Roman F l i r r e n
von
Thorsten Nesch
Impressum:
Flirren
Thorsten Nesch
Copyright 2011 Thorsten Nesch
Umschlagfotos: Mario Todisco
Published at epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN: 978-3-8442-1066-8
Über den Autor:
Geboren 1968 in Solingen. 1998-2003 in Kanada. Autor (Roman, Film, Hörspiel). Der Roman Joyride Ost (Rowohlt Verlag, 2010) war nominiert als Bestes Deutschsprachiges Jugendbuchdebüt.
Literaturstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen 2010.
Weitere Infos unter: www.thorsten-nesch.com
Danke:
Dr. Martin Hielscher, Dr. Olaf Kutzmutz, Hanne Reinhardt von der Agentur Simon, Hemma Heine von der Agentur Anotherstory, Pia Mortensen Presse Agentur, Henry Matzerath von Netschmied, Ulli Ramps von Papyrus, Christine Weihermüller vom Zentral Antiquariat, dem Epubli-Team, Heike Noworzyn, Christiane Steen, Kersten Flenter, Mario Todisco, Stan Lafleur, Lukas Rögler, Renate Gosiewski, Max Würden, Brian Edgar, Peter Bogmer, Conny Behle, Stefan von Hatten, Jochen Rother, meiner Familie, Marcia, Cedar, Charlie und Clive.
Der Roman:
In einer früheren Fassung war der Roman unter dem Titel Untertauchen in Albanien für den Jubiläumspreis des Eichborn Verlages nominiert.
F l i r r e n
Wie wir an die beiden Säcke Geld kamen
Just in time
Italia-Express
Durch die Schweiz
Sahne auf der Torte
Milano Centrale
Auf offener Strecke
Bari-Flirt
Seitengassenkinder
Das Restaurant ‚Wein & Essen’
Zelten und Kröten
Die ‚Palladio’
Schlafen auf dem Achterdeck
Morgensonne
Spalier der Endzeit
Der echte albanische Zoll
Bahnhof Dürres
Im Zug ohne Fensterscheiben
Endwetter
‚Welcome to the Hotel Tirana’
Frühstück Continental
Missverständnis auf dem Botschaftsgelände
Jesus von Albanien
Hoxha
Gezuar!
Einbrecher
Samantha Fox in Pogradic
Kieselsteine im Akkord
Ein blinder Hirte
Diellza
Mad Max und sein Fiat Rubato
Stadt der 1.000 Fenster
Frau Lubonja liest uns die Zukunft
Wem die Stunde schlägt
Das Geheimnis der Kapelle, die früher mal ein Kino war
Kaffee mahlen
Philosophieren beim Bier
Mit Columbo zur Zitadelle
Überfressen
Der Präsident Albaniens
Als ich mit der Pistole des Leibwächters auf einen Stern zielte
Der gnadenlose Busfahrer
Auf der Sonnenseite des Lebens
Per Anhalter zu Ali Pashas Festung
Schlangen
Kalashnikov Close-Up
Abschied auf Einmannbunkern
Romane von Thorsten Nesch
Mir war, als würde ich mitten in einer Arena
in die blendende Sonne gucken.
- Philippe Djian
Wir rannten. Wir lachten, und wir rannten. Der Regen prasselte uns ins Gesicht. Menschen mit erschrockenen Gesichtern unter Regenschirmen stoben vor uns auseinander, und hinter uns brüllte der Wachmann des Geldtransporters her. Eine Sirene heulte auf.
Carlo hatte sich um den fülligen Wachmann gekümmert, der die Säcke aus dem Baumarkt getragen und sie auf der Ladefläche abgestellt hatte. In dem Moment sprang er zu ihm hin und riss ihn zu Boden. Gleichzeitig zog ich die zwei Säcke aus dem Innenraum des Geldtransporters, schmiss meinem Freund einen Sack in die Arme und ab gings.
Der Kollege des Wachmanns saß am Steuer und telefonierte, wie immer. Er hatte noch nichts mitbekommen. Auf diesen Tag hatten wir gewartet.
Und so liefen wir durch den Regen mit den Säcken vor unseren Bäuchen Slalom um die Menschen, und niemand versuchte uns aufzuhalten. Meine Haare peitschten von links nach rechts, wenn sie nicht als Strähnen quer über der großen Sonnenbrille klebten, die mein überschminktes Gesicht so weit wie möglich verdecken sollte. Dicke Wassertropfen brachen meine braungetönte Umwelt. Ein noch nie gesehenes Bild. Carlo trug eine Spiegelbrille und eine dunkelblaue Seemannsmütze, seine halblangen Haare hatte er darunter gestopft, dazu dieser falsche, buschige Oberlippenbart.
Bevor wir von der Straße abbogen, schaute ich mich über die Schulter um und sah den Wachmann an einer Hauswand um Luft ringen. Mit der anderen Hand haspelte er am Gürtel nach der Funke. Sein Kollege stieg jetzt erst aus.
Wir sprachen kein Wort, wir rannten nur. In einer Seitenstraße ohne Geschäfte hatten wir freie Bahn, eine Handvoll Leute verlor sich auf dem Bürgersteig. Ich hörte meinen keuchenden Atem, unsere schweren Schritte beim Laufen und das Knistern und Rascheln unserer gelben Regenmäntel. Morgen würde es heißen: Junge Frau und junger Mann überfielen Geldtransporter.
Wieder bogen wir ab, in eine kleine Allee mit einem Bach in der Mitte. Auf der anderen Seite bei der Holzbrücke lehnten unsere Fahrräder an einem Baum.
Wir hatten uns kein Auto besorgt, keine Kennzeichen gestohlen und ummontiert. Wir wollten nicht an der nächsten Ecke von der Polizei gestoppt werden, in einem Stau stecken bleiben oder jemanden auf der Flucht im Adrenalinrausch überfahren. Wir wollten alles anders machen, anders, als all jene, die sich schnappen ließen. Carlo und ich waren Anfänger, nein, nicht mal das, dieser Coup war unser erster Raub überhaupt, und wir wollten keine Karriere daraus machen, nicht im Guten, nicht im Schlechten.
Bei unseren Fahrrädern knallte er gegen mich, und unsere Sonnenbrillen klackten aneinander, als er mich spontan küsste, heiß und kalt zugleich, schnell und feucht, den Atem und Speichel voller Adrenalin, und sein dummer Schnurrbart kitzelte wie verrückt.
Der Kuss war nicht abgesprochen, den hatten wir nicht vorher zuhause in den Zimmern unserer WG als Vorbereitung auf den heutigen Tag durchgespielt.
Wir ließen einander los, ein flüchtiger Blick. Niemand war hinter uns her, also verstauten wir die Geldsäcke in den verranzten Militärrucksäcken, die wir auf den Fahrrädern angeschnallt gelassen hatten. In ihnen lagen ein paar Müsliriegel, einige Dosen Bier, kalte Pizza, ein albanischer Sprachführer, eine Schere, eine Stange Gauloises, zwei leere Aldi-Plastiktüten, Unterwäsche und Socken zum Wechseln, Zahnbürsten und unsere Schlafsäcke.
Ein Halstuch hatte ich bereits mit etwas Creme versehen, mit ihm wusch ich mir die übertriebene, im Regen verlaufene Schminke vom Gesicht. Carlo hatte es da mit seinem angeklebten Schnurrbart einfacher. Er zupfte ihn ab, rieb sich damit meine Schminke von unserem Kuss von seiner Wange und schmiss den feuchten Klumpen in den Bach, wo er weggetrieben wurde.
Dann zogen wir uns die Regenmäntel aus und stopften sie ebenfalls in die Rucksäcke. Die Sonnenbrillen flogen hinterher. Nun trugen wir, was wir darunter angelassen hatten, Carlo seine Jeansjacke und ich ein dickes Baumfällerhemd.
Der Schlafsack kam oben drauf, mit einem Handgriff zugeschnürt, und schon schwangen wir uns auf die Fahrräder.
Hatte ich alle Schminke aus meinem Gesicht gewischt? Das würde nicht gut aussehen, so durch die Straßen zu fahren, zu auffällig. Aber Carlo hätte es mir gesagt, er hätte mich darauf hingewiesen. Oder?!
„Carlo!“
„Ja?“, erschrocken drehte er sich zu mir um. Seinem Gesicht war abzulesen, dass er ein Problem befürchtete.
„Wie seh ich aus?“, fragte ich ihn.
Er lächelte erleichtert, „Sexy, Tina, sexy!“
Das Wasser spritzte vom Vorderrad bis auf die Knie meiner Hose. Wir fuhren gebeugt, wie man im Regen Fahrrad fährt, Richtung Frankfurter Hauptbahnhof, und dicke Tropfen prasselten in unsere Gesichter. Polizeisirenen kajolten durch die Stadt. Ich redete mir ein, die könnten bei dem Wetter auch zu einem Unfall unterwegs sein.
Immer wieder lachten wir irre auf. Die Nerven.
Ich wunderte mich über meine Kondition. Für diesen einen Sprint hatten wir seit einem halben Jahr trainiert, Joggen, jede Woche. Seitenstiche zu einem falschen Zeitpunkt wären fatal.
Nach einer gefühlten Ewigkeit meinte Carlo außer Atem, „Und das alles für einen Satz Briefmarken.“
Das sagte er mir mit seiner selbst in diesem Augenblick ruhigen, tiefen Stimme, als sei es ihm ernst. Carlo war einer der wenigen Menschen mit einer solchen Stimme, eine Stimme, die man aus den Flugzeuglautsprechern hören möchte, wenn Flammen aus dem linken Triebwerk schlagen, die erklärt, alles nicht so schlimm, wir können auch mit einem Triebwerk sicher landen.
„Ich hoffe doch nicht“, sagte ich, um irgendetwas zu sagen. Nein, das dürften keine Briefmarken sein. Das müssten sie sein: die Wocheneinnahmen des Baumarktes.
Carlo klingelte mit seiner Radschelle.
Am Bahnhof sprangen wir von unseren Rädern. Mit einem Ruck rissen Carlo und ich unser kostbares Gepäck von den Rädern. Zu laut knallten die Gepäckträger zurück, Metall auf Metall.
Als könnte das hier jemanden stören, schauten wir uns um. Menschen liefen unter dem Regen durch in die Bahnhofshalle oder aus ihr heraus zum Taxistand.
„Hier kann man sterbend um Hilfe schreien, und keiner schaut hin“, sagte Carlo.
Wir lehnten die alten Fahrräder, die wir vor zwei Monaten auf einer nächtlichen Tour gefunden und mit zwei Dosen grün umgesprüht hatten, gegen eine bepinkelte Wand, ohne abzuschließen. Heute Nacht würden sie geklaut sein, wer weiß, vielleicht von ihren eigentlichen Besitzern. Das war so am Frankfurter Bahnhof. Wir wollten keine Spuren hinterlassen.
„Weißt du, dass hier früher Diebe gehängt wurden?“, fragte mich Carlo, während er seine Armbanduhr aus der Brusttasche fischte und sie drehte, bis die Zeiger einen Sinn ergaben.
„Nein“, und mir fiel nichts weiter darauf ein. Woran der dachte in diesem Augenblick! Ich war wie auf Autopilot, ich schwang mir meinen Rucksack über und sagte, „Bis gleich.“
„Okay, Abfahrt in acht Minuten, wir sind just in time.“
Ich rannte los und drehte mich noch einmal um.
Carlo stand einfach da und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an. Fast hätte ich aufgehört zu laufen. Dann nahm er einen tiefen Zug und wetzte los in die andere Richtung, mit der Kippe zwischen den Lippen.
Wir hetzten getrennt zum Gleis 4. Carlo nahm den längeren Weg außen herum, dafür rannte er schneller als ich. Wir wollten ungefähr zur gleichen Zeit dort ankommen.
Niemand würde sich hier an uns erinnern. Man fällt nicht auf, wenn man in einem Bahnhof läuft, im Gegenteil, genervt wenden die Menschen ihre Blicke ab, während sie einem ausweichen.
Zwei Stufen nahm ich mit jedem Schritt, stolperte vor Aufregung fast die Treppe hoch. Halb lief ich, halb schritt ich schnell an den Reisenden und Geschäften vorbei, den Blick starr geradeaus gerichtet. Gerüche und Gesprächsfetzen fanden überraschend klar ihre Wege in meine Sinne. Die schimpfende Mutter mit dem schreienden Kind und eine Ladung angebrannter Brötchen aus der Bäckerei, das schrille Gepiepe des Rauchmelders.
Auf Gleis 4 stand der Nachtexpress nach Mailand zur Abfahrt bereit. Perfektes Timing. Die Tickets hatten wir heute Morgen gekauft, cash und ohne Bahncard.
Unseren Freunden hatten wir erzählt, wir würden eine Frankreichtour machen, ebenso unseren Patchworkeltern. Carlo war bis zum zwölften Lebensjahr bei seinem Vater und seiner neuen Freundin aufgewachsen und ausgezogen, sobald er durfte und konnte. Meine Mutter hatte erst vor zwei Jahren wegen Peter meinen Vater verlassen, seitdem war mein Kontakt zu beiden eher sporadisch, auf Geburtstage und Feiertage beschränkt.
Offiziell würden wir vier Wochen an der französischen Atlantikküste zelten. Bis uns jemand vermisste, würden wir schon weit weg sein.
Ich lief an den Scheiben der Wagons vorbei bis zum Wagen 23, wo wir uns treffen wollten. Ich lief schneller und schneller, weil es mir wie eine unsichtbare Ziellinie vorkam, vor allem, als ich Carlo mit seiner Fluppe im Mund auf dem Bahnsteig stehen sah, den Rucksack über der Schulter, wie er mit einer Hand die Kippe aus seinem Mundwinkel nahm, nachdem sie ein letztes Mal aufgeglüht war, und er sie ins Gleisbett flitschte, bevor ich in seine offenen Arme rannte, als wäre er auf Fronturlaub von einem unbekannten Krieg.
Die Tür stand offen, und wir stolperten umschlungen die Stufen rauf. Im Gang umarmte er mich richtig, drückte mich, hielt mich fest, und ich ließ meinen Rucksack herabgleiten. Dumpf knisternd schlug er auf dem Boden auf.
Er war etwas größer als ich, und ich schaute knapp über seine Schulter hinweg aus dem Fenster hinter ihm, wo auf dem Nachbargleis ein Zug einfuhr. Dann schloss ich meine Augen, und ich spürte mein Herz schlagen, aber es könnte auch seines gewesen sein.
Der Pfiff des Schaffners war für uns das Startsignal der Leidenschaft, und wir bewegten unsere Köpfe zum Kuss mit offenen Augen, und ich schmeckte das Nikotin in seinem Mund. Carlos Augen grün und klar unter seinen schwarzen Augenbrauen.
Hinter uns schlugen die Türen des Wagons zu. Der Zug ruckte, fuhr an und wie ein einziger Körper wankten wir eng umschlungen zur Seite, bis wir uns schief mit den Schultern an einer Tür abstützten. Beide konnten wir uns ein Lächeln nicht verkneifen, und weil sich dadurch unsere Lippen trennten, zogen wir unsere Zungen zurück.
„Du“, flüsterte Carlo, und ich glaubte nicht, dass er viel mehr sagen wollte.
Ich nahm seinen Kopf zwischen meine Hände. Sterne explodierten zwischen uns, mein Kreislauf spielte verrückt, absolut verrückt, aus Leidenschaft, Wahnsinn und geglücktem Coup.
„Du“, sagte ich.
Geschafft.
Ich lehnte mit meiner Hüfte an dem türkisen Spülbecken in der Wagontoilette. Das garantierte mir einen sicheren Stand bei dem Geruckel der Achsen auf den Schienen.
Feine Haarspitzen wirbelten durch die Luft, die trotz des offenen Fensters säuerlich roch. Haare klebten an den Wänden, auf meinem Rucksack, auf dem Klo, dem Waschbecken und dem Spiegel, der lose in seiner Verankerung klapperte und mein abgeschminktes Spiegelbild zittern ließ. In meinen Kragen gerieselte Härchen pieksten zwischen meinen Brüsten und im Nacken.
Mit meiner Linken griff ich mir das letzte Büschel Haar und schnitt es mit meiner Rechten durch, wobei ich mehrmals ansetzen musste. Ich wünschte, ich hätte eine schärfere Schere mitgenommen. Gerade anfangs musste ich Geduld aufbringen, ich hatte mir das Kürzen meiner Haare einfacher vorgestellt. Vielleicht wollte ich es nur rascher hinter mich bringen. Ohne diese Aktion hätte ich mir nie die Haare geschnitten, aber meine Verwandlung nach dem Überfall war für die Durchsetzung unseres Plans entscheidend. Wir wollten alles daran setzen, dass man uns nicht fassen würde. Meine Verwandlung in einen Mann gehörte dazu. An meiner Stelle hätten sich die meisten beim Überfall als Mann verkleidet und wären danach als sie selbst geflohen. Aber genau so wurden schon etliche gefasst. Wir machten das anders, auch wegen unseres Zieles: Albanien. Dort wollten wir untertauchen, zumindest eine Weile. Und als Männer wären wir dort unauffälliger unterwegs.
Angefangen hatte ich im Nacken, ich weiß nicht warum. Meine Haare fielen mir bis über die Schultern, nun lagen sie in einem braunen Wust im Spülbecken. Der Rest stand von meinem Kopf ab wie bei einer Punksängerin.
Erst versuchte ich sie platt zu drücken, dann zu einem Scheitel, aber sie blieben so strubbelig, wie sie waren. Vorsichtig trimmte ich die letzten abstehenden Spitzen, um dem Chaos auf meinem Kopf wenigstens etwas Ordnung zu geben.
Gelegentlich rappelte oder klopfte jemand an der Tür.
Langsam nahm mein neues Ich Gestalt an. Niemals hatte ich meine Haare derart kurz getragen. Es war ein Experiment, wert durchgeführt zu werden. Ich beugte mich abwechselnd vor, nah an den Spiegel und lehnte mich zurück, dabei schnitt ich Grimassen, drehte mir mein Halbprofil zu und wünschte, ich hätte an einen weiteren Spiegel gedacht. So konnte ich nicht sehen, wie gut oder schlecht ich an meinem Hinterkopf gearbeitet hatte.
Ein Kratzen an der Tür, gefolgt von Carlos Stimme, „Was gibt das da drin? Du sollst dir keine Dauerwelle machen.“
Im bebenden Spiegel sah ich meinen Mund lächeln, „Das würde auch ziemlich seltsam rüberkommen.“
„Also? Wie weit bist du?“
„Moment.“
„Mach hin. Das muss in Zukunft im Badezimmer sowieso schneller gehen, Madame.“
„Tina für dich.“
Carlo musste da draußen alleine stehen, sonst hätte er nicht so frei gesprochen.
„Nicht mehr lange“, sagte er.
„Außerdem schneide ich mir gerade die Haare. Wie lange brauchst du dazu, dir selber die Haare zu schneiden?“
„Ich schneide mir doch nicht selbst die Haare. Wer macht denn so einen Scheiß?!“
„Arschloch.“
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, Arschloch.“
„Da kommt einer, ich warte wieder im Gang.“
„Okay.“
Ich checkte noch einmal meine Seiten, säbelte an einer Strähne über meinem Ohr herum und verstaute die Schere in einer Seitentasche meines Rucksacks, wo bereits meine beiden Ohrsticker – die silberne Feder und ein runder Onyxstein in einer Silberfassung – zusammen mit meinen zwölf schmalen Lederarmbändern, in einer verschließbaren, durchsichtigen Plastiktüte lagen.
Ein letzter Blick in den Spiegel, ernst, passend zu meinem karierten Baumfällerhemd, ich testete verschiedene, vermeintlich maskuline Mienen, schüttelte den Kopf, unglaublich. Das musste reichen als Haarschnitt.
Ich öffnete den Klodeckel und schaufelte beidhändig meine Haare aus dem Spülbecken ins Klo, Deckel drauf, lebt wohl. Es zischte und gluckerte.
Dann befeuchtete ich ein Knäuel Klopapier und wischte die Millionen kleinen Härchen ab, die am Spiegel, auf dem Becken und auf dem Boden klebten, und warf es in den Müll.
Mit einer Hand zog ich am Hebel das schmale Fenster auf. Ich nahm meinen Rucksack und marschierte zurück zu unserem Platz, vorbei an den Wartenden in der Nähe der Toilette und den Gang runter, vorbei an den Reisenden, die sich mit einer Hand an der Außenwand festhielten, während sich ihre Blicke voller Sehnsucht im vorbeiziehenden Horizont verloren.
Carlo wartete genauso träumend vor unserem Abteil im Gang.
„Hey!“, sagte ich und blieb demonstrativ stehen, damit er mich in Ruhe betrachten konnte.
Als er mich sah, klappte seine Kinnlade runter bis auf das rotgelbe Muster seines geliebten Hawaii-Shirts. Auch wenn er ansonsten schlichte Bluejeans trug, seine Hemden strotzten stets vor Farben.
„Also wenn ich es nicht besser wüsste ...“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf mich, von Kopf bis Fuß und wieder zurück.
„Was denn?“, fragte ich, als wüsste ich nicht, worum es sich drehte.
„Das ist mir schon fast unheimlich.“
„Was?“
„Du!“
Ein älterer Herr schob sich an uns vorbei. Mit den Füßen drückte Carlo seinen Rucksack an die Wand. Geschwungene Hügel mit Wiesen und Wäldern huschten bei 150 km/h vorbei.
„Seit wann bin ich dir unheimlich?“, fragte ich.
„Seit du ... Wahnsinn, und dazu deine dunkle Stimme!“, er schaute sich um, „Ich meine, seit du so überzeugend deine männliche Seite herauskehrst.“
„Das wollten wir doch“, plötzlich liebte ich meine Situation mehr, als ich mir hatte vorstellen können. Meine natürliche Heiserkeit, die ich seit der Grundschule hatte, passte zum ersten Mal zu mir. Wie oft hatte ich sie in der Vergangenheit verflucht, vor allem während der Schulzeit, wo sich andere Kinder, Mitschülerinnen, darüber stets lustig gemacht hatten.
„Du hast jetzt kürzere Haare als ich!“, sagte Carlo, und ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob er das besser oder schlechter fand. Dabei griff er sich in seine halblangen Haare, die ihm in Strähnen bis in die Augen fielen, und die er dann wegpustete, in dem er die Unterlippe vorschob. Er merkte die Geste schon gar nicht mehr.
„Kein großes Kunststück“, sagte ich.
„Ja, also, perfekt, Tina, ich meine: Tim! Tim.“
„Tim“, wiederholte ich meinen neuen Namen, als hätten wir ihn uns jetzt erst ausgedacht.
Wir guckten ängstlich den Gang rauf und runter, aber niemand war in Hörweite. Die meisten Reisenden hatten es sich in ihrem Abteil bequem gemacht und aßen zu Abend. Knoblauch und Thymian vermischten sich mit dem Schweißgeruch ausgezogener Schuhe.
„Gewöhn dich dran, Tim.“
„Du meinst, ich kann so überzeugen, als Kerl.“
„Definitiv“, er zog jede Silbe, „Du bist ein bisschen schmächtig, aber ... unfassbar!“
Der ältere Herr kam zurück. Freundlich grinste er uns zu, und mit italienischem Akzent sagte er, „Jungs, lasst ihr mich bitte mal durch?!“
„Klar“, sagte ich.
Carlo klatschte sich in die Hände, als der Mann ein paar Meter weiter war, und drehte sich ab, „Jungs!“
„Beruhig dich.“
„Jungs“, wiederholte er, „Jungs!“
Er hatte recht, das war die Feuertaufe. Schneller als gedacht. Aber das war gut so, das war gut für mein neues Ego. Ich würde entspannter in unser Abteil gehen. Die anderen beiden Plätze in unserem Liegewagenabteil würden belegt sein, der Zug war voller Menschen, die in ihrer Heimat fuhren.
Ich war auch ein bisschen neugierig, „Sollen wir jetzt in unser Abteil?!“
„Oder erst zählen?“, fragte er.
„Bleiben wir bei der angedachten Reihenfolge, würde ich sagen. Bisher hat alles gut so hingehauen.“
„Stimmt. Vor allem deine Frisur“, sagte er.
Ich gab ihm eins mit der Rückhand vor die Brust.
„Hey“, er lachte.
„Was ist?“
„Das war gay. Das musst du dir abgewöhnen!“, wieder lachte er, „Wenn mich ein anderer Kumpel so schlagen würde“, und er machte es bei mir übertrieben nach, „Die anderen würden denken, wir hätten was miteinander.“
„Haben wir ja auch.“
„Aber anders, als man jetzt denken könnte, nicht als Mann und Mann. Los, auf geht’s, rein in unser Abteil“, elegant schnappte er seinen Rucksack vom Boden und warf ihn sich ebenfalls über die Schulter, er nickte mir zu, ich solle vorgehen, „Ladys First.“
Ich trat ihm in den Hintern, „Ich geb dir Ladys First. Siehst du eine Lady hier?“
Er bemerkte seinen Fehler, und sein vorübergehend erstaunter Gesichtsausdruck verflog. Laut lachend schritt er voran, „Entschuldigung, Tim.“
„Und war der Tritt auch gay?“
„Nein, der war nicht gay.“
„Gut.“
Er schob die Tür auf, sie quietschte entsetzlich. Von den Liegen auf der einen Seite schauten uns zwei Italiener müde an, und wir nickten einander zu.
„Ich schlafe oben“, flüsterte ich, klappte das Bett auf und schwang meinen Rucksack darauf.
Carlo setzte sich auf das untere Bett und öffnete die Schlaufen seines Rucksackes. Ich hörte das Rascheln des Plastiksacks mit dem Geld überlaut. Ich meinte, jeder müsste die Scheine knistern hören, das hörte sich doch an wie Geld, das musste man doch hören. Aber die beiden Italiener regten sich nicht, ihre Rücken blieben uns zugedreht.
Grinsend reichte er mir eine Dose Warsteiner.
Ich nickte, nahm das Bier, tickte auf den Deckel und öffnete den Verschluss so vorsichtig wie möglich unter meinem Hemd, mit einem kurzen Knacken und einem leisen Zischen, während ich mich neben Carlo auf sein Bett setzte.
Er hielt mir seine geöffnete Dose hin, „Auf heute, auf morgen, auf Tim, Salute!“
„Auf heute, auf morgen, auf Carlo, Salute!“
Ein leises „Salute“ kam von einem der beiden Italiener.
Carlo prostete ihm zu und fragte auf Italienisch, ob er auch ein Bier wollte. Der Mann bedankte sich und verneinte, wir sollten es uns schmecken lassen. Carlo übersetzte mir das sofort.
Seine Mutter war gebürtige Italienerin, eine hektische Frau mit pechschwarzen Haaren und starkem Akzent, den sie in den dreißig Jahren in Frankfurt nicht verloren hatte. Ursprünglich kam sie, um ihren Bruder zu besuchen, verliebte sich aber auf den ersten Blick in seinen Kollegen Gerd, Carlos Vater. Die beiden heirateten. Als es um die Namensgebung ihres Sohnes ging, bestand sie darauf, das Sagen zu haben. Sollte ihr Mann sie sitzen lassen, müsse sie schließlich dauernd den Namen des Kindes rufen. Da sollte das doch bitte schön wenigstens einer sein, den sie ausgesucht hatte: Carlo. Sie vertraute deutschen Männern genauso wenig wie italienischen.
Der erste Schluck zu trinken nach der Jagd, der Hetze, nicht zu kalt, gerade richtig, das Bier schmeckte göttlich. Wir leerten die Dosen in einem Zug zur Hälfte und atmeten tief ein und aus, als regulierten wir so wie durch ein Ventil den angestauten Druck in uns.
Carlo und ich saßen nebeneinander auf seiner Liege. Ich kickte meine Schuhe von den Füßen, lehnte mich zurück und zog meine Beine an. No-Name-Sportschuhe. Auch unsere Idee, um nicht aufzufallen und gleichzeitig schnell laufen zu können. Jeder kennt die großen Marken, No-Name-Runner zu beschreiben ist nicht leicht, sie sehen einfach aus wie jeder x-beliebige Sportschuh. Wir wollten an alles denken, jedes Detail sollte uns helfen.
Carlo stützte seine Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und hielt mit beiden Händen die Dose. Das gleichmäßige Hämmern der Schienennähte und mein Puls, der sich dem Rhythmus anpasste. Ich nahm einen weiteren Schluck Bier.
Er stopfte seine Hemden für gewöhnlich in die Hose, nun hing sein Hawaii-Hemd am Rücken lose über den Gürtel seiner Jeans. Er träumte in die Öffnung seiner Dose.
Mein linker Fuß näherte sich der Stelle, wo sein Hemd über der Hose hing, und meine Zehen suchten sich den Weg unter den Stoff. Ich lächelte, weil ich wusste, wie sehr er meine Berührungen mochte.
Wie unter einem Stromschlag zuckte er zusammen und drehte sich erschrocken um. Mit der Hand zeigte er auf unsere Mitreisenden und tippte sich gegen die Stirn, während er mich anschaute, „Was machst du denn da?“
„Bin ich elektrisch?“
„Du bist leichtsinnig“, flüsterte er und deutete mit der Bierdose zu unseren Mitreisenden.
„Die schlafen doch“, sagte ich.
„Trotzdem.“
„Es sieht keiner.“
„Wenn sich einer umdreht?! Kein Typ krault dem anderen mit seinem Fuß am Rücken.“
Ich zog meinen Fuß zurück und merkte, wie aufgewühlt Carlo war, wie er seine Hand, die nach meinem Fuß greifen wollte, gegen ihr natürliches Verlangen auf die Kante der Liege führte.
„Salute“, sagte ich entschärfend und hielt ihm das Bier entgegen.
„Salute.“
Carlo trank, bis er seinen Kopf in den Nacken legen musste, dann setzte er ab und schüttelte die Dose, ein helles Plätschern der letzten Tropfen, leer.
„Kaiser“, sagte ich.
Er stellte die Dose unter das Bett und drehte sich zu mir um, „Dann geht der Kaiser jetzt als Erster zählen.“
„Nur zu, ich hab noch“, und ich schwenkte mein Warsteiner.
Er schnappte sich seinen Rucksack und verließ das Abteil.
Ich linste durch den schmalen Spalt, den die Jalousie am Fenster ließ. Es dämmerte über den verlassen wirkenden Häusern und Bauernhöfen eines Dorfes. Vorbeifliegende Laternen und Lichter reflektierten einen Streifen meines Gesichtes vertikal in der dunklen Fensterscheibe. Mein kurzes Haar. Ich fuhr mit meiner freien Hand über meinen punkigen Mecki. Ein paar Jahre und sie wären wieder lang.
Die beiden Italiener schnarchten leise vor sich hin. Und in meinem Bauch breitete sich eine Leere aus, die kein Hunger war. Mir wurde bewusst, dass die Polizei möglicherweise nach mir suchen würde, dass ich auf einer Fahndungsliste stehen könnte. Fahndungsliste, was für ein Wort. Obwohl wir verkleidet waren, und obwohl uns niemand die nächsten Wochen vermissen würde, es bestand ein Restrisiko. Danach könnten wir anrufen oder schreiben, uns gefiele es so gut, wir würden noch länger bleiben, und am Ende der Semesterferien würden wir behaupten, wir würden ein Urlaubssemester nehmen, Sprachurlaub, während wir in einer sonnigen Bucht an einer Strandbar abhingen und Beine und Seele baumeln ließen. Ich nahm noch einen Schluck Bier. Das Bauchgefühl verflog.
Es war unwahrscheinlich, dass man uns verdächtigte, und falls doch, würde man uns kaum die Interpol auf den Hals hetzen. Trotzdem wollten wir auf Nummer sicher gehen.
Wie viel Kohle es wohl war? Wir hofften auf 50.000 Mark. Carlo hatte die Summe bei einer Unterhaltung in der Zigarettenpause gehört. Das wäre eine gute Woche gewesen, soll der stellvertretende Buchhalter gesagt haben, während er an seinem Zigarillo zog.
Wir hatten uns gefragt, was das Worst-Case-Szenario wäre, außer geschnappt zu werden. Wir schätzten dreißig, 30.000 Mark. Eine Summe, mit der wir zwei bis drei Jahre bescheiden in einem kleinen Nest in Griechenland leben konnten, ohne uns finanziell zu sorgen. Das war uns das Risiko wert, das ist einem das Risiko wert, wenn man mit dem Rücken an der Wand und einen Schritt vor dem Abgrund steht. So kam uns unsere Situation vor. Fünftes Semester Geographie, keine Kohle, Nebenjobs, und die Kommilitonen, die Geographie mit Diplom abschlossen, machten da nahtlos weiter. Mit Glück ergatterten sie Jobs, die wenigstens entfernt mit ihrem Studium zu tun hatten, dann aber nur mit Zeitverträgen, drei Monate, maximal ein Jahr. Der Rest tobte sich in Praktika und Volontariaten aus.
Unsere Zukunft hatten wir uns anders vorgestellt. Daher der Schnitt, daher reifte die Idee zu unserem Coup bis zur Ausführung. Wir gingen davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt in ein paar Jahren bessern würde, bis dahin würden wir die Zeit in Griechenland am Strand überbrücken, oder dort etwas Neues finden.
Um unser Risiko zu minimieren, gingen wir sehr akribisch vor. Unzählige Male hatten wir den Ablauf des Raubes durchgespielt und alle Eventualitäten abgewogen. Wir beobachteten einige Übergaben, bevor wir uns entschieden, das Ding durchzuziehen. Die große Preisfrage hieß jetzt: Wie sehr hatte es sich für uns gelohnt?
Wir hatten es tatsächlich getan. Unser Coup war keine Spinnerei mehr über Wein und Bier und ein paar Joints, nein, wir hatten den Transporter überfallen, wir hatten die Säcke, das Geld, und waren auf der Flucht.
Die Schiebetür unseres Abteils quietschte, mein Kopf flog herum.
Carlo stand ernst in der Tür und sagte nichts.
„Und?“, fragte ich.
Er unterdrückte ein Grinsen.
Mein Herz hüpfte, „Und? Sag!“, ich platzte vor Neugier.
„Zähl du zuerst“, schlug er vor.
„Ist nicht dein Ernst. Sag, wie viel?“
„Ich weiß nicht ...“, er konnte sich sein Grinsen immer weniger verkneifen.
„Carlo!“, ich musste aufpassen, dass meine Stimme in meiner Aufregung nicht zu laut geriet.
„Schätze!“, sagte er.
„Zwanzig“, das würde bedeuten, unser Minimalziel 30.000 würden wir mit ziemlicher Sicherheit erreicht haben.
Er schüttelte den Kopf.
„Mehr?“, fragte ich.
Er nickte.
„Fünfundzwanzig?“
„Mehr“, sagte er.
„Dreißig!“
„Zweiunddreißig Tausend Mark.“
Meine Hände klatschten vor mein Gesicht, ich unterdrückte einen Jubelschrei.
„Das bedeutet, alles Geld, was du jetzt noch zählst, ist Sahne auf der Torte“, sagte er.
Wir hatten gewonnen.
Da war es wieder, dieses Bauchgefühl, wie frisch verliebt, Schmetterlinge im Bauch, Schmetterlinge aus Papier. Ich trank mein Bier aus und schnappte mir meinen Rucksack.
„Bis gleich“, sagte ich zu Carlo, während ich mich an ihm vorbeischob und wir beide uns einen Kuss verkniffen. Ich wette, man konnte die Funken zwischen unseren Mündern in der Dunkelheit aufblitzen sehen, während wir dichtgedrängt in der engen Tür für einen Lidschlag in unserer Welt verharrten.
Anstatt meiner Haare lagen überall Geldscheine in der engen Wagontoilette herum: Zehner, Zwanziger, Fünfziger, sogar ein Hunderter. Sie waren nach dem Zählen beim Einräumen auf den Boden gesegelt. Ich hob sie rasch auf, wobei meine Hand nach vorne schnellte wie der Kopf eines hungrigen Huhns nach seinem Trockenfutter. Den letzten Zehnmarkschein knüllte ich in meine Hosentasche.
Das hohle Geräusch einer Tunneldurchfahrt. Draußen war es dunkel, das konnte ich selbst durch das Milchglas erkennen. Das Licht flackerte kurz.
Ich ließ die pralle Aldi-Plastiktüte baumeln und drehte sie mit der anderen Hand, bis ich sie verknoten konnte. Den leeren Leinensack der Sequrity-Firma faltete ich so klein wie möglich und schob ihn in eine Seitentasche.
Die Aldi-Tüte voll Geld stopfte ich in den Rucksack, zumindest versuchte ich es, denn nachdem ich das Geld gezählt hatte, nahm es mehr Platz weg.
Wieder ein Tunnel.
Unter einiger Anstrengung zerrte ich den noch feuchten und zusammengerollten gelben Regenmantel heraus und legte statt dessen das Geld hinein. Ich klappte das Fenster auf, und mit zwei Handgriffen wrang ich den Regenmantel zu einer Wurst, die durch den Fensterschlitz passte. Dann wartete ich am Fenster, mit einer Hand den Regenmantel haltend.
Was tat ich hier? Plötzlich kam ich mir vor, wie eine Figur in einem Spiel. Ich hatte wirklich gegen das Gesetz verstoßen und floh in einem Zug über die Grenzen. Flüchtig. Gesucht? Das wusste ich nicht. Im Idealfall gerieten wir nie in Verdacht.
Schlagartig wurde es laut draußen, dumpf hallte das Geräusch der Stahlräder von den Tunnelwänden wider.
Ich ließ los. Erst widerstrebte das gelbe Kleidungsstück, es fühlte sich an, als wollte der Mantel von der Druckluft hereingedrückt werden, dann wurde mir der Regenmantel vom Sog aus den Händen in den Tunnel gerissen.
Ich schmiss die Sonnenbrille hinterher und knallte das Fenster zu, schulterte den Rucksack, schaute mich um, ob noch irgendwo ein Geldschein herumlag, und verließ die Toilette.
Ich spürte mein Grinsen, während ich mit großen Schritten den Gang herunter zu unserem Abteil marschierte, vorbei an den letzten wachen Reisenden, die es sich noch nicht in ihren Kojen gemütlich gemacht hatten. Ich kämpfte gegen das Grinsen an, es tat fast weh. Jeder, der mich so sah, musste denken, ich hätte was geraucht.
Eine Kleinstadt bei Nacht flitzte vorbei.
So mussten sich erfolgreiche Verbrecher fühlen. Ich bemerkte, dass ich aufrechter ging als sonst, ich drückte meinen Rücken durch, als gäbe es endlich etwas, worauf ich stolz sein konnte.
Durch die Schiebetür sah ich Carlo auf seinem Bett liegen, er las in unserem Sprachführer, natürlich stand ein offenes Bier neben seinem Kopfende. Mit dem Kerl hatte ich das Ding gedreht. Irre.
Um nicht unnötig laut zu sein, öffnete ich die Schiebetür vorsichtig und langsamer als zuvor. Sie quietschte trotzdem, nur länger.
Das nervenaufreibende Geräusch war noch nicht vorbei, da schaute Carlo auf, „Mensch, du solltest dich sehen, unglaublich, wie eine ... wie ein Fremder.“
„Soll ja auch so sein.“
„Ja. Und?“
Ich antwortete nicht sofort, „29.“
Carlo pfiff leise durch die Zähne, „Zusammen einundsechzig. Mehr als erwartet.“
„11.000 Trinkgeld.“
Wir lächelten uns an, und ich zog die Tür hinter mir zu, „Muss eine prima Woche gewesen sein für den Laden.“
„Und wir haben ihnen auf die Cornflakes gepinkelt“, sagte Carlo zufrieden und griff sich sein Bier.
Ich schmiss den Rucksack auf mein Bett, „Übrigens, mein Regenmantel liegt schon in einem der letzten Tunnel.“
„Echt!? Gut. Dann werde ich gleich auch noch mal austreten. Dann haben wir das alles hinter uns.“
„Hast du umgepackt?“, fragte er.
„Ja, hat alles in die Aldi-Tüte gepasst. Den Leinensack habe ich eingesteckt.“
„Gut, ich auch“, sagte Carlo und nippte am Bier.
„Wenn ich so drüber nachdenke ...“, ich schüttelte den Kopf, mir fiel plötzlich eine Zeitungsüberschrift ein: Die ehrliche Finderin.
„Was?“
„Ich habe mal 1.000 Mark gefunden.“
„Was? Wie, gefunden?“, er setzte ab.
„Gefunden, zehn Blaue.“
„Die lagen da rum?!“
„Im Portemonnaie.“
„Einfach so“, sagte Carlo.
„Einfach so“, sagte ich.
„Wo?“
„Auf der Straße, bei uns, wo ich früher gewohnt habe, in der Gosse, im Rinnstein.“
„Abgefahren. Hattest du dir damit deinen Portugal-Trip finanziert?!“
„Nein.“
„Was denn?“
„Nix. Ich habe es abgegeben.“
„Wann war das?“
„Als ich zwölf war.“
„Ach so. Und wem hast du es gegeben?“
„Na, dem Besitzer.“
„Einem Zuhälter?! Wer schleppt denn sonst so viel Kohle mit sich rum“, sagte Carlo.
„Der Schornsteinfeger in unserer Straße.“
„Nein. Was hat der denn noch für einen Service? Kokain dealen? Schwarz-Weiß passt irgendwie. Salt and Pepper Enterprise.“
„Das war sein Monatslohn. Den hatte er abgehoben bei der Bank.“
„Klar.“
„Ja.“
„So viel?!“
„Ja!“
„Finderlohn?“
„Ein Hunni.“
„Zehn Prozent sind korrekt.“
„Richtig. Die waren superglücklich, er und seine Frau, saßen da am Esstisch.“
Carlo musterte mich, „Du hast aber nicht vor, unser Geld dem Baumarkt zurückzugeben?!“
„Nein.“
„Bist du ein Risiko?“
„Nein. Das fiel mir nur gerade ein, komisch. Damals war ich als superehrliche Finderin in der Lokalzeitung. Und jetzt ... irgendwie ironisch.“
„Ironisch wären 6.000 Tacken, zehn Prozent von 60.000.“
„Keine Angst.“
„Das hoffe ich.“
Ich trank mein Bier.
Carlo schaute in den albanischen Sprachführer und fragte mich, „Na dann, was heißt: Haben Sie eine Unterkunft für zwei Personen?“
„Akeni nje dhome per dy personae.”
„Na, so ähnlich, aber ich lasse das mal gelten.“
„Frag mich was Einfacheres.“
„Was heißt: Danke!“
„Falemenderit.“
„Perfekt. Sogar richtig betont, wenn ich das richtig aus der Lautschrift herauslese.“
Seit zwei Monaten paukten wir albanische Vokabeln. Albanien war unser Ziel. Von Mailand würden wir einen weiteren Zug nach Bari im Süden Italiens nehmen, und von Bari die Fähre nach Dürres, Albanien. Dort wollten wir untertauchen. In Albanien würde uns mit Sicherheit niemand suchen. Wir wollten alles anders machen.
„Zwei Kaffee“, bestellte Carlo.
Wir standen vor der gläsernen Bar eines vollbesetzten Cafés in der Halle des Mailänder Hauptbahnhofs. Klirrend landeten die weißen Untertassen auf der Bar. Carlo bezahlte mit den Lire, die wir vor einigen Wochen in einer Sparkasse getauscht hatten, und wir schoben unsere Espressi auf der Theke weiter, damit die Menschenschlange hinter uns aufrücken und ebenfalls bestellen konnte.
Wir hatten selber gut zehn Minuten anstehen müssen, aber wir waren nicht in Eile. Durch die halbstündige Verspätung unseres Zuges hatten wir den Anschluss nach Bari verpasst und eine Stunde Aufenthalt in Mailand.
Die Rucksäcke rutschten von unseren Schultern, und wir klemmten sie zwischen den Beinen ein. Zusätzlich stellte ich mich mit einem Fuß auf den Riemen, um es einem Dieb so schwer wie möglich zu machen, mir mein kostbares Gepäck zu entreißen. Carlo reichte mir erst meine Tasse, dann hielt er mir die Zigaretten hin und gab uns Feuer.
„Der erste Kaffee in der Freiheit“, sagt er und atmete den inhalierten Qualm durch die Nase wieder aus.
„Du meinst auf der Flucht.“
„Schmeckt er deswegen schlechter?“
Ich schüttelte den Kopf. Schmeckte er nicht. Er war stark und würzig, er schmeckte exotisch und italienisch und schien das Durcheinander aus herumlaufenden Menschen, italienischen Gesprächsfetzen und Gesten in seinem Geschmack zu vereinen.
„Mmh“, machte Carlo, während er an der Zigarette sog, um anzukündigen, dass er mir etwas Wichtiges zu sagen hatte, dazu flüsterte er, „Wir können auch nicht einfach über alles reden, auf Deutsch, das verstehen hier zu viele. Es reicht ja einer.“
Im ganzen Café gab es keinen freien Stuhl. Etliche Reisende standen mit ihrem Gepäck wie wir einander gegenüber und erzählten und tranken und rauchten.
„Ist mir klar“, sagte ich.
„Ich meine ja nur“, er stellte seine leere Tasse zurück auf die Theke, zog an seiner Gauloises und blickte mir durch den sich windenden Qualm in die Augen. Wir mussten uns nur einen Moment länger in die Augen schauen und lachten beide los.
„Der totale Wahnsinn“, sagte er.
„Was machen wir hier? Was mache ich hier?“, fragte ich übertrieben, „Was tue ich hier?“, und bei der letzten Frage deutete ich mit meiner Zigarette auf den Rucksack zwischen meinen Beinen.
„Das richtige“, sagte Carlo.
„Und ich bin mit einem Verrückten unterwegs.“
„Einem, der verrückt nach dir ist.“
„Sag ich doch, verrückt. Verrückt auf jeden Fall.“
Wir schauten uns an, fraßen uns auf mit den Augen, der Moment, in dem wir uns normalerweise küssten, berührten.
„Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, meine Finger bei mir zu behalten?!“, fragte ich ihn.
„Oh ja!“
„Weißt du nicht.“
„Doch. Ich weiß, wie das ist, sehr gut sogar. Was glaubst du?“
„Wenn sich das jetzt schon komisch anfühlt ... wie lange, denkst du, sollen wir das durchhalten?“
„So lange wie nötig. Hier geht gar nix, nicht inmitten homophober Italiener, dieses Land beherbergt den Vatikan!“
„Aber die Typen küssen sich doch links und rechts, wenn sie sich begrüßen.“
„Das ist was anderes. Und mehr körperlicher Kontakt unter Männern wird nur im Elfmeterraum toleriert.“
„Willst du mir erzählen, in Italien gibt es keine Gays?!“
„Nicht unbedingt öffentlich!“
„Ausgenommen beim Fußball.“
„Das hast du gesagt.“
Ich trank meinen Kaffee und stellte ihn ebenfalls auf der Bar ab. Ich sah mich in der verspiegelten Wand dahinter. Campino von den Toten Hosen bei Karneval als Holzfäller. Ich schaute mich an, während ich sprach, „Sag mal, wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich mir die Haare abschneiden soll?“
„Du!“, sagte Carlo.