John Goodwin

Mit versiegelter Order

Kriminalroman
Translator: Fritz von Bothmer
e-artnow, 2022
Kontakt: info@e-artnow.org
EAN 4066338123794

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel. Eine seltsame Erbschaft
2. Kapitel. Die eiserne Hand
3. Kapitel. Das Briefchen
4. Kapitel. Mark Halahan
5. Kapitel. Der erste Schuß
6. Kapitel. Der Detektiv
7. Kapitel. Ricardo & Co
8. Kapitel. Anthony nimmt seinen Abschied
9. Kapitel. Ein stummer Zeuge
10. Kapitel. Mr. Hickman
11.Kapitel. Kapitän Kirkpatrick
12. Kapitel. Mit nördlichem Kurs
13. Kapitel. Eine Falle
14. Kapitel. Maschinendefekt
15. Kapitel. Rollenwechsel
16. Kapitel. Den Clyde hinunter
17. Kapitel. Die Entlassung
18. Kapitel. McBrayne
19. Kapitel. Die versiegelte Order
20. Kapitel.. Die Morse-Zeichen
21. Kapitel. Moderne Seeräuber
22. Kapitel. Das Rennboot
23. Kapitel. Hart auf hart
24. Kapitel. Mr. Hickman geht an Land
25. Kapitel. Was Anthony erwartet hatte
26. Kapitel. Aufs Wohl der Dame
27. Kapitel. Der Herr aus Miami
28. Kapitel. Dan Ricardo greift ein
29. Kapitel. Der Mörder
30. Kapitel. Durch die Engen
31. Kapitel. Gefangen
32. Kapitel. Die drei Bäume
33. Kapitel. Die Teilung der Beute
34. Kapitel. Das Duell
35. Kapitel. McBrayne auf dem Kriegspfade
36. Kapitel. Ein Spielverderber
37. Kapitel. Die Flüchtlinge
38. Kapitel. Roscoe verreist
39. Kapitel. Schluß

1. Kapitel.
Eine seltsame Erbschaft

»Nun, was hältst du von ihr?« fragte Dan Ricardo, während er seine schwere Gestalt nachlässig auf dem Deckstuhl räkelte. Er selbst und der Angeredete hatten ihre Stühle in den Schutz zweier mächtiger Ventilatoren gezogen, denn eine Bö nach der andern fegte daher, und die »Armentic« arbeitete schwer in der groben See.

Mister Wright warf einen prüfenden Blick nach dem jungen Mädchen hinüber: Felicia Drew lehnte etwas leichtsinnig gegen die Reling. Ihr geschmeidiger Körper paßte sich elastisch den Bewegungen des Schiffes an. Wind und Wetter schienen ihr gerade recht zu sein.

Wright antwortete nicht sogleich, denn es lohnte sich, Felicias Schönheit eingehender in Augenschein zu nehmen. Ihr kastanienrotes Haar stand in wirkungsvollem Gegensatz zu den blauen Augen, und der feingeschnittene Mund bekundete Willenskraft und Temperament.

»Gute Klasse, Dan!« sagte Wright endlich anerkennend. »Ob sie wohl Geld hat?«

»Vorläufig kaum genug, um ihre Kleider zu bezahlen.« Ricardo grinste. »Aber vielleicht hast du mal etwas von der schrulligen Honoria Drew gehört?«

»Nur, daß sie sich sozusagen im Golde wälzt.«

» Wälzte!« verbesserte Dan Ricardo. »Honoria starb zu Beginn des Jahres, und die Kleine da soll in vier Monaten Honoria Drews Vermögen von zehn Millionen Dollars erben, wenn sie genau die Bedingungen der Verstorbenen erfüllt. Zunächst aber weiß Felicia noch gar nichts von dem Inhalt des Testaments ihrer schrulligen Tante. Erst nach der Landung in England wird sie alles Nähere von den Anwälten der Verstorbenen in London erfahren, und erst von dem Augenblick an treten die Bedingungen in Kraft.«

»Was für eine verworrene Geschichte«, bemerkte Mister Wright kopfschüttelnd. »Oder sind dir die Bedingungen etwa bekannt?«

»Allerdings. – Und es ist jetzt sogar an der Zeit, sie dir mitzuteilen: Felicia soll also in vier Monaten, an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, das Erbe nur dann antreten, falls sie in der Zwischenzeit – erstens: sich nicht verheiratet – zweitens: kein Geld aufnimmt oder sich auf irgendeine Weise Vorschüsse auf das zu erwartende Vermögen beschafft – drittens: nicht mit den englischen Strafgesetzen in Konflikt gerät – viertens: nicht gegen die Prohibitionsgesetze der Vereinigten Staaten verstößt. – Bis zum Ablauf dieser Bewährungsfrist dürfen ihr die Bevollmächtigten nicht mehr als vier Pfund wöchentlich auszahlen.«

Mister Bender Wright, der früher den Beruf eines Rechtsanwaltes ausgeübt hatte, aber von den Behörden aus gewissen Gründen von der Liste gestrichen worden war, hatte den Ausführungen seines Freundes sehr aufmerksam zugehört. »Und wenn sich das junge Ding also eines Verstoßes gegen eine dieser Bedingungen schuldig macht, dann bekommt sie keinen Cent?« fragte er gespannt.

»Nein.« Ricardo lachte. »Dann fällt der ganze Segen unserem kleinen Geschäftsfreund Sinclair Brewster, dem Vetter Felicias, in den Schoß. Und du weißt, daß ich diesen Bengel derart eingewickelt habe, daß er ohne meine Erlaubnis kein Bein rühren kann.«

Bender Wright pfiff leise durch die Zähne. »Also käme es darauf an, diese junge Dame zu einer Verletzung der Bedingungen zu veranlassen, um dann mit dem nächstfolgenden Erben, mit Sinclair Brewster, zu teilen?«

»Du hast wirklich eine feine Auffassungsgabe für geschäftliche Dinge«, meinte Dan Ricardo zynisch.

»Und ist Sinclair schon ganz im Bilde?« forschte Bender Wright weiter.

Dan Ricardo wiegte den Kopf. »Wohl nicht ganz. Immerhin hege ich Verdacht, daß er mehr weiß, als er vorgibt. – Vor allem habe ich ihm befohlen, sich während der Überfahrt möglichst von uns fernzuhalten, damit das Mädel nichts von unseren Beziehungen zu ihm merkt. – Im übrigen hat er von mir den Auftrag, seiner Kusine nur ein wenig den Hof zu machen – nicht mehr. Meistens sitzt er ja an der Bar und säuft. Da ist er am ungefährlichsten. Immerhin wollen wir ihn aber in den zwei Stunden, die uns noch von der Landung trennen, gut unter Aufsicht halten, damit er nicht noch Dummheiten macht und gegen meine Instruktionen verstößt.«

In diesem Augenblick wurden die Blicke der beiden Männer wieder zu Felicia gezogen. Mister Anthony Kirkpatrick, der Dritte Offizier der »Armentic«, war vor Felicia hingetreten. Er war ein großer, gut gewachsener Mann Ende der Zwanzig; mit seinen ausdrucksvollen dunklen Augen und schwarzen Haaren, seinem gut geschnittenen braunen Gesicht hätte man ihn schön nennen können, wenn ihm das zu stark entwickelte Kinn nicht den Stempel des Draufgängers verliehen hätte.

Mister Kirkpatrick blieb also vor Felicia stehen und sagte stirnrunzelnd: »Würde lieber nicht so auf der Reling hängen, Miß Drew. Gefährlich bei solchem Seegang.«

Sofort kam ein böses Blitzen in Felicias Augen. Bisher hatte sie diesen Dritten Offizier recht nett gefunden, aber dieser Ton ging ihr gegen den Strich. Sie setzte sich nur noch wagehalsiger hin und erwiderte: »Gehen Sie Ihrer Wege, und kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie …«

»Es ist meine Pflicht, als Schiffsoffizier«, fiel ihr Kirkpatrick ins Wort, »dafür zu sorgen, daß uns die Passagiere nicht zwingen, sie wieder aus der See zu fischen.«

»Es ist Ihre Pflicht, dafür zu sorgen, daß das Schiff sauber ist«, herrschte ihn Felicia an; »aber nicht, Passagiere zu belästigen, die Ihres Rates nicht …«

Aber noch ehe sie ausgesprochen hatte, holte die »Armentic« plötzlich so stark über, daß Felicia das Gleichgewicht verlor und unfehlbar über Bord gefallen wäre, wenn Kirkpatrick sie nicht noch aufgefangen hätte.

»Was fällt Ihnen ein!« rief Felicia in heller Empörung, als er sie wieder auf die Füße setzte. »Wie können Sie sich erlauben, mich anzurühren!«

Da war es aber mit der Geduld von Anthony Kirkpatrick zu Ende. Sein Gesicht färbte sich vor Zorn dunkelrot, und er fuhr die junge Dame grob an: »Ich habe es durchaus nicht zu meinem Vergnügen getan!« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging mit langen Schritten davon.

2. Kapitel.
Die eiserne Hand

Sinclair Brewster zog einen zerknitterten Brief hervor und vertiefte sich mit betrübter Miene in den Inhalt. Schon mehr als zwanzigmal hatte er das in den letzten Tagen getan. Der Brief lautete:

»Lieber Sinclair! Auf Deine Anfrage muß ich Dir mitteilen, daß Du im Testament Deiner Tante Honoria Drew nicht bedacht worden bist. Den weitaus größten Teil wird Deine Kusine Felicia erhalten. Tut mir leid, Dir nichts Besseres mitteilen zu können, aber wenn Du wirklich auf etwas gerechnet hast, bist Du ein großer Esel. Herzlichst
Dein I. B.«

Nachlässig steckte er den Brief wieder in die Seitentasche seines Jacketts. Dann saß er mit hängender Unterlippe da, stierte in sein Whiskyglas und dachte nach:

Er mußte sich nun entscheiden, ob er sein Heil bei Felicia versuchen wollte oder nicht. Nur noch anderthalb Stunden – dann würde man an Land gehen!

Er verfügte über ein Einkommen von etwa zweitausend Pfund, doch mußte er davon stets die Hälfte an Dan Ricardo, diesen erbarmungslosen Blutsauger, abgeben. Er mußte also versuchen, sich mit Felicia zu verloben, bevor sie in London erfuhr, welche Erbschaft sie erwartete. Zwar war die Ehe eine greuliche Einrichtung, die einen freien Mann in Fesseln legte. Aber Felicia würde unerhört reich sein, und bildschön war sie noch dazu! Dafür konnte man schon ein Opfer bringen!

Immerhin verspürte Sinclair, feige wie er war, noch eine gewaltige Angst vor Dan Ricardo. Sicher hatte der schon Wind von der ganzen Sache bekommen. Die von ihm erhaltenen Instruktionen in Bezug auf Felicia ließen darauf schließen! Aber die fünf Gläser Whisky, die der junge Mann an diesem Morgen schon getrunken hatte, gaben ihm außergewöhnlichen Mut. Er erhob sich und stapfte mit seinen schlappen Schritten zum Deck hinauf.

Sein Entschluß war gefaßt: er würde Felicia jetzt sofort einen Heiratsantrag machen! Und da sie noch gar nichts von dem bevorstehenden Reichtum ahnte, würde sie den Vetter noch für sehr edel halten, daß er, mit seinem immerhin gesicherten Einkommen, sich mit einem so armen Mädel begnügen wollte.

Als er gerade Felicia an Deck erspäht hatte und auf sie zutreten wollte, passierte ihm ein Mißgeschick: der allzu lässig in die Tasche geschobene Brief wurde vom Wind herausgerissen und gegen die Wand des Decksalons getrieben, wo er einige Sekunden lang haften blieb. Doch noch ehe er in die See weiterflatterte, war Mister Wright hinzugesprungen und hatte ihn aufgefangen.

Sinclair fügte sich in das Unvermeidliche, und da sich Mister Wright anscheinend mit seiner Beute zurückgezogen hatte, eilte er schnell zu dem Deckstuhl, in dem seine schöne Kusine ausgestreckt lag. Jetzt war er unbeobachtet und mußte die letzte Gelegenheit nützen!

»Felicia!« sagte er zärtlich.

Sie ließ ihr Buch sinken. »Sieh da – Sinclair! Wie geht's dir heute?«

»Unsere Wege werden sich in Southampton trennen. Wie sollte es mir da anders gehen, als schlecht.«

Felicia lachte spöttisch. »Ich vermute, der Grund deines Übelbefindens dürfte wohl wieder in zu reichlichem Whiskygenuß zu suchen sein. – Daß du das nicht lassen kannst!«

»Oh, ich würde es lassen, Felicia, wenn sich jemand um mich kümmerte! Ich weiß, mein bisheriges Leben ist nicht viel wert. Aber das soll anders werden! – Ich habe zweitausend Pfund Einkommen, mußt du wissen, – und ich bin fünfundzwanzig. Wenn mich nur jemand möchte! Ich will meinem Leben einen Inhalt geben, Felicia.«

»Glänzende Idee!« rief Felicia. »Weshalb nicht sofort damit beginnen?«

Sinclair, der diese Worte als Ermunterung auffaßte, beugte sich plötzlich vor und ergriff die Hände des überraschten Mädchens: »Würdest du mir helfen, Felicia? – Ich will keine Umschweife machen: ich liebe dich, Felicia! Würdest du mich heiraten? Glaube mir, ich würde an nichts anderes mehr denken, als daran, – dich glücklich zu machen und …«

»Verzeihung …« unterbrach plötzlich eine schneidende Stimme seinen Redestrom.

Sinclair Brewster fuhr erschrocken herum. Vor ihm stand Mister Wright. Und Felicia benutzte diesen Augenblick, um von ihrem Liegestuhl emporzuspringen und schleunigst zu verschwinden.

Sinclair starrte den Störenfried halb wütend, halb ängstlich an.

»Du infame kleine Bestie!« fuhr Wright fort. »Du gehst auf Freiersfüßen – hinter dem Rücken von Dan Ricardo? – Dir werden wir schon beibringen, zu parieren! In fünf Minuten meldest du dich in der Kabine bei Mister Ricardo!« Damit ließ Wright den jungen Mann stehen und begab sich schnurstracks zu seinem Freund Dan.

Trotzig, verängstigt und enttäuscht drückte sich Sinclair noch eine Weile an Deck herum. Dann aber begab er sich gehorsam in die Kabine seines Peinigers, um sich zu verantworten.

Im allgemeinen ließ Dan Ricardo seinem Opfer eine gewisse Freiheit und behandelte Sinclair freundlich. Aber wenn Sinclair wider den Stachel lökte, wurde er ungemütlich: »Muß ich dir wieder einmal die Leviten lesen?« fuhr er den jungen Burschen an. »Du hast meine Befehle mißachtet! Augenscheinlich bildest du dir ein, mich hintergehen zu können, indem du deiner Kusine dein elendes Dasein zu Füßen legst!«

Sinclair stellte sich noch dümmer, als er war: »Aber ich habe nicht daran gedacht, dich zu hintergehen, Dan! Wie soll ich ahnen, daß du etwas dagegen hast, wenn ich Felicia heirate!«

Dan Ricardo musterte sein Opfer mißtrauisch, dachte ein paar Augenblicke nach und sagte endlich entschlossen: »Es ist an der Zeit, daß ich dir über die Sachlage klaren Wein einschenke. Felicia ist die Haupterbin von Honoria Drew – die Erbin von zwei Millionen Pfund!«

Sinclairs Erstaunen über die Höhe der Summe war jetzt ganz ehrlich. Er stand mit offenem Munde.

»Aber –« fuhr Dan fort, »die Bestimmungen der Verstorbenen sind so, daß sie der Erbschaft verlustig geht, wenn sie dich heiratet. Du hättest also eine Riesendummheit gemacht, wenn Wright nicht dazwischengetreten wäre! – Weshalb Honoria Drew eine solche Bestimmung getroffen hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich einfach aus begreiflicher Abneigung gegen dich.«

»Also bestehen für mich gar keine Möglichkeiten …?« stöhnte Sinclair.

»Wenn du mir nicht parierst – nein«, erwiderte Dan. »Im übrigen wird es deinem Gedächtnis hoffentlich nicht entfallen sein, daß ich einige Papiere für dich aufbewahre, die dich, wenn sie der Staatsanwalt in die Hände bekommt, mindestens für fünf Jahre … Nun, du erinnerst dich wohl – he? Ein Jüngling von deinen bescheidenen Geistesgaben sollte sich eben erst gar nicht auf so gefährliche Gebiete begeben wie Urkundenfälschung. Ein anderer an meiner Stelle würde dich bis zum Weißbluten aussaugen. Und ich war doch immer nobel zu dir – nicht wahr?«

Sinclair Brewster hatte sich auf einen Sessel niedergelassen und war nun ganz in sich zusammengesunken.

»Auch diesmal wirst du mich wieder nachsichtig und nobel finden, wenn du mir parierst«, fuhr Dan milde fort. »Hör gut zu! Ich will dich nun in die letzten Geheimnisse des Testaments einweihen.«

Und nun zählte er dem staunenden Jüngling die verzwickten testamentarischen Bestimmungen auf und schloß mit den Worten: »Wenn Felicia aber gegen eine dieser Bestimmungen verstößt, dann geht sie der Erbschaft verlustig und an ihre Stelle trittst … du, mein Junge, als Erbe!«

»Ich? – ich?« Sinclair schnappte förmlich nach Luft vor froher Überraschung.

»Nun dämmert es dir langsam, was wir zu tun haben – he?« Dan Ricardo grinste zufrieden. »Ich werde also versuchen, Felicia zu einer Verletzung der Bestimmungen zu veranlassen. Und dann … dann teilen wir – wie üblich. Kapierst du nun die Sache? Bitte, beachte wohl meine Güte und Großzügigkeit dir gegenüber!«

»Himmel! Eine Million Pfund Sterling für jeden von uns beiden!« stammelte Sinclair.

»Es kommt noch besser«, fuhr Dan Ricardo fort. »Um das Maß meiner Güte voll zu machen, verspreche ich dir: Wenn uns die Transaktion gelingt, betrachte ich unser Konto als abgeschlossen, ziehe mich mit meiner Million ins Privatleben zurück, und du wirst nichts mehr von mir auszustehen haben. Edler kann man wohl nicht handeln. Aber wehe dir, wenn du dich wieder in diese Dinge täppisch einzumischen versuchst! – So, nun scher' dich hinaus, und mache nicht wieder solche Dummheiten!« –

In einem Taumel von Glück verließ Sinclair Brewster die Kabine des Erpressers. –

3. Kapitel.
Das Briefchen

Nachdem sich Sinclair von der ersten freudigen Überraschung erholt hatte, befiel ihn eine jähe Angst: Wenn Felicia seine so plötzlich unterbrochene Werbung nun ernst genommen – ihn beim Wort nahm? Konnte dann nicht alles zusammenbrechen? Er mußte ihr schleunigst klarmachen, daß er sich noch nicht als ihren Verlobten betrachtete! Und er ging sofort auf die Suche nach seiner schönen Kusine.

Endlich entdeckte er sie, trat etwas verlegen zu ihr und begann: »Felicia, hör einmal … Wovon sprachen wir gleich vorhin? – Ach ja, ich weiß. Aber eigentlich sind wir doch beide noch sehr jung.«

»Und werden leider täglich älter«, meinte Felicia.

»Ja, das schon. Aber … vielleicht willst du es dir lieber noch einmal überlegen?«

Das junge Mädchen sah ihn erstaunt an. Sie begriff nicht, was hier vorging. Aber das eine wurde ihr klar: ihr Vetter wollte aus irgendeinem Grunde kneifen. Und sofort faßte sie den Entschluß, ihn in Verlegenheit zu setzen: »Weshalb sollte ich mir's noch überlegen?« sagte sie mit einem gespielten glücklichen Lächeln.

»Ich meine nur … wir könnten … Wenn wir noch ein paar Monate … warteten …«

»Aber weshalb denn, Sinclair? Ich denke nicht daran, zu warten. Du hast ja genug Einkommen, um zu heiraten.«

Sinclair Brewster wand sich in Verlegenheit, – stand wie gebrochen vor ihr und suchte vergeblich nach weiteren Ausflüchten. Und plötzlich fühlte sich Felicia von diesem jämmerlichen Anblick so angewidert, daß sie nicht fähig war, dieses alberne Spiel fortzusetzen.

»Du Trottel!« fuhr sie ihn an. »Bildest du dir denn wirklich ein, daß ich einen solchen Jammerlappen wie dich heiraten würde? Einen solchen lasterhaften und albernen Bengel! Wenn ich überhaupt jemals heirate, dann heirate ich einen Mann, einen richtigen Mann! – und nicht so ein glotzäugiges, einfältiges Scheusal wie dich! – Nun troll' dich, und wage nicht, mich nochmals zu belästigen!«

Sie sah bezaubernd aus in ihrer leidenschaftlichen Empörung.

Sinclair trat einen Schritt auf sie zu und lachte ihr frech und böse ins Gesicht. »So? Ich bin kein Mann?« schrie er seine Kusine an. »Das will ich dir zeigen!« Er umklammerte wütend und gierig zugleich ihre Hüften und versuchte Felicia an sich zu ziehen.

Aber ehe ihm dies gelang, fühlte er sich beim Kragen gepackt und unwiderstehlich in die Höhe gehoben. Er zeterte, schrie, schlug um sich. Doch die Fäuste von Anthony Kirkpatrick, der so überraschend aufgetaucht war, gaben nicht nach. Der junge Seemann wirbelte Sinclair Brewster noch ein paarmal durch die Luft und schleuderte ihn dann wie ein Bündel gegen die Reling, – gerade als die »Armentic« in dem hohen Seegang weit nach Steuerbord überholte.

Da waren aber auch schon Dan Ricardo und Wright zur Stelle, um der für sie so kostbaren Person Sinclairs beizustehen. Ohne weiteres stürzten sie sich auf Kirkpatrick, um ihn an weiteren Angriffen auf sein Opfer zu hindern.

Doch da kamen sie schlecht an: Während Sinclair noch aus den Deckplanken herumkollerte, erhielt Wright einen Kinnhaken, der ihn erst um die eigene Achse drehte und ihn dann ebenfalls auf Deck niederwarf. Und im nächsten Augenblick bekam Dan die gleiche Aufmerksamkeit zu kosten – wenn auch in etwas schwächerer Auflage.

Jetzt warf sich der vorüberkommende Schiffszahlmeister dem Dritten Offizier entgegen. Unglücklicherweise traf ihn ein zweiter für Ricardo bestimmter Schlag und er rollte zwischen die anderen Opfer.

»Halt! Was geht hier vor?« brüllte jetzt eine wütende Stimme, und der Beherrscher der »Armentic«, Kapitän Holt, eilte herbei.

Nur Kirkpatrick stand noch aufrecht.

»Was in drei Teufels Namen soll das vorstellen?« herrschte ihn der Kapitän wutschnaubend an.

Anthony Kirkpatrick schwieg. Wer Sinclair war es nun gelungen, sich aufzurichten. »Der Schurke hat mich halbtot geschlagen!« keuchte er.

»Um ein Haar hätte er ihn über Bord geworfen!« schrie Dan Ricardo und hielt sich mit beiden Händen den dröhnenden Kopf.

»Was haben Sie mir zu sagen, Mister Kirkpatrick?« fauchte der Kapitän.

»Ich? – Nichts, Sir.«

»Dann betrachten Sie sich als Arrestant! Gehen Sie sofort in Ihre Kammer!« befahl der Kapitän. Und sich an Felicia und die übrigen wendend, fuhr er fort: »Und Sie suchen mich, bitte, jetzt gleich nacheinander in meiner Kajüte auf, damit ich den Tatbestand feststellen kann.«

Anthony Kirkpatrick aber ging trotzig in seine Kabine und schmetterte die Tür hinter sich zu. »Recht ist euch geschehen, ihr Gauner!« dachte er grimmig. – Er hat allen Grund, Dan Ricardo und seinen Freund für ausgemachte Schurken zu halten, – hatte er doch am Abend vorher einiges von ihren Gesprächen aufgeschnappt.

* * *

»Befanden Sie sich in Gefahr, Miß Drew?« begann der Kapitän das Verhör mit Felicia.

»In Gefahr wohl kaum. Ich wäre natürlich auch allein mit Mister Brewster fertig geworden. Aber jeder ritterliche Mann hätte wohl so gehandelt wie Mister Kirkpatrick.«

»Man kann doch nicht die Passagiere einfach alle niederboxen«, brummte der Kapitän. »Darf ich fragen, in welchen Beziehungen Sie zu Mister Brewster stehen?«

»Er ist mein Vetter, – aber ein widerwärtiger Kerl, dem ganz recht geschehen ist.«

»Und die anderen Herren?«

»Mit denen habe ich nichts zu tun. Sie haben sich unnötigerweise eingemischt. – Ich hoffe, Herr Kapitän, daß Sie mit Mister Kirkpatrick nicht zu streng ins Gericht gehen werden.« –

Draußen fragte Felicia den Zahlmeister, ob die Sache für den jungen Seeoffizier wohl schlimme Folgen haben werde. Der Zahlmeister, Mister Simmons, zog die Brauen bedenklich hoch.

»Kirkpatrick ist ein Gentleman, aber er ist von einem unerhörten Jähzorn. Die Stellung kostet ihn dieses Intermezzo zum mindesten.«

Das junge Mädchen war ernstlich erschrocken. Sie zog sich bestürzt in ihre Kabine zurück und dachte über den Fall nach. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, daß ihr die Sache doch nahe ging, denn sie sah eine Träne über ihre Wange rollen. Hastig wischte sie sie fort.

Was ging sie aber schließlich dieser Mister Kirkpatrick an? Er war ihr gegenüber auch reichlich barsch gewesen. Sie hatte sich weidlich über ihn geärgert! Weshalb mischte er sich auch in Dinge, die ihn nichts angingen? – Aber schön hatte es doch ausgesehen, wie er alle niederschmetterte und dann als einziger aufrecht zwischen seinen Opfern stand, – den Opfern dieses Kampfes, der doch schließlich zu ihren Ehren stattgefunden hatte! – Nein, Sie mußte wirklich versuchen, ihm jetzt zu helfen!

Hastig riß sie ein Blatt aus ihrer Mappe und schrieb:

Sehr geehrter Herr Kirkpatrick! Diese dumme Geschichte tut mir aufrichtig leid. Ich werde gerne als Entlastungszeugin auftreten, wenn Sie mir mitteilen können, was ich tun soll. – Hochachtungsvoll – Felicia Drew.

Sie verschloß das Blatt in einem Umschlag, erkundigte sich dann bei Mister Shaw, dem Vierten Offizier, nach der Lage von Kirkpatricks Kabine und schlich sich dann, wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, zu den unteren Decks hinunter. Ohne einem Menschen zu begegnen, erreichte sie die Kammer und schob das Billett unter die Tür.

4. Kapitel.
Mark Halahan

Es war mehr als drei Jahre her, daß Felicia Drew aus Abenteuerdrang ihrem Bruder Dick nach Amerika gefolgt war. Dick war aber bald darauf in Kentucky gestorben, und sie stand nun allein in der fremden Welt. Sie hatte dann eine Stellung als Sekretärin auf einer Baumwollfarm in Georgia gefunden. Ihr Gehalt reichte gerade, um leben zu können; aber sie war zu stolz gewesen, sich um Unterstützung an ihre Tante Honoria zu wenden. So hatte sie, sozusagen in der Wildnis und fern von aller Kultur, drei Jahre in Georgia zugebracht. Erst vor einem Monat, als sie zufällig vom Tode ihrer Tante Honoria erfuhr, schrieb sie an ihren einzigen noch lebenden älteren Verwandten, an Onkel Mark Halahan, für den sie Zuneigung hegte. Onkel Mark schickte ihr darauf ein Telegramm, daß sie so schnell wie möglich nach London kommen solle, und überwies ihr zugleich sechzig Pfund.

Nur dieses Telegramm war der Grund gewesen, daß sie Amerika wieder verlassen hatte. An eine große Erbschaft dachte Felicia nicht im entferntesten. Wenn sie aber das Telegramm des Onkels schon überrascht hatte, so war sie noch mehr erstaunt, als sie an Bord ihren Vetter Sinclair traf. Dan Ricardo kannte sie nicht näher. Sie erinnerte sich nur dunkel, ihn einmal irgendwo in Georgia gesehen zu haben. –

Sofort nach der Landung der »Armentic« in Southampton wurde Felicia dieser Brief eingehändigt:

Pelham, Weeks & Pelham – 300 Mecklenburg Square.
An Miß Felicia Drew – S/S »Armentic«
Sehr geehrtes Fräulein! Wir bitten Sie, uns so bald wie möglich zu besuchen. Es handelt sich um eine außerordentlich wichtige Besprechung in der Erbschaftssache der verstorbenen Miß Honoria Drew. Jedenfalls dürfen wir erwarten, daß Sie uns alsbald von Ihrem Eintreffen telephonisch verständigen.
Stuart Pelham.

Was sollte das bedeuten? Es konnte sich wohl nur um Geld handeln, obwohl sich Honoria bei Lebzeiten kaum um ihre Nichte gekümmert hatte. Diese Pelham und Weeks waren offenbar die Anwälte ihrer verstorbenen Tante. Sie las den Namen dieser Anwaltsfirma nicht zum erstenmal: schon in New York hatte sie eine Anzeige dieser Herren gelesen, in der sie aufgerufen und aufgefordert wurde, sich sofort mit diesen Herren in Verbindung zu setzen. –

Trotz diesem dringenden Schreiben hätte Felicia aber in Southampton die Verhandlung gegen Kirkpatrick abgewartet, um ihn durch ihre Aussage helfen zu können. Da sie aber auf ihr Briefchen keinerlei Antwort erhalten, sah sie keinen Grund, sich für diesen unhöflichen Menschen noch weiter zu bemühen und ihm ihre Hilfe aufzudrängen.

* * *

In London fuhr Felicia nicht sofort zu den Anwälten, sondern erst zu ihrem Onkel Mark, der den dritten Stock eines eleganten Mietshauses der Pont Street in Mayfair bewohnte. Es schien ihm also zurzeit wirtschaftlich ganz gut zu gehen.

Ein Dienstmädchen öffnete auf Felicias Läuten. Als Felicia ihren Namen nannte, fühlte sie sich von dem sonderbar stechenden und schielenden Blick dieses Dienstmädchens scharf gemustert. Dann aber sagte das Mädchen höflich: »Wollen Sie gefälligst hier eintreten, Miß!« – und öffnete die Tür eines Wohnzimmers.

Im nächsten Augenblick erschien Mark Desmond Halahan. Er hatte die Sechzig schon überschritten. Er war kräftig gebaut, hatte weißes, dichtes Haar, und die Augen in seinem sympathischen Gesicht glichen ganz denjenigen eines Jungen.

Mark Halahan schloß seine Nichte kräftig in die Arme. Nachdem sie die ersten lebhaften Worte der Begrüßung getauscht und Onkel Mark seiner schönen Nichte ein paar Liebenswürdigkeiten über ihr Äußeres gesagt, fügte der alte Herr seufzend hinzu: »Und so einem Mädel will man nun gewaltsam alle Freude am Dasein vergällen! – Oder weißt du am Ende noch gar nicht, was man mit dir vor hat?«

Felicia schaute sehr verblüfft drein: »Mit mir vor hat? – Ich weiß überhaupt noch nicht, wozu ich nach London zitiert worden bin. – Nur diesen Brief hier habe ich in Southampton erhalten.« Sie reichte dem Onkel das Schreiben der Anwälte.

Halahan überflog die Zeilen schnell. »Ja, das sind die Anwälte Honorias«, sagte er dann. »Genau so verknöchert und versauert, wie sie selbst war. – Hm, das Büro ist aber schon um sechs geschlossen. Heute kannst du sie nicht mehr antreffen. Um aber deine Geduld nicht aus eine zu harte Probe zu stellen, werde ich dir das Testament vorlesen. Ich habe eine Kopie hier. – Aber setze dich lieber, denn die Sache wird dich vielleicht etwas mitnehmen.« Er schloß seinen Schreibtisch auf und entnahm ihm etliche Papiere.

Felicias Augen wurden immer größer, als sie nun nach und nach erfuhr, welches Vermögen ihr zugedacht war und welche Bedingungen sich daran knüpften.

Da ging ihr plötzlich das Benehmen Sinclairs wieder durch den Kopf: Also deswegen …! dachte sie spöttisch. Dann aber überwältigte sie die Freude über ihr unerwartetes Glück. Sie wurden durch den Eintritt des schielenden Dienstmädchens unterbrochen, das Mister Halahan auf einem Tablett einen unfrankierten Brief überreichte.

Als das Mädchen wieder hinausgegangen war, meinte Felicia: »Die sieht aber sonderbar aus. Wie lange hast du die schon? Einen schauderhaften Blick hat sie. Ich hoffe, daß sie sich die Augen nicht beim Spionieren durchs Schlüsselloch verdorben hat.«

Halahan hatte den Brief geöffnet und dann bald wieder beiseite geworfen. Jetzt lachte er über Felicias Bemerkungen und sagte: »Wie kommst du auf eine solche Idee? Ich lege bei einer Magd mehr Wert aus pünktliche und ruhige Bedienung als auf Schönheit. Ich habe sie übrigens erst einen Monat. Bisher bin ich mit ihr aber sehr zufrieden.«

Felicia war schon längst wieder in Gedanken bei der Erbschaft. »Wie lange sagtest du, daß ich warten muß?«

»Bis du zweiundzwanzig bist.«

»Das wären also … Heute ist der Zwölfte, also morgen in vier Monaten!« jubelte Felicia.

»Du wirst dich bei deinem Temperament aber höllisch vorsehen müssen, um nicht gegen die Bedingungen zu verstoßen und das ganze Geld zu verlieren. Am besten wäre es, wenn du dich in der Zeit von allem und jedem fern …«

»Ich soll also das Leben einer Nonne führen?« unterbrach Felicia fast entsetzt.

Halahan musterte sie ein Weilchen, und sein Blick wurde plötzlich melancholisch. »Felicia«, sagte er dann seufzend, »ich habe so ein Gefühl, als wenn du das Vermögen nicht bekämst.« – Aber seine Nichte lachte ihn nur aus. –

Am Abend speisten Onkel und Nichte bei Ritz und besuchten dann eine Revue.

Als sie nachts in die Wohnung zurückgekehrt waren, plauderten sie noch ein wenig im Wohnzimmer.

»Morgen mußt du also vor allem die Anwälte aufsuchen, Felicia«, sagte Mark Halahan. »Und auch ich will zu meinem Rechtsbeistand, um mein Testament zu machen. Ich hatte es schon lange vor. Du wirst auch meine Universalerbin, Felicia. Mehr als zweitausend Pfund beträgt mein Vermögen zwar nicht. Dafür wird mein Testament aber auch nicht solche verzwickte Bedingungen enthalten.«

»Das ist rührend von dir, liebster Onkel«, erwiderte das junge Mädchen. »Aber es tut mir weh, wenn du vom Testamentmachen sprichst. An den Tod solltest du noch lange nicht denken.«

Halahan widersprach nicht, aber er lächelte leise. Erst neulich war er bei einem Spezialisten gewesen, der ihm nur noch eine kurze Lebensspanne prophezeit hatte.