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Michael Madeja

Das kleine Buch vom Gehirn

Reiseführer in ein unbekanntes Land

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

 

 

Das Gehirn und die Hirnforschung sind hochaktuell, faszinierend, komplex – und eigentlich einfach zu verstehen. Der bekannte Hirnforscher Michael Madeja erklärt die Funktionen des Gehirns, seine Erkrankungen und die Methoden der Hirnforschung in leicht verständlicher Weise. Sein Buch ist für Menschen geschrieben, die keine Erfahrung mit Wissenschaft haben, einen Überblick über den aktuellen Stand der Hirnforschung möchten und denen neben Wissen auch Aha-Erlebnisse und Verstehen wichtig sind. Das kleine Buch vom Gehirn hat daher einige Besonderheiten:

Das Buch verwendet keine Fachbegriffe. Alle Wörter sind im normalen Duden zu finden. Damit wird die «Geheimsprache» der Wissenschaft aufgebrochen.

Das Buch benutzt viele Vergleiche, die – manchmal auch augenzwinkernd – Hirnfunktionen durch Alltagserfahrungen erklären.

Das Buch enthält keine wissenschaftlichen Abbildungen, deren Sprache man erst erlernen muss und die daher für viele Menschen nicht hilfreich sind.

Das Buch ist auch ein Nachschlagewerk. Im Anhang werden die (im Text nicht verwendeten) Fachbegriffe der Hirnforschung auf nachvollziehbare Weise definiert.

Und vor allem: Das Buch ist kurz und lässt sich gut an einem Wochenende lesen.

 

Lange habe ich auf ein Buch gewartet, das das Gehirn verständlich erklärt. Das ist Hirnforschung für jedermann.

Petra Gerster, Fernseh-Moderatorin

 

Ich bin beeindruckt, dass man die Ergebnisse der Hirnforschung fachlich richtig und gleichzeitig so leicht darstellen kann.

Prof. Dr. Eric Kandel, Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger

Über den Autor

 

 

Prof. Dr. Michael Madeja, geb. 1962, ist Hirnforscher, Arzt, Professor am Fachbereich Medizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Geschäftsführer der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der größten privaten Förderorganisation der Hirnforschung in Deutschland, die führende Forschungszentren in den Bereichen Multiple Sklerose, Parkinson- und Alzheimer-Erkrankungen aufgebaut hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Vorwort

Einführung

Was man unbedingt wissen muss

Die Bausteine

Was Nervenzellen und Gliazellen machen

Der Input

Wie Sehen, Hören, Fühlen und anderes funktioniert

Der Output

Wie wir uns bewegen, sprechen und wie die Organe gesteuert werden

Die Veränderungen

Wie das Gehirn sich entwickelt und lernt

Die Höchstleistungen

Was wir über Denken, Bewusstsein und Sprache wissen

Die Erkrankungen

Was bei Alzheimer, Epilepsie oder Schlaganfall passiert

Die Methoden

Wie das Gehirn untersucht wird

Nachwort

Danksagung

Literatur

Glossar

 

 

 

Für Uta-Maria mit Felicitas, Maximilian und Laetitia

Vorwort

 

 

Wir leben in den Zeiten der Neurowissenschaft. Nie zuvor hat die Menschheit so viele Mittel für die Erforschung des Gehirns aufgewendet, nie zuvor haben so viele Menschen in der Hirnforschung gearbeitet, und nie zuvor hat das Gehirn so viel Interesse auch bei Menschen ganz anderer Berufe gefunden. Dieser «Neuroboom» hat zu einer Vielzahl von Büchern geführt, die dem nicht Vorgebildeten das Gehirn und seine Erforschung nahebringen sollen. Obschon diese Bücher zwar häufig Begeisterung, Ehrfurcht und anekdotisches Wissen vermitteln, führen sie nicht zu einem wirklich grundlegenden Verständnis des Gehirns und sind für Leser ohne wissenschaftliche Schulung oder Erfahrung immer noch schwer zu lesen.

Dieses Buch versucht, einen anderen Weg zu gehen. Es ist für Menschen geschrieben, denen nicht nur Wissen, sondern auch Aha-Erlebnisse und Verstehen wichtig sind, die einen Überblick über den aktuellen Stand der Hirnforschung haben wollen und denen populärwissenschaftliche Sachbücher zu ungewohnt sind. Das Buch hat das Ziel, einfach, kurz und nah an den Alltagserfahrungen die Grundlagen des Aufbaus und der Funktion des Gehirns darzulegen. Dieses Buch hat daher einige Besonderheiten.

• Das Buch verwendet keine Fachbegriffe. Alle Wörter sind im normalen Duden zu finden, bis auf einige wenige sogar im Schülerduden. Damit soll die «Geheimsprache» der Wissenschaft aufgebrochen und der das Lesen von Sachbüchern oft beeinträchtigende Zwang vermieden werden, sich die Bedeutung von Fachausdrücken merken zu müssen.

• Das Buch benutzt Analogien. In diesem Buch werden zahlreiche – mitunter auch augenzwinkernde – Vergleiche gezogen. Damit soll die sehr fremde und nicht erfahrbare Welt des Gehirns in Beziehung treten zur alltäglichen Erfahrungswelt – etwa wenn die komplexen elektrischen Mechanismen der Nervenzelle anhand des Treibens in einem Bierzelt erläutert werden

• Das Buch ist kurz. Da heute kaum jemand mehr das Interesse oder auch nur die Möglichkeit hat, sich intensiv und zeitaufwändig mit einem für ihn fremden Thema auseinanderzusetzen, ist der eigentliche Textteil sehr knapp gehalten und kann gut an einem Wochenende gelesen werden.

• Das Buch verwendet keine Schemata. Wissenschaftliche Abbildungen und Schemata erfordern einen Umgang mit dieser Art der Informationsdarstellung, die man erst erlernen muss und die daher für viele Menschen nicht hilfreich ist. Deshalb gibt es in diesem Buch nur vier erläuternde Abbildungen, die die Lage von Teilen des Gehirns und Nervensystems nachvollziehbar machen sollen.

• Das Buch ist auch ein Nachschlagewerk. Das Buch hat ein Glossar, das die (im Text nicht verwendeten) Fachbegriffe der Hirnforschung einfach definiert, sodass man auch später – zum Beispiel beim Lesen eines Zeitungsartikels – unverständliche Begriffe nachschlagen kann. Diese Fachbegriffe des Glossars sind über Fußnoten dem Text des Buches zugeordnet, sodass der Leser dieses Buches erfahren kann (wenn er will), wie man den Sachverhalt in der wissenschaftlichen Terminologie bezeichnet.

Beim Inhalt des Buches wurde versucht, die Auswahl so zu treffen, dass alles Wesentliche zum Gehirn darin enthalten ist und der dargestellte Zusammenhang ein Gesamtverständnis bewirkt. Das Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns wurde dabei über punktuelles Wissen, Vollständigkeit und Detailinformation gestellt. So ist in diesem Buch das beschrieben, was wir über das Gehirn wissen, und nicht das, was wir nur bruchstückhaft verstehen, gerne wissen würden oder von der Hirnforschung beantwortet haben möchten. Deshalb nehmen auch Bereiche wie Bewusstsein und Denken nicht so viel Platz ein, wie wir es uns alle eigentlich wünschen würden.

Das Buch ist in eine Einführung und sieben weitere Kapitel aufgeteilt.

• Einführung. In diesem Kapitel wird all das beschrieben, was man unbedingt über das Gehirn wissen muss und was man als Grundlage braucht, um die anderen Kapitel zu verstehen.

• Die Bausteine. Hier werden die wichtigsten Bausteine des Gehirns, die Nervenzellen und die Gliazellen, vorgestellt, und es wird erläutert, wie sie funktionieren und welche Aufgaben sie haben.

• Der Input. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit all dem, was an Information in unser Gehirn hineinkommt und wie das Gehirn damit umgeht. Das sind vor allem die Informationen aus unserer Umwelt und aus unserem Körper, die wir über unsere Sinne Fühlen, Sehen, Hören, Riechen und Schmecken erhalten.

• Der Output. Hier wird dargestellt, was aus dem Gehirn herauskommt und wie das Gehirn das macht. Welche Informationen oder auch Befehle erzeugt unser Gehirn, damit unsere Organe gesteuert werden und wir uns bewegen oder sprechen können?

• Die Veränderungen. Dieses Kapitel widmet sich dem permanenten Umbau des Gehirns, der bereits vor der Geburt beginnt und bis zum Ende unseres Lebens andauert. Dazu zählen die Entwicklung des Gehirns vom Ungeborenen bis zum Erwachsenen und dann auch die Umbauprozesse, die Grundlage von Lernen und Gedächtnis sind.

• Die Höchstleistungen. In diesem Kapitel werden die höchstentwickelten und komplexesten Leistungen des menschlichen Gehirns behandelt, zu denen Bewusstsein, Denken, Sprache, Schlaf und Emotionen gehören.

• Die Hirnerkrankungen. Hier wird dargestellt, was wir über die für uns wichtigsten Hirnerkrankungen Alzheimer, Epilepsie, Schlaganfall, Parkinson und Multiple Sklerose wissen und welche Funktionsstörungen diesen Erkrankungen zugrunde liegen.

• Die Methoden. Im letzten Kapitel werden die Untersuchungsmethoden erläutert, die in der Hirnforschung, aber auch bei der Diagnose von Hirnerkrankungen eingesetzt werden und mit denen wir die wichtigsten Informationen über das Gehirn gewonnen haben.

Wie sollte man das Buch lesen? Man kann es kapitelweise lesen oder auch am Stück, etwa an einem Wochenende, und sich dabei immer mal eine Wiederholung gönnen. Wer weniger Zeit hat, sollte die Einführung lesen und dann das Kapitel, das ihn besonders interessiert. Wer mehr Zeit und Lust hat, kann nach dem Lesen eines Kapitels anhand der Fußnoten nachschauen, wie die wissenschaftlichen Fachbegriffe lauten. Und dann kann man das Buch noch in Griffweite liegen lassen, um beim Lesen des Wissenschaftsteils der Tageszeitung oder bei Fernsehnachrichten zu neuesten Entdeckungen der Hirnforschung die dort verwendeten und einem vielleicht nicht gebräuchlichen Fachbegriffe im Glossar nachzuschlagen.

Ich wünsche Ihnen viel Nutzen, aber auch viel Vergnügen auf dem Leseweg zum Verstehen des komplexesten, kompliziertesten und faszinierendsten Forschungsgegenstands der Menschheit.

Frankfurt am Main, Februar 2010
Michael Madeja

Einführung

Was man unbedingt wissen muss

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Das menschliche Gehirn ist etwas mehr als ein Kilogramm schwer und füllt den oberen Teil des Kopfes aus. Die Unterseite des Gehirns liegt im vorderen Kopfteil in Höhe der Augenbrauen, reicht weiter hinten bis zur Mitte der Ohren und setzt sich in einer stielartigen Form nach unten in den Hohlraum der Wirbelsäule fort. Dieser Abschnitt des Nervensystems1 wird als Rückenmark bezeichnet, er reicht von den Ohren bis auf die Höhe der untersten Rippe. Die Begrenzung auf den oberen Bereich des Körpers ist auch der Grund, warum Brüche des oberen Teils der Wirbelsäule zu einer Querschnittslähmung2 führen können, während dies bei Brüchen der Wirbelsäule unterhalb der Rippen nur sehr selten der Fall ist.

Aus diesem komplexesten Teil des Nervensystems3 gehen von der Unterseite des Gehirns und in regelmäßigen Abständen aus dem Rückenmark4 die Nerven5 hervor, die fadenartig erscheinen und die, je weiter sie vom Rückenmark oder Gehirn entfernt sind, immer verzweigter und dünner werden. So ist der dickste Nerv, der bei Bandscheibenproblemen oft betroffene Ischiasnerv6, in der Nähe der Wirbelsäule daumendick, während die dünnsten Nerven weitaus dünner als ein Haar sind.

! Das Gehirn wird von drei großen Gehirnteilen gebildet.

Von außen fallen drei Teile des Gehirns auf:

Erstens ein durch unregelmäßige Furchungen charakterisierter Bereich, der den ganzen oberen Teil des Gehirns bildet und aufgrund seiner Größe als Großhirn7 bezeichnet wird. Im Großhirn laufen die meisten und vor allem die höchsten geistigen Leistungen des Menschen ab.

Vom Großhirn abgesetzt, an seiner Unterseite und etwa im Bereich hinter den Ohren, liegt ein stärker regelmäßig und feiner gefurchter Teil des Gehirns, der beim Menschen kleiner als das Großhirn ist und demgemäß als Kleinhirn8,9 bezeichnet wird. Dieser Bereich hat vor allem Aufgaben bei der Steuerung der Muskeln10. Bei Vögeln, die beim Fliegen sehr viel komplexere Bewegungen ausführen müssen als wir Menschen, die wir uns beim Gehen nur auf einer Ebene bewegen, ist das Kleinhirn daher im Verhältnis zum Großhirn auch viel größer.

Als dritter und letzter Teil ist dann noch der ebenfalls an der Unterseite des Gehirns liegende, baumstammartige Bereich des Gehirns zu nennen, der in das Rückenmark übergeht und Hirnstamm11 heißt. Dieser Teil ist Leitungsbahn oder Umschaltstation zwischen Gehirn und Rückenmark und enthält daneben noch Bereiche, die lebenswichtige Funktionen wie Schlafen12 und Atmen steuern. Da sie leicht zum Tod führen können, sind Verletzungen im Hirnstamm von Ärzten besonders gefürchtet.

! Das Gehirn hat zwei Hälften.

Wenn man das Gehirn von vorne und oben betrachtet, sieht man vor allem die Masse des Großhirns, die in der Mitte von einer großen Furche, etwa von der Höhe der Nasenwurzel nach hinten laufend, in zwei gleich große Abschnitte geteilt wird. Die beiden Abschnitte erinnern grob an zwei Halbkugeln und werden dementsprechend auch als Hemisphären13 des Großhirns bezeichnet. Diese Teilung spiegelt den symmetrischen Aufbau unseres Körpers wider, also dass wir zwei Arme, zwei Beine, zwei Augen haben. Jede Hemisphäre ist dabei grundsätzlich für eine Körperseite zuständig, jedoch in gekreuzter Weise, sodass die linke Hirnhälfte den rechten Arm steuert und die rechte den linken Arm. Deshalb zeigen zum Beispiel Lähmungen der rechten Körperseite dem Arzt an, dass die Hirnschädigung in der linken Großhirnhemisphäre liegt.

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a Gehirn, b Rückenmark, c Nerven, d Großhirn, e Kleinhirn, f Hirnstamm

Neben dieser grundsätzlichen symmetrischen Zuständigkeit gibt es aber auch Funktionen, die ganz oder weitestgehend nur von einer Großhirnhälfte übernommen werden,14 zum Beispiel die Sprache15, die in der Regel im linken Teil des Großhirns lokalisiert ist. Und es gibt Funktionen, die das Zusammenwirken beider Hirnhälften erfordern, beispielsweise das Abschätzen von Entfernungen oder das räumliche Sehen, das über die Verrechnung der Bildinformationen beider Augen erfolgt. Für diese Aufgaben sind die beiden Hirnhälften miteinander verbunden.16

! Das Gehirn hat graue und weiße Anteile.

Um eine Innenansicht des Gehirns zu bekommen, kann man sich vorstellen, das Großhirn an einer Stelle ganz durchzuschneiden, etwa wie man beim Essen einen Blumenkohl auf dem Teller halbiert. Wenn man dann auf die Schnittfläche sieht, fällt zunächst auf, dass das Gehirn bis auf wenige Hohlräume massiv ist. Diese Hohlräume17 sind mit einer besonderen Flüssigkeit18,19 gefüllt, die auch den Raum zwischen der Oberfläche des Gehirns und der Schädelinnenseite ausfüllt.

Bei den massiven Teilen des Gehirns ist die außen liegende, wenige Millimeter dicke Schicht grau, was ihr den Namen «graue Substanz» eingetragen hat. Da die graue Substanz20 wie die Rinde eines Baumes das Gehirn umhüllt, wird diese Schicht als Hirnrinde21,22 bezeichnet. Die Hirnrinde ist der eigentliche Ort der Informationsverarbeitung und der höchsten menschlichen Leistungen; sie ist beim Menschen größer als bei fast allen Tieren. Erreicht wird dies durch die Faltung der Hirnrinde, die von außen als Furchung des Großhirns erscheint, so wie man ein großes Stück Stoff nur in eine kleine Schachtel bekommt, indem man den Stoff faltet oder zusammenknüllt. Wäre die Hirnrinde ungefaltet, müsste unser Kopf so groß wie der eines Elefanten sein. Er wäre dann nicht nur ziemlich schwer, sondern die Informationswege innerhalb des Gehirns würden auch zu lang.

Unter der Hirnrinde liegt eine sehr viel hellere Gehirnmasse, die als weiße Substanz23 bezeichnet wird. Ihre Farbe kommt vor allem durch den hohen Fettanteil zustande, so wie auch Butter und Bratfett nahezu weiß sind. Die weiße Substanz hat Leitungs- und Verbindungsfunktion innerhalb des Gehirns. In der weißen Substanz im Innern des Gehirns liegen inselartig eingebettet andere Teile grauer Substanz,24,25 deren Aufgabe in spezialisierten, nicht bewusst wahrgenommenen Funktionen liegt.

! Die Nervenzellen sind die Bausteine des Gehirns.

Wenn man ein Stückchen des Gehirns, vielleicht einen fingernagelgroßen Teil, auf die Ausmaße eines Einfamilienhauses vergrößern würde, könnte man erkennen, dass das Gehirn aus kleinen Bausteinen besteht, den Nervenzellen.26 Grundsätzlich handelt es sich um winzige, flüssigkeitsgefüllte Säckchen mit Ausstülpungen. Die Größe des Körpers27 einer Nervenzelle beträgt etwa ein hundertstel Millimeter; in unserem gedanklichen Vergrößerungsbeispiel wäre jede Nervenzelle in etwa so groß wie ein Würfelzuckerstück – verglichen mit einem Haus also sehr klein.

Nervenzellen sind also offensichtlich winzig, und es muss eine ganze Menge davon in unserem Gehirn geben. Bisher gibt es zur Zahl der Nervenzellen im Gehirn nur Schätzungen, die sich zwischen zehn und hundert Milliarden bewegen. Auch diese Zahl ist zu groß, um sie sich vorstellen zu können. Für unsere Belange reicht der sogar noch untertreibende Vergleich, dass es in jedem Gehirn so viele Nervenzellen gibt wie Menschen auf der gesamten Erde, also ein paar hunderttausend gefüllte Fußballstadien, ausverkaufte Rockkonzerte oder Städte.

! Das Aussehen der Nervenzellen ist durch ihre Fortsätze bestimmt.

Neben ihrer Winzigkeit und ungeheuer großen Anzahl verfügen die Nervenzellen noch über andere charakteristische Merkmale: So haben sie besondere Formen, die je nach Hirnteil sehr unterschiedlich sind und die sich vor allem durch sehr dünne und lange Ausstülpungen auszeichnen, durch die Fortsätze der Nervenzellen.28,29 Diese sind ebenfalls mit Flüssigkeit gefüllt und lassen sich daher eher als winzige Schläuche betrachten. Nervenzellfortsätze können beim Menschen bis zu zwei Meter lang sein und haben eine Dicke von wenigen bis zu einem tausendstel Millimeter. Würde man einen Nervenzellfortsatz auf die Höhe eines Hochhauses vergrößern, wäre er immer noch weit dünner als ein Haar.

Zudem sind die Nervenzellfortsätze in der Regel sehr stark verzweigt, sodass Nervenzellen primär aus Fortsätzen zu bestehen scheinen und manchmal Verzweigungen wie beim Astwerk eines Baumes bilden. Stellen wir uns einen Augenblick vor, eine Nervenzelle des Kleinhirns30 hätte die Ausmaße unseres Körpers; dann hätte sie etwa fünfzig Arme mit einer Länge von hundert Metern, wobei an jedem Arm durchschnittlich fünfzig Hände säßen.

! Die Nervenzellen werden durch Gliazellen31 gestützt und versorgt.

Es ist klar, dass ein System aus derart dünnen und verzweigten, schlauchartigen Nervenfortsätzen sofort in sich zusammenfiele, würde es nicht gestützt. Im Gehirn übernimmt diese Stützfunktion ein anderer Typ flüssigkeitsgefüllter Säckchen. Sie füllen die Hohlräume zwischen den Nervenzellen und den Nervenzellfortsätzen aus und werden als Gliazellen bezeichnet. Das Stützen funktioniert etwa so, als würde man gekochte Spaghetti in Aspik legen – das würde die Spaghetti in ihrer Form halten.

Neben der Haltefunktion erfüllen die Gliazellen noch eine Reihe anderer Aufgaben, die mit der Ernährung und Unterstützung der Nervenzellfunktion zusammenhängen. Ebenso wie bei den Nervenzellen kennt man auch die genaue Anzahl der Gliazellen nicht. Man weiß lediglich, dass es sehr viel mehr Gliazellen als Nervenzellen gibt, wahrscheinlich etwa zehnmal mehr, also etwa zwischen hundert Milliarden und einer Billion Gliazellen in jedem Gehirn.

! Die Nervenzellen tauschen über die Nervenzellfortsätze Informationen aus.

Der Sinn der intensiven Verzweigung der Nervenzellen32 liegt im Kontakt zu anderen Nervenzellen. Auf diese Weise kann Information von einer Nervenzelle an andere Nervenzellen weitergegeben werden, wobei die Kontaktstellen33 vor allem im Bereich der Nervenzellfortsätze liegen. Man schätzt, dass jede Nervenzelle im Mittel mit sechs- bis zehntausend anderen Nervenzellen Kontakt hat. Auch das ist wieder eine schwer vorstellbare Größe. Vielleicht hilft es, sich selbst mit einer Nervenzelle im Gehirn zu vergleichen und sich vor Augen zu führen, mit wie vielen Menschen man an einem Tag Kontakt hat, vom ganz flüchtigen Augenkontakt, dem Zunicken des Kollegen, über Telefongespräche bis zum Zusammensein mit den Menschen, die einem am nächsten stehen. Wenn man sich jetzt weiter vorstellt, dass auch alle anderen Menschen auf der Erde in etwa so viele Kontakte an einem Tag haben wie man selbst, so vermittelt die gesamte an einem Tag ablaufende Kommunikation der Menschheit ein Bild davon, was im Gehirn an Nervenzellkommunikation vor sich geht – nur mit dem Unterschied, dass wir vielleicht zehnmal mehr Nervenzellen im Gehirn haben, als es Menschen auf der Erde gibt, dass jede von ihnen vielleicht hundertmal mehr Kontakte hat als ein Einzelner von uns und dass im Gehirn in jeder Sekunde erfolgt, was bei uns an einem Tag passiert. Es ist deshalb wohl nicht übertrieben, wenn man sagt, dass das Gehirn die komplexeste und komplizierteste Struktur ist, die die Menschheit kennt.

! Die Kontakte zwischen den Nervenzellen ändern sich ständig.

Noch weiter verkompliziert wird die Struktur des Gehirns dadurch, dass sich die Kontakte zwischen den Nervenzellen ständig verändern. Ein intensiver Kontakt zwischen zwei Nervenzellen führt zur Verstärkung der Kontakte oder sogar zu neuen Kontakten, ein lange nicht genutzter Kontakt zum Abbau. Dies ist ein grundlegender Unterschied zum Computer, der eine feste Verdrahtung besitzt. Das Gehirn dagegen ändert ständig, in diesem Augenblick und in jedem Lebensalter, seinen Aufbau und seine Kontaktstellen34 zwischen den Nervenzellen. Diese Eigenschaft führt dazu, dass wir unser Gehirn an neue Situationen anpassen können oder, schlicht gesagt, dass wir lernen35 können.

! Die Nervenzellen verständigen sich elektrisch.

Natürlich ist der Vergleich der Nervenzellkommunikation mit dem gesamten zwischenmenschlichen Kontakt nicht ganz zutreffend, denn im Gegensatz zur Kommunikation zwischen Menschen, die auf ganz verschiedene Arten erfolgen kann – etwa über Gespräche, Blicke, E-Mails, Gefühle, Berührungen –, benutzt das Gehirn nur ein Prinzip: die Veränderung der elektrischen Spannung. So können Nervenzellen für Bruchteile von Sekunden elektrische Spannungspulse36 erzeugen. Dieser kurze Spannungspuls ist in etwa so wie das ganz kurze Anknipsen einer Taschenlampe. Mit der Betätigung des Schalters wird die in der Batterie befindliche elektrische Spannung an der Glühbirne wirksam und erzeugt das Leuchten der Taschenlampe. Nur dass der Spannungspuls in der Nervenzelle mit der Dauer von einer tausendstel Sekunde sehr, sehr kurz ist.

Die kurzen Spannungspulse sind gleichsam die Buchstaben der Sprache der Nervenzellen; die Anzahl der Spannungspulse, ihre Abstände voneinander und ihre Häufigkeit pro Zeitabschnitt sind die Wörter. Die gesamten Informationen, die die Nervenzellen verarbeiten und miteinander austauschen, sind in den zeitlichen Mustern dieser Spannungspulse niedergelegt. Denken Sie einfach an zwei Kinder, die sich mit Taschenlampen in der Nacht verständigen: Einmal anknipsen könnte zum Beispiel heißen: «Ja.» Zweimal: «Du kannst rüberkommen.» Zweimal und mit zeitlichem Abstand dazu erneut zweimal: «Hast du ein Messer dabei?»

Die Veränderung der elektrischen Spannung in der Nervenzelle erfolgt durch winzige Schalter.37,38,39,40 Diese sind so klein, dass man die gesamte Weltbevölkerung auf einem Stecknadelkopf unterbringen könnte, wenn jeder Mensch lediglich so groß wie ein solcher Schalter wäre. Bei diesen Schaltern handelt es sich um kleine Körperchen, die in der Wand der Nervenzelle sitzen und sich bei Reizungen, wie der Anbindung von Substanzen, so verändern, dass sie ein Röhrchen bilden, durch das geladene Teilchen kurzzeitig in die Nervenzelle einströmen können. Der Strom, der durch ein einzelnes solches Körperchen fließt, ist dabei so gering, dass man das Körperchen schon hundert Jahre aktiviert halten müsste, bevor man genügend elektrische Ladung beisammenhätte, um eine Glühbirne auch nur eine hundertstel Sekunde zum Leuchten zu bringen.

! Die Informationsverarbeitung der Nervenzellen ist hierarchisch organisiert.

Werden die Kinder in unserem Beispiel mit der Taschenlampe von anderen Kindern beobachtet, kann die Kommunikation dazu führen, dass auch diese Kinder aktiv werden. So könnte zum Beispiel die Taschenlampenkommunikation: «Hast du ein Messer dabei?», Antwort: «Ja», dazu führen, dass ein drittes Kind eine Schlussfolgerung aus dem Dialog zieht, etwa derart: «Die können etwas Dummes machen», und diese Schlussfolgerung wiederum mit der Taschenlampe an die Eltern weitergibt. Das ist eine Informationsverarbeitung, und so funktioniert es auch im Gehirn: Genau definierte Folgen von Spannungspulsen41 in zwei Nervenzellen führen zur Auslösung von Spannungspulsen in einer dritten, übergeordneten Nervenzelle. Dies kann sich über mehrere Hierarchieebenen fortsetzen, sodass also bestimmte Folgen von Spannungspulsen in dritten Nervenzellen wieder zu Spannungspulsen in der nächsthöheren Ebene von Nervenzellen führen. Auf diese Weise gelangt man von Ebene zu Ebene zu immer komplexeren Mustern, die erfolgen müssen, bevor die jeweiligen Nervenzellen aktiv werden. Bei der Verarbeitung der über die Augen aufgenommenen Bilder gibt es auf der untersten Hierarchieebene in der Hirnrinde42,43 etwa Nervenzellen, die einfach bei Licht aktiv werden, während die Nervenzellen auf hohen Hierarchieebenen erst dann Spannungspulse erzeugen, wenn ein Licht aus einer bestimmten Richtung, in einer bestimmten Bewegung und mit einer bestimmten Geschwindigkeit an den Augen vorbeigeführt wird.

Insgesamt bewirkt der hierarchische Aufbau des Gehirns eine Informationsverarbeitung, die mit jedem Verarbeitungsschritt immer weniger Nervenzellen einbezieht. Man kann sich das wie eine riesige Firma vorstellen: Hunderte Sachbearbeiter, die ihre Information an vielleicht zwanzig Abteilungsleiter weitergeben, die wiederum an fünf Geschäftsführer berichten, von denen dann der Chef informiert wird. Andererseits wird im Gehirn die Information einer Nervenzelle aber auch verteilt: Jede Nervenzelle steht mit Tausenden anderen in Kontakt und gibt deshalb ihre Information, also ihr Muster an Spannungspulsen, an Tausende Nervenzellen weiter, von denen jede Einzelne wieder mit Tausenden von anderen in Kontakt steht. Obschon die Wirkung der Spannungspulse von Übertragung zu Übertragung und Nervenzelle zu Nervenzelle abnimmt, kann man sagen, dass jeder Spannungspuls in einer Nervenzelle die Wahrscheinlichkeit eines Spannungspulses in allen anderen Nervenzellen des Gehirns beeinflusst – bei einigen Nervenzellen sehr stark, bei den meisten indessen nur gering oder im Grunde nicht wahrnehmbar.

Dieses Prinzip der immer weiteren Spezialisierung auf immer höheren Hierarchieebenen von Nervenzellen setzt sich jedoch nicht unbegrenzt fort, denn die in der Wissenschaft oft veranschaulichend so genannte «Großmutternervenzelle» – eine Nervenzelle, die nur dann aktiv wird, wenn wir unsere Großmutter sehen – gibt es nicht. So dürften vor allem komplexe Sachverhalte und die höchsten Leistungen des menschlichen Gehirns nicht der Aktivierung ganz spezieller und allein dafür zuständiger Nervenzellen in der Hirnrinde zugeordnet sein. Vielmehr scheinen ab einer bestimmten Komplexität der Information und ab einer sehr hohen Hierarchieebene von Nervenzellen in der Hirnrinde Zahl und Anordnung der aktivierten Nervenzellen zu weiteren Wahrnehmungsprozessen zu führen, die nicht von der Aktivierung spezieller Nervenzellen abhängen. Etwa so, als würde ein nächtlicher Spaziergänger, der die Taschenlampenkommunikation der Kinder und ihrer Eltern sieht, daraus die Schlussfolgerung ziehen: «Die Familie ist verrückt!»

Die Bausteine

Was Nervenzellen und Gliazellen machen

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Das Gehirn besteht aus mehreren Milliarden Bausteinen – kleinen, mit Flüssigkeit gefüllten Säckchen, die allgemein Zellen genannt werden und von denen es verschiedene Formen gibt. Die wichtigsten Bausteine sind die Nervenzellen,44 die die Informationsverarbeitung betreiben, sowie die Gliazellen45, die für die Nervenzellfunktion unerlässlich sind. In diesem Kapitel, das sicher das schwierigste dieses Buches ist, wird beschrieben, wie die einzelne Nervenzelle funktioniert, die selbst einen eigenen und schon ziemlich komplizierten Kleincomputer im Supercomputer Gehirn darstellt. Und es wird dargestellt, wie die Gliazellen bei dieser Funktion helfen.

! Die Fortsätze der Nervenzelle sind für die Informationsverarbeitung zuständig.

Nervenzellen sind winzige Zellen, die eine sehr dünne Wand46 haben und aus einem kleinen Körper und langen Fortsätzen bestehen. Der Zellkörper47 hat nur eine Größe von einem hundertstel Millimeter, die Nervenzellfortsätze können jedoch über einen Meter lang sein. Die Form der Fortsätze, ihre Verzweigung und Anzahl sowie ihre Länge unterscheiden sich bei den Nervenzellen der verschiedenen Hirnteile, während sich die Zellkörper überall im Gehirn ähneln. Der Zellkörper fungiert als Versorgungszentrum der Nervenzelle und produziert die Bausteine und Stoffe, die die Nervenzelle für ihre Funktion und für ihr Überleben braucht. Für die Informationsverarbeitung sind die Nervenzellfortsätze48 zuständig. Die Mehrzahl von ihnen nimmt die Informationen anderer Nervenzellen auf,49 und nur ein Fortsatz,50 der aber sehr stark verzweigt sein kann, gibt danach die von der Nervenzelle verrechneten Informationen an andere Nervenzellen weiter. Dieses Funktionsprinzip gleicht einem Bankkundenberater, der von vielen Personen Informationen über Anlagemöglichkeiten bekommt und dann das Resultat seiner Überlegungen als Anlageempfehlung an seine Kunden weiterreicht.

! Die Nervenzelle arbeitet mit dem Transport elektrisch geladener Teilchen.

Die Verrechnung der in die Nervenzelle einlaufenden Informationen erfolgt, indem elektrisch geladene Teilchen transportiert werden. Der Begriff der elektrischen Ladung charakterisiert dabei nur die besondere Eigenschaft dieser Teilchen, elektrische Spannung erzeugen zu können, wie man sie von der Steckdose oder Batterien her kennt: Die Anhäufung von Teilchen an einer Stelle bedeutet, dass dort mehr elektrische Ladung als an einer anderen Stelle vorhanden ist, wodurch eine elektrische Spannung zwischen den beiden Stellen entsteht. Vergleichen lässt sich diese Situation mit einer Kantine, in der sich die größere Gruppe von Essern an der einen Ausgabestelle bedienen muss, während für eine kleinere Gruppe eine eigene Ausgabestelle bereitsteht – die zwangsläufige Folge ist Spannung zwischen den beiden Gruppen von Kantinenbenutzern.

Im Nervensystem51 handelt es sich vor allem um geladene Teilchen von Kalium und Natrium. Diese Teilchen gibt es in vielen Flüssigkeiten, etwa auch im Mineralwasser und in allen Flüssigkeiten des menschlichen Körpers. Dies ist ein weiterer großer Unterschied des Gehirns zum Computer. Dieser arbeitet zwar ebenfalls mit elektrischen Spannungen, dabei handelt es sich aber um ganz andere geladene Teilchen, nämlich um die des normalen Haushaltsstromes, den man der Steckdose entnehmen kann.

! Die elektrisch geladenen Teilchen sind durch Pumpen52 unterschiedlich verteilt.

Bei den Nervenzellen werden die Kalium- und Natriumteilchen unterschiedlich verteilt. So gibt es in der Flüssigkeit im Inneren der Nervenzellen viele Kaliumteilchen, in der die Nervenzelle umgebenden Flüssigkeit dagegen nur wenige davon. Bei den Natriumteilchen verhält es sich genau umgekehrt. Denken Sie etwa an ein Bierzelt, von dem wir annehmen wollen, dass sich in seinem Inneren viele satte Biertrinker – das sind die Kaliumteilchen – und nur wenige durstige Biertrinker – das sind die Natriumteilchen – aufhalten, während sich die Situation vor dem Zelt genau umgekehrt verhält: Dort befinden sich lediglich wenige satte und sehr viel mehr durstige Biertrinker.

Diese unterschiedliche Verteilung der Kalium- und Natriumteilchen wird durch Pumpen53 bewirkt. Dies sind kleine Eiweißpartikel, die in der Wand der Nervenzelle sitzen und Teilchen zwischen der Flüssigkeit im Inneren der Nervenzelle und der sie umgebenden Flüssigkeit austauschen. Dabei werden die Kaliumteilchen aus der umgebenden Flüssigkeit ins Innere der Nervenzelle transportiert und die Natriumteilchen aus dem Inneren der Nervenzelle nach draußen. Es handelt sich hierbei um einen Austausch, sodass die Gesamtanzahl der Teilchen sowohl im Inneren der Nervenzelle wie auch in ihrem Umgebungsraum gleich bleibt. Im Bild des Bierzelts würde es sich dabei um einen Einlasskontrolleur handeln, der paradoxerweise nur bereits satte Biertrinker ins Zelt hineinlässt und dafür im Zelt befindliche Durstige hinauswirft. So entsteht mit der Zeit ein Überschuss an satten Biertrinkern im Zelt und an Durstigen vor dem Zelt – und es entsteht Unruhe.

Auch die Pumpe in den Nervenzellen hat die Aufgabe, mit der unterschiedlichen Verteilung der Kalium- und Natriumteilchen Unausgeglichenheit zu erzeugen. Denn die Kalium- wie die Natriumteilchen haben die Tendenz, sich in allen Flüssigkeitsräumen gleich zu verteilen und so im Inneren der Nervenzelle wie in der Umgebung in gleicher Menge vorhanden zu sein. Das geht zu wie bei einem Buffet in zwei Räumen, bei dem die Teilnehmer, nachdem sie ihren Teller gefüllt haben, anfangs zu den nächststehenden Tischen streben, dann aber, wenn diese schon gut besetzt sind, auch die Tische im anderen Raum zu belegen beginnen, sodass schließlich alle Teilnehmer gleichmäßig über die beiden Räume verteilt sind. So haben auch die Kaliumteilchen die Tendenz, aus dem Inneren der Nervenzelle, wo sie in großer Häufigkeit vorhanden sind, in den Raum außerhalb der Nervenzelle zu gelangen, um hier ihre geringe Zahl zu erhöhen. Umgekehrt wollen die Natriumteilchen ins Innere der Nervenzelle strömen, da hier ihre Anzahl viel geringer als in der Umgebung der Nervenzelle ist.

! Der Ausstrom weniger Teilchen erzeugt den Ruhezustand der Nervenzelle.

In der Wand der Nervenzelle gibt es nun aber Körperchen54,55 mit kleinen Öffnungen, durch die wohl einige wenige Kaliumteilchen hindurchpassen, jedoch keine Natriumteilchen. Dies führt dazu, dass einige Kaliumteilchen ihrer Tendenz folgen können und aus dem Innern der Nervenzelle nach außen gelangen. Dadurch verringert sich die Anzahl der geladenen Teilchen im Zellinneren und erhöht sich im Umgebungsraum der Nervenzelle. Im Beispiel des Bierzeltes handelte es sich um von innen sichtbare Schlupflöcher in der Zeltwand, durch die sich der eine oder andere satte Biertrinker, der endlich das Bierzelt verlassen möchte, unbemerkt davonschleichen könnte. Wenn diese Löcher von außen nicht sichtbar oder passierbar sind und wenn der Einlasskontrolleur stets nur weiterhin einen Satten gegen einen Durstigen austauscht, dann würde die Anzahl der Personen im Zelt leicht abnehmen. Der abnehmenden Menge an Personen im Bierzelt entspricht bei der Nervenzelle ein Weniger an geladenen Teilchen im Zellinneren,56 verursacht durch den leichten Ausstrom der Kaliumteilchen. Dadurch entsteht eine elektrische Spannung zwischen dem Inneren und dem Umgebungsraum der Nervenzelle, die durch ein Minus an elektrischer Ladung im Zellinneren charakterisiert ist.

Der Ausstrom elektrischer Ladung aus dem Inneren der Nervenzelle ist der Grundzustand, den jede Nervenzelle braucht, um an der Informationsverarbeitung im Gehirn teilnehmen zu können. Es ist der Ruhezustand einer für Aktivität bereiten, aber noch nicht aktiven Nervenzelle.57

! Für den Ruhezustand braucht die Nervenzelle Energie.

Schaut man sich die Verteilung und Bewegung der Kalium- und Natriumteilchen an, so verlaufen die meisten daran mitwirkenden Vorgänge gewissermaßen von selbst und natürlich und nur ein Vorgang durch Zwang: die Aktivität der Pumpen,58 mit der die Kaliumteilchen gegen ihr Bestreben in die Nervenzelle gebracht und die Natriumteilchen aus der Zelle heraustransportiert werden. Dies ist auch der einzige Vorgang, der Energie verbraucht und für den das Gehirn Energie benötigt, die ihm über die Ernährung und Blutversorgung zugeführt wird. Andersherum betrachtet, führt ein Versagen der Durchblutung, etwa bei einem Herzstillstand, zu einem Energiemangel im Gehirn, durch den die Pumpen der Nervenzellen ausfallen, die Ungleichverteilung der Kalium- und Natriumteilchen nicht mehr aufrechterhalten werden kann und so die Nervenzellen nicht mehr fähig sind, Informationen zu verarbeiten. Die Energiereserven, die das Gehirn selbst besitzt, sind so gering, dass bereits wenige Sekunden nach einem Herzstillstand die Informationsverarbeitung im Gehirn zusammenbricht und der Betroffene ohnmächtig wird.

! An den Kontaktstellen der Nervenzellen werden geladene Teilchen transportiert.

Die von der Nervenzelle aufrechterhaltene ungleiche Verteilung der Natrium- und Kaliumteilchen mit dem Mangel elektrischer Ladungen im Inneren ist der Ausgangszustand der Nervenzelle, der sie dazu befähigt, an der Informationsverarbeitung teilzunehmen. Zu diesem Zweck können andere Nervenzellen den bestehenden Mangel an elektrischen Ladungen verändern. Dafür gibt es besondere Kontaktstellen,59 an denen die Endigung eines Nervenzellfortsatzes60 dicht an einer anderen Nervenzelle anliegt, sodass Information übertragen werden kann. Die beiden Nervenzellen61 berühren sich dabei jedoch nicht, sondern die Wände der Nervenzellen sind noch durch einen winzigen Spalt62 getrennt. Von der aktiven Nervenzelle werden nun besondere Stoffe63 in den winzigen Spalt ausgeschüttet. Diese Überträgerstoffe können den Spalt durchqueren und die gegenüberliegende Wand der ruhenden Nervenzelle erreichen. Das ist so, als würde man in einer Badewanne am Kopfende viele Papierschiffchen aussetzen, von denen einige dann nach kurzer Fahrt an die Wand des Fußendes der Badewanne stoßen.

Bei der Nervenzelle bewirkt das Anstoßen der Überträgerstoffe,64 dass diese sich an einen Teil65 eines Körperchens66,67 binden, das nur in diesem Bereich der Wand der Nervenzelle liegt. Mit der Bindung formen sich die Körperchen um und bilden kleine Röhrchen, durch die Natriumteilchen gelangen können. Um beim Beispiel mit dem Bierzelt zu bleiben: Das Einströmen der Natriumteilchen bewirkt etwas Ähnliches, als ob an einer Stelle, an der Durstige vor dem Zelt stehen, für ein paar Sekunden eine kleine Tür geöffnet würde, sodass einige davon ins Bierzelt gelangen können. Nur dass der Vorgang, der im Bierzeltbeispiel einige Sekunden in Anspruch nehmen würde, bei der Nervenzelle innerhalb einer hundertstel Sekunde abläuft. Diese Zeit reicht aber aus, dass einige Natriumteilchen in die noch ruhende Nervenzelle kommen und hier den Mangel an Teilchen und damit an elektrischen Ladungen etwas abschwächen:68,69 Die Nervenzelle hat nun von einer anderen Nervenzelle eine Information erhalten.

Im Gehirn ist der Vorgang der Übertragung einer Information von einer Nervenzelle auf eine andere jedoch nicht auf das Einströmen von ein paar Natriumteilchen begrenzt. So gibt es auch Kontaktstellen, bei denen die in der Wand der Nervenzelle liegenden Körperchen ausschließlich Kaliumteilchen passieren lassen. In diesem Fall würden ein paar Kaliumteilchen das Innere der Nervenzelle verlassen und so den Mangel an Teilchen und elektrischen Ladungen verstärken.70 In unserem Beispiel gliche dieser Vorgang dem kurzen Öffnen einer kleinen Tür im Bierzelt, in deren Nähe Sattgetrunkene stehen. Diese würden dann die Chance ergreifen, ohne weiteres Warten das Bierzelt zu verlassen, wodurch die Anzahl der Personen im Zelt weiter abnehmen würde. So ist in der Nervenzelle auch die weitere Verminderung der elektrischen Ladungen im Zellinneren eine Information, die eine Nervenzelle von einer anderen erhalten hat.

! Der Transport an vielen Kontaktstellen summiert sich.

Gewöhnlich reicht die aus dem Ein- oder Austritt von einigen wenigen Teilchen bestehende Information nicht aus, um in der ruhenden Nervenzelle irgendetwas auszulösen. Doch eine Nervenzelle steht mit ein paar tausend anderen in Kontakt. Wenn viele Nervenzellen auf eine ruhende Nervenzelle einwirken, dann kann aus den wenigen ins Innere der Nervenzelle gelangenden Natriumteilchen eine Flut werden, die zu einer deutlich wahrnehmbaren Zunahme an Teilchen und damit an elektrischen Ladungen in der Nervenzelle führt.71 Im Beispiel des Bierzeltes gliche das dem kurzen Öffnen vieler kleiner Türen für die Durstigen, die dann in großer Zahl ins Zelt strömen würden. Diese Veränderung wäre durch das sich einstellende Gedränge an der Theke und den entstehenden Platzmangel rasch bemerkbar und würde bei den Betreibern des Bierzeltes zu Reaktionen führen.

! Die Aktivierung vieler Kontaktstellen erzeugt kurze Spannungspulse.

Ähnlich verhält es sich bei der Nervenzelle: Wenn an mehreren Stellen Natriumteilchen ins Zellinnere gelangen und der Mangel an Teilchen in der Nervenzelle deutlich zurückgeht, so kommt es zu einem Zustand, in dem die Nervenzelle darauf reagiert. Diese Reaktion fällt aber, zumindest scheinbar, paradox aus: Wenn eine größere, festgelegte Menge von Natriumteilchen in die Nervenzelle eingedrungen ist, werden wiederum andere in der Wand der Zelle befindliche Körperchen72,73 aktiviert, die dann den Natriumteilchen den Weg völlig frei machen, mit der Folge, dass Natriumteilchen in großer Zahl – man schätzt bis zu einhunderttausend – in die Nervenzelle gelangen. Dadurch wird der Mangel an Teilchen aufgehoben und kann sogar ins Gegenteil umschlagen, sodass mehr Teilchen und damit elektrische Ladungen im Zellinneren als in der Umgebung der Nervenzelle sind. Das ist etwa so, als würde der Betreiber des Bierzeltes, nachdem schon über ein paar kurzzeitig geöffnete Türen Durstige ins Zelt gelangt sind, den Versuch der Kontrolle ganz aufgeben und auch die großen Tore öffnen. Dadurch könnten schlagartig viele Durstige ins Bierzelt strömen, sodass es in kurzer Zeit überfüllt wäre.

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