Handbuch der kleinen Sauereien
Mit Illustrationen von
Lukas Wossagk
C.H.Beck
Cosí fan tutte – sie machen es alle. Ob im Privatleben oder im Beruf, wir alle kennen diese Momente, in denen sich Menschen dazu verleiten lassen, ihren inneren Schweinehund von der Leine zu lassen. Sie schummeln, lügen, verschweigen wichtige Informationen und legen alles zu ihrem eigenen Vorteil aus.
Amüsant und scharfsinnig geht der Autor den Fehltritten des Alltags auf den Grund und führt uns das Beunruhigende an den kleinen Sauereien vor Augen: Sie unterlaufen auch Menschen, die wir für anständig und vertrauensvoll halten – uns selbst zum Beispiel.
Matthias Nöllke ist Autor und hält Vorträge über Management und Kommunikation (www.noellke.de). Mit Christian Sprang schrieb er den Bestseller Aus die Maus. Ungewöhnliche Todesanzeigen (2009). Ohne ihn: Schlagfertig (2002), Machtspiele (2007) und Ich WILL mich aber aufregen. Das Buch für den kleinen Ärger zwischendurch (2014). Bei C. H. Beck sind von ihm erschienen: Psychologie für Führungskräfte (2009) und Reden aus dem Stand (2015).
Lukas Wossagk ist seit 2012 als freiberuflicher Comiczeichner und Illustrator tätig. Nach der Eröffnung seines Cartoon-Blogs «Zellblog» (zellblog.tumblr.com) folgten Aufträge für diverse Magazine und Kinderbuchprojekte. Seit 2014 ist er außerdem für das Jugendportal der Stadt München «Pomki.de» als Zeichner tätig.
1.
Rot haben immer nur die anderen – warum wir uns nicht an Verkehrsregeln halten
2.
Innere Kinder, Schweinehunde und andere schräge Typen
3.
Was kleine Sauereien so unverzeihlich macht
4.
Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen
5.
Kleine Sauereien im Beruf
6.
Unterwegs im Boss-Modus – kleine Sauereien in großen Stil
7.
Von den Freuden des Unterleibs
8.
Kleine Sauereien unter Freunden
9.
Die Sau rauslassen – warum kleine Sauereien Spaß machen
10.
Voll erwischt – wenn kleine Sauereien auffliegen
Unser Buch muss auf der Straße beginnen.[1] Denn nirgendwo zeigen sich die kleinen Sauereien so deutlich wie im Straßenverkehr. Das liegt daran, dass es klare Regeln gibt. Und wenn sich alle daran halten würden, dann wäre diese Welt ein friedlicherer Ort mit weniger Blechschäden. Doch die Leute halten sich eben nicht daran. Um die Wahrheit zu sagen: Niemand hält sich an die Regeln (außer Ihnen und mir natürlich). Dabei könnte man diese Regeln in Zweifelsfällen sogar nachlesen, in der Straßenverkehrsordnung. Aber haben Sie da schon mal reingeguckt? Ich jedenfalls nicht. Trotzdem wissen wir ganz genau, wann jemand die Regeln verletzt: Wenn er auf dem Fußweg parkt, bei Rot über die Straße geht oder als Radfahrer auf der falschen Straßenseite unterwegs ist.
Die Leute wissen also Bescheid. Und dennoch haben sie nichts Dringlicheres zu tun, als gegen die Regeln zu verstoßen, sobald sie hinter dem Steuer ihres Wagens Platz genommen haben. Oder auf ihr Fahrrad gestiegen sind. Oder sich die Straßenschuhe angezogen haben, um vor die Tür zu gehen und ein paar fundamentale Grundregeln unseres Zusammenlebens zu brechen. Warum tun sie das? Die schockierende Wahrheit lautet: Weil es Spaß macht. In der Psychologie gibt es sogar einen Begriff dafür, den wir später noch gründlich auswalzen werden. Er lautet «Cheater’s High», die Hochstimmung des Betrügers.[2] Diese stellt sich immer dann ein, wenn a.) niemand ernsthaft zu Schaden kommt. und b.) man gute Aussichten hat, mit seiner Mogelei durchzukommen. Wie im Straßenverkehr eben.
Doch es muss noch etwas hinzukommen, ein Element, das sich auf das «Cheater’s High» etwas ungünstig auswirken könnte: Der Verstoß muss auf Kosten von anderen geschehen. Nicht ernsthaft (siehe Punkt a.), aber doch spürbar. Man muss schon ein bisschen mehr tun, als einfach nur bei Rot über die Ampel zu schlurfen, wenn sowieso alles frei ist und nicht einmal Schulkinder zugucken. Man muss jemanden schädigen, beeinträchtigen oder zumindest verärgern. Sonst ist die ganze Sache, man möchte sagen, nicht der Rede wert. Doch das für unser Thema Günstige ist: Es fällt, wenigstens hierzulande, gar nicht so schwer, die Leute durch geringfügige Missachtung der Regeln gegen sich aufzubringen.
Nehmen wir an, Sie sind frühmorgens mit dem Auto unterwegs. Im Berufsverkehr. Die Ampel springt auf Rot, und Sie nutzen die Phase, bevor die anderen Grün bekommen, um noch rasch hinüberzufahren und die kleine Endorphindusche des «Cheater’s High» mitzunehmen. Obwohl niemand direkt zu Schaden kommt, regt so etwas manche Leute schrecklich auf. Denn das was sie sich ausmalen, das ist nicht schön: Derjenige, der sich da noch so rübermogelt, erreicht rechtzeitig und gut gelaunt seine Arbeitsstelle, während sein Kollege, der brav beim Rotlicht stoppt, Gefahr läuft, zu spät zu kommen. Ein Tag, der schon damit anfängt, dass der Ehrliche mal wieder einmal der Dumme ist, kann kein guter Tag werden. Und darum drücken diese Leute wenigstens auf ihre Hupe, damit alle wissen: Da hat sich gerade jemand wieder eine kleine Sauerei geleistet. Und doch befinden wir uns hier erst auf der untersten Stufe der kleinen Sauereien. Was man schon allein daran erkennt, dass die Angehupten die Huperei für die eigentliche Sauerei halten. Manche hupen zurück, andere verwandeln sich kurzzeitig in mediterrane Lebenskünstler, die über ihre humorlosen Landsleute nur den Kopf schütteln – das Ignorieren von Verkehrszeichen, Falschparken, Pinot Grigio und Olivenöl gehören doch irgendwie zusammen.
Auf diese unterste Stufe gehört auch das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, von PS-schwächeren Verkehrsteilnehmern gerne als «Rasen» bezeichnet. Auch da reagieren die Betreffenden häufig verständnislos auf Kritik. Das eindrucksvolle Überbieten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gehört sogar zu den wenigen kleinen Sauereien, die man nicht zu vertuschen versucht, sondern von denen man gerne und häufig ausführlich erzählt. Denn sie verleihen dem Erzähler eine Aura des Verwegenen und Tollkühnen, die man als, sagen wir, leicht übergewichtiger Mittvierziger sonst nicht so bequem erwirbt. So aber gerät man in hinterhältige Radarfallen, wird «geblitzt» und von der Polizei verfolgt. Wie der Chef eines Drogenkartells. Eines kleinen Drogenkartells vielleicht. Nun ja, eines sehr kleinen Drogenkartells, aber immerhin.
Im Straßenverkehrt ist es nicht anders als in der Schule: Wer nicht ab und zu schummelt, abschreibt und/oder abschreiben lässt, der gehört nicht ganz dazu. Makellose Menschen, die nicht gelegentlich ein bisschen mogeln, mögen wir einfach nicht. Irgendwie merkt man ihnen den Mangel an «Cheater’s High»-Zuständen schon an. Sie sind fade und freudlos. Und vor allem machen sie uns ein schlechtes Gewissen. Sie geben uns nicht das beruhigende Gefühl, dass sie genau solche liebenswerten Schelme sind wie wir.
Wenden wir uns nun den kleinen Sauereien zweiter Stufe zu. Die zeichnen sich dadurch aus, dass wir sehr gereizt reagieren, wenn sie sich ein anderer herausnimmt. Wenn wir selbst so etwas machen, dann sind wir deutlich nachsichtiger. Wir sind nicht gerade stolz darauf wie auf unsere Geschwindigkeitsrekorde, aber wir machen auch kein Drama daraus. Schließlich kann so etwas jedem mal passieren. Außerdem wissen wir genau, wie es dazu gekommen ist: Es waren die äußeren Einflüsse, die auf unseren guten Kern eingewirkt haben – tiefstehende Sonne, dringender Geschäftsanruf, Ablenkung durch Beifahrerin oder dieser Song im Radio. Außerdem ist doch gar nichts passiert. wenn man es genau nimmt. Die Sauereien der zweiten Stufe wollen wir möglichst schnell abhaken – vorausgesetzt es unsere eigenen sind. Hat sie dagegen ein anderer begangen, sind wir nicht so großzügig. Wenn wir können, steigen wir ihm aufs Dach. Und seine Ausflüchte, die lassen wir ihm nun schon überhaupt nicht durchgehen. Denn der andere soll ja nicht einfach so mit seiner Sauerei davonkommen. Er soll sich der Wahrheit stellen und uns gegenüber erklären: «Ich habe Mist gebaut. Das wird nicht wieder vorkommen.»
Nun gibt es durchaus Leute, die ihre kleinen Sauereien im Straßenverkehr hin und wieder zugeben. Zum Beispiel, wenn die Polizei ihnen ihre lichthupenunterstützten Überholmanöver später auf Video vorführt. Interessanterweise reden diese Leute dann über sich selbst wie über eine dritte Person und es ist ihnen furchtbar peinlich, was die sich wieder geleistet hat. Aber wieso und wozu das Ganze passiert ist – keine Ahnung. Wer sich seinen kleinen Sauereien stellen will, der muss sich selbst ein bisschen fremd werden, der braucht Distanz zu seiner eigenen Persönlichkeit. Nur so kann man das eigene Tun mit der nötigen Fassungslosigkeit betrachten.
Zur zweiten Stufe gehört aber noch eine andere Art von kleinen Sauereien: die weitergereichte Sauerei. Nehmen wir an, Sie sind mit dem Fahrrad unterwegs. Wieder im Berufsverkehr. An der Kreuzung springt die Fahrradampel gerade auf Rot. Sie tun, was Radfahrer mit ihrer Vorliebe für «Cheater’s High»-Erlebnisse tun: Sie treten noch einmal richtig in die Pedale und zischen über die Kreuzung. Dadurch aber nötigen Sie einen Autofahrer, der abbiegen will, zum Beispiel mich, zu einem kurzen Stopp. Weil ich die Fahrradampel aufmerksam im Blick habe, weiß ich, dass Sie gerade gegen § 37 der Straßenverkehrsordnung verstoßen haben. Ich betätige die Wuthupe, kurbele das Fenster herunter, um Sie zu beschimpfen, und brause auf die nächste Ampel zu, die gerade auf Rot umgeschaltet hat. Beherzt brettere ich an den Fußgängern vorbei, die über dieses riskante Manöver den Kopf schütteln. Denn die können nicht ahnen, welche Rechnung ich bei der kleinen Sauerei aufgemacht habe: Wenn dieser bescheuerte Radfahrer nicht bei Rot über die Kreuzung gefahren wäre, hätte ich nicht bremsen müssen und es bei Grün zur nächsten Ampel geschafft. Also darf ich da jetzt rüberfahren. Denn wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, dann hätte ich ja Grün gehabt. Die Fußgänger, die ich fast über den Haufen gefahren hätte, dürfen ihre Beschwerden gerne an den Radfahrer richten.
Es liegt auf der Hand, dass dieses Argument die anderen nicht so recht zu überzeugen vermag. Aber die müssen auch gar nicht überzeugt werden. Bei den kleinen Sauereien der zweiten Stufe muss man zunachst sich selbst überlisten. Und wenn die anderen das für lächerliche Ausflüchte halten, so macht das gar nichts.
Die weitergereichte Sauerei gehört zu den beliebtesten miesen Nummern im Straßenverkehr. Irgendeiner fängt damit an, vielleicht gar nicht mal mit Absicht, blinkt falsch, übersieht eines dieser Verbotsschilder oder ihm ist gerade entfallen, wo jetzt links oder rechts ist, ganz zu schweigen davon, wer dann überhaupt Vorfahrt hat. Und schon ist es passiert: Ein anderer Autofahrer fühlt sich benachteiligt und muss diese vermeintliche kleine Sauerei wieder ausgleichen, indem er jetzt selbst jemanden ärgert, dicht auffährt oder ein paar Fußgänger über den Haufen hupt. So wird die Sauerei immer weitergereicht, bis sie auch uns erreicht. Und natürlich machen wir mit. Unsere Instinkte sind nun mal so. Die Affen in der Savanne halten es genauso. Wir sind also evolutionär so angelegt – wir können gar nicht anders. «Umgeleitete Aggression» heißt dieses Phänomen.[3] Und wenn es wirklich so nachteilig wäre, wie die Verkehrspolizei behauptet, dann wären wir alle schon längst ausgestorben. Und zwar als wir alle noch Affen waren.
Was den Autoverkehr betrifft, so ist zu beobachten, dass die Sauereien in zwei Richtungen durchgereicht werden: einmal von den Stärkeren zu den Schwächeren (wie in der Savanne). Wenn uns so ein signalroter Lamborghini die Vorfahrt nimmt, sind wir empört, aber eigentlich nicht überrascht. Bei den größeren Modellen deutscher Autohersteller spricht man ja ohnehin von einer «eingebauten Vorfahrt». Wir treten unwillkürlich auf die Bremse, wenn wir im kleineren Auto mit dem schwächeren Motor unterwegs sind, weil uns klar ist, dass im Zweifel die inoffizielle Hackordnung gilt. Wer hinter dem Steuerrad eines hochpreisigen Personenkraftwagens mit einschüchternder Haifischvisage sitzt, der besitzt gewisse Vorrechte. Er kann sich an die Straßenverkehrsordnung halten, kann aber auch im Bedarfsfall davon abweichen. So jemandem nimmt man nicht die Vorfahrt. Stattdessen versuchen wir, uns an die schwächeren Verkehrsteilnehmern zu halten.
Das ist jetzt eine gute Gelegenheit, einen Seitenblick auf die empirische Sozialforschung zu werfen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern um die kalifornischen Sozialpsychologen Paul Piff [4] und Dacher Keltner[5] hat eine viel beachtete Studie durchgeführt.[6] Die Wissenschaftler postierten sich an einer Kreuzung in San Francisco und beobachteten den Verkehr. Und zwar, wie es sich für Wissenschaftler gehört, systematisch und unter kontrollierten Bedingungen. Zunächst wiesen sie jedem Auto einen bestimmten Status zu, Status 1 war der niedrigste, Status 5 der höchste. Vor der Kreuzung befand sich ein Stoppschild, die Autosfahrer waren also verpflichtet anzuhalten und durften erst weiterfahren, wenn die Straße frei war. Die Psychologen waren aber vor allem an denen interessiert, die nicht anhielten und damit anderen Fahrzeugen die Vorfahrt nahmen. Eine lupenreine kleine Sauerei der zweiten Stufe, würden wir sagen.
Interessanterweise gab es zwischen Fahrzeugen mit dem Status 1 bis 4 wenige Unterschiede. Jeweils um die 10 Prozent verhielten sich nicht korrekt. Dabei dürfte es sich um die Menschen handeln, die immer Mist bauen, egal in welchem Fahrzeug sie sich befinden. Oder ob überhaupt in einem. Doch bei den Autos mit dem höchsten Status, dem Status 5, änderte sich die Sache: Der Anteil der Fahrer, die sich die kleine Sauerei erlaubten, das Stoppschild zu missachten, verdreifachte sich. Und genau das, was Piff, Keltner und ihre Kollegen erwartet hatten: Die Leute in den dicksten Autos machen am meisten Ärger.
In einer zweiten Studie stellten sie einen Fußgänger an einen Zebrastreifen. Für die heranfahrenden Autos war gut zu sehen, dass er gerade die Straße überqueren wollte. (Wer am Zebrastreifen weiterfährt, verstößt gegen die Straßenverkehrsordnung, auch in Kalifornien.) Diesmal verhielten sich nur die Autos mit dem niedrigsten Status korrekt, die andern fuhren öfters mal durch. Ergebnis: Für Fußgänger wird es schon ab der unteren Mittelklasse gefährlich.
Um zu überprüfen, ob dieser Befund auch für deutsche Straßen zutrifft, habe ich meine eigenen Studien angestellt. Unsystematisch und unter unkontrollierten Bedingungen. Nach jahrelanger Feldforschung kann ich die Ergebnisse von Piff, Keltner und ihren Kollegen im Großen und Ganzen bestätigen. Allerdings würde ich die fünf Statusklassen um eine weitere ergänzen: die L-Klasse. Autos der L-Klasse erreichen Spitzenwerte, wenn es darum geht, Radfahrern den Weg abzuschneiden. Zur L-Klasse gehören nicht etwa die Luxuslimousinen, sondern die Lieferwagen. Und zwar insbesondere solche, die schon ein bisschen angerostet sind. Lieferwagen mit der Aufschrift: «Metallbau Schulz» oder «Der Fliesenleger kommt». Aus noch nicht ganz geklärter Ursache sind diese Fahrzeuge immer in Eile. Vielleicht wollen sie ihren Bestimmungsort erreichen, ehe sie auseinanderfallen? Vielleicht wollen sie aber auch bei der Anfahrt ein rasantes Tempo vorlegen, ehe am Einsatzort die Entdeckung der Langsamkeit bevorsteht? Man weiß es nicht.
Was aber die kleinen Sauereien der L-Klasse von denen der anderen Verkehrsteilnehmer unterscheidet, ist, dass die Fahrer ihr Vergehen überhaupt nicht zu genießen scheinen. Jeder Porschefahrer freut sich, alle anderen zurückweichen, die eigentlich Vorfahrt hätten. Aus so manchem Sportwagen habe ich einen lässigen Gruß empfangen, der bedeuten soll: «Sorry, aber das habe ich gerade mal gebraucht.» Nicht so in der L-Klasse. Da bleiben viele mürrisch, auch wenn sie so einen behelmten Angeber auf seinem Trekkingrad zur Vollbremsung gebracht haben. Was doch sonst jeden freut. Ich vermute, das liegt daran, dass sie den altbewährten deutschen Grundsatz verinnerlicht haben: «Egal, was geschieht, solange du mürrisch bleibst, bist du immer im Recht.» Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass sich die L-Klasse verkehrshierarchisch in einer gewissen Scharnierposition befindet. Und solche Positionen sind immer schwer auszurechnen. Einerseits befinden sich in der Status-Pyramide der motorisierten Fahrzeuge recht weit unten, an ihrem Fuß sozusagen, andererseits aber thronen sie unmittelbar über allen nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern. Denen gegenüber müssen sie sich daher besonders behaupten. Wenn sie anfangen, für einen Radfahrer zu bremsen, dann laufen sie Gefahr, dass sie niemand mehr ernst nimmt.
Und damit können wir bequem überleiten zur Gegenrichtung, in die die kleinen Sauereien durchgereicht werden. Wie schon angedeutet sind es nicht nur die Starken, die die Schwachen ärgern. sondern auch die Schwachen nehmen sich gerne die Freiheit, den vermeintlich starken Verkehrsteilnehmern auf der Nase herumzutanzen. Dabei gilt die Daumenregel: Je ausgeprägter der Statusunterschied ist, umso besser sind die Aussichten, dass sie damit durchkommen. Der Stärkere soll auf den Schwächeren Rücksicht nehmen – so haben wir es gelernt, so ist es richtig, so ist es fair. Allerdings müssen die Stärkeren immer wieder an diesen edlen Grundsatz erinnert werden, sonst haben die Schwachen ganz schlechte Karten und werden gnadenlos ausgeplündert. Doch wenn man es geschickt genug anstellt, dann geben sich die Starken plötzlich Mühe und lassen sich allerhand gefallen, denn sie wollen zwar gewinnen, aber nicht die Bösen sein. Darin liegt die Chance der vermeintlich Schwachen für eine kleine Sauerei. Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie im Straßenverkehr.
Es sind nämlich die schwachen, die verletzlichsten Verkehrsteilnehmer, die sich am wenigsten um die Straßenverkehrsordnung scheren. An einer roten Ampel halten die Autofahrer fast immer an. Und wenn nicht, dann war sie gerade eben noch grün und man ist einfach nicht mehr zum Bremsen gekommen. So mitten in einer Rotphase fährt kaum einer los. Bei Fußgängern und Radfahrern sieht das schon anders aus. Und dabei haben sie noch ein reines Gewissen. Viele betrachten die Verkehrslichter eher als Anregung und nicht als Vorschrift. Sie überqueren die Straße, wenn sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen halten. Sie denken sich: «So, jetzt reicht es einfach … » – und dann gehen sie los. Dabei können sie sich auf zwei Argumente stützen: Zum einen sind manche Grünphasen so kurz, dass Fußgänger sowieso nicht hinuberkommen. Egal wann sie starten, sie befinden sich in jedem Fall früher oder später bei Rot auf der Fahrbahn. Da kann man auch gleich bei Rot rübergehen. Oder man ignoriert dieses ganze Buntlicht ganz grundsätzlich. Wenn diese Verkehrsplaner keine Rücksicht auf uns nehmen, dann nehmen wir uns die Freiheit, zu tun, was wir für richtig halten. Zweites Argument: Fußgänger gefährden die Autofahrer nicht so stark wie umgekehrt. Bei einer Kollision ziehen sie immer den Kürzeren. Sie riskieren Kopf und Kragen, während die Autofahrer allenfalls ein paar Beulen an ihrem Fahrzeug abbekommen. Es handelt sich also um eine kleine Sauerei auf eigenes Risiko, was sie in ihren Augen schon vollkommen akzeptabel macht.
Die unbestrittenen Champions der kleinen Sauereien im Straßenverkehr sind jedoch nicht die Fußgänger, sondern die Radfahrer. Das liegt unter anderem daran, dass sie sich von vornherein für die besseren Menschen halten. Vielleicht zehren sie auch noch ein wenig vom friedfertigen Image längst vergangener Zeiten, als Fahrräder noch «Drahtesel» hießen und erwachsene Radfahrer als Umweltschützer oder entspannte Lebenskünstler galten. Nun, das hat sich gründlich geändert. Vor allem die Entspanntheit ist dahin. Und ob sich die Umwelt noch immer über die vielen Radfahrer freut, die durch Wald und Flur heizen, wollen wir mal offen lassen.
Dennoch sind Radfahrer überzeugt, besser als die Autofahrer zu sein. Das machen sie an verschiedenen Dingen fest: Sie produzieren keine Abgase, bewegen sich mit ehrlicher Muskelkraft vorwärts und sind überhaupt eher in sportlicher Mission unterwegs. Bekommen wir nicht ständig zu hören, dass wir uns zu wenig bewegen? Nun, Radfahrern kann man sehr viel vorwerfen, nur nicht, dass sie sich zu wenig bewegen. Sie versuchen vielmehr, ständig in Bewegung zu bleiben. Alles, was sie aufhält, ist ein Hindernis, das überwunden werden muss. Und zwar möglichst schnell. Ich weiß, wovon ich rede, ich fahre genauso irrsinnig wie alle anderen. Natürlich liegt das auch an den Fahrrädern, die heute verkauft werden. Das sind mehr Sportgeräte als Verkehrsmittel. Rennmaschinen mit Kampflenker. Trekkingräder ohne Licht, ohne Klingel, ohne Gepäckträger, weil so etwas zu viel Gewicht haben würde. Leichtigkeit ist gefragt, denn leicht macht schnell. Kaum haben Sie sich auf so ein Rad gesetzt und fahren los, schon nehmen Sie automatisch am großen Stadtrennen teil.
Bei der ganzen Raserei spielen die Fahrradhelme übrigens eine etwas zwiespältige Rolle. Einerseits schützen sie die Köpfe der Radfahrer (was manche Autofahrer für ihren eigentlichen Nachteil halten). Sie sorgen damit für mehr Sicherheit, und man bekommt für seinen Kopfschutz ein freundliches Nicken von der Verkehrspolizei. Andererseits aber verstärken diese Helme die Rennfahrer-Illusion. Wer sich so ein Ding umschnallt, der kann gar nicht mehr gemütlich radeln, ohne sich lächerlich vorzukommen.
Doch wäre es ein Fehler anzunehmen, die sportlich hochgerüsteten Fahrer wären die Bösen und die anderen die Guten. Natürlich sind alle Radfahrer ein wenig böse. Auf ihre eigene Art. Und auch unter den pedalbetriebenen Zweirädern gibt es so etwas wie eine L-Klasse: Modelle mit Rostrand, die gleichfalls vom Auseinanderfallen bedroht scheinen. Man erkennt sie am Klappern der Schutzbleche. Bemerkenswerterweise werden ausgerechnet die Fahrer dieser am äußeren Rand der Verkehrstüchtigkeit balancierenden Räder vom Ehrgeiz gepackt, allen zu zeigen, was noch in ihnen steckt. Und vermutlich durchflutet sie ein wohliges Triumphgefühl, wenn es ihnen gelingt, den einen oder anderen Schnösel auf seiner federleichten Rennmaschine abzuhängen. Es ist ein Guerillakampf auf Rädern. Man will den technisch überlegenen Gegner mit gezielten Nadelstichen in die Knie zwingen, muss dabei aus der Illegalität heraus operieren und sich über die repressiven Verkehrsregeln hinwegsetzen. Daher schleichen sich vor der Ampel die Rosträder an allen anderen vorbei, um wirklich als Erste die Straße zu überqueren. Außerdem erzwingen sie durch ihre schwer berechenbare Fahrweise, dass man sie nur mit beträchtlichem Abstand überholen kann. Wenn überhaupt.
Und jetzt wird es Zeit, dass wir uns der dritten und höchsten Stufe der kleinen Sauereien zuwenden. Diese kleinen Sauereien finden wir überhaupt nicht akzeptabel. Nicht einmal bei uns. Oder vielmehr: Gerade bei uns nicht. Die andern … na ja, die sehen das vielleicht nicht so eng, aber wir haben bestimmte Prinzipien. Dennoch verstoßen wir gelegentlich gegen diese – nicht nur, aber besonders gerne im Straßenverkehr. Dabei neigen wir dazu, diese peinliche Tatsache vor uns selbst zu verbergen oder wir nehmen die kleine Sauerei einfach nicht zur Kenntnis. «War da was?» fragen wir irritiert. «Wird schon nicht so schlimm gewesen sein.» Solche Äußerungen kommen bei den andern immer ganz schlecht an. Wenn jemand schon so eine kleine Sauerei begangen hat, dann sollte er sie wenigstens zugeben und dazu stehen. Das haben wir ja schon bei Stufe zwei gesehen.
Aber so läuft das eben nicht, denn es ist ja nicht so, als würden wir die vorsätzlich begehen. Sie geschehen halb automatisch, ohne dass sie uns bewusst werden. Jawohl, es sind unsere unbewussten Helferlein, die hier eingreifen und dafür sorgen, dass sich der Lichtkegel unseres Bewusstseins auf andere Dinge richtet. Im Straßenverkehr klappt das Ganze besonders gut, weil wir dort ohnehin das Meiste unterhalb der Bewusstseinsschwelle erledigen. Das hat viele Vorteile: Wir können schneller reagieren, beim Autofahren oder Spazierengehen Gespräche führen – und eben kleine Sauereien anrichten, die wir bei ruhiger Überlegung niemals zulassen würden. weil wir finden: dass sich so etwas nicht gehört.
Vielleicht glauben Sie: dass ein rücksichtsvoller Verkehrsteilnehmer, der auf Kinder und alte Leute achtgibt, das durchgängig tun muss. Gelegentliche Ausreißer sind da nicht drin. Und wenn sie dennoch geschehen, dann muss das der rücksichtsvolle Verkehrsteilnehmer sofort merken. Nun, genau das ist eben ein gewaltiger Irrtum. Unsere Wertvorstellungen werden dadurch, dass wir gelegentlich gegen sie verstoßen und diesen Verstoß vor uns geheim halten, nicht über den Haufen geworfen. Ganz im Gegenteil. Erst dadurch können wir überhaupt an ihnen festhalten und uns in anderen Situationen dazu entschließen, Rücksicht zu nehmen. Wir kommen darauf zurück.
Mit den kleinen Sauereien der Stufe drei ist die Reihe jetzt komplett. Dabei dürfen wir nicht erwarten, dass die kleinen Sauereien von Stufe zu Stufe größer und schlimmer werden. Sie werden nur unangenehmer für den, der das Ganze anstellt. Tatsächlich kann ein und dieselbe kleine Sauerei auf allen drei Stufen stattfinden. Vielleicht kennen Sie das «französische Einparken»: Dabei arbeitet man sich in eine allzu enge Parklücke hinein, indem man Kontakt zur Stoßstange des vorderen und/oder hinteren Autos aufnimmt und sich durch mehr oder weniger sachtes Schieben ausreichend Platz verschafft. Und wenn keine richtige Stoßstange vorhanden ist, sondern eher eine Art Zierleiste, dann tut man so, als wäre da eine.