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Franz M. Wuketits

DARWIN
UND DER DARWINISMUS

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Darwins Theorien über die Entstehung der Arten haben unser Verständnis des Menschen, seiner Herkunft und Stellung in der Natur revolutioniert. Der Band gibt einen kompakten Überblick über Darwin und seine Ideen samt ihren Konsequenzen für unser Welt- und Menschenbild. Der Biologe Franz M. Wuketits portraitiert den Menschen Darwin als eine bescheidene, zurückhaltende Forscherpersönlichkeit und zeichnet die wichtigsten Stationen seines Lebens nach. Darwin war ein «stiller Revolutionär». Er war vorsichtig, übervorsichtig sogar, wenn es um die Formulierung seiner wichtigen Gedanken ging. Um so erstaunlicher ist vielleicht deren revolutionäre Wirkung. Das Buch gibt auch eine knappe Einführung in Darwins Werk und seinen «gefährlichen Gedanken». Dabei werden einige der Mißverständnisse korrigiert, die sich heute noch um Darwin und sein Werk ranken. Das betrifft nicht zuletzt auch den Ausdruck «Darwinismus», der keineswegs einheitlich und vielfach mißverständlich oder falsch verwendet wird.

Über den Autor

Franz M. Wuketits, Biologe und Wissenschaftstheoretiker, lehrt als Professor an der Universität Wien und ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. Ausgezeichnet mit dem Österreichischen Staatspreis für Wissenschaftliche Publizistik. Bei C.H.Beck erschienen von ihm: Evolution. Entwicklung des Lebens (2. Auflage. 2005), Was ist Soziobiologie? (2002) und Der Tod der Madame Curie. Forscher als Opfer der Wissenschaft (2003).

Inhalt

Einleitung: Charles Darwin und die Revolutionierung unseres Weltbildes

Darwins Herkunft, seine Kindheit und Jugend

«… du wirst dir selbst und deiner ganzen Familie zur Schande»

Als Internatsschüler in Shrewsbury

Ein kurzes Intermezzo: Medizinstudium in Edinburgh

Der Theologiestudent in Cambridge

Die Weltreise mit der «Beagle»

Private Veränderungen

Vermählung Darwins mit seiner Kusine Emma Wedgwood

Übersiedlung von London nach Down

Zeit der Ernte

Der Reisebericht

Von Korallenriffen, Vulkaninseln und Rankenfußkrebsen

Ein «gefährlicher» Gedanke nimmt Gestalt an

Die Entstehung der Arten – eine Theorie erschüttert die Welt

Charles Darwin und Alfred Russel Wallace

«Über die Entstehung der Arten»

Anhänger und Gegner

Darwins spätere Werke

Der Einsiedler von Down

Darwins Leiden

Alter und Tod

Was Darwin wirklich (nicht) sagte

Darwinismus als naturwissenschaftliche Theorie

Darwins Welt- und Menschenbild

Sozialdarwinismus – ein gefährliches Mißverständnis

Darwins Bedeutung für die Gegenwart

Von Menschen und Affen

Die Evolution des Geistes

Darwin und die Moralphilosophie

Darwin und die Religion

Eine (Zwischen-)Bilanz

 

Weiterführende Literatur

Abbildungsnachweis

Register

 

 

 

«Ich bin fest davon überzeugt, daß die Arten nicht unveränderlich, sondern daß sie die zu einer Gattung gehörenden Nachkommen anderer, meist schon erloschener Arten und daß sie die anerkannten Varietäten einer bestimmten Art Nachkommen dieser sind. Und ebenso bin ich fest davon überzeugt, daß die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch nicht einzige Mittel der Abänderung war.»

Charles Darwin

«Ein glänzender Verstand, großartige intellektuelle Kühnheit und die Fähigkeit, die besten Eigenschaften eines … Beobachters, philosophischen Theoretikers und Experimentators in sich zu vereinen – bisher hat die Welt nur eine solche Kombination gesehen, und zwar in der Person Charles Darwins.»

Ernst Mayr

Einleitung: Charles Darwin und die Revolutionierung unseres Weltbildes

Wir schreiben das Jahr 1860. Am 30. Juni findet in Oxford eine Sitzung der angesehenen «British Association for the Advancement of Science» statt. Der Saal ist überfüllt, die Situation gespannt. Bischof Samuel Wilberforce (1805–1873), ein konservativer Kirchenfürst, richtet an den Naturforscher Thomas Henry Huxley (1825–1895) ironisch die Frage, ob er einen Affen lieber als seine Großmutter oder seinen Großvater haben wolle. Huxley, um Worte nicht verlegen, erwidert mit gleicher Ironie: Als Großvater jedenfalls würde er einen Affen einem Mann vorziehen, der seine Fähigkeiten und seinen Einfluß nur dazu benutzt, eine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion ins Lächerliche zu ziehen. Einige Zuhörer glauben gehört zu haben, Huxley wäre lieber ein Affe als ein Bischof. Es kommt zu einem Tumult. Eine Dame fällt in Ohnmacht und muß hinausgetragen werden. Huxley behauptet später, daß er sehr ruhig gesprochen habe, Augenzeugen aber wollen ihn bleich vor Zorn gesehen haben.

Das Thema dieser denkwürdigen Sitzung waren Darwins Theorien. Darwin selbst glänzte durch Abwesenheit. Er kränkelte, wie so oft, und überhaupt absolvierte er nie öffentliche Auftritte. Am 24. November 1859 war sein Buch On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) erschienen, in dem er sich über die «Affenverwandtschaft» des Menschen überhaupt nicht geäußert, sondern nur angedeutet hatte, daß – als Folge seiner Auffassungen – auch auf den Menschen und seine Geschichte Licht fallen wird. Aber seine kritischen Zeitgenossen waren hellhörig, wußten – oder glaubten zu wissen –, wovon die Rede war. Und schließlich nannte Huxley, «Darwins Bulldogge», die Dinge beim Namen.

Dennoch ist es falsch, Darwins Werk auf das Problem der Abstammung des Menschen einzuengen. Dieses noch heute oft anzutreffende Mißverständnis zu beseitigen, ist eine der Aufgaben des vorliegenden Buches. Denn Darwins genuine Leistung bestand darin, daß er einen Mechanismus für die Veränderung der Arten (Evolution) anzugeben wußte, nämlich den der natürlichen Auslese oder Selektion. Das war schon revolutionierend genug. Darwins Selektionstheorie nämlich widerspricht grundsätzlich der in der abendländischen Geistesgeschichte und auch im Denken anderer Völker tief verwurzelten Vorstellung, daß die Welt von Absichten und Zielen getragen, Ergebnis eines «intelligenten Plans» (intelligent design) sei. An die Stelle einer «höheren» (göttlichen) Ordnung setzte Darwin eine natürliche Kraft und erschütterte seine Zeitgenossen mit Bemerkungen wie der, daß allein aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod die Entstehung neuer, immer komplexerer Lebewesen hervorgehe. Eine düstere Vorstellung – auch für viele unserer Zeitgenossen. Daher ist Darwins Lehre, wie die Evolutionstheorie überhaupt, immer noch in vielen Kreisen einfach unbeliebt. Anhänger des Kreationismus, die den biblischen Schöpfungsbericht wörtlich auslegen, erfreuen sich insbesondere in den USA, inzwischen aber auch vielerorts in Europa, breiter Zustimmung. (Da kann man schon mal vernehmen, daß der Teufel selbst der Urheber der Evolutionstheorie sei.)

Selbstverständlich haben Darwins Theorien – wie wir noch sehen werden, ist es durchaus geboten, dabei im Plural zu sprechen – auch weitreichende Konsequenzen für ein Verständnis des Menschen, seiner Herkunft und seiner Stellung in der Natur. Von Darwins Gedankenwelt bleibt kaum ein Bereich der Humanwissenschaften, der Wissenschaften vom Menschen, unberührt. Ernst Mayr (1904–2005), der selbst wiederholt – und aus guten Gründen – als «Darwin des 20. Jahrhunderts» bezeichnet wurde, schreibt dazu folgendes:

«Die von Darwin eingeleitete intellektuelle Revolution reichte weit über die Grenzen der Biologie hinaus; sie führte zur Absage an einige grundlegende Glaubensvorstellungen jener Zeit. So widerlegte Darwin den Glauben an die individuelle Erschaffung einer jeden einzelnen Art und setzte an seine Stelle die Überlegung, alles Leben stamme von einem gemeinsamen Vorfahren ab. In Ausweitung dieses Gedankens führte er die Vorstellung ein, der Mensch sei nicht das Ergebnis eines Schöpfungsakts, sondern habe sich gemäß überall sonst in der Welt wirksamer Prinzipien entwickelt. Er verwarf die gängige Auffassung von einer auf Vollkommenheit angelegten und geplanten, gütigen Natur und ersetzte sie durch die Konzeption eines Kampfes ums Dasein» (… und Darwin hat doch recht, S. 15f.).

Vor dem Hintergrund des Denkens des 19. Jahrhunderts muß Darwins Werk in der Tat als eine Revolutionierung des Weltbildes erscheinen. Freilich entwickelte Darwin seine Gedankenwelt nicht im luftleeren Raum. Wie jedes wissenschaftliche Werk verdankt auch sein Theoriengebäude vieles seinen «Vordenkern», und die Idee, daß die Organismenarten nicht konstant, sondern veränderlich sind, war nicht seine Erfindung. Unbestritten bleibt aber, daß er dieser Idee zum entscheidenden Durchbruch verholfen und sie in ihren Konsequenzen, nicht zuletzt für das Selbstverständnis des Menschen, weitergeführt hat.

Hinsichtlich ihrer Tragweite berühren Darwins Vorstellungen den Menschen in weit stärkerem Maße als Konzeptionen anderer großer Naturwissenschaftler der Vergangenheit, einschließlich derjenigen von Isaac Newton (1643–1727) oder Albert Einstein (1879–1955), die beide fundamentale physikalische Gesetze begründet hatten. Das auf Darwins Ideen beruhende Weltbild beeinflußt unser Denken auf eine direktere Weise. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob wir die Vielfalt des Lebens auf der Erde als göttlichen Plan oder als Folge der natürlichen Auslese verstehen; und ob wir uns als «Krone der Schöpfung» begreifen oder als «arrivierte Affen». Kaum ein anderer Naturforscher früherer Zeiten wurde jedoch so oft und so gründlich mißverstanden wie Darwin. Hier ist gleich an den ideologischen Mißbrauch seiner Lehre im Sozialdarwinismus zu erinnern, dessen Vertreter einige Aussagen Darwins falsch interpretiert und – mit verheerenden Folgen – auf die Konstruktion menschlicher Gesellschaften angewandt haben.

Das vorliegende Buch ist ein Buch über Darwin und seine Ideen samt ihren Konsequenzen für unser Welt- und Menschenbild. Es portraitiert den Menschen Darwin als eine bescheidene, zurückhaltende Forscherpersönlichkeit und zeichnet die wichtigsten Stationen seines Lebens nach. Darwin war ein «Revolutionär wider Willen», wie der amerikanische Evolutionsbiologe Michael R. Rose ihn charakterisiert, oder ein «stiller Revolutionär», als den ich selbst ihn einmal bezeichnet habe. Er war vorsichtig, übervorsichtig sogar, wenn es um die Formulierung seiner wichtigen Gedanken ging. Um so erstaunlicher ist vielleicht deren revolutionäre Wirkung. Dieses Buch ist auch als knappe Einführung in Darwins Werk zu verstehen, als Einladung, sich mit seinen für unser Welt- und Selbstverständnis unentbehrlichen Ideen zu beschäftigen. Dabei hoffe ich, einige der Mißverständnisse beseitigen zu können, die sich heute noch um Darwin und sein Werk ranken. Das betrifft nicht zuletzt auch den Ausdruck «Darwinismus», der keineswegs einheitlich und vielfach mißverständlich oder falsch verwendet wird. Natürlich hat es seine Berechtigung, wenn Darwins Werk heute in erster Linie mit Evolution und Evolutionstheorie in Verbindung gebracht wird. Aber wir dürfen nicht übersehen, daß Darwin «daneben» noch eine ganze Reihe anderer geologischer, botanischer und zoologischer Arbeiten zu Papier gebracht hat, die allein schon Beachtung verdienen würden und ihn als einen akribischen, ideenreichen Naturforscher auszeichnen. Auch diese Arbeiten werden, bei aller gebotenen Kürze, auf den folgenden Seiten vorgestellt werden.

Nicht näher eingehen werde ich jedoch auf die Weiterentwicklung der Theorien Darwins in der Evolutionsbiologie des 20. Jahrhunderts und auf die damit verbundenen, nach wie vor andauernden Kontroversen in den Biowissenschaften. Das nämlich hätte den Umfang dieser knappen Einführung bei weitem gesprengt. Allerdings finden die interessierten Leserinnen und Leser im Literaturverzeichnis eine Reihe von Büchern, die auch diesen Gegenstand umfassend behandeln und als weiterführende und vertiefende Lektüre dienen können.

Darwins Herkunft, seine Kindheit und Jugend

«… du wirst dir selbst und deiner ganzen Familie zur Schande»

Geniale Gedanken trägt man üblicherweise nicht von Kindesbeinen an mit sich herum; Kindheit und Jugend müssen nichts von späterer Geistesgröße erkennen lassen. An Charles Darwin sehen wir, daß das Gegenteil durchaus der Fall sein kann. Wie er selbst sich in seiner Autobiographie erinnert, hatte er zwar früh ausgesprochene naturkundliche Interessen, die aber für einen Jungen so ungewöhnlich auch nicht sind. Für seinen Vater waren sie Grund zur Besorgnis; er tadelte Charles einmal mit den Worten: «Du hast kein anderes Interesse als Schießen, Hunde und Rattenfangen, und du wirst dir selbst und deiner ganzen Familie zur Schande.» Das war demütigend. Aber es besagt wenig, schließlich meinte auch Einsteins Schuldirektor, es sei gleichgültig, welchen Beruf der junge Mann ergreife, da er nirgends Erfolg haben werde …

Dr. Robert Waring Darwin (1766–1848) war ein angesehener, wohlhabender Arzt in der damals etwa 20.000 Einwohner zählenden englischen Kleinstadt Shrewsbury (Grafschaft Shropshire). Dort kam Charles am 12. Februar 1809 als fünftes von sechs Kindern und als zweiter Sohn zur Welt. Robert W. Darwin war ein herrischer Mann, dessen Autorität noch von seinem gewichtigen Erscheinungsbild – er war fast zwei Meter groß und brachte über 150 Kilogramm auf die Waage – unterstrichen wurde. Darin ähnelte er seinem Vater Erasmus Darwin (1731–1802), einem nicht minder hervorragenden Mediziner, der eigene Heilmethoden anwandte, sich daneben aber auch noch erfolgreich als Erfinder betätigte. Nicht zuletzt verfügte er über einige schriftstellerische Begabung, wovon unter anderem seine naturwissenschaftlichen Lehrgedichte Zeugnis ablegen. Mit seinem aus zwei Bänden bestehenden Werk Zoonomia, or the Laws of Organic Life (Zoonomia oder die Gesetze des organischen Lebens) (1794–1796) nahm er sogar den Evolutionsgedanken vorweg. Charles sollte dieses Werk seines bedeutenden Großvaters, den er persönlich nicht mehr kennen lernen konnte, erst viel später lesen – zunächst mit Bewunderung, dann mit wachsender Skepsis.

Charles Darwins Mutter, Susannah Darwin (1765–1817), war eine geborene Wedgwood, Tochter des Josiah Wedgwood (1730–1795), dessen Keramikarbeiten weltberühmt wurden und der oft mit dem Beinamen «von Etruria» angeführt wird (benannt nach dem Dorf, das er selbst für seine Arbeiter errichten ließ). Darwin wird später eine Kusine aus der «Keramikdynastie» ehelichen und sich damit wirtschaftlich absichern. Sein Onkel – und späterer Schwiegervater – Josiah Wedgwood (1769–1843), der Sohn des Josiah Wedgwood von Etruria, war ihm in jungen Jahren ein wichtiger Gesprächspartner. Seine Mutter hingegen, von der wenig bekannt ist, verlor er früh, und seine teils schlechten schulischen Leistungen waren wahrscheinlich auch auf diesen schmerzlichen Verlust zurückzuführen. Seine älteren Schwestern vermochten ihm die Mutter nicht zu ersetzen. Und sein Vater flößte ihm wohl Ehrfurcht ein, war aber nicht imstande, fürsorglich mit ihm umzugehen.

Darwin verbrachte siebzehn Jahre in seiner Geburtsstadt, die ihren großen Sohn heute längst durch eine Statue vor der Shrewsbury School (jetzt ein Bibliotheks- und Museumsgebäude) ehrt. Für seine naturkundlichen Interessen und Neigungen war das von Vorteil – eine Großstadt hätte ihm natürlich nicht dieselben Möglichkeiten zum Sammeln und Jagen geboten.

Als Internatsschüler in Shrewsbury

Nach Absolvierung der einjährigen Vorschule trat Darwin in Dr. Butlers «große Schule» in Shrewsbury ein, in der er bis zum Sommer 1825 bleiben sollte. Diese Schule war eine Internatsschule, was bedeutete, daß er außerhalb seiner Familie leben mußte. Da sein Vaterhaus von der Schule jedoch nicht weit entfernt war, konnte er längere Pausen dazu nutzen, schnell nach Hause zu laufen. Er war ein guter Läufer, betete aber oft zu Gott, ihn rechtzeitig in die Schule zurückkommen zu lassen – und wunderte sich, wie häufig ihm seine Gebete halfen. Der Heranwachsende war noch weit entfernt von jedem religiösen Zweifel.

Das Internatsleben scheint Darwin kaum gestört zu haben. Er hielt es sogar für vorteilhaft, als «echter Schüler» leben zu dürfen. Aber der Unterricht kam seinen Interessen wenig entgegen. Noch im Alter äußerte er seine Unzufriedenheit darüber, daß er eine Schule mit klassischen, humanistischen Fächern absolviert hatte. Ihm fehlte fast jede Sprachbegabung, und so empfand er die Lektüre antiker Texte im allgemeinen als eine Qual. Andererseits begeisterte er sich für Geometrie und naturwissenschaftliche Probleme, worüber der Schulunterricht kaum Auskunft gab. Man muß sich den Knaben Darwin als «Träumer» vorstellen, der gern lange, einsame Spaziergänge unternahm und Käfer und Schmetterlinge sammelte, wobei er meist froh war, wenn die gefundenen Objekte bereits tot waren, da er Hemmungen hatte, irgendein Lebewesen zu töten. Auch im reiferen Alter wird er sich in Ehrfurcht vor der Kreatur üben – so soll er beispielsweise seinen Kutscher wiederholt dazu angehalten haben, die Pferde zu schonen und nicht zur Eile zu treiben –, obgleich er andererseits seiner Jagdleidenschaft, zumal in jungen Jahren, nur schwer entsagen konnte. Zu Hunden hatte er ein Leben lang ein besonderes Verhältnis, und auch andere Tiere waren bei ihm gut aufgehoben.

Im letzten Schuljahr führte ihn sein älterer Bruder Erasmus Darwin (1804–1881) – der seinen Vornamen dem gewichtigen Großvater verdankte – in die Anfangsgründe der Chemie ein. Davon war Charles begeistert; so wie er überhaupt leicht zu begeistern war, wenn es sich um Gebiete handelte, die sein Interesse zu wecken vermochten. Die beiden Brüder richteten im Geräteschuppen im Garten des elterlichen Hauses ein einfaches Laboratorium ein, um verschiedene chemische Experimente durchzuführen, die Charles unter seinen Klassenkameraden bald den Spitznamen «Gas» einbrachten. Vom Unterricht in der Schule aber blieb er weiterhin ziemlich unbeeindruckt. Das merkte natürlich auch der strenge Vater, der mit seinem zweiten Sohn insgesamt sehr unzufrieden war. Damit er nicht wirklich nur «Schande» über die Familie brachte, nahm er ihn kurzerhand aus der Internatsschule heraus. Soviel Einfühlungsvermögen und Umsicht muß man Robert W. Darwin dann doch wieder zubilligen: Er hatte erkannt, daß man Charles in der Internatsschule praktisch nichts mehr beibringen konnte.

Hätte der Siebzehnjährige sein Leben selbst in die Hand nehmen und über seine weitere Ausbildung allein bestimmen dürfen, dann hätte er über seinen zukünftigen Weg nicht lang nachdenken müssen. Sein Interesse an der Natur, an Pflanzen und Tieren, war längst geweckt und auch für seine Umgebung kaum noch zu übersehen. Seinen Vater konnte er damit allerdings nicht beeindrucken. Gewiß, bereits dessen Vater hatte sich intensiv mit naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigt, aber sein Arztberuf hatte ihm dabei eine solide Existenz geboten. Die bloße Vorstellung, daß Charles einmal an seinen Großvater auch nur heranreichen, geschweige denn ihn übertreffen würde, war Robert W. Darwin angesichts der schulischen Leistungen seines Sohnes völlig fremd.

Ein kurzes Intermezzo: Medizinstudium in Edinburgh

Dennoch lag es nahe, Charles Medizin studieren zu lassen, und zwar nach alter Familientradition in Edinburgh. Sein älterer Bruder Erasmus hatte das Medizinstudium zwar in Cambridge abgeschlossen, sollte sein Krankenhauspraktikum aber ebenfalls in Edinburgh absolvieren. Die schottische Hauptstadt bot angehenden Ärzten bessere Möglichkeiten als Cambridge oder Oxford. Die akademische Lehre war umfassender angelegt, mit einem breiten Spektrum medizinischer und naturwissenschaftlicher Fächer. In Charles’ erstem Studienjahr waren an der medizinischen Fakultät knapp 1000 Studenten immatrikuliert; viele davon kamen aus England. In Vorbereitung auf seine ärztliche Laufbahn betätigte sich Charles im Sommer 1825 als Helfer bei der medizinischen Versorgung der Armen von Shropshire, begleitete gelegentlich seinen Vater und teilte Arzneien aus. Diese Tätigkeit scheint ihm Freude bereitet zu haben, und der Vater war vorübergehend sogar mit ihm zufrieden.