Reiner Engelmann
Wie Niusia Horowitz dank Oskar Schindler
den Holocaust überlebte
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Erstmals als cbt Taschenbuch April 2022
© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Uwe-Michael Gutzschhahn
Umschlaggestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie, München
Umschlagmotive:
Niusia Horowitz-Karakulska: © Gosia Musielak;
Tor, Menschen: Wikimedia Commons (CC0 1.0)
Bildredaktion: Tanja Zielezniak
Karte S. 244 f: Sergej Raith
KH · Herstellung: IH
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-27324-8
V001
www.cbj-verlag.de
Für meine Enkelkinder
Paul, Lior, Leonid,
Milla, Henri und Ella
Ich gebe, trotz allem, den Glauben
an den Menschen nicht auf.
Aufgeben wäre der Sieg der Unmenschlichkeit.
Reiner Engelmann
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Prolog
Eine kurze Kindheit
Poldek
Flucht
Veränderungen
Beginn der antijüdischen Politik
Die Razzia
Ghetto Podgórze
Rückkehr nach Krakau
Aktion Reinhardt
Ghetto Bochnia
Die Hochzeit
Rückkehr der Kinder zu ihren Eltern
Poldek der »Maler«
Arbeitsalltag in Plaszów
Erschießungen
Kinderdeportation
Musik für den Lagerleiter
Deutsche Emaillewarenfabrik
Die Liste
Auschwitz
Groß-Rosen – Brünnlitz – Auschwitz – Mauthausen/Dachau
Arbeiten in Brünnlitz
Rettungsaktionen
Ein Geburtstagskuchen für Oskar Schindler
Endlich frei!
Ryszard und Dolek
Unterbrochene Kindheit
Epilog
Glossar
Verwendete Literatur
Bildnachweis
Danke
Ich lebte viereinhalb Jahre in ständiger Angst
und in der Ungewissheit,
ob ich den nächsten Tag noch erlebe.
Bronislawa (Niusia) Horowitz-Karakulska,
Überlebende von Schindlers Liste
Als Niusia Horowitz im September 1939 eingeschult werden sollte, begann der Krieg. All die Monate davor hatte sie sich gefreut, endlich lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Sie wollte mit Gleichaltrigen zusammen sein, Freundinnen finden, mit ihnen spielen und das machen, was Kinder in diesem Alter tun.
Der Krieg hat ihr diese Kindheit gestohlen und ihr dafür eine völlig andere beschert, die sie sich nie hätte vorstellen können. Als Kind sah sie Dinge, die kaum zu ertragen waren: Sie war sieben, als sie mit ihren Eltern aus Krakau fliehen musste. Verängstigte Menschen waren mit dem Notwendigsten unterwegs. Wenige Wochen später bei der Rückkehr in die Heimatstadt Krakau musste sie erleben, wie SS-Soldaten Menschen schlugen oder wahllos erschossen. Sie war neun, als Uniformierte in die Wohnung der Eltern eindrangen, die Einrichtung aus dem Fenster warfen und auch ihre geliebte Puppe nicht verschonten. Es folgte der Weg zum Ghetto mit den Toten auf den Straßen und Bürgersteigen; sie sah die hungernden und verhungernden Menschen im Ghetto; sie begegnete den wild um sich schießenden Soldaten, zuerst im Krakauer Ghetto, später dann auch in dem von Bochnia – und immer wieder den vielen Leichen. Sie war elf, als sie bei ihrer Ankunft im Konzentrationslager Plaszów mit ansah, wie ein junger Mann, den sie kannte, erhängt wurde. Sie hörte die täglichen Schüsse des Lagerleiters Amon Göth, wenn er vom Balkon seiner Villa aus wahllos Gefangene tötete, und sie erschrak, als einmal eine Frau neben ihr tot zusammenbrach. Sie wurde Augenzeugin unzähliger Hinrichtungen, die im Lager Plaszów ganz in der Nähe der Baracke stattfanden, in der sie arbeiten musste. Sie war zwölf, als sie nach Auschwitz kam, wo sie erneut bei Hinrichtungen zuschauen musste und bei dem letzten Weg vieler Menschen hin zu den Gaskammern.
Was passierte in dieser Zeit mit ihr?
Obwohl ihr die Flucht zu Beginn des Krieges noch wie ein Abenteuer erschien, spürte sie doch die Angst ihrer Eltern. Sie spürte diese Angst auch bei der Rückkehr nach Krakau; Entsetzen machte sich in ihr breit, als ihre Puppe aus dem Fenster geworfen wurde. Der Anblick der vielen Toten auf dem Weg zum Ghetto und die vielen Geschundenen und Toten im Ghetto selbst ließen sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie vermisste ihre Eltern, als die sie, zu ihrer Sicherheit, nach Bochnia schickten. Die ständige Angst in Plaszów und später in Auschwitz drängte sie immer dicht an die Seite ihrer Mutter. Sie musste begreifen, was »Selektion« bedeutet, weil sie selbst zweimal für den Tod ausgewählt wurde. An allen Orten lernte sie, was hungern hieß. In all ihren Kinderjahren hatte sie Angst, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben.
So sah, in wenigen Sätzen zusammengefasst, das Leben von Niusia Horowitz aus. Eines von vielen ungezählten anderen Kinderleben, die mit der Geschichte der Niusia Horowitz ein Gesicht bekommen sollen. Unzählige Kinder wurden gezielt in den verschiedenen Konzentrationslagern ermordet, starben an Hunger in den Ghettos oder konnten dieses Leben nicht mehr ertragen und begingen Selbstmord. Sie alle sollten nach dem Willen der Nazis vernichtet werden, damit keine neue Generation von Juden mehr heranwüchse.
Die systematische Ermordung der europäischen Juden ist zurückzuführen auf die Wannseekonferenz, bei der deutsche Regierungsmitglieder per Abstimmung beschlossen, elf Millionen europäische Juden zu ermorden. Die Nazis fühlten sich als Repräsentanten des deutschen Volkes, dessen Willen sie auszuführen glaubten. Dabei folgten sie aber mehr ihrer eigenen Ideologie. Sie maßten sich an, Herren über Leben und Tod zu sein.
Außer von wenigen Mutigen gab es keinen nennenswerten Widerstand dagegen.
Oskar Schindler und seine Frau Emilie waren zwei Menschen, die sich mit Zivilcourage gegen die herrschende politische Ideologie stellten und mehr als tausend Menschenleben retteten. Sie, aber genauso auch die Häftlinge Itzhak Stern, Mietek Pemper und Josef Horn, die ihnen zuarbeiteten und damit täglich ihr Leben riskierten. Schon eine kleine Unachtsamkeit hätte ihren Tod bedeutet. Wie schwer muss es diesen Männern gefallen sein, zu wissen, dass all jene, die sie nicht retten konnten, in den sicheren Tod deportiert wurden.
Wo sind die Oskar Schindlers von heute? Die mutigen Menschen, die sich gegen Regierungen und Gesetze stellen und Menschenleben retten? Sind es die wenigen Kapitäninnen und Kapitäne, die auf den Meeren Flüchtlinge retten und für ihren Einsatz vor Gericht gestellt werden? Sind es die immer noch viel zu wenigen Leute, die sich gegen die Abschiebung von Geflüchteten stellen, weil sie deutlich vor Augen haben, was diese Menschen in ihren Heimatländern erwartet? Sind es die Jugendlichen, die freitags auf die Straße gehen, um zumindest an diesem Tag öffentlich sichtbar zu machen, dass eine andere Zukunft zum Leben und Überleben notwendig ist? Sind es die, die sich in Menschenrechtsgruppen zusammenfinden und für die Einhaltung dieser Rechte streiten?
Ich denke, wir brauchen einen anderen Blick auf das Leben schlechthin. Einen, der, wenn nötig, im Sinne von Humanität auch Normen überschreitet und nur ein Ziel kennt: ein lebenswertes Leben für alle.
Ein Blick in die Vergangenheit kann den für die Gegenwart und Zukunft schärfen. Oskar Schindler und seine Frau Emilie sind ein Beispiel. Die Geschichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben, sind heute wichtiger denn je. Sie geben uns die Möglichkeit, noch einmal sehr differenziert zurückzuschauen. Wir können an ihrem Leid teilnehmen, doch sie wollen mehr: Indem sie uns diesen Teil ihres Lebens anvertrauen, möchten sie mit dazu beitragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Unsere Aufgabe ist es, das zu erkennen und entsprechend zu handeln.
Reiner Engelmann, April 2021
An der Rampe herrschte großes Gedränge. Hunderte Gefangene, getrennt nach Männern und Frauen, halfen sich gegenseitig, in die Waggons zu klettern. Für viele, besonders die Älteren, war es beschwerlich, denn die einzige Trittstufe war weit über dem Boden angebracht.
Sie würden das Lager verlassen. Lebend! Keine Selbstverständlichkeit angesichts der vielen, die entweder durch den Kommandanten von seinem Balkon aus erschossen oder auf seinen Befehl hin anderweitig ermordet wurden.
Auf die, die zurückbleiben mussten, wartete der sichere Tod. Entweder gleich hier im Lager oder in Auschwitz-Birkenau*. Niemand wusste es, aber alle ahnten, dass ihr Leben bald zu Ende sein würde.
Doch sie waren gerettet. Erleichterung war in den Gesichtern zu sehen. Ihre Namen standen auf der Liste, Schindlers Liste. Sie wurden aufgerufen, nicht mit ihrer Nummer, die sie an ihrer Häftlingskleidung trugen, sondern mit ihrem Vor- und Familiennamen, und sie durften mit dem Zug das Lager verlassen, hin zu dem rettenden Ort. Zu Schindlers Fabrik nach Brünnlitz*. Dort würden sie sicher sein. Auf das Wort von Oskar Schindler konnten sie sich verlassen.
Aber die Euphorie über ihre Rettung wich, als sie, dicht gedrängt, in den Waggons standen. Niemand konnte sich mehr bewegen. Einige hatten Angst, zu ersticken.
Unter den Geretteten waren auch Regina Horowitz und ihre Tochter Niusia. Vater Dawid, der von allen liebevoll Dolek genannt wurde, und der kleine Bruder Ryszard waren sicher in dem Waggon für die Männer.
In Brünnlitz sehen wir uns wieder! Mit diesem Satz beruhigte sich Regina, nachdem sie ihren Mann in dem Gedränge nicht gesehen hatte. Aber er stand ja wie sie auf der Liste.
Die Luft zum Atmen war dünn, selbst der Fahrtwind ließ, nachdem der Zug endlich losfuhr, nur wenig frische Luft durch die schmalen Ritzen der Seitenwände. Die Frauen wurden unruhig, beklagten sich über den Platzmangel, einige weinten, andere begannen zu schreien, zu schimpfen und zu fluchen.
Für Niusia war die Enge besonders schlimm, weil die Frauen um sie herum alle einen Kopf größer waren. Sie sah nur Schultern und Arme und die Luft dort unten war noch dünner. Wie lange würde sie das aushalten?
Doch es kam noch schlimmer, nicht nur für Niusia. In den Waggons gab es weder eine Toilette noch einen Eimer, auf dem die Frauen sich hätten erleichtern können. So mussten sie es dort tun, wo sie gerade standen. Und die ohnehin schon verbrauchte Luft reicherte sich mit dem beißenden Gestank von Urin und Kot an.
Einige Frauen sackten vor Schwäche zusammen, andere überkam eine Müdigkeit, und sie schliefen im Stehen, eingezwängt zwischen den andern.
Neben dem kaum zu ertragenden Gestank quälten sie Hunger und Durst. Niemand hatte ihnen für die Fahrt etwas mitgegeben. Doch sie waren froh, dass sie das Konzentrationslager Plaszów* hinter sich lassen konnten. An ihrem Zielort in Brünnlitz würden sie für sämtliche Unannehmlichkeiten entschädigt werden. Daran glaubten sie fest. Oskar Schindler würde für sie sorgen. Ihm hatten sie zu verdanken, dass sie mit diesem Zug das Grauen von Plaszów verlassen konnten.
In der Abenddämmerung des 21. Oktober 1944, nach vielen Stunden Fahrt, hielt der Zug endlich an. Erleichterung machte sich unter den Frauen breit. Ab sofort würde es ihnen jeden Tag besser gehen. Da waren sie sich sicher. Auch Niusia und ihre Mutter hatten diese Hoffnung. Sie waren gerettet. Es konnte nur noch eine Frage von Minuten sein, bis sie aus der Enge herauskamen und endlich frei atmen konnten.
Schließlich wurden die Waggons von außen geöffnet. SS-Mannschaften mit laut bellenden Schäferhunden empfingen sie. Langsam und unsicher stiegen die Frauen aus, sahen sich um. Überall Menschen, der ganze Bahnsteig voll, und dazu die SS-Männer* mit ihren Schäferhunden. Sah so Schindlers Versprechen aus?
Sie waren erschöpft von der Fahrt. Sie hatten Hunger. Sie hatten Durst. Sie fühlten sich schmutzig. Am Ende des Bahnsteigs entdeckten sie einen Kamin. Dichter Qualm stieg daraus auf. Und dann war da dieser unbekannte Geruch. Asche flog durch die Luft und schwebte wie schwarze Schneeflocken auf sie herab. Doch es war kein Schnee. Alle hatten Angst. Sie weinten, sie schrien. Sie wichen zurück in die Waggons.
Die Befehle der SS-Männer waren nicht zu überhören.
»Los! Los! Raus, ihr Schweine! Schneller! Schneller!«, wurden sie angebrüllt und von Kapos herausgezerrt.
Wo waren sie gelandet?
Sollte das der rettende Ort sein? Das große Versprechen? Der Ort, an dem sie sicher waren?
Nein, das hier war nicht Brünnlitz.
Das hier war Auschwitz!
Sie war lebhaft, sie war freundlich, sie lachte gern, sie war der Mittelpunkt der kleinen Familie.
Dawid (Dolek) und Regina Horowitz
»Du hast wunderschöne Haare«, freuten sich Dolek und Regina Horowitz, wenn sie ihre Tochter anschauten.
Im Geburtsregister war sie mit dem Vornamen »Bronislawa« eingetragen worden, doch schon bald nannte sie jeder nur noch Niusia.
Weil die Eltern tagsüber arbeiteten, hatte Niusia ein Kindermädchen: Antosia. Antosia war den ganzen Tag für sie da. Sie spielte mit ihr, machte mit ihr Spaziergänge in den Park, tröstete sie, wenn sie hingefallen oder traurig war, sang ihr Lieder vor und brachte sie mittags und abends ins Bett.
Niusia liebte ihr Bett mit dem Baldachin darüber. Sie fühlte sich dort geborgen, wenn sie Antosias Stimme hörte oder die Eltern ihr noch ein Schlaflied vorsangen oder eine Gute-Nacht-Geschichte erzählten.
Dass sie keine Spielsachen hatte, störte Niusia nicht. Sie kannte es nicht anders, also konnte sie auch nichts vermissen. Sie hatte ja ihre Antosia und abends und an den Wochenenden die Eltern.
Als sie sechs war, kam einmal ihr Onkel Jerzy zu Besuch, ein Bruder ihrer Mutter, und brachte ihr eine Puppe mit – eine Stoffpuppe, die eine rote Weste mit bunten Knöpfen und einen Rock mit Blumen trug. Niusia liebte die Puppe vom ersten Moment an.
Ihren Onkel sah sie aber vorerst zum letzten Mal, denn es war ein Abschiedsbesuch. Er ging nach Amerika, um dort sein Glück zu versuchen. Jerzy und seine Brüder Leopold und Hermann Rosner waren als Musiker weit über Krakau hinaus bekannt. Gemeinsam mit ihrem Vater Henryk traten sie in Lokalen, Hotels, Cafés und Bars auf und spielten dort neben Klezmermusik* vor allem Jazz, Swing und Tango, die in den 20er- und 30er-Jahren in Polen sehr beliebt waren.
Dass Jerzy seine Frau Rozia und seine Tochter Halinka nicht nach Amerika mitnahm, verstand Niusia nicht.
»Er wird im September, wenn du zur Schule gehst, wiederkommen und dann Halinka und Tante Rozia mit nach Amerika nehmen. Zuerst muss er mal sehen, ob er dort drüben genügend Geld verdienen kann und eine Wohnung für alle findet«, erklärte ihr der Vater.
Niusia auf einem Spaziergang
mit ihrer Mutter in Krakau
Niusia verstand es trotzdem nicht, doch die Puppe erinnerte sie immer an ihren Onkel, und als die Eltern ihr noch einen cremefarbenen Puppenwagen schenkten, war sie selig. So wie sie sich in ihrem Himmelbett wohlfühlte, so sollte es auch der Puppe in ihrem Puppenwagen gehen. Damit sie gut einschlafen konnte, schob sie die Puppe im Wagen durch den Flur, sang ihr Lieder vor, so wie sie es von Antosia und ihren Eltern kannte, und nahm sie auf allen Spaziergängen durch den Park mit. Niusia und ihre Puppe wurden unzertrennlich. Die Eltern und Antosia lächelten, wenn sie sahen, wie das Mädchen mit der Puppe spielte. Wenn Niusia sich beobachtet fühlte, war sie glücklich. Es gefiel ihr, wenn ihr die Eltern beim Spielen zuschauten.
So hätte es bleiben können. Für immer!
Dass sich in der Familie eine Veränderung anbahnte, bemerkte Niusia nicht. Der Bauch der Mutter wurde dicker, doch das Mädchen hatte keine Erklärung dafür.
Die Eltern sagten ihr zwar, dass sie bald ein Geschwisterchen bekommen würde, doch das brachte Niusia nicht mit dem dicker werdenden Bauch zusammen. Babys werden vom Storch gebracht, hatten die Eltern ihr immer erzählt.
An einem warmen Abend Anfang Mai durfte Niusia bei Antosia im Zimmer übernachten. Sie freute sich, denn das war etwas Neues für sie. Es wurde schon hell, als Antosia sie weckte.
»Der Klapperstorch war da! Mit dem Schnabel hat er gegen das Fenster geklopft und dir einen kleinen Bruder gebracht!«
Niusia wollte ihren kleinen Bruder natürlich sehen. Sie schlüpfte aus dem Bett, nahm Antosia bei der Hand und zog sie hinter sich her. Niusia war neugierig, was das für ein Bruder war, den der Storch in die Familie gebracht hatte.
Was sie zu sehen bekam, entsetzte sie. Da lag in den Armen der Mutter ein kleines, schrumpeliges Wesen mit schwarzen Haaren und einem Pickel auf der Nase.
Und was taten die Eltern? Sie hatten nur noch dieses Baby im Blick! Wie sie sich freuten! Entsetzlich!, fand Niusia. Sie verstand das nicht. Sie fand es ganz furchtbar, denn niemand kümmerte sich mehr um sie. Alles drehte sich nur noch um diesen kleinen Bruder! Das änderte sich auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht. Niusia war wütend, sie sehnte sich zurück nach der Zeit, als sie noch das einzige Kind in der Familie war. Selbst Antosia war von dem Wurm fasziniert und trug ihn auf dem Arm durch die Wohnung, wenn die Mutter Ruhe brauchte. Manchmal hätte Niusia den kleinen Bruder am liebsten aus dem Fenster geworfen, so böse war sie auf ihn. Er machte alles kaputt. Auf so einen Bruder konnte sie gut verzichten.
Aber im Laufe des Sommers wandten sich sowohl die Eltern als auch Antosia zum Glück auch wieder ihr zu.
»Du bist die große Schwester von dem kleinen Ryszard und wirst bald zur Schule gehen«, erklärten sie.
Niusia freute sich auf die Schule. Sie überlegte, wie das wohl sein würde, wenn sie sich morgens mit ihrem neuen Schulranzen und einem neuen Kleid auf den Weg machte, an dem neuen, unbekannten Ort Lesen, Schreiben und Rechnen lernte und Freundinnen fand, mit denen sie in den Pausen spielen konnte. In den tollsten Bildern malte sie sich das alles aus, und die Eltern freuten sich über ihre Tochter, wie sie sich auf die Schule vorbereitete.
Doch gleichzeitig betrachteten Dolek und Regina Horowitz auch die politische Entwicklung. Die Drohungen aus Deutschland waren nicht zu überhören. Würde es, wie sie befürchteten, zu einem Krieg kommen, wären sie gleich doppelt betroffen. Einmal, weil sie Polen waren, und zum andern, weil der Antisemitismus* nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in der Gesellschaft sowohl in Deutschland wie auch in Polen tief verwurzelt war.
»Wir werden das deutlich zu spüren bekommen«, meinte Dolek an einem Abend Mitte August und hatte dabei tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.
Noch bevor Niusia eingeschult wurde, begann der Krieg. Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen änderte sich nicht nur das Leben des Mädchens und ihrer Familie, über Millionen von Menschen brachte er Leid und Tod.
Leopold Rosner, von allen liebevoll Poldek genannt, freute sich auf seinen ersten Auftritt mit seinen beiden älteren Brüdern Jerzy und Hermann. Als Fünfzehnjähriger war er bereits ein sehr guter Pianist und auch den Kontrabass beherrschte er. Ein großes Lokal in Lodz hatte das Musikertrio eingeladen, einen Abend lang die Gäste mit der von ihnen präsentierten »etwas anderen« Musik zu unterhalten.
Diese »etwas andere« Musik, die von Amerika nach Europa herüberschwappte und die viele Barbesitzer, Klubbetreiber und Restaurantinhaber schätzten, waren der Jazz und der Swing. Diese Musik, so empfanden es Poldek und seine Brüder, aber auch immer mehr andere Menschen in Polen, war Ausdruck einer Sehnsucht nach Freiheit, Unabhängigkeit, Individualität. Sie unterschied sich grundsätzlich von der bislang vom politischen System erlaubten und daher weitverbreiteten Volksmusik.
Poldek war begeistert von der neuen Musikrichtung. Im großen Wohnzimmer der Familie übten alle aus der Familie die neuen Rhythmen.
Leopold (Poldek) Rosner, 18 Jahre
Nun stand er vor seinem ersten Auftritt. Er war nicht besonders aufgeregt, denn die Musik war, solange er zurückdenken konnte, immer ein fester Bestandteil in seinem Alltag gewesen. Er hatte das Glück, in eine Musikerfamilie hineingeboren zu sein. Sein Vater Henryk, ein von vielen Fachleuten geschätzter Geiger, war Autodidakt, hatte sich selbst nicht nur mit der Violine vertraut gemacht, sondern auch mit anderen Instrumenten, die er ebenso gerne spielte. Dazu gehörten Klavier, Akkordeon, Kontrabass und Trompete.
Mit der Musik verdiente die Familie Rosner ihren Lebensunterhalt. Das Geld, das sie einnahmen, reichte aber nur gerade so eben zum Leben.
Poldek hatte acht Geschwister und gemeinsam mit seinen Eltern bewohnten sie eine Dreizimmerwohnung in Krakau. Dort gab es eine große Küche, in der gekocht wurde und die ganze Familie zum Essen Platz fand. Darüber hinaus gab es ein großes Wohnzimmer, in dem das Klavier stand, aber auch alle anderen Instrumente. In einem dritten Zimmer waren die Betten untergebracht, die jedoch nicht für die Eltern und sämtliche Kinder reichten. Zwei Brüder zogen es vor, im Wohnzimmer zu schlafen. Einer von ihnen auf dem Klavier, der andere darunter.
Für ihren ersten Auftritt in der neuen Besetzung hatten die beiden Brüder, die schon viel Erfahrung durch die Konzerte mit ihrem Vater gemacht hatten, ein umfangreiches Programm zusammengestellt.
Poldek war stolz darauf, dass er endlich mitspielen durfte. Der Anzug, den auch schon seine älteren Brüder bei ihren ersten Auftritten getragen hatten, ließ ihn älter erscheinen. Er wollte beweisen, dass er mit seinen fünfzehn Jahren ein ebenbürtiger Musiker war.
Es gab aber noch einen weiteren Grund für ihn, stolz zu sein. Endlich konnte er Geld verdienen und damit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen.
Nach dem Erfolg des ersten Auftritts in Lodz wurde Poldek fest in die Band integriert. Die meiste Zeit ging er jetzt zusammen mit seinen beiden Brüdern auf Tour, die sie in viele große Städte Polens bis hin nach Warschau führte. Einmal bekamen sie in der Hauptstadt sogar ein Engagement für ein ganzes Jahr. Täglich spielten sie von 17 bis 19 Uhr in einem Café, ab 21 Uhr bis um 6 Uhr am nächsten Morgen traten sie in einer Bar auf. Der einzige freie Tag in dem Jahr war für die drei Musiker der Heilige Abend.
Genau so gerne spielte er aber auch zusammen mit seinem Vater in dessen Krakauer Salon Orkiestra.
Neben ihren Konzerten gab es in diesen Jahren auch zwei Verträge für Filmmusik. Die machten sie weiter bekannt.
Nach 1933 wurde die Musikszene in Polen neu beflügelt. Viele jüdische Musiker, die Angst vor Verfolgung oder gar vor einem Berufsverbot in Deutschland hatten, waren nach Polen ausgewandert und hatten sich mit ihrer Musik gut in die dortige Szene integriert. Sie spielten aber zudem Stücke, die sie aus Deutschland mitbrachten. Für die Rosner-Brüder war es eine Bereicherung, sich auch mit dieser Musik vertraut zu machen.
Die Zeit bis zum Sommer 1939 war für die Rosner’s Players, wie sie sich nannten, sehr erfolgreich.
Als am 1. September 1939 der Krieg begann und Polen binnen weniger Tage besetzt war, entschied sich die Familie Rosner, Krakau zu verlassen und aufs Land zu ziehen.
Die Jazz-Band »Rosner’s Players« bei einem Auftritt in Krakau, etwa 1935
Seinen letzten Auftritt während der ersten Kriegstage in einer Krakauer Bar sollte Poldek nie vergessen. Den ganzen Abend über hatte er die Gäste am Klavier unterhalten. Zu später Stunde trat ein SS-Mann in Uniform auf ihn zu und verlangte von ihm, die polnische Nationalhymne zu spielen.
Poldek schaute den Mann an, sah, dass er bewaffnet war, und brachte ängstlich hervor: »Die hab ich vergessen.« Grinsend ging der SS-Mann zu seinem Platz zurück. Poldek war sicher, dass der Soldat ihn erschossen hätte, wenn er seiner Anweisung gefolgt wäre.
Zu Beginn des Krieges war die Stimmung in der Bevölkerung sehr euphorisch.
»Wir haben eine starke Armee, wir werden die deutsche Wehrmacht in kurzer Zeit besiegen!«
Die Menschen glaubten fest daran, dass der Krieg schnell vorbei sein würde.
Während sich einerseits viele junge Männer zur Armee meldeten oder im Widerstand organisierten, verließen andererseits ganze Familien ihre Häuser und Wohnungen in Richtung Osten, um sich vor der deutschen Wehrmacht in Sicherheit zu bringen. Sie waren zwar von der Überlegenheit ihres polnischen Heers überzeugt, fürchteten sich aber vor den Angriffen auf ihre Stadt.
Auch Dolek und Regina Horowitz beschlossen, ihre Wohnung für einige Wochen zu verlassen, um in sicherer Entfernung das Ende des Krieges abzuwarten. Mit entscheidend für diesen Entschluss war die Tatsache, dass ihre Wohnung ganz in der Nähe eines Elektrizitätswerks lag, das bestimmt ein Ziel deutscher Luftangriffe sein würde.
Doch sie wollten weder Doleks Eltern noch seinen Bruder Edmund, dessen Frau Roma und ihre Tochter Halinka in der Stadt zurücklassen. Deshalb verabredeten sie, sich gemeinsam auf den Weg nach Osten zu machen.
Auch Reginas Eltern Henryk und Franciszka Rosner sowie ihre Geschwister, die noch zu Hause lebten, verließen die Stadt. Die hatten jedoch die Absicht, in der Nähe von Krakau zu bleiben und sich im Umland einen sicheren Ort zu suchen. In Tyniec glaubten sie, diesen Ort gefunden zu haben. Dort wurden sie von den Menschen freundlich aufgenommen.
Nachdem alles Notwendige für ihre Flucht zusammengepackt war und sie sich gerade auf den Weg machen wollten, kamen Regina und Dolek Zweifel, ob sie den kleinen Ryszard mitnehmen sollten. Konnten sie ihm die Strapazen der Flucht zumuten? Er war erst knapp fünf Monate alt.
»Wo werden wir nachts schlafen?«, fragte Regina ihren Mann. »Wo und wie können wir ihm sein Essen zubereiten?« Sie hatten noch keine Vorstellung, wie ihre Fluchtroute verlaufen und was sie unterwegs vorfinden würden. Sollten sie ihren Plan lieber aufgeben? Einfach in der Stadt bleiben und darauf hoffen, dass nichts passierte?
Viel Zeit zum Überlegen blieb ihnen nicht. Die deutsche Wehrmacht kam immer näher und Doleks Eltern drängten.
Die Lösung war Antosia, das Kindermädchen. Sie sprachen mit ihr und baten sie, Ryszard für die Zeit der Flucht zu sich zu nehmen. Auf Antosia konnten sie sich verlassen, bei ihr war der kleine Junge gut aufgehoben.
Antosia, ganz stolz über das Vertrauen, das die Familie ihr entgegenbrachte, willigte sofort ein und versprach, die Zeit bis zur Rückkehr mit dem kleinen Ryszard bei Verwandten auf dem Land zu verbringen.
Am Tag ihrer Flucht hätte Niusia eigentlich eingeschult werden sollen, doch daraus wurde nun nichts. Eltern, Opa Szachne und Oma Sara, Tante, Onkel und ihre Cousine Halinka machten sich auf den Weg Richtung Osten. Sie waren nicht die Einzigen, die ihre Heimatstadt verließen. Ganze Kolonnen von Frauen mit Kindern jeden Alters, alte Menschen, auch Männer mittleren Alters waren zu Fuß, mit Handkarren oder Pferdegespannen unterwegs.
Mit ihrem Gepäck und Niusia an der Hand kam die Familie nur langsam voran. Manchmal hatten sie Glück, dann konnten sie ihre Koffer auf eine Handkarre stellen, oder sie wurden mit einer Pferdekutsche ein Stück mitgenommen.
Müde von der Last, die sie mit sich führten, aber auch von den steinigen oder aufgeweichten Wegen, bewegte sich die Karawane nur schleppend vorwärts. Große Straßen zu nehmen, schien ihnen zu heikel. Sie könnten dort die polnischen Militärfahrzeuge, die in Richtung Westen unterwegs waren, behindern. Und die deutsche Wehrmacht war schon mit Panzern oder Lkws in Richtung Osten unterwegs. Das konnten sie aus sicherer Entfernung beobachten.
Nachts suchten sie Schutz in Scheunen und Ställen oder sie kampierten einfach auf einer Wiese am Wegrand.
Mit jedem Kilometer, den sie sich von zu Hause entfernten, wuchs, zumindest bei Regina Horowitz, die Sehnsucht nach ihrem Sohn. Sie wusste, dass er bei Antosia in guten Händen war, aber er war nicht bei ihr. Anfangs tröstete sie sich noch damit, dass es ja nur eine Trennung für kurze Zeit sei, doch die Tage und Nächte ohne ihren Sohn wurden ihr immer länger. Die Sehnsucht nach ihm löste schon körperliche Schmerzen aus. Ständig dachte sie an ihren Ryszard, sah ihn vor sich, wie er lachte, wie er die Hände ausstreckte und auf den Arm genommen werden wollte, wie er weinte oder strahlte oder die ersten Laute vor sich hin plapperte. Obwohl Regina von den langen Tageswanderungen müde war, fand sie nachts keinen Schlaf.
Niusia dagegen genoss trotz aller Beschwerlichkeiten, die die Flucht mit sich brachte, die Zeit. Sie hatte nicht nur die Eltern, sondern auch Oma und Opa, Onkel und Tante und ihre Cousine um sich, die sich mit ihr beschäftigten, mit ihr redeten, ihr Blumen und andere Pflanzen erklärten. Für Niusia war alles ein großes Abenteuer. Die ständige Anspannung der Erwachsenen spürte sie dennoch. Die Eltern waren nicht mehr so fröhlich wie früher. Auch Opa Szachne schaute sich oft sorgenvoll um.
Als sie Janów Lubelski, eine kleine Stadt im Osten Polens, erreichten, hielt es Regina Horowitz nicht mehr aus. Sie wollte zu ihrem Sohn, so schnell wie möglich.
Die endgültige Entscheidung, nach Krakau zurückzukehren, wurde ihnen aber praktisch abgenommen. Am 17. September marschierte die Rote Armee* von Osten her in Polen ein. Somit war dieser Landesteil für die Flüchtlinge nicht mehr sicher.
So hoffnungsvoll sie zu Beginn ihrer Flucht gewesen waren, so sehr beschlich sie nun auf dem Rückweg ein diffuses Gefühl der Angst. Unterwegs hatten sie erfahren, dass ihre Heimatstadt Krakau von den Deutschen besetzt sei. Doch was bedeutete das? Sollten die Schreckensnachrichten, die sich unter den Flüchtlingen verbreiteten, etwa stimmen, oder waren es nur Gerüchte? Wurde in ihrer Heimatstadt tatsächlich die jüdische Bevölkerung verfolgt, gedemütigt, ja sogar umgebracht?
Aber sie mussten weiter, zurück nach Krakau, mussten ihren Sohn Ryszard wieder zu sich holen. Und dann war da ja auch noch die Wohnung mit allem, was sie sich in den gemeinsamen Jahren angeschafft hatten. Dorthin wollten sie, dort, hofften sie, würden sie zumindest halbwegs sicher sein.
Ihr ganz großer Wunsch war jedoch, dass der Krieg bald zu Ende sein möge und sie ihr altes Leben fortsetzen könnten.
Etwas mehr als zwei Wochen waren seit ihrem schnellen Aufbruch vergangen, als sie wieder in ihrer Wohnung in Krakau standen. Nach vielen Hindernissen, die sie in der Stadt überwinden mussten, waren sie endlich angekommen. Hier war noch alles so, wie sie es verlassen hatten. Auch Antosia und Ryszard kehrten bald zurück.
Während die Familie Horowitz wieder in Krakau lebte, hatte Familie Rosner in dem nahe gelegenen Provinzort Tyniec zumindest vorläufig ein neues Zuhause gefunden. Ihre Musikinstrumente hatten sie mitgenommen. Die gehörten einfach zu ihrem Leben dazu. In Tyniec, aber auch in Dörfern der Umgebung gaben sie Vorstellungen. Die Menschen kamen zu ihnen und freuten sich über ihre Musik, gerade in dieser Zeit. Der Krieg trat für ein paar Stunden in den Hintergrund. Als Gage verlangten die Musiker kein Geld, dafür freuten sie sich über Kartoffeln oder Mehl.
Über viele Monate hinweg konnten sie auf dem Land fast unbehelligt leben und ihre Musik machen. Sowohl der Krieg als auch die Verfolgung der Juden machten sich in dieser Zeit dort noch kaum bemerkbar. Allein die Nachrichten aus Krakau machten ihnen Sorgen. Von Mord und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung hatten sie gehört, von Schändungen der Menschen und Plünderungen ihrer Wohnungen. Sie hatten nicht nur Angst um Regina und ihre Familie, sondern auch um die vielen Freunde.
Wie mag es den Menschen gehen? Diese Frage kreiste ständig in Poldeks Kopf. Bei seinem letzten Konzert in Krakau hatte er erlebt, wie ein SS-Mann ihn bedrohte. Sind diese Männer tatsächlich in der Lage, auf wehrlose Menschen zu schießen? Allein seine Angst bewahrte ihn davor, sich solche Szenen bildhaft vorzustellen.
Schon zu dem Zeitpunkt, als die Familie die Stadtgrenze von Krakau erreichte, merkte sie, dass es nicht mehr die Stadt war, die sie einige Wochen zuvor verlassen hatte. Die Häuser sahen immer noch so aus, wie sie sie kannten, allein die Straßen waren nicht mehr dieselben. Überall patrouillierten deutsche Soldaten, ihre Schritte waren weithin zu hören. Auch Militärlastwagen waren unterwegs, bewaffnete Soldaten standen auf den offenen Ladeflächen und schauten nach den Menschen, die auf den Bürgersteigen unterwegs waren. Jede falsche Bewegung, jede verdächtige Handlung wurde registriert. Und die Toten, die am Straßenrand lagen, waren Beweis, dass die SS-Männer von ihren Schusswaffen Gebrauch machten.