Das Buch
Nach Mareis vögelfreiem Jahr ohne Tabus und Regeln kommt nun ihre Nichte Louise zum Zug: Ein Jahr Auszeit und nichts als Sex. Ihren prüden Ex hat sie abserviert und einen Traumjob in den Südtiroler Bergen ergattert. Als Mädchen für alles soll sie einem freizügigen Galeristenpaar zur Hand gehen. Sie steht Modell, trainiert die Hausherrin und assistiert bei der einen oder anderen Orgie. Und hat nebenbei Sex en masse. Das wird der Sommer ihres Lebens, und er wird heiß und feucht.
Die Autorin
Sophie Andresky, geboren 1973, lebt als freie Autorin in Berlin. Mit dem Bestseller Vögelfrei und den folgenden Romanen wurde sie zur erfolgreichsten Erotik-Autorin Deutschlands. Ihre Artikel erschienen in zahlreichen Magazinen, derzeit schreibt sie für den Playboy.
SOPHIE ANDRESKY
VÖGELWILD
Erotischer Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 04/2022
Copyright © 2022 Sophie Andresky
Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Carolin Müller
Umschlaggestaltung und -motiv:
Johannes Wiebel | punchdesign, München,
unter Verwendung eines Motiv von AdobeStock / sakkmesterke
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-25455-1
V001
»Wenn du tust, was du immer getan hast, wirst du kriegen, was du immer gekriegt hast.«
Barkeeper in Falling Water, Staffel 2
»Ein Buch soll kein Spiegel sein – es soll eine Tür sein!«
Fran Lebowitz
»Die Lösung vieler Probleme liegt sehr oft auf dem Grund eines halb aufgetauten Käsekuchens.«
Gemma in Vögelfrei, S. 139
In Liebe für Marcus.
Wie immer. Für immer.
Diesmal noch mehr als sonst.
KAPITEL 1
Ich bin frei!
Einen Moment lang fühle ich mich schwindlig, als mir bewusst wird, wie frei. Mein Studium habe ich unterbrochen. Und Sven verlassen. Endlich, meine Güte, das hat gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte. Aber jetzt fühlt es sich an, als hätte ich ein viel zu enges Korsett gesprengt, und all meine Wünsche und Gedanken, die ich vor Sven und ehrlich gesagt auch vor mir selbst versteckt habe, quellen hervor und prickeln auf meiner Haut und in meinem Kopf, als würde darin eine große Badebombe blubbern.
Dazu diese Heidi-Landschaft, die Alpen!
Ich halte mich am Griff des heruntergeschobenen Zugfensters fest und fühle, wie das Schaukeln der altmodischen Bahn, ihr Rattern und Schlingern durch meinen Körper geht. Wieder eine Kurve. Ich schließe die Augen und strecke den Kopf aus dem Fenster, der Fahrtwind greift nach meinen langen schwarzen Haaren. Er pustet alles weg, die bleierne Schwere, die tausend Kleinigkeiten, die mich jahrelang runtergezogen, meine Gedanken verklebt und verhindert haben, dass ich vom Fleck komme. Sven und seine Vorstellungen davon, wie ich zu sein und was ich zu fühlen habe, wie ich mich verhalten soll. Sven mit seinen Schubladen, in die er mich gestopft hat wie ein Knäuel Klamotten, bis es darin so eng wurde, dass ich kaum noch atmen konnte. Und ich fand das sogar gut, weil ich die Enge für Geborgenheit und die Fremdbestimmung für Sorge gehalten habe.
Jetzt und hier ist mein früheres Leben so weit weg wie Berlin, in dem ich aufgewachsen bin und das ich noch nie wirklich verlassen habe, abgesehen von ein paar belanglosen Pauschalurlauben. Ich stehe in diesem ruckelnden Regionalzug, dessen Räder bei jeder Weiche so hart anstoßen, dass es sich in meinem Bauch anfühlt, als wollte der Waggon abheben. Soll er ruhig. Mir ist das recht. Mir ist überhaupt jedes Abenteuer recht, volles Risiko. Ich will alles und noch mehr. Diese grenzenlose Freiheit schickt einen Hitzeschauer durch meinen ganzen Körper bis in die Fingerspitzen, bis zu den Haarwurzeln, bis zwischen meine Beine. Einen Moment lang wünsche ich mir, ich könnte auf der Stelle in diesem kleinen Abteil mit dem abgenutzten, dunkelroten Plüschsamt einfach meine Klamotten ausziehen, sodass der Wind mich überall berührt. Soll der Schaffner doch reinkommen. Sollen mich doch die wenigen anderen Fahrgäste anstarren, wie ich nackt am Fenster stehe, schaumgeboren vor Möglichkeiten. Ist mir egal. Lang genug habe ich mich versteckt. Ich lache laut gegen das Rattern des Zuges an, entfesselt. Von mir aus verhaftet mich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Dabei weiß ich gar nicht, wie die Gesetze hier sind, vielleicht darf man nackt Zug fahren in Österreich, oder haben wir schon Südtirol erreicht, keine Ahnung.
Ich bin nicht nur frei, ich bin wie ausgehungert. Es kommt mir so vor, als hätte ich eine strenge, freudlose Diät hinter mir, und jetzt brechen alle Dämme, und ich darf endlich wieder genießen. Wieso sollte ich auf irgendetwas verzichten oder mich festlegen? Ich will alles probieren, alles erleben, das brave Mädchen war gestern, ab heute bin ich wild – vögelwild. Ab sofort wird die ganze Welt meine Spielwiese sein. Ich kann nicht widerstehen, alles in mir will feiern, noch mehr spüren, überschäumen.
Also knöpfe ich meine Bluse auf, ziehe sie aus dem Jeansbund und hebe meine Brüste aus dem BH. »Wou-wohu hohe Berge«, singt der alte Schlager in meinem Kopf. Ich streichle über meine harten Nippel, die im kühlen Zugwind hart geworden sind wie Brombeeren. »Wou-wohu Gipfelstürmer in Trachtenjacke und mit Wanderstab.« Ja, ein Stab wäre nett jetzt. Leider liegt der einzige Vibrator, den ich dabeihabe, ganz unten im großen Koffer. Und beim Stab des Schaffners muss ich eher an Lebt denn der alte Holzmichel noch denken. Aber selbst ist die Frau: Ich bleibe gegen das Fenster gelehnt stehen, falls draußen auf dem Gang jemand vorbeikommt, man braucht ja nicht direkt mitzukriegen, wie sehr mich diese Reise, dieser Aufbruch in ein neues Leben, erregt.
Ich öffne den Knopf und den Reißverschluss meiner Jeans und streiche mir über den Bauch, betaste kurz meinen Nabel, eine ganz empfindliche Stelle, an die ich Liebhaber nur ranlassen würde, wenn ich sie sehr gut kenne. Dann gleitet meine Hand tiefer, die Fingerspitzen schlüpfen unter den Saum meines Slips, dehnen ihn etwas, noch tiefer, bis sie das kurz geschnittene Schamhaar berühren. Ich stelle meine Füße weiter auseinander, presse meine Hand gegen meinen Venushügel, und wie von selbst flutscht der Mittelfinger zwischen die Mösenlippen. Ich bin schon so feucht, dass es mich überrascht. Das ständige Brummen und Beben des Waggons, als würde man auf einem rodeogroßen Vibrator sitzen, haben mich offensichtlich heißgemacht. Ich muss kaum etwas tun. Mein Finger rutscht über meinen Kitzler, und mit jeder Bewegung, die von den Schienen und den Rädern direkt in meinen Unterleib fährt, breiten sich die Feuchtigkeit und die Hitze zwischen meinen Beinen mehr aus. Ich beuge meinen Oberkörper vor, sodass sich die Brustspitzen gegen das kalte Glas pressen, mein ganzer Körper wacht auf nach einem langen, bleiernen Schlaf. Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Energie man zwischen den Brüsten oder auf den Oberschenkeln fühlen kann. Selbst meine Kniekehlen glühen. Ich verstärke den Druck auf meine Möse, presse mich gegen meine Hand, reibe mich daran und versuche, den Mittelfinger, so weit es geht, in meinen Möseneingang vordringen zu lassen. Eine harte Kurve lässt mich schlingern, ich halte mich erschrocken mit der freien Hand am Fenstergriff fest, mein Körper wird hin und her geworfen, ich verliere die Kontrolle, muss mich ausbalancieren, damit ich nicht auf das rote Samtpolster falle – und genau bei dieser plötzlichen Seitwärtsbewegung geschieht es: Ich komme, die Lust explodiert tief innen, verbindet den Nabel, meinen Finger, der halb in meiner Möse steckt, und den Kitzler, der mir unter diesem Feuerwerk viel größer vorkommt. Selbst mein Poloch zieht sich zuckend zusammen, ich kann gerade noch gierig einatmen, da wird mein Hals auch schon eng. Es dauert nur wenige Sekunden, aber es fühlt sich an, als wäre mein ganzer Körper in seine Atome zerlegt und wieder zusammengesetzt worden.
Ich atme einige Male tief durch, um mich zu berappeln, ziehe die Hand zwischen meinen Beinen hervor, rieche an den Fingern den salzigen Geruch meiner Möse und ordne meine Kleidung.
Ich fühle mich schläfrig, am liebsten würde ich mich auf den Plüschsamt sinken lassen und eine Weile die Augen schließen, aber das wäre Verschwendung, denn draußen wird die Landschaft immer spektakulärer, wir fahren durch die reinste Heimatfilm-Kulisse.
Die Alpen. Ich kenne unzählige Insta-Fotos, auf denen durchtrainierte Frauen in Felsspalten Yoga machen, in grünen Bergbächen baden oder vor Almhütten Smoothies trinken. Ab heute Abend bin ich eine von ihnen, aber ich werde mir sicher nicht irgendeinen malerischen Wasserfall suchen, um dann bescheuertes Zeug wie #dankbar zu posten. Ich fand immer schon, dass Insta etwas ist für Menschen mit zu viel Zeit und zu wenig eigenem Leben. Ich will nicht fotografieren, sondern fühlen, und ich bin schon ganz hibbelig, wenn ich nur daran denke, was mich erwartet.
Das topmoderne Chalet von Nikola und Sergej liegt auf gut zweitausend Meter Höhe. Ich habe Bilder davon gesehen und mich gewundert, weil ich bis dahin immer dachte, in Südtirol gebe es nur traditionelle Häuser mit Holzbalkonen und Geranien. Der Bau ist ein Architektentraum aus Glas und Sichtbeton, schräg in den Berg gesetzt, mit riesigen Fensterfronten und Solarmodulen. Die zum Chalet gehörende Kunstgalerie liegt unterirdisch. Wenn man vor dem Chalet steht, erkennt man nur einen grasbewachsenen Hügel mit eingelassenen Oberlichten, das ist das Dach. Geld spielt für die beiden offenbar keine Rolle. Nicht nur beim Haus, sondern – lucky me – auch bei der Bezahlung ihres Personals.
Ich hatte so lange darüber nachgedacht wegzugehen, weg aus Berlin, weg von der Uni, weg von Sven, weg von der kleingeistigen Spießerin, zu der ich geworden war, und plötzlich passierte alles ganz schnell. Wild entschlossen rief ich Marei an, meine berühmt-berüchtigte Tante. Sven hat ihren Namen in Anführungszeichen gesprochen, und zwar immer, wenn ich irgendetwas in seinen Augen Ungehöriges gesagt, gedacht oder getan habe. »Das hätte jetzt auch von deiner Marei kommen können«, meinte er dann, oder: »Da hör ich deine Hippietante Marei.«
Dabei ist Marei alles andere als ein Hippie – obwohl ich auch das cool fände, weil eigentlich alles cool ist, was sie macht. Sie zieht ihr Ding durch, und es kümmert sie nicht, was andere davon halten. Sie liebt Männer. Und Frauen. Oder beides. Nacheinander und gleichzeitig. Ich wusste, dass sie mich unterstützen würde. Und das tat sie auch. Ich habe am Telefon nur gesagt: »Ich bin so weit. Ich muss hier weg.«
Sie hat nicht gefragt, ob ich das alles nicht lieber noch mal überdenken will. Sie würde nie meine größeren Gefühle oder Entschlüsse hinterfragen. Wenn ich etwas sage, nimmt sie das ernst, anders als Sven, der mir gern in endlosen Monologen erklärte, wieso ich nur meinte, etwas zu wollen oder zu finden, ich aber doch eigentlich ganz anderer Meinung sei, nämlich seiner. Damit ist er lange durchgekommen. »Er kennt mich besser als ich mich selbst«, habe ich zu meinen Freundinnen gesagt. Das ist mir jetzt peinlich, denn wahr ist wohl: Er kannte mich überhaupt nicht und hatte auch kein Interesse daran herauszufinden, wer ich wirklich bin. Er wollte, dass wir unser Boy-Girl-Ding, das wir in der Mittelstufe angefangen hatten, nahtlos weiterführten bis zu einer Reihenhaus-Jägerzaun-Idylle. Oder wie ich es eher bezeichnen würde: bis zu einem Zwangsjacken-Gehirnwäsche-Kollaps. Aber ich bin keine Höhlenfrau, die mit Beerensammeln zufrieden ist, sondern eine Jägerin. Ich will die Nacht und den Herzschlag und den Rausch. Tief in mir wusste ich das immer, aber meine Freundinnen waren sich alle so einig, die Sache mit Sven müsse etwas Großes sein.
Marei dagegen verstand sofort, was ich wollte. Am gleichen Abend rief sie zurück und erzählte mir von Nikola und Sergej. Dass sie die beiden auf einer Reise in der Toskana kennengelernt habe und sie dort mit ihrer alten Freundin Gemma unterwegs gewesen seien.
Gemma. Da klingelten bei mir alle Alarmglocken, denn über Gemma erzählt Marei fast nie etwas – wenn aber doch, ist es immer geheimnisvoll und aufregend. Fotos habe ich von Gemma noch nie gesehen, und Marei behauptet, es gebe auch kein einziges. Sobald Marei Gemma-das-Phantom erwähnt, könnte man meinen, sie stehe kurz vor der Heiligsprechung, eine Mischung aus Wonder Woman und Kameliendame. Nikola und Sergej jedenfalls, die sie in Gemmas Begleitung getroffen hatte, seien schwerreiche Galeristen in Südtirol, und sie suchten eine Art Personal Trainer oder Mädchen für alles.
»Sie haben schon eine Hausangestellte, einen Privatsekretär und einen Koch, du musst also keine Böden wischen, Akten ablegen oder Gemüse schnippeln.« Ich hatte neben meinem Studium der Kunstgeschichte Zumba- und Yogastunden in einem Fitnessstudio gegeben und fragte mich, ob das als Qualifikation reichen würde, aber Marei ließ meine Zweifel nicht gelten, also schickte ich eine Bewerbung – und war innerhalb einer Woche engagiert.
Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Wohnen würde ich oben am Berg in diesem Traumhaus mit Pool und Koch, zu einem fürstlichen Honorar. Da Nikola und Sergej das Ganze auf ein Jahr begrenzt hatten, weil sie wohl wieder nach Sankt Petersburg zurückgehen wollten, passte es mir perfekt. Ein Jahr Auszeit, genau das, was ich brauchte, um mich zu sortieren und meine neu gewonnene Freiheit zu genießen. »Ich will mal ein Jahr keinen Stress!«, sagte ich zu Marei. »Keine Liebesverwicklungen, keine emotionalen Achterbahnfahrten. Sex allerdings gern. Und gern viel. Aber nur Sex!«
Marei lachte.
»Loulou, es ist nie nur Sex. Und wie ich dich kenne, hältst du das Rumspielen nicht lang durch. Da brauche ich keine Kristallkugel. Du verliebst dich wieder. Unsterblich und bis in die Knochen. Du kannst nicht nur Sex. So bist du eben. Und das ist ja auch schön so.«
Ich war ein bisschen beleidigt, als sie das sagte. Als wäre ich eine weltfremde Romantikerin, die direkt ihr Herz verschenkt, nur weil sie ein paar Orgasmen hatte. Marei wird schon sehen, wie viel Hetäre in mir steckt. Liebesstress kommt für mich nicht infrage, nicht in diesem Jahr, nicht mit mir. Ich will ein wildes Jahr. Auf der Alm, da gibts koa Sünd, also schau’n mer mal, wie es unterm Dirndl und in der Lederhose jodelt.
Eine Durchsage unterbricht meine Gedanken. Gries am Brenner. Von Berlin aus bin ich bis Innsbruck geflogen und habe dann den Bummelzug genommen. Bis Brixen dauert es noch etwa eine Stunde. Dort wird mich ein Fahrer abholen. Und die letzten zwanzig Minuten nehme ich eine Berggondel, verrückt: Zum Chalet hoch fährt eine Art Seilbahn, die noch aus der Zeit stammt, als dort oben ein Hof war und man damit Milchkannen rauf- und runtertransportierte. Man steht in großen Metallkörben, in denen nach wie vor auch Vorräte und Einkäufe befördert werden.
Außerdem gibt es natürlich eine normale Zufahrt, die habe ich auf den Fotos gesehen, aber sie wird wohl eher selten benutzt. Nichts soll oben die Ruhe der Berge und die Natur stören, keine Autos, keine Abgase. Sogar die Besucher der Ausstellungen müssen in den Korbgondeln hinaufschweben. Ich stelle es mir vor wie ein Zauberschloss.
Widerwillig schiebe ich das Abteilfenster hoch. Ich würde so gern die Landschaft draußen bewundern, aber ich sollte mich vorbereiten, immerhin haben meine Chefs mich noch nicht kennengelernt, und ich will nicht dumm dastehen und gar keine Ahnung von ihrem Geschäft haben. Ich habe mir einiges zusammengegoogelt und ausgedruckt. Die Galerie ist erst seit etwa einem Jahr dort oben und offenbar in der Kunstszene schon schwer angesagt. Besonders eine Ausstellungsreihe, die erst vor wenigen Monaten angefangen hat, wird immer wieder erwähnt. Ein unbekannter Künstler liefert in kurzen Abständen jeweils drei neue Gemälde. Niemand weiß, wer er ist oder wo er herkommt. Angeblich handelt es sich um einen Mann, so lautete ein bloßes Gerücht, dem aber nie widersprochen wurde. Die italienischen Zeitungen nennen ihn »La Nebbia«, den Nebel, weil er ganz urplötzlich aufgetaucht ist und seine Bilder so mysteriös sind. Eine Serie fand ich online und bekam direkt Gänsehaut: Diese Bilder sind ganz anders als das, was ich bisher in Ausstellungen gesehen habe. Sie sind klassisch, ja geradezu altmeisterlich gemalt, Öl auf Leinwand, und könnten auch aus dem sechzehnten Jahrhundert stammen.
Man sieht in der Dreierserie, die online zu finden ist, immer einen Ausschnitt aus einem dunklen Zimmer. Einmal mit einer brennenden Kerze, einmal mit einem umgeworfenen Hocker und einmal mit einer Türklinke, auf die ein Schlaglicht fällt. Hyperrealistisch. Keine Erklärung, keine Geschichte, keine Titel. Und trotzdem berühren mich diese Bilder auf eine merkwürdige Art. Die Gegenstände scheinen zu schweben wie in einem Traum. Die Atmosphäre ist bedrohlich, ohne dass ich sagen könnte, warum.
Ich bin gespannt, was dahintersteckt, und den Kunstsammlern geht es offenbar genauso, denn innerhalb kürzester Zeit hat dieser Maler, den noch nie jemand interviewt oder getroffen hat, Höchstpreise erzielt. Er stellt nur bei Nikola und Sergej aus, und sie schweigen darüber, woher sie ihn kennen.
Jedes Bild wird teurer verkauft als das vorige, was mich wundert, denn modern sind diese Arbeiten nicht. Die Kritik überschlägt sich vor Begeisterung, obwohl es gegenständliche Bilder sonst schwer haben und schnell kitschig oder epigonal genannt werden. Ich lese von Neo-Manierismus, beseelten Stillleben, Seelenräumen oder psychotischen Nachtgeburten, die sich im Profanen des Gegenständlichen manifestieren. Während meines Studiums bin ich mit dieser Sorte Kunst noch nicht in Berührung gekommen, aber Bilder und Kritiken faszinieren mich gleichermaßen. Ich hoffe, Nikola will nicht nur mit mir durch die Berge joggen und an ihrer Dirndl-Figur arbeiten, sondern setzt mich auch in der Galerie ein.
Es sind allerdings nicht alle begeistert. So überschwänglich die großen Feuilletons schreiben, so sehr ätzen die alpenländischen Kunstblogs.
»Wieder nur drei Bilder, und das für sechs Euro Eintritt«, schreibt Muse Moni. »Die Ausstellung deprimiert mich«, findet Coras World of Art. »Alles so schwarz, kaum Farbe, eher Tupfer. Der Künstler hat offenbar durchgehend schlechte Laune beim Malen.« Und KunstundKreatives empört sich: »Die Bilder versteh ich nicht, ärgerlich, bei Kunst will ich nicht denken, sondern sie einfach schön finden.«
Eine scheppernde Zugdurchsage unterbricht meine Lektüre und kündigt Brixen an, ich bin endlich da. Aufgeregt sammle ich meine Sachen zusammen, den Rollkoffer, zwei Taschen und einen Schlapphut. In meinem Kopf fühlt es sich an, als hätte jemand eine Dose Alpenkräuterlimo geschüttelt und geöffnet, alles sprudelt und prickelt.
Ich balanciere mit beiden Taschen jeweils über einer Schulter die Metallstufen hinunter und wuchte schnaufend den großen Koffer aus dem Zug. Um mich herum lachen und schwatzen Familien, die Gesichter voller Vorfreude auf den Urlaub oder einen Ausflug. Frauen in tief dekolletierten Dirndln gehen mit schnellen Schritten zum Ausgang, die Augen fest auf ihre Handys gerichtet, und gönnen der atemberaubenden Berglandschaft keinen Blick. Wahrscheinlich sieht man die gar nicht mehr, wenn man hier aufwächst. Plötzlich springt ein Verschluss meines Koffers auf, er ist einfach zu voll. Ein Windstoß weht mir den Strohhut vom Kopf, ich erwische ihn gerade noch und stelle eine der Taschen auf die Krempe. Dann kümmere ich mich um die Kofferschnalle, es wäre ja zu blöd, wenn sich der ganze Inhalt über den Bahnsteig verteilen würde: Bikinis, Unterwäsche, meine Vibratoren, die ich für einsame Nächte eingepackt habe. Am besten noch vor die Füße meines Kollegen, der mich abholen soll.
Aber das Schloss meines Koffers rastet anstandslos wieder ein, und außerdem bin ich nicht verklemmt. Ich lass mich nicht so leicht einschüchtern, ich nehme alles, wie es kommt, und stehe meine Frau. Ich atme tief durch, schultere meine Taschen, setze mir den Hut wieder auf und ziehe den Koffer hinter mir her zum Ausgang. Der Sommer meines Lebens beginnt, hoffentlich wird er heiß und feucht.
Wo sind die feschen Jungs und Mädels? Ich bin bereit!