultstätte in Schilo?
War Schilo ein regionales Verwaltungszentrum?
Abimelech
Die Ebenen
Das Neue Kanaan
Die Zerstörung des Neuen Kanaan
2. DAS ERSTE ISRAELITISCHE GEMEINWESEN:
GIBEON UND DAS HAUS SAUL
Israelitische Siedlungen im zentralen Bergland
Das Gibeon-Bet-El-Plateau
Pharao Schoschenq I. und das Bergland nördlich von Jerusalem
Exkurs: Das Land Benjamin – Norden oder Süden?
Schoschenq I. und das saulidische Territorium
Frühe Erinnerungen in den Samuelbüchern: Der Fall Schilo
Das Herrschaftsgebiet der Sauliden
Saul und die Sauliden
Das Territorium der Sauliden
Wo verlief die nördliche Grenze?
Wo verlief die südliche Grenze? Khirbet Qeiyafa
Philister oder Ägypter?
3. DIE ANFÄNGE DES KÖNIGREICHS:
DAS GEMEINWESEN TIRZA
Datierungsfragen
Die materielle Kultur der frühen Eisenzeit
Tirza als Residenz der ersten Könige
Archäologische Befunde
Grabungsergebnisse
Die Bedeutung der frühen Hauptstadt
Das von Tirza aus regierte Territorium
Dan
Ben-Hadad
Was sagt die Archäologie?
Pharao Schoschenq I. und die Jesreel-Ebene
Westen und Osten
Expansion vom Bergland aus
Der Aufstieg König Jerobeams I.
Tirza und Jerusalem
4. PROSPERITÄT UND MACHTENTFALTUNG:
DIE DYNASTIE DER OMRIDEN
Eine Zeit der Blüte
Die omridische Architektur
Samaria
Die Akropolis von Samaria
Jesreel Hazor
Jahaz und Atarot in Moab
Khirbet el-Mudeyine eth-Themed
Khirbet Atarus
Tell er-Rumeith im Gilead
Andere Orte
Besonderheiten der omridischen Architektur
Das Territorium der Omriden
Die Bevölkerung
Wirtschaftliche Ressourcen
Die Tätigkeit von Schreibern
Der religiöse Kult
5. ISRAELS SCHWANENGESANG:
DAS LETZTE JAHRHUNDERT DES KÖNIGREICHS ISRAEL
Hasaëls Angriffe auf Israel
Zerstörungen in der späten Eisenzeit
Die schriftlichen Befunde
Hasaëls neue Ordnung
Dan und Betsaida
Territoriale Expansion
Wirtschaftlicher Wohlstand
Öl und Wein
Der Handel im östlichen Mittelmeer
Der israelitische Pferdehandel
Handel mit Arabien
Die Neuordnung des Kultes
Schriftkultur und die Entstehung der Texte im Norden
6. JAKOBSZYKLUS UND EXODUS:
DIE «GRÜNDUNGSMYTHEN» DES NORDREICHS
Der Jakobszyklus und sein historischer Hintergrund
Die Überlieferung von Exodus und Wanderung
Zwei unterschiedliche Gründungsmythen
7. DAS ENDE UND DANACH:
EINE NEUE BEDEUTUNG FÜR «ISRAEL»
Israeliten in Juda nach dem Untergang Israels
Die Idee des biblischen Israel
SCHLUSS:
WAR DAS KÖNIGREICH ISRAEL EIN SONDERFALL?
Die Datierung ist entscheidend
Geschichte der longue durée
Israel und Juda
ANHANG
Dank
Abkürzungen
Anmerkungen
Literatur
Register
In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. beherrschte Israel einen Großteil des Territoriums der beiden hebräischen Königreiche (Abb. 1), und seine Bevölkerung machte drei Viertel des Volkes Israel und Juda zusammen aus.[1] Militärisch wie wirtschaftlich war das Nordreich Israel stärker als das Südreich Juda, und in der ersten Hälfte des 9. sowie im 8. Jahrhundert – beinahe die Hälfte der Zeit, in der die beiden Königreiche gleichzeitig existierten – dominierte Israel das Südreich. Trotzdem steht Israel im Schatten Judas, in der Hebräischen Bibel ebenso wie in der Aufmerksamkeit der modernen Forschung.
Die Geschichte des Alten Israel in der Hebräischen Bibel wurde von judäischen Autoren in Jerusalem geschrieben, der Hauptstadt des Südreichs, die der Mittelpunkt der davidischen Dynastie war. Deshalb übermittelt sie judäische Vorstellungen über Territorium und Königtum, über Tempel und Kult. Auch die von einigen Forschern für besonders alt gehaltenen Texte wie die Samuelbücher entstanden erst, nachdem Israel von Assyrien besiegt und seine Elite deportiert worden war.[2] Als im späten 7. Jahrhundert die älteste Schicht des deuteronomistischen Geschichtswerks geschaffen wurde,[3] war das Nordreich Israel bereits eine ferne, vage Erinnerung, die mehr als hundert Jahre zurücklag. Israelitische Überlieferungen wurden in die Hebräische Bibel aufgenommen: Textblöcke wie der Jakobszyklus der Genesis,[4] die Überlieferung vom Auszug aus Ägypten,[5] das sogenannte Retterbuch im Buch der Richter,[6] positive Überlieferungen zu König Saul in den Samuelbüchern, die prophetischen Geschichten von Elia und Elischa in den Königsbüchern und die beiden Propheten des Nordreichs Hosea und Amos.[7]
Die ursprünglichen Texte aus dem Norden – oder zumindest einige von ihnen – könnten bereits in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. in der Hauptstadt Samaria oder im JHWH-Tempel in Bet-El an der Nordgrenze Judas entstanden sein.[8] (Das hebräische Tetragramm für den Gottesnamen, von dem die meisten Gelehrten annehmen, dass es Jahwe ausgesprochen wurde, wird hier als JHWH wiedergegeben.) Sowohl schriftlich fixierte Texte als auch mündliche Überlieferungen gelangten wahrscheinlich nach dem Untergang Israels im Jahr 720 v. Chr. mit israelitischen Flüchtlingen nach Juda.[9] Schätzungen zum Bevölkerungswachstum in Juda zwischen der Eisenzeit IIA und der Eisenzeit IIB (9. bis spätes 8./frühes 7. Jahrhundert) deuten darauf hin, dass in spätmonarchischer Zeit israelitische Gruppen einen bedeutenden Anteil an der Bevölkerung des Südreichs bildeten.[10] Überlieferungen aus dem Norden wurden in den judäischen Kanon aufgenommen, entweder weil sie die judäische Ideologie stützten oder weil die Eingliederung der großen israelitischen Bevölkerungsgruppe in das Königreich Juda politisch geboten war. Im zweiten Fall wurden die ursprünglich israelitischen Traditionen judäischen Bedürfnissen und judäischer Ideologie untergeordnet. Im Fall der Samuelbücher zum Beispiel wurden die negativen Überlieferungen aus dem Nordreich zum Gründer der davidischen Dynastie zwar übernommen, aber so umgedeutet, dass David von allen Missetaten reingewaschen wurde.[11] Damit ist auch hier die ursprüngliche, authentische Stimme Israels in der Hebräischen Bibel kaum zu vernehmen.
Die politische Ideologie des deuteronomistischen Geschichtswerks der Bibel beschreibt die Situation nach dem Untergang des Nordreichs. Sie ist ganz auf Juda zentriert und erhebt den Anspruch, dass alle einstmals zu Israel gehörenden Territorien von einem davidischen König regiert werden müssen sowie alle Hebräer die Herrschaft der davidischen Dynastie anerkennen und den Gott Israels im Tempel von Jerusalem verehren müssen. Dementsprechend ist die Geschichte des Nordreichs äußerst verkürzt und sehr negativ gefärbt,[12] während die einzelnen Hebräer dadurch Teil der Nation werden können, dass sie die zentrale Stellung des Tempels und der Dynastie von Jerusalem akzeptieren. Ihr eigenes Königreich und ihre eigenen Könige galten dagegen als illegitim.
Abb. 1: Israel und Juda im 8. Jahrhundert v. Chr.
Lediglich den Königen Jerobeam I. und Ahab sind größere Textpassagen gewidmet, der Ton jedoch ist, wie gesagt, negativ. So wird Jerobeam I., der Gründer des Nordreichs, als der erste Abtrünnige dargestellt, dessen Verfehlungen den Untergang Israels von Anfang an besiegelten.[13] Die Regierungszeit anderer israelitischer Könige dagegen wird in wenigen Sätzen abgehandelt. Nur sechs Verse befassen sich mit Omri, dem Gründer der berühmtesten Dynastie des Nordens, dessen Name in assyrischen Aufzeichnungen mit Israel gleichgesetzt wird. Lediglich einer von ihnen ist nicht formelhaft. Sieben Verse beziehen sich auf Jerobeam II., einen der bedeutendsten Könige in der Geschichte der beiden hebräischen Reiche, der fast vierzig Jahre lang regierte (788–747 v. Chr.) und große Gebiete eroberte. Sehr wenig wird über die Hauptstadt Samaria gesagt und relativ wenig über die größeren und kleineren Ortschaften auf dem Land. Der Grund dafür ist die räumliche Distanz der Autoren in Jerusalem und ihre mangelnde direkte Vertrautheit mit der Landschaft. So werden nur wenige Orte des israelitischen Territoriums im Ostjordanland genannt, das aber genauso groß war wie das judäische Bergland, von dem in der Bibel rund fünfzig Orte namentlich erwähnt werden.
Hinzu kommt, dass biblische, archäologische und historische Untersuchungen des Alten Israel von der jüdisch-christlichen Geschichtstradition dominiert sind, die ihrerseits von der Hebräischen Bibel, also judäischen Texten, geprägt ist. Die Bibel ist aber nun einmal so, wie sie ist, und daher beschäftigt sich die wissenschaftliche Bibelforschung hauptsächlich mit Juda und dessen Sicht Israels, die hundert Jahre nach dem Zusammenbruch des Nordreichs formuliert wurde.
Die archäologische Forschung bildet in gewisser Weise ein Korrektiv zu diesem Bild. Das eisenzeitliche Juda wurde archäologisch gründlich untersucht. Jerusalem zählt weltweit zu den bestausgegrabenen Städten, vor allem durch die Forschungen der letzten fünfzig Jahre, und auch fast alle wichtigen Orte im Hinterland Jerusalems wurden freigelegt: Mizpa und Hebron im Bergland, Lachisch und Beth-Schemesch in der Schefela, Beerscheba und Arad im Beerscheba-Tal. Auch Israel haben die Wissenschaftler nicht vernachlässigt. Seine Hauptstadt Samaria wurde zweimal archäologisch eingehend erforscht, ebenso alle bedeutenderen Orte auf dem Land: Bet-El, Sichem und Tell el-Far‘ah (Tirza) im Bergland, Geser im Südwesten, Dor an der Küste und Megiddo, Jesreel, Hazor und Dan in den Ebenen des Nordens. Auch die ländlichen Regionen des Nordreichs – im Bergland ebenso wie in der Tiefebene – wurden intensiv untersucht. Dank archäologischer Oberflächenuntersuchungen (Surveys) konnten Siedlungskarten nach einzelnen Epochen erstellt werden. Es ist also die Feldforschung, die eine archäologisch gestützte, von der judäischen Ideologie freie Sicht auf die Geschichte Israels ermöglicht und es damit erlaubt, die Geschichte des Alten Israel im Allgemeinen und der beiden hebräischen Königreiche im Besonderen ausgewogener zu rekonstruieren.
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Königreichs Israel hauptsächlich in den Phasen seiner Konstituierung. Der erzählerische Leitfaden ist die Archäologie: Ergebnisse von Ausgrabungen ebenso wie von Oberflächenuntersuchungen. Diese Resultate der archäologischen Forschung werden in einem nächsten Schritt mit dem Wenigen verknüpft, was wir aus schriftlichen Quellen des alten Nahen Ostens und aus den biblischen Texten wissen, denen man authentische, nichtpropagandistische Informationen über das Nordreich zusprechen kann, und seien es nur vage Erinnerungen.
Im Hinblick auf das biblische Material, das nicht aus Kreisen des Nordreichs stammt – beispielsweise die Informationen in den Königsbüchern –, stellt sich natürlich die Frage, wie der oder die judäischen Autoren der späten Königszeit, die in Jerusalem lebten, Kenntnisse über Ereignisse besitzen konnten, die Jahrhunderte vor ihrer Zeit und teilweise an Orten weit entfernt von Jerusalem stattfanden. Die Antwort lautet, dass die judäischen Autoren eine Liste der israelitischen Könige zur Verfügung gehabt haben müssen, auf der die Regierungszeit und Angaben zu Herkunft und Tod der Monarchen verzeichnet waren. Diese Liste muss ihnen Auskünfte vermittelt haben, die sie in die Lage versetzten, die israelitischen und judäischen Könige zueinander in Beziehung zu setzen. In der Regel ist die Information in den kurzen biblischen Versen korrekt und wird durch außerbiblische assyrische Texte untermauert. Man darf auch nicht vergessen, dass Quellen aus dem Nordreich (falls sie im frühen 8. Jahrhundert in Samaria oder Bet-El schriftlich fixiert wurden) der Frühphase der Geschichte Israels und Judas im 10. Jahrhundert zeitlich sehr viel näher standen als die judäischen Autoren der späten Königszeit oder danach. Die Autoren aus dem Norden schrieben nur gut hundert Jahre nach dieser Konstituierungsphase, während die frühen judäischen Autoren dreihundert Jahre später ihre Aufzeichnungen machten. Eine wichtige Informationsquelle könnten israelitische Flüchtlinge gewesen sein, die sich in Juda ansiedelten und die judäischen Autoren mit schriftlich und mündlich überliefertem Material zu den Gebieten des Nordreichs beiderseits des Jordans versorgten.
Dieses Buch verfolgt nicht die Absicht, ein lückenloses Bild von der materiellen Kultur und der Geschichte des Nordens in der Eisenzeit zu zeichnen. Es geht mir vor allem um die geopolitischen Verhältnisse in der südlichen Levante, um die Territorialgeschichte Israels und um das, was in der kulturanthropologischen Literatur als «Staatenbildung» bezeichnet wird, also die Entstehung von territorialen Gemeinwesen mit einem Beamtenapparat und Verwaltungseinrichtungen. Ein besonderer Nachdruck liegt auf dem Einfluss der Umwelt auf historische Entwicklungen und auf Langzeitprozesse, die die Geschichte des Nordens im späten 2. und frühen 1. Jahrtausend v. Chr. prägten.
Der hier abgesteckte zeitliche Rahmen reicht von der Spätbronzezeit II bis zur Eisenzeit IIB. In absoluter Chronologie gerechnet, ist dies der Zeitraum zwischen ca. 1350 und 700 v. Chr. Unser Schwerpunkt liegt jedoch auf einer kürzeren Zeitspanne: der Entstehung territorialer Gemeinwesen im zentralen Bergland Israels zwischen ca. 1000 und 850 v. Chr. Die Spätbronzezeit wird hier hauptsächlich als Modell erörtert, zu dem relativ gutes archäologisches und historisches Material zur Verfügung steht. Die letzten hundert Jahre in der Geschichte des Nordreichs werden nur am Ende des Buches kurz gestreift. Das letzte Kapitel handelt von der israelitischen Bevölkerung in Juda nach 720 v. Chr., einem Phänomen, das für die Entstehung der Hebräischen Bibel eine Schlüsselrolle spielte.
Zunächst eine klärende Bemerkung zur Chronologie: Unsere Kenntnis von der relativen und absoluten Chronologie der eisenzeitlichen Schichten und Monumentalbauten in der Levante wurde in den letzten fünfzehn Jahren wahrhaft revolutioniert. Was die relative Chronologie angeht, so ebnete die verstärkte Erforschung von Keramikfunden aus gesicherten stratigraphischen Kontexten an Ausgrabungsstätten wie Megiddo und Tel Rehob im Norden und Lachisch im Süden den Weg zu einer Einteilung der Eisenzeit in sechs Phasen der Keramiktypologie: frühe und späte Eisenzeit I,[14] frühe und späte Eisenzeit IIA[15] sowie Eisenzeit IIB und Eisenzeit IIC.[16] Bezüglich der absoluten Chronologie ermöglichten intensive Radiokarbonuntersuchungen eine Datierung dieser Phasen mit einer Genauigkeit von fünfzig Jahren oder weniger. Damit gehören die auf einer unkritischen Interpretation der biblischen Texte basierenden Dispute der Vergangenheit an.[17] In diesem Buch verwende ich Daten aus zwei Untersuchungen:
(1) Ein statistisches Modell, das auf einer Vielzahl von Radiokarbondatierungen beruht: 229 Ergebnisse aus 143 Proben, die aus 38 Schichten an 18 Ausgrabungsstätten des nördlichen und südlichen Israel stammen.[18] Die Radiokarbonmessungen aus Israel sind die dichtesten in der Archäologie des alten Nahen Ostens für einen so kurzen Zeitraum und für ein derart kleines Gebiet.
(2) Ein statistisches Modell für eine einzelne Ausgrabungsstätte, nämlich Megiddo: etwa hundert Radiokarbonbestimmungen aus rund sechzig Proben für zehn Schichten, die einen Zeitraum von annähernd sechshundert Jahren zwischen circa 1400 und 800 v. Chr. abdecken (siehe Abb. 2).[19] Megiddo ist für ein solches Modell besonders gut geeignet, weil diese Zeitspanne vier große Zerstörungsschichten mit vielen organischen Proben aus zuverlässigen Kontexten aufweist. Auch das ist beispiellos: Keine andere Ausgrabungsstätte hat jemals eine solche Vielzahl von Ergebnissen für eine so dichte stratigraphische Sequenz geliefert.
Das Grundmodell (Tabelle 1) stellt einen konservativen Datierungsansatz dar. Es führt bei der Chronologie der einzelnen Phasen zu gewissen Überschneidungen und zu einer recht großen Zeitspanne für die Übergangsphasen. Überträgt man dieses Modell auf historisch gut erforschte Epochen (zum Beispiel das Ende der ägyptischen Herrschaft in der Spätbronzezeit III), so erhält man folgende Daten, die in diesem Buch verwendet werden:[20]
Tabelle 1: Chronologie der Keramik in der Levante einschließlich der Übergangsphasen auf der Grundlage neuerer Radiokarbonmessungen (Basierend auf einem Bayes’schen Modell mit 63 Prozent Übereinstimmung zwischen dem Modell und den Daten. Der Beginn der ersten und das Ende der letzten Phase können nicht genau bestimmt werden.)
Spätbronzezeit III: |
12. Jahrhundert bis ca. 1130 v. Chr. |
Frühe Eisenzeit I: |
spätes 12. Jahrhundert und erste Hälfte des 11. Jahrhunderts |
Späte Eisenzeit I: |
zweite Hälfte des 11. und erste Hälfte des 10. Jahrhunderts |
Frühe Eisenzeit IIA: |
letzte Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts und frühes 9. Jahr hundert |
Späte Eisenzeit IIA: |
Rest des 9. Jahrhunderts und frühes 8. Jahrhundert |
Eisenzeit IIB: |
Rest des 8. Jahrhunderts und frühes 7. Jahrhundert |
Weitere Fortschritte in der Archäologie der Levante in den letzten Jahren erleichtern eine auf die Archäologie gestützte Geschichte des Königreichs Israel:
Abb. 2: Östliche und südliche Sektion von Areal H in Megiddo mit den verschiedenen Schichten und ihrer relativen und absoluten Datierung
(1) Der Abschied von der Vorstellung einer großen vereinigten Monarchie zur Zeit der Gründer der davidischen Dynastie. Der Hebräischen Bibel und der traditionellen biblischen und archäologischen Forschung zufolge, die auf einer unkritischen Interpretation der Texte basierte, wurde das vereinigte Königreich von Jerusalem aus regiert und umfasste das gesamte Territorium Israels und Judas. Nach biblischen Angaben, die wahrscheinlich eine Situation in der Eisenzeit spiegeln, erstreckte es sich von Dan bis Beerscheba (2 Sam 3,10; 1 Kön 5,5). Gemäß einer anderen Version, die vermutlich in persischer Zeit eingefügt wurde, war dieses Gebiet noch sehr viel größer (1 Kön 5,4). Für die wissenschaftliche Bibelforschung steht heute fest, dass die biblische Erzählung von einer großen vereinigten Monarchie ein literarisches Konstrukt ist, das für die Territorialideologie, die Vorstellungen von einem Königtum sowie die theologischen Ideen judäischer Autoren aus der späten Königszeit steht.[21] Nicht zuletzt aufgrund der oben erwähnten Radiokarbonmessungen konnte die archäologische Forschung belegen, dass die Monumentalbauten, die traditionell als Ausdruck des vereinigten Königtums unter David und Salomo im 10. Jahrhundert v. Chr. betrachtet wurden, in Wirklichkeit zur Zeit der Omriden-Dynastie in Israel im 9. Jahrhundert v. Chr. entstanden.[22] Dieser wissenschaftliche Fortschritt führte auch zu einem neuen Verständnis von der Epoche der Omriden-Könige, besonders ihrer Bautätigkeit und der Bevölkerungsstruktur ihres Reichs. Verwirft man die Vorstellung, dass das vereinigte Königreich eine historische Tatsache war, muss man davon ausgehen, dass die beiden hebräischen Königreiche unabhängig voneinander als eigenständige benachbarte politische Gebilde entstanden, in Übereinstimmung mit der langen Geschichte des zentralen Berglands in der Bronze- und Eisenzeit.
(2) Die Fortschritte bei den Untersuchungen zur relativen und absoluten Chronologie der eisenzeitlichen Schichten in der Levante bilden die Grundlage für die Erkenntnis, dass die Ebenen des Nordens auch noch in der Eisenzeit I eine «kanaanäische» materielle Kultur und territoriale Ordnung aufwiesen (Kapitel 1).
(3) Großflächige Surveys im Bergland, die das Kerngebiet des Nordreichs einschließen, ermöglichen die Erstellung von Siedlungskarten für die verschiedenen Phasen der Eisenzeit und ebnen damit den Weg zu einem differenzierteren Verständnis des demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels, der mit dem Aufstieg nordisraelitischer territorialer Gemeinwesen einherging.
Meine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Nordreich ist in verschiedenen Phasen meiner Tätigkeit als Feldarchäologe verankert. Die gründliche archäologische Oberflächenuntersuchung, die ich in den 1980er Jahren im Bergland nördlich von Jerusalem durchgeführt habe, hat mir die Besonderheit dieser Landschaft in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht bewusst gemacht.[23] Dadurch wurde meine Aufmerksamkeit auch auf die starke eisenzeitliche Siedlungsaktivität in den Gebieten nördlich der Stadt gelenkt, die sich von dem südlich von Jerusalem gelegenen Gebiet und von den zyklischen, langfristigen Siedlungsprozessen im Bergland unterscheidet.[24] Das Verständnis der Siedlungsgeschichte des Berglands als eines zyklischen Verlaufs widerspricht freilich dem Grundkonzept der biblischen Autoren, dem viele moderne Forscher folgten: dass nämlich das Alte Israel ein singuläres Phänomen und die israelitische Geschichte linear verlaufen sei, von der Eroberung über die Ansiedlung und eine Zeit charismatischer Führer (der Richter) bis zur Monarchie und zur Entstehung von Territorialkönigreichen. Diese Erkenntnisse haben mein Interesse für die Historiker der französischen Annales-Schule geweckt,[25] denen zufolge langsam verlaufende Prozesse und Entwicklungen in ländlichen Regionen (die longue durée) historisch nicht weniger bedeutsam sind als punktuelle Ereignisse wie zum Beispiel militärische Feldzüge oder die internen Kämpfe in den Korridoren der Macht in Palästen und Tempeln. Mit anderen Worten: Die Surveys im Bergland beleuchten wichtige historische Phänomene wie etwa die geringe Siedlungsaktivität in der Spätbronzezeit, das Wesen der Siedlungswelle in der Eisenzeit I, die Stabilität der eisenzeitlichen Siedlungsaktivität in den meisten Regionen im Gegensatz zur Aufgabe von Siedlungen auf dem Gibeon-Plateau in der frühen Eisenzeit IIA sowie den Siedlungsrückgang im südlichen Samaria nach dem Untergang des Nordreichs 720 v. Chr.
Durch die von mir geleitete Ausgrabung in Schilo Anfang der 1980er Jahre bin ich zu einem tieferen Verständnis der materiellen Kultur des Berglands und der Eisenzeit I gelangt, der Epoche, in der das Alte Israel entstand.[26] Darüber hinaus haben die Forschungsergebnisse der Surveys und der Ausgrabung in Schilo allmählich mein Bewusstsein für die Komplexität der biblischen Quellen zur Frühgeschichte Israels geschärft.
Anfang der 1990er Jahre habe ich damit begonnen, mich mit den Tälern, besonders mit der Jesreel-Ebene, zu beschäftigen. Die Ausgrabungen, die ich in den letzten zwanzig Jahren zusammen mit Kollegen und Studenten in Megiddo durchgeführt habe, haben den Weg zu einem besseren Verständnis der Eisenzeit in den Ebenen des Nordens gebahnt.[27] Vor allem aber sind mir im Zuge der Vorbereitung auf die Ausgrabung in Megiddo I die Probleme der traditionellen Datierung der eisenzeitlichen Schichten und Bauwerke in der Levante bewusst geworden. Dies hat dazu geführt, dass ich eine Spätdatierung (low chronology) der Eisenzeit vorgeschlagen habe, [28] eine Periodisierung, die inzwischen durch Radiokarbonmessungen bestätigt ist und unsere Erkenntnisse über das Nordreich revolutioniert hat. Die Ausgrabung in Megiddo hat auch mein Verständnis anderer in diesem Buch erörterter Themen erleichtert. Ein Thema ist die Endphase der Spätbronzezeit in den Ebenen des Nordens, ein anderes die außergewöhnliche, bis vor Kurzem nur unzureichend verstandene Blüte in der späten Eisenzeit besonders in der Jesreel-Ebene. Ich habe diesen «Schwanengesang» der materiellen kanaanäischen Kultur und der territorialen Disposition «Neues Kanaan» genannt, eine Bezeichnung, die mittlerweile auch in die Forschung Eingang gefunden hat. Darüber hinaus hat die Ausgrabung in Megiddo zu einer neuerlichen Erforschung der materiellen Kultur des Nordens am Übergang vom 2. zum 1.Jahrtausend (von der kanaanäischen zur israelitischen Kultur, wie einige Autoren ihn nennen) geführt. Parallel zu dieser Ausgrabung habe ich, gleichfalls mit Mitgliedern der Megiddo-Expedition, zwei archäologische Surveys in der Jesreel-Ebene durchgeführt, um die Siedlungssysteme, die den Hauptbesiedlungsphasen des regionalen Zentrums Megiddo entsprechen, besser zu verstehen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen die dramatischen Unterschiede zwischen der Siedlungsgeschichte der nördlichen Ebenen und des zentralen Berglands.
Dreißig Jahre Feldforschung im Bergland und in den Ebenen des Nordens haben also den Weg freigemacht für ein neues Verständnis der Archäologie und Geschichte des Alten Israel. Ich habe eine Reihe von Aufsätzen über zahlreiche Aspekte eisenzeitlicher materieller Kultur, über Siedlungsprozesse und Territorialgeschichte verfasst, die auch in dieses Buch – eine Summe meiner langjährigen Forschung – Eingang gefunden haben.
Um ein klares Bild von den Siedlungsprozessen und der territorialen Organisation zu gewinnen, die sich in der späten Eisenzeit I und in der Eisenzeit IIA zwischen 1050 und 800 v. Chr. im Bergland und in den nördlichen Ebenen vollzogen, müssen wir uns zunächst den vorausgehenden Epochen zuwenden: der Spätbronzezeit II–III und der frühen Eisenzeit I. Im Hinblick auf die absolute Chronologie betrifft das den Zeitraum zwischen ca. 1350 und 1050 v. Chr. Die Spätbronzezeit ist hier von besonderer Bedeutung, da sich in dieser Phase im zentralen Bergland von Kanaan ein territoriales Gemeinwesen entwickelte, das sowohl durch archäologische Befunde als auch durch schriftliche Zeugnisse gut dokumentiert ist.
In der Spätbronzezeit II war Kanaan in Stadtstaaten aufgeteilt, die von einem ägyptischen Verwaltungs- und Militärapparat beherrscht wurden. Jeder Stadtstaat bestand aus einer Hauptstadt, in der der Herrscher residierte, und den umliegenden Dörfern. Die Größe dieser Städte, die Ausdehnung des von ihnen kontrollierten Territoriums, die Zahl der Dörfer im Hinterland, die Größe der Bevölkerung und ihre Lebensform (sesshaft oder nomadisch zum Beispiel) waren sehr unterschiedlich.
Drei Hilfsmittel dienen dazu, die territoriale Ordnung der spätbronzezeitlichen Stadtstaaten zu rekonstruieren.[1] Das erste sind die Schriftdokumente. Hier bilden die Amarna-Briefe des 14. Jahrhunderts v. Chr. die wichtigste Quelle.[2] Die fast 370 akkadischen Tontafeln, die Ende des 19. Jahrhunderts im mittelägyptischen el-Amarna gefunden wurden, enthalten Teile der diplomatischen Korrespondenz zwischen den Pharaonen Amenophis III. und Amenophis IV. auf der einen Seite und den Herrschern der kanaanäischen Stadtstaaten (auf dem Territorium des heutigen Israel, den Gebieten unter palästinensischer Selbstverwaltung, dem Staatsgebiet von Jordanien, des Libanon und des südwestlichen Syrien) auf der anderen Seite. Man kann mit einigem Recht davon ausgehen, dass die in den Amarna-Briefen beschriebene Situation die gesamte Spätbronzezeit II–III zwischen dem 14. und dem 12. Jahrhundert v. Chr. spiegelt. Es waren allesamt Herrscher von Stadtstaaten, die Briefe aus Ägypten erhielten oder dorthin sandten. Das Archiv ist zwar unvollständig – die Briefe müssen ursprünglich Teil einer sehr viel umfangreicheren Sammlung gewesen sein –, dennoch erlaubt das verfügbare Material eine stichhaltige Rekonstruktion der Landkarte Kanaans in der Spätbronzezeit. Dies wird durch zwei Faktoren gestützt:
(1) Die meisten der im Archiv erwähnten kanaanäischen Stadtstaaten tauchen in mehreren Briefen auf. Diese Tatsache macht es unwahrscheinlich, dass aufgrund der Unvollständigkeit der Sammlung weitere größere Stadtstaaten auf dieser Karte fehlen (ganz auszuschließen ist es jedoch nicht).
(2) Überträgt man die in den Briefen enthaltenen Informationen auf eine Karte, bleiben keine «Leerstellen» übrig, im Gegenteil. Briefe mit detaillierten Angaben über Grenzregionen zwischen den größeren Stadtstaaten deuten darauf hin, dass diese aneinandergrenzten. Ich widerspreche daher der Ansicht, bestimmte Gebiete Kanaans, besonders im Bergland, seien eine Art Niemandsland gewesen.[3]
Die wichtigsten Stadtstaaten auf dem Territorium des späteren Nordreichs und seiner unmittelbaren Umgebung waren Tyrus, Akko, Achschaf, Ginti-Kirmil (= Gat-Karmel) und Geser in der Küstenebene, Damaskus und Aschtarot im südwestlichen Syrien, Hazor, Tel Rehob und Pehel im Jordantal, Megiddo, Schim‘on und Anaharat in der Jesreel-Ebene und Umgebung sowie Sichem im samarischen Bergland (Abb. 3). Außerdem liefern die Amarna-Briefe Angaben zur Lage der ägyptischen Verwaltungszentren in Kanaan, zu deren wichtigsten in dem hier erörterten Gebiet im 14. Jahrhundert v. Chr. Bet-Schean im Jordantal und Kumidi im südlichen Beka‘a-Tal Libanons gehörten. Archäologische Funde zeigen, dass Bet-Schean diese Rolle auch in späteren Phasen der Spätbronzezeit spielte.
Abb. 3: Spätbronzezeitliche Stadtstaaten im Norden, die zur Sichem-Koalition (hellgrau) bzw. zur Anti-Sichem-Koalition (dunkelgrau) gehörten
Das zweite Hilfsmittel, das zur Rekonstruktion der territorialen Situation im spätbronzezeitlichen Kanaan beiträgt, ist die petrographische Analyse der Amarna-Briefe.[4] Sie erlaubt es, den Absender einer bestimmten Tafel anhand der mineralogischen Zusammensetzung des Tons zu lokalisieren. In der Regel – wenn die Tontafel nicht etwa aus Gaza geschickt wurde, dem wichtigsten ägyptischen Verwaltungssitz in Kanaan (außerhalb des hier betrachteten Gebiets) – müsste die mineralogische Zusammensetzung des Tons mit den geologischen Gegebenheiten des Absenderortes übereinstimmen. Eine petrographische Analyse im nördlichen Kanaan bestätigte die Lage der auf den Tontafeln und in anderen ägyptischen Texten genannten Stadtstaaten und ergänzte die Liste durch zwei unbekannte Orte, von denen nur einer (Tel Jokneam; Abb. 3) westlich des Jordans lag.
Das dritte Hilfsmittel zur Rekonstruktion der Lage der kanaanäischen Stadtstaaten ist die Archäologie. Die Machtzentren dieser Stadtstaaten müssten gemeinhin an den wichtigsten Ausgrabungsstätten der Spätbronzezeit identifiziert werden können, das heißt bei Grabungen müssten öffentliche Bauwerke wie Paläste und Tempel zutage treten. Megiddo, Hazor und Lachisch sind dafür die besten Beispiele. In den meisten Fällen stimmen die schriftlichen Zeugnisse des Amarna-Archivs und die archäologischen Befunde überein – eine weitere Bestätigung der Auffassung, dass die Amarna-Tafeln ein einigermaßen vollständiges Bild von der territorialen Situation im spätbronzezeitlichen Kanaan zeichnen. Das Territorium der Stadtstaaten und ihre Bevölkerung sollten groß genug gewesen sein, um landwirtschaftliche Überschüsse zu produzieren und zugleich Arbeitskräfte für die Durchführung der öffentlichen Bauprojekte übrig zu haben. Um große Bauvorhaben zu realisieren, benötigte ein Stadtstaat der Spätbronzezeit eine Mindestbevölkerung von ein paar Tausend Menschen.[5]
Wie Albrecht Alt[6] vorgeschlagen hat, können die kanaanäischen Stadtstaaten geographisch in zwei Typen eingeteilt werden. Diejenigen in den Tälern verfügten über relativ kleine, dicht besiedelte, die im Bergland und auf den Hochebenen dagegen über weiträumige, dünn besiedelte Territorien. Zwei Stadtstaaten im Norden gehören in die zweite Kategorie: Sichem im nördlichen Samaria und Hazor, das über Obergaliläa im Jordantal herrschte. Das spätbronzezeitliche Sichem liefert wichtige Vergleichsdaten zum Verständnis der Prozesse, die in der Eisenzeit im nördlichen zentralen Bergland stattfanden. Insbesondere die Amarna-Texte geben detaillierte geographische und historische Informationen über die Versuche Sichems, in die Tiefebene zu expandieren und ein großes territoriales Gemeinwesen zu gründen.
Die Khu-Sobek-Stele,[7] die im ägyptischen Abydos gefunden wurde, bietet Anhaltspunkte dafür, dass in Sichem bereits in der Mittelbronzezeit ein großes territoriales Gemeinwesen existierte. So ist auf der Stele von einem ägyptischen Feldzug in diese Region im 19. Jahrhundert v. Chr. die Rede. Es wird auf das «Land» Sichem verwiesen und die Tatsache, dass Sichem in einem Atemzug mit Retenu (eine Bezeichnung für Kanaan) genannt wird, lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Stadt vielleicht der Mittelpunkt eines großen Territorialstaats war. Nur zwei Städte im zentralen Bergland – Sichem und Jerusalem – werden in den ägyptischen Ächtungstexten des 19./18. Jahrhunderts v. Chr. erwähnt, was darauf hindeutet, dass das gesamte Gebiet zwischen zwei großen Gemeinwesen aufgeteilt war: einem nördlichen in Sichem und einem südlichen in Jerusalem. Sichem war damals wohl eine kleine, unbefestigte Siedlung. In der Spätphase der Mittelbronzezeit entstand eine eindrucksvolle monumentale Steinarchitektur mit Erdarbeiten. Es müssen also Arbeitskräfte zur Verfügung gestanden haben, mit deren Hilfe derart umfangreiche öffentliche Bauarbeiten durchgeführt werden konnten.
Die Protagonisten der Amarna-Briefe, bekannt vor allem wegen ihrer Expansionsbestrebungen, die ägyptische Interessen in Kanaan empfindlich berührten, sind Labaja, der Herrscher von Sichem,[8] sowie Abdi-Aschirta und Aziru, die Herrscher des Königreichs Amurru im heutigen Libanon und im westlichen Syrien. Labajas Worte «Wer bin ich, dass der König sein Land verlieren sollte meinetwegen» (EA 254,6-9)[9] verweisen ganz klar auf Vorwürfe gegen ihn aus Ägypten, die in der Amarna-Korrespondenz einzigartig sind. Die territoriale Situation in der Region lässt sich anhand der Aktivitäten Sichems und seiner Verbündeten auf der einen und ihrer Gegner auf der anderen Seite nachzeichnen. Es muss betont werden, dass sich die meisten Stadtstaaten Zentralkanaans der einen oder anderen Koalition anschlossen (Abb. 3).[10]
Zur Sichem-Koalition gehörten Stadtstaaten in der Küstenebene ebenso wie in der Jesreel-Ebene und im Jordantal:
Geser. An der Kreuzung der wichtigen internationalen Straße von Ägypten in den Norden und der Straße nach Osten ins Bergland bei Jerusalem gelegen, kontrollierte Geser das fruchtbare Ayalon-Tal und war einer der bedeutendsten Stadtstaaten Kanaans. Dass es mit Sichem verbündet war, ist an mehreren Stellen festgehalten (zum Beispiel EA 250,32–39, 53–56; 289,25–36). Irgendwann griff Labaja die Stadt an und schüchterte deren Herrscher ein, was als Bedrohung der ägyptischen Herrschaft in Kanaan betrachtet wurde (EA 253,11–25; 254,6–1 und 19–29).
Ginti-Kirmil. Ginti-Kirmil war wahrscheinlich die Residenz eines kanaanäischen Herrschers (EA 289,18–20). Die petrographische Untersuchung der Amarna-Briefe hat ergeben, dass es wohl mit dem großen Siedlungshügel des Dorfes Jatt in der Scharon-Ebene gleichzusetzen ist.[11] Ein Brief (EA 263,33f.) deutet auf enge Beziehungen zwischen dessen Herrscher und Labaja von Sichem hin. Auf eine Allianz Ginti-Kirmils und Gesers mit Sichem verweist EA 289,18–29.
Tel Jokneam. Sein Herrscher Balu-mehir war vermutlich ein Verbündeter Labajas von Sichem, da beide gemeinsam den ägyptischen Behörden übergeben werden sollten (EA 245,36–45). Die petrographische Untersuchung der von diesem Herrscher gesandten Briefe zeigt, dass seine Stadt, deren Name nicht erhalten ist, in Tel Jokneam nördlich von Megiddo lag.[12]
Anaharat. Petrographische Analysen identifizierten den Sitz eines Herrschers der Amarna-Zeit im östlichen Untergaliläa, vermutlich in Tel Rekesch, einem Ort, der höchstwahrscheinlich mit der kanaanäischen und biblischen Stadt Anaharat gleichzusetzen ist.[13] Der Verfasser zweier von hier abgeschickter Briefe beschwert sich, dass die Feinde Labajas ihn angegriffen und seine Dörfer erobert hätten – ein Hinweis darauf, dass die Herrscher von Anaharat und Sichem Verbündete waren.
Pehel. EA 250,35–38 bezieht sich offenbar auf den Versuch von Labajas Söhnen, Pihilu (= Pehel im östlichen Jordantal vis-à-vis von Bet-Schean) zu erobern. EA 255 zufolge war der Herrscher von Pihilu Labajas Sohn. In EA 256 schreibt der Herrscher von Pihilu, er habe Aschtarot im Baschan beigestanden, als alle Städte eines Landes namens Garu zu Feinden geworden seien. Dies deutet möglicherweise darauf hin, dass Aschtarot mit der Achse Sichem-Geser-Pehel kooperierte.
Schim‘on. Ein Herrscher von Schamuna (dem biblischen Schimron/Schim‘on), das in Tel Schimron an der nordwestlichen Spitze der Jesreel-Ebene lokalisiert wird, findet in den Briefen der rivalisierenden Koalitionen keine Erwähnung. Das ist umso überraschender, als sein Gebiet an das Territorium einiger der wichtigsten Akteure in der Koalition Labajas und seiner Söhne angrenzte. Ein Blick auf die Karte (Abb. 3) zeigt, dass Schamuna die einzige Stadt war, die es der Sichem-Koalition ermöglichte, ihre Gegner in der Jesreel-Ebene vollständig einzukreisen. Tatsächlich scheinen die Ereignisse im Zusammenhang mit der Gefangennahme und Ermordung Labajas (EA 245) darauf hinzudeuten, dass Schamuna auf seiner Seite stand.
Folgende Stadtstaaten in der Jesreel-Ebene und im Jordantal kämpften gegen Sichem und seine Verbündeten:
Megiddo. Wie die Briefe EA 244–246 zeigen, war Megiddo ein erbitterter Feind Labajas und seiner Söhne und wurde von ihnen offen bedroht.
Rehob. Auch der Absender von EA 249–250 war ein Feind Sichems. Aus EA 250 geht klar hervor, dass er in der Jesreel-Ebene oder unweit davon herrschte. Da Megiddo den westlichen Teil der Ebene dominierte, kann man davon ausgehen, dass er im östlichen regierte. Tatsächlich verweisen die petrographischen Untersuchungen auf Tel Rehob im Jordantal südlich von Bet-Schean als möglichen Sitz dieses Herrschers.[14] Nach Labajas Tod bedrängten dessen Söhne diesen Herrscher, die Seiten zu wechseln und der Sichem-Allianz beizutreten. Er weigerte sich jedoch und berichtete dem Pharao von den Drohungen (EA 250,19f.).
Achschaf und Akko. EA 366 erwähnt die Beteiligung Akkos und Achschafs (in der Ebene von Akko gelegen) an einem Bündnis aufseiten des Pharaos, das wahrscheinlich gegen Sichem und seine Verbündeten gerichtet war.
Hazor. EA 364 berichtet von Feindseligkeiten zwischen Hazor und Aschtarot in Baschan im heutigen südwestlichen Syrien. Geht man davon aus, dass die beiden Königreiche um die Kontrolle der Straße von Bet-Schean nach Damaskus rangen, könnte Hazor – die größte und bevölkerungsreichste Stadt im spätbronzezeitlichen Kanaan – in den Konflikt der beiden Koalitionen verwickelt gewesen und der wachsenden Macht der Sichem-Koalition entgegengetreten sein.
Nach den oben beschriebenen Details versuchte Labaja sowohl diplomatisch als auch militärisch, vom Bergland Sichems aus in alle Richtungen zu expandieren.[15] Auf dem Höhepunkt dieser Bestrebungen herrschte die Sichem-Koalition über große und bedeutsame Teile Zentralkanaans vom Baschan im Nordosten über das zentrale Bergland bis in die Scharon-Ebene und in die Küstenebene südlich des Flusses Jarkon im Südwesten (Abb. 3). Sie kontrollierte wichtige Teilstücke der Straße, die von Ägypten nach Syrien und Mesopotamien durch die Küstenebene und den Baschan führte, sowie einen Abschnitt der sogenannten Königsstraße im Ostjordanland. Außerdem bedrängte sie die Festung Bet-Schean und drohte, sie von den anderen ägyptischen Zentren Jaffa und Gaza abzuschneiden. Kein Wunder also, dass die Anti-Sichem-Koalition von den ägyptischen Behörden unterstützt wurde.
Aus den Amarna-Briefen geht klar hervor, dass Sichem, um Kanaan weitgehend kontrollieren zu können, noch die strategisch wichtige und fruchtbare Jesreel-Ebene in Besitz nehmen musste; dies bestätigt auch ein Blick auf die Landkarte. Auf diese Weise hätte es die Straße nach Syrien und Mesopotamien und die Kornkammer des Landes vollständig unter seine Kontrolle bringen können. Sichems Strategie war daher klar. Es versuchte, die beiden wichtigsten Stadtstaaten der Jesreel-Ebene, Megiddo und Rehob, sowie die ägyptische Festung Bet-Schean zu umzingeln, um die Stadtstaaten nördlich der Ebene auf seine Seite zu ziehen und auf die Orte in der Ebene Druck auszuüben. Mit ihrem Angriff auf die Stadtstaaten Megiddo und Rehob scheinen Labaja und seine Söhne Gebiete an der Südspitze der Jesreel-Ebene dazugewonnen zu haben.[16]