Thriller

S c h o o l - S h o o t e r

von

 

Thorsten Nesch


 

Inhaltsverzeichnis

 

Erhaltene Förderung

Über den Autor:

Impressum

Danksagung

 

9:10 Uhr

9:11 Uhr

9:12 Uhr

9:13 Uhr

9:14 Uhr

9:15 Uhr

9:16 Uhr

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10:24 Uhr

 

Romane von Thorsten Nesch

Die Geschichte bekam

 

- das Literaturstipendium des Landes NRW 2010

- das Hörspielstipendium der Film und Medien Stiftung NRW 2011

- die Besondere Empfehlung der Jury zum Drehbuchpreis Münster.Land beim Filmfestival Münster 2009

Über den Autor:

 

Geboren 1968 in Solingen. 1998-2003 in Kanada. Autor (Roman, Film, Hörspiel). Der Roman Joyride Ost (Rowohlt Verlag, 2010) war nominiert als Bestes Deutschsprachiges Jugendbuchdebüt.

Literaturstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen 2010.

Weitere Infos unter: www.thorsten-nesch.com

Impressum:

 

School-Shooter

Thorsten Nesch

Copyright 2011 Thorsten Nesch

Published at Epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-1263-1

Danke:

 

Pia Mortensen Presse Agentur, Hemma Heine von der Agentur Anotherstory, Henry Matzerath von Netschmied, Ulli Ramps von Papyrus, Christine Weihermüller vom Zentral Antiquariat, dem Epubli-Team, Heike Noworzyn, Christoph Busch, Nicola Ebel, Christiane Steen, Kersten Flenter, Mario Todisco, Lukas Rögler, Renate Gosiewski, Max Würden, Finna Leibenguth, Brian Edgar, Peter Bogmer, Peter Griesche, Conny Behle, Stefan von Hatten, Jochen Rother, meiner Familie, Marcia, Cedar, Charlie und Clive.


 

S c h o o l - S h o o t e r

„Die wahren Helden leben 24 Stunden am Tag

und nicht 2 Stunden in einem Spiel.“

– Tennessee Williams

9:10 Uhr

 

Acht Minuten und neunzehn Sekunden brauchen die Lichtstrahlen von der Sonne bis zur Erde. Nun blinzeln sie durch die Baumkrone der Eiche, deren grüne Blätter einen frischen Kontrast zu dem wolkenlosen Blau des Himmels abgeben. Von einem Ast baumeln zusammengebundene weiße Reebok-Sneaker und drehen sich im lauen Wind langsam um sich selbst.

Ein Spatz landet auf dem Schnürsenkel. Er pickt ein paar Mal auf den Knoten, zupft mit dem Schnabel daran und erkennt, dass es nichts zu Essen ist. Sein Kopf zuckt suchend in alle Richtungen, dann zwitschert er eine Melodie und fliegt herab auf den Bürgersteig, wo er über die mit Kaugummifladen übersäten Steinplatten hüpft. Mit seinem Schnabel hackt er nach hellen Plastiksplittern, die darauf über den Bürgersteig titschen. Schritte schrecken den Vogel auf, und er flattert davon.

Der zu spät kommende Schüler macht einen letzten tiefen Zug an seiner Filterzigarette und flitscht den qualmenden Stummel in das Kiesbett neben dem Bürgersteig. Der glimmende Tabak bleibt auf einem Haufen Zigarettenstummeln liegen. Das Kiesbett ist ein einziger großer Aschenbecher. Die grauen Kieselsteine sind in der Unterzahl. Aus ihrer Mitte ragt eine drei Meter breite und zwei Meter hohe Steinplatte, auf der mit handflächengroßen Metallbuchstaben der Name der Schule geschrieben steht: Integrierte Gesamtschule Nicola Tesla.

Gemütlich schlendert der Schüler mit den Händen in den Taschen über den Schulhof. Die verblassten Farben der Kreise, Linien und Kästchen mit Zahlen und Buchstaben auf dem Asphalt sehen aus wie ein Wasserzeichen, als müsste verhindert werden, dass jemand diesen Schulhof samt Gebäude raubkopiert.

Rechts von dem Jungen glitzert ein Meer von Fahrrädern in der Morgensonne, während sich vor ihm das ausladende Schulgebäude mit seinem Mittelteil und den beiden Seitenflügeln wie ein vier Etagen hohes Hufeisen aus braunem Beton und Billigglas erhebt. Von den Enden der Fensterbänke ziehen sich Rostschlieren über die Fassade von oben nach unten, als hätte man in jedem Klassenzimmer 100.000 Liter Ochsenschwanzsuppe erhitzt, und sie war übergekocht.

Die frischen Farben an den Betonwänden im Eingangsbereich leuchten selbst im Schatten bunt. Verschiedene Landschaften grenzen aneinander: Ein Urwald an eine Wüste, die Wüste an ein Meer, das an einen Bergzug, und der an ein Polargebiet, wo sich Pinguine und Eisbären unbeeindruckt voneinander gemeinsam eine Eisscholle teilen. Liebeserklärungen und Beleidigungen in Edding und Tags zieren die Dünen, das Wasser und den Schnee.

Ohne seine Hände aus den Taschen zu nehmen, stößt der Schüler die schwere Eingangstür mit seiner Schulter auf. Quietschend schwingt sie bis zum Anschlag gegen die Wand, und er schlurft mit seinen Schuhen über die in den Boden eingelassenen Bürsten. Die Tür schließt sich hinter ihm.

Ein Schuss. Das Echo in den leeren Fluren.

Er bleibt stehen, seine Augen kreisen. Ein zweiter Schuss.

Nichts hält ihn mehr. Er reißt die Tür wieder auf und läuft hinaus auf den Schulhof.

9:11 Uhr

 

Sie laufen. Alle laufen. Ich sollte auch laufen. Und sie sind so laut, schreien alle. Ich soll nicht so laut sein. Das werde ich auch nicht. Ich habe Mama versprochen, auf sie zu hören, und auf Doktor Kalitowicz. Vielleicht laufe ich, aber ich werde nicht so laut sein. Diese Schule ist deine letzte Chance, haben sie gesagt, sonst Sonderschule, Sonderschule...

– Hey, los! Worauf wartest du?, fragt die Schülerin mit dem blonden Pferdeschwanz, sie möchte Nina am Arm mitziehen, über den Flur, hinter sich her, hinter den anderen her.

– Aua, du tust mir weh. Sie scheint eigentlich nett zu sein, die ist mindestens schon in der 10. Klasse. Ich komme schon.

Plötzlich lässt sie Ninas Arm mit der verschmierten Hand los, reißt die Augen auf und fragt, – Ist das Blut?

Das blonde Mädchen schaut angeekelt auf ihre eigene Hand mit den roten, fingerbreiten Streifen. Schnell weicht sie zurück, sie schüttelt den Kopf.

Nein! Nein. – Das ist... das ist...

Die ältere Schülerin dreht sich um und verschwindet zwischen den laufenden Schülern. Als Letztes sieht Nina ihren blonden Pferdeschwanz hin und her peitschen.

Sie hat schöne Haare. Ich hätte auch gerne solche Haare. Aber ich muss sie kurz tragen. Schade.

Nina joggt mehr, als dass sie läuft.

Keiner aus meiner Klasse. Alles Fremde.

Krächzend schaltet sich die Lautsprecheranlage an. Die hohe Frauenstimme ist in dem Durcheinander kaum zu verstehen, – Frau Koma, Frau Koma kommt...

Eine pfeifende Rückkopplung droht die Membrane der Lautsprecher zu zerfetzen. Alle scheinen noch schneller zu laufen.

Eine Männerstimme nuschelt etwas Unverständliches durch das Mikro. Und mit einem Knacken wird die Anlage abgeschaltet.

Während Nina von den anderen links und rechts überholt wird, rempelt sie ein Junge aus der Oberstufe versehentlich an, der jemanden ausweichen musste, und Nina fliegt der Länge nach hin. Kalt spürt sie den Boden an ihrer Wange.

Alle diese Beine, diese verschiedenen Schuhe, Hosen, aus Jeans und Stoff, lange und kurze Hosen, in allen Farben, die meisten blau, und ihr Getrappel der Füße auf dem Boden wie das der jungen Pferde auf der Farm im letzten Jahr.

Gleich bin ich hier alleine auf dem Gang. Ich möchte nicht alleine sein. Nicht alleine, nicht hier, nicht jetzt. Ich muss sofort von dem Gang runter.

Sie rüttelt an der ersten Tür, sie ist verschlossen. Bei der Nächsten hat sie Glück.

9:12 Uhr

 

Nina betritt die Schulbibliothek und drückt die Tür hinter sich zu. Sofort blickt sie zum Schreibtisch.

– Nein, flüstert sie.

Wo ist sie denn? Die Frau Kreitz hat doch gesagt, Frau Schupp ist morgens immer hier, auch wenn die Bibliothek nur vorübergehend in diesem Raum ist.

– Frau Schupp? Sind sie da?, fragt sie leise.

Nina weicht von der Tür zurück, durch die nach wie vor die Laufgeräusche der Schüler dringen. Sie schaut sich um, ob jemand in der Bibliothek ist. Dazu stellt sie sich abwechselnd auf ihre Zehenspitzen und hockt sich hin, bis sie sich mit ihren Händen auf dem hellen PVC-Boden abstützen muss. So kann sie durch die meisten Freiräume zwischen den Büchern und den Regalablagen hindurchschauen.

Direkt vor ihr stehen die Enden zweier Regale, die zu den acht Regalen gehören, die rings um den großen runden Tisch mit den sechs Stühlen angeordnet sind, und so wie mächtige Strahlen von ihm wegführen. Die Anordnung nimmt die Hälfte des Raumes ein, auf der anderen Hälfte stehen die Regale klassisch parallel zueinander; an der Wand mit der Eingangstür zwei Schränke, eine Spüle, der Schreibtisch, und hinter dem Bürostuhl steht die Tür zu einer kleinen Abstellkammer offen. Keine Spur von der Bibliothekarin.

Niemand zu sehen.

– Frau Schupp?

Ich bin alleine.

– Hallo?

Auf dem Flur schreit jemand um Hilfe.

Verstecken. Ich muss mich verstecken, schnell verstecken. Bleib ruhig, denk nach.

Ninas Kopf fliegt herum. Nacheinander öffnet sie die Schiebetüren der beiden hüfthohen Schränke neben der Tür. Sie sind voller Ordner, Bücher und Stapel DIN A4 Blätter. Unter der Spüle stehen nur zwei Reinigungsflaschen, ein ausgefranster Kehrbesen und die dazugehörige Blechschaufel. Nachdem sie alles mit einer Hand in eine Ecke geschoben hat, bietet der Raum unter der Spüle genug Platz für ihren zierlichen Körper. Sie kniet sich hin und zieht lautlos die Tür hinter sich zu. Nina winkelt die Beine an und schlingt ihre Arme um die Jeans. Ihre Augen müssen sich an die Dunkelheit gewöhnen.

Es riecht nicht unangenehm, weil Zitronenduft aus den Reinigungsflaschen entweicht. Der Geruch passt nicht zu dem Staub und dem Dreck am Boden.

Durch drei Ritzen fällt Licht in ihr Versteck: dort wo die Türen an ihren Scharnieren hängen und in der Mitte, wo sie sich nicht ganz treffen. Wenn Nina ihr Gewicht verlagert, kann sie sowohl durch die Mitte als auch durch den Spalt der rechten Tür in die Bibliothek gucken. Vom Gang dringen die Geräusche flüchtender Schüler herein. Im nächsten Moment wird die Tür aufgerissen. Nina zuckt zusammen.

9:13 Uhr

 

Mark schiebt sich rückwärts in die Bibliothek und schließt die Tür. Er räuspert sich mehrmals. Mit kleinen Schritten geht er zwischen zwei Regalen entlang, in denen sich Bücher und Kisten stapeln, die noch nicht nach Buchstaben einsortiert wurden. Er humpelt mit seinem linken Fuß, als ob ihm der No-Name-Sportschuh eine Nummer zu klein ist.

Die weiß-rote Hiphop-Jacke mit den vielen Taschen schlabbert weit über seiner ausgewaschenen Jeans. Phosphoreszierend leuchtet das Weiß seiner Jacke auf, als er das gleißend helle Licht der Morgensonne kreuzt, das durch die schmalen Fenster unter der Decke bricht. Sein dunkler Schatten gleitet über das benachbarte Buchregal, bis er mit dem Rücken an einen Stuhl des runden Tisches stößt und stehen bleibt.

Mark zieht den Stuhl vor und plumpst erschöpft darauf nieder. Mit beiden Händen wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht und verreibt ihn in seinen kurzen braunen Haaren. Geräuschvoll atmet er ein und aus und vergräbt seine Hände in den Taschen der Jacke.

Unruhig wandern seine grünen Augen durch den Raum. Ihm fallen die kleinen Staubpartikel auf, die in dem Licht der Sonnenstrahlen tanzen.

9:14 Uhr

 

Nina hockt angespannt in ihrem Versteck. Ohne zu blinzeln, linst sie durch den Spalt in der Mitte zu Mark. Ihre schmalen Lippen presst sie so fest zusammen, dass sämtliche Farbe aus ihnen weiht.

Soll ich raus zu ihm? Ich kenne ihn nicht, er ist älter. Mama sagt immer, ich soll Sachen zu Ende führen, die ich mir vorgenommen habe. Ich habe mir vorgenommen, mich zu verstecken, ich wollte mich verstecken, ich bleibe versteckt. Meine Hände sind so kalt, dabei ist es hier gar nicht kalt.

Sie ballt ihre Hände zu Fäusten, damit die Fingerspitzen in den geschützten Handflächen liegen.

Was er wohl denkt? Denken andere so viel wie ich? Ich denke auch dauernd an andere. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so oft an mich denkt. Das sind nicht mal alles Freunde. Da sind sogar Lehrer aus der Grundschule dabei, oder Bekannte, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe.

Von denen denkt doch garantiert niemand an mich.

Und wenn doch?

Ah, er steht auf.

9:15 Uhr

 

Mark marschiert an den Regalen vorbei, als vor ihm die Tür auffliegt.

Ella, die mit vollem Schwung in den Raum stürzt, erschrickt sich genau so wie er. Sie unterdrückt ihren Aufschrei und springt dem zu einer Salzsäule erstarrten Mark mit einem Seufzer der Erleichterung um den Hals. Während sich ihre Arme auf seinem Rücken treffen, nimmt er seine Hände aus den Jackentaschen und lässt seine Arme willenlos am Körper herabbaumeln. Ella steht auf den Zehenspitzen und presst ihren Kopf an seine Schulter. Sie versinkt in dem gestreiften Männerhemd, das ihr über die schwarze Jeans hängt.

Mark räuspert sich, errötet. Zögerlich finden seine Hände ihre Schulterblätter. Er bemerkt die offene Tür und tritt sie mit seinem linken Fuß zu. Der Knall lässt Ella zusammenfahren und aus der Umarmung fliehen, aber er hält sie fest.

– Das war die Tür. Du hast sie offen gelassen. Ich habe sie nur zugetreten.

Sie schließt kurz die Augen.

– Ella, richtig?!

– Ja, Mike?, sie schaut ihn an.

– Mark.

Ella löst sich aus der Umarmung, beide lassen einander langsam los.

– Mark, Mark, sorry.

– Macht nichts.

– Hast du ihn gesehen?

– Wen? Den...

– Ja, hast du?

– Nein. Ich bin gelaufen, wie die anderen.

– Ich auch, ich wollte nur runter vom Flur.

– Ich auch.

– Was, wenn er jetzt reinkommt?, fragt Ella.

– Glaub ich nicht.

– Warum nicht?

– Der jagt die Gänge entlang, im anderen Flügel.

Ihr Kopf wirbelt herum, – Sollen wir uns nicht verstecken?

– Ja!

Wieder wird die Türklinke von außen heruntergedrückt und die Tür aufgestoßen. Basti hastet hinein. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen, weil Strähnen seiner langen braunen Haare es wirr verdecken. Die Spitzen liegen auf dem schwarzen Kapuzenpullover auf, den er über einer schwarzen Cargo-Pants trägt. Gleich, nachdem er die Tür geschlossen hat und die erste Überraschung auf allen Seiten verschwunden ist, umarmen sich Ella und Basti innig. Über die Schulter von Ella nickt Basti Mark zu.

Der nickt zurück, vergräbt seine Hände in den Taschen und mustert die beiden. Es sieht nicht aus, als ob sie sich bald wieder loslassen würden. Da hebt Ella ihren Kopf und horcht.

– Was ist?, fragt Basti.

– Still.

Alle drei drehen ihre Köpfe seitlich zur Tür und konzentrieren sich auf jedes Geräusch.

– Was hast du denn gehört?, fragt Mark.

– Weiß nicht.

– Na dann...

– Nichts na dann, ich habe Angst, große Angst, hast du keine Angst?

– Natürlich habe ich Angst, ich meine...

– Psst!

Mark zuckt mit seinen Schultern, was aufgrund der Größe der Jacke noch theatralischer aussieht, und sagt, – Ich höre nichts. Absolut nichts. Es ist...

– Weil du dauernd laberst, flüstert Basti.

Mark saugt die Lippen nach innen und zieht einen unsichtbaren Reißverschluss darüber zu. Basti rollt mit den Augen. Sie halten ihren Atem an und lauschen.

Poltern vor der Tür.

9:16 Uhr

 

Erst als die Tür gegen Ella und Basti prallt, trennen sie sich. In die Bibliothek platzen zwei Jungs in schneeweißen Trainingsanzügen. Tief ziehen die prallen Taschen ihre Jacken an den Schultern herunter. Der Fluss ihrer Bewegung wird jäh durch die Überraschung unterbrochen, und sie stocken für den Bruchteil einer Sekunde, wie das Bild bei einem Abspielfehler einer DVD.

Sie werfen ihre schweren Körper von innen gegen die Tür und rutschen daran herunter. Dumpf treffen sie auf dem Boden auf. Sie sind so außer Atem, dass ihr Keuchen das beherrschende Geräusch in der Bibliothek ist. Sie blicken zwar hoch zu den anderen, aber keiner sagt ein Wort.

Stumm schauen Mark, Ella und Basti die beiden Neuankömmlinge an. Basti reibt sich den Ellenbogen, wo ihn die Tür getroffen hat. Dabei bewegt er sich auf Ella zu, die neben Mark steht.

Dann guckt Dräger die drei vom Boden aus an. Seine beiden weißen Beine liegen vor ihm ausgestreckt wie die gefallenen Säulen eines griechischen Tempels. Um seinen fleischigen Hals und an seinen Fingern trägt er übermäßig viel Goldschmuck.

9:17 Uhr

 

In ihrem Versteck hält sich Nina die Augen zu. Der Streifen Licht, der dort in die Spüle fällt, wo sich die Türen treffen, verläuft mittig über ihr Gesicht von Stirn über die Nase bis zum Kinn und teilt ihren Kopf in zwei gleiche Hälften.

Das geht nicht gut. Von allen Schülern müssen ausgerechnet diese beiden hier reinkommen. Das geht nicht gut.

Sie blinzelt durch ihre Finger, die sie fächerförmig spreizt.

Hätten die nicht eine Tür weiterlaufen können? Warum gibt es so Typen wie die an jeder Schule? Jungen, die mich ärgern. Aber wenn ich die anderen sehe, dann haben die auch eher einen Schritt zurückgemacht. Sie mögen sie auch nicht. Vorher haben sie einander umarmt. Jetzt stehen sie da.

Ella bricht in Tränen aus. Um nicht zu laut zu sein, hält sie sich beide Arme vor das Gesicht. Mark legt ihr die Hand auf den Rücken und flüstert ihr etwas zu. Sie drückt sich an ihn.

Basti wischt sich wieder und wieder seine Haare aus den Augen. Seine Wangen blähen sich dick auf, er kneift die Augen zu, legt den Kopf in den Nacken und holt tief Luft, während seine Hände die Haut im Gesicht nach unten ziehen.

Wiese und Dräger blicken regungslos zu den anderen. Die beiden könnten ihrem Erscheinen nach Brüder sein, gleiches Outfit, gleicher Haarschnitt. Nur bringt Wiese etwas weniger Gewicht und Edelmetall auf die Waage, sein kurzes Haar ist dunkel anstatt blond, und Nase und Augen sind noch etwas verfärbt, er muss vor einiger Zeit die Nase gebrochen haben. Besonders gut gerichtet wurde sie nicht.

Wiese zuckt zu Dräger, er stößt ihn an, – Los, Mann! Zeig!

– Ja, ja, sagt der zu seinem Kumpel, ohne diesen anzuschauen. Dafür nickt er den dreien zu und klappt ein Handy in seiner Hand auf, – Hört mal!

Die drei schauen zu ihm.

– Ich habe alles auf Video, sagt Dräger.

Nein.

9:18 Uhr

 

– Was hast du?, fragt Mark mit seinen Händen in den Taschen. Er verlagert sein Gewicht abwechselnd von einem Bein auf das andere und nähert sich den beiden, räuspert sich.

– Er hat alles auf Video, er hat alles gefilmt, sagt Wiese.

– Na los, ja, kommt her, ich tu nix, sagt Dräger zu ihnen und winkt sie mit dem aufgeklappten Handy zu sich, – Die Vorstellung beginnt gleich.

Ella schaut von Mark zu Basti. Beide gehen links und rechts von Dräger in die Hocke, um auf der Höhe des Handys zu sein.

Sie verschränkt die Arme vor ihrer Brust, – Ihr wollt euch das doch nicht wirklich angucken, oder?!

– Du willst doch auch wissen, wer es war, sagt Basti.

– Tu nicht so, als würde dich das nicht interessieren, meint Dräger.

Mit seinem goldberingten Daumen drückt er die Playtaste. Sofort ist Kreischen aus dem kleinen Lautsprecher zu hören.

– Stop!, ruft Ella.

Die Köpfe der Jungen rücken enger zusammen. Ella stampft mit dem Fuß auf, flucht und kommt dazu. Sie stellt sich vor Dräger und beugt sich herab. Sie muss das Video auf dem Kopf gucken.

Mark lehnt sich nah über den kleinen Bildschirm.

– Nase weg, Mann!, sagt Dräger.

Er gehorcht. Auf dem winzigen Display laufen Schüler über einen Flur wild durcheinander. Das Bild ist schief und zu tief gewählt, die meisten Köpfe sind abgeschnitten. Eine Wand tanzt von links immer wieder sehr nah ins Bild, und der automatische Fokus der Kamera stellt sich sporadisch auf die Wand scharf, mit ihren dunkelroten Backsteinen und dem grauen Mörtel dazwischen, während das eigentliche Geschehen unscharf wird, um kurz darauf wieder die fliehenden Schüler klar zu zeigen.

Basti deutet mit dem Finger auf das Handy, – Hey, da war Timmy, ich habe Timmy gesehen.

– Hast du den Shooter auch drauf?, fragt Mark.

– Weiß nicht.

– Musste doch wissen!

– Guck doch selbst.

Ella zeigt mit ihrem Finger auf das Video. Ihre Fingernägel sind kurz aber leicht spitz geschnitten, ihr Nagellack glänzt dunkelrot, – Oder hast du gar nicht hingeschaut beim Filmen? Du hast gar nicht hingeschaut.

– Habe ich.

Ein Schuss kracht im Video, zu sehen ist nichts, das Bild zittert heftig, und es geht aus der Froschperspektive weiter. Beine laufen durch das Bild.

– Da, das war krass!, Dräger spricht zu den anderen, ohne seine Augen von dem Display zu lassen, – Was meinst du, was da los war? Das totale Chaos.

– Das totale Chaos!, Wiese betont noch einmal jedes Wort.

Das Video ist zu Ende.

– Shit, sagt Wiese.

– Warum? Warum hast du aufgehört zu filmen?, fragt Mark.

– Hast du eben den Schuss verpasst? Wir mussten in Deckung gehen. Der Irre kam direkt auf uns zu.

– Du hast ihn gesehen, aber nicht gefilmt?, hakt Mark nach.

– Wer war's?, fragt Ella.

– Nein, ich habe ihn nicht gesehen, wir haben ihn nicht gesehen.

Und Wiese sagt, – Wir haben am Boden gehockt, den Kopf zwischen den Beinen.

– Du bei ihm, oder was?, grinst Basti.

– Pass auf, was du sagst, droht Wiese.

Dräger lacht leise, – Der war gut.

– Mach noch mal, sagt Mark und deutet auf das Handy.

Wieder erschallt das übersteuerte Geschrei der Schüler aus dem Lautsprecher des Handys.