Prolog: Am Ende aller Dinge
Ruth Kettler war sicher, dass sie nicht zurückkehren würde, dennoch sagte sie dem Mädchen nichts davon. Der Arzt hatte von einer neunzigprozentigen Chance gesprochen, dass Ruth die Operation überleben würde, doch er hatte ihr dabei nicht in die Augen gesehen. Und so hatte sie daraus eine achtzigprozentige Chance gemacht – oder auch nur fünfzig zu fünfzig. Sie traute Ärzten nicht – genauso wenig wie Sozialarbeitern, Therapeuten, Polizisten oder dem Schicksal. Genau genommen vertraute sie niemandem und hatte es nie getan.
»Und wenn etwas passiert, während du im Krankenhaus bist?«, fragte Lilli mit weit aufgerissenen Augen.
Sie standen auf der Wiese vor dem Blockhaus im Nieselregen. Eigentlich hatte Ruth sich schon verabschiedet, doch Lilli war ihr nachgelaufen und trat nun von einem nackten Fuß auf den anderen. Sie trug nur Jeans und ein T-Shirt, und auf ihren dünnen Armen hatte sich in der feuchtkalten Herbstluft eine Gänsehaut gebildet.
»Es wird nichts passieren. Was sollte denn passieren?«
»Bertie könnte krank werden.«
»Unsinn. Bertie war noch nie krank.«
»Und wenn ich eine Frage habe? Kann ich dich dann nicht doch anrufen?«
»Das habe ich dir doch erklärt, Liebes. Ich darf im Krankenhaus mein Handy nicht einschalten. Es ist verboten.« Ruth wusste nicht, ob das tatsächlich noch zutraf, aber es lieferte ihr einen willkommenen Vorwand. Sie fasste das Mädchen sanft an den Schultern. »Geh wieder hinein, du wirst ja ganz nass.«
Doch Lillis Furcht war größer als ihre Folgsamkeit. »Und was ist, wenn er wiederkommt?«, flüsterte sie.
»Er wird nicht kommen.«
»Letzten Sonntag war er auch hier. Und gestern noch einmal. Ich habe ihn gesehen, als ich aus dem Wald zurückkam. Ich habe extra gewartet, bis er weg war.«
Ruth seufzte. Sie hatte gehofft, Lilli hätte es nicht mitbekommen. Wie seltsam das Schicksal manchmal spielte! Als sie dieses Haus entdeckt hatte – in Pendelnähe zu ihrer Arbeit in Aachen, dennoch einsam gelegen, am Rande des kleinen Ortes im Wald versteckt –, hatte sie gedacht, den perfekten Hafen für Lilli gefunden zu haben. Wie man sich irren konnte.
»Ich habe ihm gesagt, dass wir ihn hier nicht sehen wollen«, behauptete sie. »Ich bin sicher, er wird nicht mehr kommen.«
»Und wenn doch?«
»Dann musst du es ebenso machen. Du sagst ihm einfach …« Ruth brach ab. Sie wusste nur zu genau, dass dies keine Option war. Lilli würde keines ihrer Worte wiederholen können. Die Sprache war immer einer ihrer Feinde gewesen. »Oder besser noch, du gehst erst gar nicht zur Tür, wenn es klingelt. Tu so, als seist du nicht zu Hause.«
»Und wenn er mich durchs Fenster sieht?«
»Dann gehst du ebenfalls nicht zur Tür. Wir haben das Haus von ihm gekauft. Er hat kein Recht, hier einzudringen.«
»Und wenn ich ihm irgendwo draußen begegne? Was ist, wenn er mich erkennt?«
Lillis Augen wurden noch größer, und fast hätte ihr flehentlicher Blick Ruth veranlasst, ins Haus zurückzukehren, ihre Tasche mit dem Nachthemd und der Zahnbürste auszupacken und die Operation abzusagen. Doch was würde dann passieren? Sie würde hier sterben, nicht schnell wie bei der Operation, sondern langsam und qualvoll für sie beide. Der Tumor in ihrem Kopf würde weiterwuchern und in kürzester Zeit nicht nur ihre Persönlichkeit zerstören, sondern auch ihre letzten gemeinsamen Momente. Lilli würde vollkommen überfordert sein, und das wollte Ruth nicht. Es war weit besser, wenn sie morgen im Krankenhaus auf einem sterilen OP-Tisch starb. Doch vorher musste sie noch etwas erledigen.
»Du wirst ihm nicht begegnen. Warum solltest du? Die Vorräte reichen für eine Woche, du musst also nicht ins Dorf. Wenn du mit Bertie Gassi gehst, geh in den Wald, dort triffst du bei diesem Wetter keine Menschenseele. Und in ein paar Tagen komme ich ja wieder. Es ist schließlich nur eine Routineoperation.«
»Und dann suchen wir uns etwas Neues?«
»Natürlich, Liebes.« Ruth lächelte das Mädchen aufmunternd an. Lilli war sechzehn Jahre alt, doch Ruth sah in ihr nie die erwachende junge Frau. Sie wusste, dass dies auch ihre eigene Schuld war, denn seit sie Lilli vor drei Jahren bei sich aufgenommen hatte, hatte sie deren Unselbstständigkeit und Abhängigkeit von ihr unbewusst gefördert. Oder vielleicht sogar bewusst? Seit dem Besuch beim Arzt betrachtete Ruth ihr Leben mit neuer Klarheit, und was sie da sah, war nicht immer schön. Doch für Schuldgefühle war es längst zu spät. Es gab nur noch eine Sache, die sie für Lilli tun konnte. »Wir suchen uns etwas Neues. Wir ziehen irgendwohin, wo dich niemand kennt.«
Es waren die richtigen Worte in der falschen Situation. Ruth sah, wie die Angst aus Lillis Blick wich und durch Hoffnung ersetzt wurde, als das Mädchen sich an die Lüge klammerte.
»Ich muss fahren, Liebes.«
»Lass mich dich noch mal drücken.« Lilli beugte sich zu ihr herunter und schlang ihre langen Arme um sie. Selbst wenn Ruth sich zu ihrer vollen Größe hätte aufrichten können, wäre sie einen Kopf kleiner gewesen als das Mädchen.
Eine Weile standen sie stumm da, eng umschlungen. Bertie, Lillis Bernhardinermix, kam durch die offene Haustür getrottet und schmiegte sich an ihre Beine. Dann löste Ruth sich von Lilli, drehte sich um und ging zu ihrem alten Fiesta. Als sie sich anschnallte, sah sie Lilli im Rückspiegel winken, doch sie richtete den Blick starr geradeaus. Ab sofort musste sie sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag. Bevor Ruth am nächsten Morgen ins Krankenhaus fuhr, hatte sie noch etwas zu erledigen. Sie musste einen Menschen von den Toten auferwecken.
Fünf Stunden später war Ruths Plan fehlgeschlagen. Nur der erste Teil ihrer Voraussage war korrekt gewesen: Sie würde nicht zu dem Mädchen zurückkehren, das sie die letzten drei Jahre Lilli genannt hatte. Doch in anderer Hinsicht war ihre Voraussage falsch gewesen: Ruth war nicht auf einem OP-Tisch gestorben, weil eine Diamantfräse ein kreisrundes Loch in ihren Schädel gefräst hatte. Sie war gestorben, weil sich auf einem trüben, nassen Weg im Aachener Stadtwald die Klinge einer Axt wieder und wieder in ihren Hinterkopf gefressen hatte.