Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Bildungsketten
KAPITEL 1 - Aller Anfang braucht mehr als Zeit
Die Zielgröße: Reichen Kitas für jedes dritte Kind unter drei Jahren?
Die Umsetzung: Schafft man den Ausbau in fünf Jahren?
Die Qualitätssicherung: Was macht den Wert guter Kindertagesstätten aus?
Die Kosten: Können und wollen sich Eltern Kindertagesstätten leisten?
Angebot oder Pflicht: Müssen Eltern ihre Kinder außerhäuslich betreuen lassen?
Geld und Infrastruktur: Stehen Eltern, die Krippen nicht nutzen, Ersatzleistungen zu?
KAPITEL 2 - Die Macht der Integration
Was Kindergärten leisten können
Die Finanzierung: Wie viel sind uns gute Kindergärten wert?
Die Qualität: Wie sind die Kindergärten ausgestattet?
Die Arbeitsbedingungen: Ist die Arbeit in einem Kindergarten attraktiv?
Die Versorgungsquote:Wie werden die Kindergärten genutzt?
»Sesam, öffne dich«
Was bringt unseren Kindern eine frühkindliche Bildung?
Führt frühkindliche Bildung zu einer höheren Chancengleichheit?
Setzen wir die finanziellen Mittel für die Bildung unserer Kinder effektiv ein?
KAPITEL 3 - Zurück auf die Plätze
Eine Schultüte voller Probleme
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr
Horch, was kommt von draußen rein …
Aus Ungleichheit wird Ungerechtigkeit
KAPITEL 4 - Die Abschottung sozialer Kreise
Die Jugend unserer Jugend
Die Lehrer unserer Kinder
Des Kaisers neue Kleider
Gewinner und Verlierer
KAPITEL 5 - Alex im Glück
KAPITEL 6 - Erkan geht in die Lehre
KAPITEL 7 - Laura sucht ihren Weg
KAPITEL 8 - Jenny trägt die rote Laterne
Wie wir das Bildungssystem verändern müssen
KAPITEL 9 - Gemeinsam Fahrt aufnehmen
Die unterschiedlichen Logiken der Bildungs-und Sozialpolitik
Bildungs- und Sozialpolitik nähern sich an, eine Koordination ist dringend nötig
Die Anforderung an den Sozialstaat werden immer größer
Bildung gewinnt zunehmend an Bedeutung
Der Sozialstaat braucht zwei Beine
KAPITEL 10 - Länger gemeinsam lernen
Bildung! Bildung! Bildung!Doch wie messen wir diese?
Bildung ist Menschenrecht. Um wie viel Bildung geht es?
Auf die Plätze, fertig, los! Wie steht es um die Chancengleichheit?
Willkommen in der Fremde. Mobilität für unsere Kinder
Die Ungleichheit in den Bildungsergebnissen ist in Deutschland besonders hoch
Die Bildungsarmut ist in Deutschland besonders hoch
Deutschland lässt seine Potenziale links liegen
KAPITEL 11 - Demokratie wagen
Alex ist kein Pflichterfüller.»Er wurde zum wertvollen Mitglied der Schülerschaft und übernahm eine führende Rolle in der Organisation von Veranstaltungen.«
Finnland stellt um:»Es dauerte fast ein ganzes Jahr, bis ich verstanden hatte, dass nicht die Schüler für mich, sondern ich für die Schüler da bin.«
Vielfalt wollen: Schlüsselkompetenzen und Leitwerte in unserem Bildungssystem vermitteln
Demokratie wagen:»Wir brauchen eine menschenrechtlich fundierte Durchdringung der ganzen Schule.«
KAPITEL 12 - Einer für alle – alle für einen
Kleinstaaterei verhindert die Bildungsrepublik
Die föderale Struktur bremst Innovationsdynamiken
Der moderne Wohlfahrtsstaat braucht eine gesamtstaatliche Bildungsplanung
Der deutsche Bildungsföderalismus verstößt gegen das Gebot gleichwertiger Lebensverhältnisse
Was zu tun ist
Unsere Schulaufgaben
1. Wissen ist nicht alles: Fertigkeiten und Fähigkeiten entfalten
2. Von Vielfalt profitieren: Länger miteinander lernen dürfen
3. Schneller ist nicht besser:Mehr Zeit zum Lernen
4. Eine Bildungsrepublik braucht Kreativität: Mehr Autonomie für unsere Schulen
5. Zum Wohle unserer Jugend:Mehr Geld für die Bildung
6. Gemeinsam sind wir stark:Alle Akteure miteinander vernetzen
Anmerkungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Unsere Schulaufgaben
Literatur
Dank

Dank

Ich danke den vier Jungen und Mädchen, die mir jedes Kapitel vorgelebt haben und mich dabei oft fassungslos machten. Alex, Erkan, Jenny und Laura sind wunderbare Kinder. Wir werden uns nicht verlieren.

Meine klugen, kraftvollen und kreativen Mitarbeiterinnen in München, Nürnberg und Berlin haben mir ermöglicht, die Lebensverläufe der vier Kinder aus großer Nähe zu verfolgen. Almuth Kleinert, Ingrid Guber und Miriam Godefroid im Besonderen stehen für meine Vereinbarkeit von Beruf und Familie über die letzten zwanzig Berufsjahre.

Die sichere, nervenstarke und zuverlässig zaubernde Arbeit meiner Lektorin Jana Schrewe macht das Buch rund und lesbar. Es tut gut, sie auch als Gedankenschärferin um mich zu haben. Meine studentische Hilfskraft Julia Haarbrücker arbeitet nachts. Und so begrüßten mich jeden Morgen neue Berge von Büchern und Materialien. Wenn aus diesem biografischen Sachbuch ein gesättigtes Fachbuch entstehen sollte, sie kann es schreiben. Gezogen haben Rebekka Göpfert und Karen Guddas. Rebekka Göpfert hat ein »Bildungsbuch« schon seit vielen Jahren im Kopf, hat mich getriezt und nicht locker gelassen. Karen Guddas, die Lektorin des Verlags, hat mich mit Geduld, Wissen und Beharrlichkeit in den letzten Monaten sehr unterstützt.

Ohne die blitzende Hilfe von Stephan Leibfried und Paul Stoop würde den Zeilen viel fehlen. Ich danke auch ihnen sehr.

Am WZB arbeiten ganz wunderbare Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie machen mein Arbeitsleben zu einem täglichen inhaltlichen und menschlichen Vergnügen. Ich danke insbesondere den Mitgliedern meiner Lesegruppe, Tina Baier, Benjamin Edelstein, Christian Ebner, Lena Hipp und Lena Ulbricht, die zeigen, was starke Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausmacht. Und belegen, dass die Zusammenarbeit uns alle stärkt. Ein Lob auf die Vielfalt, auch hier. Keine der vielen Anregungen und Kommentare hat sich gedoppelt. Das macht Arbeit und bringt Fortschritt.

Dieses Buch wäre ohne die vielen Gespräche mit den Eltern der Kinder, ihren Lehrerinnen und Lehrern, mit Sonderpädagogen und Freunden nicht zustande gekommen. Mein großer Dank und meine Hochachtung gilt ihnen allen.

Die Musik meiner Freunde, die Geduld meiner Familie und die Unterstützung von Konrad, Elisabeth und Christa haben mir immer wieder gezeigt, dass das Leben mehr als Arbeit ist. Staunen, Lachen und spleenige Ideen verdanke ich Philipp, der mittlerweile auch ein junger Mann geworden ist.

Mein großer Dank gilt allen.

 

Berlin, im August 2012

Jutta Allmendinger

Unsere Schulaufgaben

Im Sommer 2012 traf ich Alex, Erkan, Laura und Jenny wieder. Jeden allein, denn sie haben nichts mehr miteinander zu tun. Sie begegnen sich selten, und wenn, dann zufällig und nur kurz. Ihre Wege kreuzen sich kaum noch. Als ich ihnen einzeln gegenübersitze oder mit ihnen durch die Straßen der norddeutschen Stadt gehe, frage ich mich: Hätte ich mir vor fünfzehn, zehn oder fünf Jahren vorstellen können, wie sich die vier entwickeln würden? Hatte ich damals Frauen und Männer vor meinem inneren Auge, die den jungen Menschen gleichen, die jetzt neben mir hergehen?

Natürlich waren diese Lebensverläufe in gewisser Weise vorhersehbar. Ich kannte die Statistiken und die Wahrscheinlichkeiten. Gleichzeitig hatte ich naiv darauf vertraut, dass diese Prognosen bei den vieren nicht zutreffen, dass sie die Ausnahmen von der Regel sein würden. Sie sind ja im Laufe der Zeit gewissermaßen auch meine Kinder geworden. Ich kenne sie, begleite sie, weiß um ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten. Doch ich hatte mir bei allen vieren ein falsches Bild von ihrer Zukunft gemacht.

 

Aus Alex ist ein junger Mann geworden, der sicher auf beiden Beinen steht. Er blickt voller Selbstvertrauen und Gewissheit in die Zukunft. Demnächst wird er sein Abitur ablegen. Mich interessieren seine Pläne: »Weißt du schon, wie es dann weitergeht?« Alex lacht und kommt ins Erzählen: »Ich will Forscher werden, Neuroscience. Aber ich habe Chemie nicht als Leistungsfach, nur Biologie. Jetzt muss ich erst den Bachelor machen, in Biologie oder Psychologie. Medizin ginge auch. Gerade schreibe ich meine Bewerbungen. Willst du mal sehen?« Er zieht Prospekte aus seiner Tasche: Cambridge, Bath, University College London, alles markiert, auch Berlin. »Ich war gerade an der Charité und habe mit einigen Wissenschaftlern vom Fach gesprochen.« Ich bin platt. Er redet, als stünde ihm die Welt weit offen und als wisse er das auch ganz genau.

Niemals hätte ich das gedacht. Ohne den Schutz seines Elternhauses und der Lehrer wäre er im Alter von zehn Jahren nicht auf ein Gymnasium gekommen. Und falls doch, hätte er sich bis zum Abitur gequält oder die Schule vorher geschmissen. Er brauchte seine Zeit. Erst als Sechzehnjähriger wurde Alex zum Selbstläufer. Auf einer Schule im Ausland, die zunächst Geschwindigkeit und Druck herausnahm, ihn erst einmal kennenlernte. Die ihm auch andere Lernformen anbot und ihn mit einer ganz anderen Pädagogik unterrichtete. Alex traf auf viele helfende Hände. Jetzt arbeitet er von sich aus und leistet viel. Seine Beurteilung hat er sich verdient. Doch ohne Hilfe von Eltern und Schule hätte er nie die Möglichkeit gehabt, diese Fähigkeiten an sich zu entdecken.

 

Als ich Erkan treffe, sprudelt er über vor Glück. Er erzählt von seiner wunderbaren Freundin, die er mir auch gleich vorstellt. Die beiden wollen heiraten und wünschen sich bald Kinder. Erkans Eltern sind stolz auf ihren Jungen. Nach einiger Zeit und vielen Tassen Tee frage ich ihn nach seiner Lehre. »Ach, weißt du, die Lehre läuft eigentlich ganz gut. Sie macht mich nur nicht mehr so richtig an. Nächstes Jahr bin ich fertig«, antwortet er nüchtern und etwas distanziert. Aus dem kleinen lernbegierigen Tüftler ist ein junger Mann geworden, den Wissen nicht mehr so interessiert. Das überrascht mich. Sicher, Erkan zählt zu jenen jungen Leuten, die trotz einer eher ungünstigen Ausgangslage ihr Leben meistern. Seine Eltern sind finanziell nicht besonders gut gestellt, beide haben eine niedrige Bildung und keine Ausbildung, so wie viele Eltern von Migrantenkindern. Erkan hat die mittlere Reife bestanden und eine gute Lehrstelle gefunden. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit, würde man bei ihm sagen. Das schaffen nicht viele. Erkan wusste früh, was er will. Das Abitur, ein Studium, Reisen, raus aus der Stadt. Ich war mir sicher, dass ihm das gelingen wird. Wäre er in einem Elternhaus wie dem von Alex aufgewachsen, hätte er diese Pläne auch verwirklichen können, und zwar problemlos – ganz ohne ermutigende Schubser.

 

Mit Jenny zu reden fiel mir in diesem Sommer schwer. Sie erzählt von ihrem Vater, den sie erst vor Kurzem kennengelernt hat, von dessen Leben und Familie, und wie anders das alles sei: Ihre Halbgeschwister würden reiten, seien gut in der Schule, und alle wohnten in einem schönen Haus mit Garten. »Mein Vater schreibt immer auf Facebook, wie toll seine Kinder sind. Jedes Zeugnis stellt er ins Netz. Er freut sich riesig.« Voller Unverständnis berichtet sie, wie wenig ihr Vater sie verstehe: »Er will, dass ich täglich zwanzig Bewerbungen schreibe. Er findet mich zu lasch, er meint, mir fehlt der Antrieb. Über meine Mutter redet er nicht, aber ich weiß, er denkt, sie ist einfach nur faul, eine Sozialschmarotzerin eben. Er hat ja keine Ahnung, was bei uns los ist und wie es uns geht. Wir würden doch auch gerne arbeiten und anders leben. Aber meine Mutter hat doch keine Chance. Sie war so lange draußen.« Nach vielen Jahren prallen die Welten von Tochter und Vater aufeinander. Große Emotionen, Hoffnungen und Enttäuschungen auf beiden Seiten. Jenny versteht nicht, wie leistungsorientierte Menschen denken und handeln. Ihr Vater sieht eine Tochter, die nichts aus sich macht: »Wenn Jenny bei mir aufgewachsen wäre, würde sie heute studieren«, sagt er. »Die ist nicht dümmer als meine anderen Kinder.« Und er fügt hinzu: »Dass ich so was mal sage, hätte ich auch nicht gedacht.« Ich sitze Jenny gegenüber, meine Hände sind leer. Mädchen, denke ich, das ist verdammt bitter. Wir alle haben an kritischen Stellen viel zu lange weggeschaut. Das Ganze war absehbar, und trotzdem haben wir nicht rechtzeitig geholfen.

Ich weiß aber auch: Mit großer Anstrengung, mit viel Hilfe, Anerkennung, Mut und Vertrauen, kann es jetzt noch klappen.1

 

Laura besucht mich mit ihren Eltern. Sie ist äußerlich das Gegenstück zu Jenny. Keine auffallenden Piercings im Ohr, keine Tattoos an den Armen, keine flippige Kleidung. Laura ist blond, hellhäutig, fast blass und schaut mich mit offenem Gesicht freundlich an. Sie ist eine auffallend schöne junge Frau. Sie besucht in der Berufsschule einen Schnupperkurs. »Gehst du gern in deine Schule?«, frage ich. »Ja, da ist es schön. Ich mag die Lehrer, und alle sind nett.« Die Sätze kommen langsam. Die Eltern schauen sich gerührt an. Es ist selten, dass Laura über sich spricht. Man weiß oft nicht, was ihr gefällt und was nicht. Was sie will, kann sie nicht formulieren. »Und nach dem Schnupperkurs? Willst du in der Hauswirtschaft bleiben?« , frage ich. Der Vater antwortet: »Wir suchen eine Ausbildungsstelle.« »Ja«, fügt Laura hinzu. Dann spricht man über dieses und jenes. Ich erfahre nicht, was eigentlich Sache ist. Die Eltern wollen nicht reden. Und wissen es selbst noch nicht. Über die Zeit sind ihnen wie ihrer Tochter auch viele Kontakte verloren gegangen. Wie immer, wenn ich Laura und ihre Eltern treffe, wird mir in aller Deutlichkeit bewusst, dass wir auf Menschen mit Benachteiligungen und auf ihre Familien zugehen und sie in die Mitte der Gesellschaft holen müssen.

 

Die Biografien der vier Jugendlichen zeigen, wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden. Die Geschichte von Alex unterstreicht, dass Kinder Zeit und Vertrauen brauchen. Nicht alle rennen gleich von allein und schnell los. Unser Schulsystem muss also Zeit geben, darf Kinder nicht zu früh trennen, braucht eine angemessene Pädagogik. Die Leistungen von Alex kamen erst, als man ihn selbstständig lernen ließ. In Projekten, in Gruppen und mit Lehrern, die er fragte, wenn er nicht weiterwusste.

Die Geschichte von Erkan führt aus anderen Gründen zur gleichen Erkenntnis. Erkan rannte selbst los, hatte aber eine Sprache und einen familiären Hintergrund, die ihn ausbremsten. Die Lehrer waren sich unsicher, die Eltern wussten nicht recht. Die Schule muss Kinder länger zusammen lernen lassen. Vielfalt wollen und unterstützen. Und sich selbst bei der Beurteilung mehr Zeit geben.

Jenny lehrt, dass wir Übergänge im Blick behalten müssen. Der Kindergarten half ihr, doch dann kam sie zurück in ihren Stadtteil. Von da an zählten nur noch ihre Clique und deren Anerkennung. Wir brauchen Bildungsketten: Schulen, Jugendämter, Jugendzentren und Jobcenter müssen viel enger zusammenarbeiten, Warnsignale früh erkennen und rechtzeitig reagieren. Alex und Erkan hätten Jenny wunderbar helfen können, sie einbezogen und mitgenommen, wenn sie gemeinsam in einer Schule gelernt hätten und nicht in unterschiedliche Stadtteile und Schulformen gebracht worden wären.

Laura führt ein Leben am Rande. So hart es klingt: Sie hatte trotzdem Glück. Über viele Jahre musste ich beobachten, wie sehr das Leben von Menschen mit Einschränkungen am seidenen Faden des Zufalls hängt. Lauras Eltern haben sich um ihr Kind gekümmert. Das tun die meisten Eltern. Aber Lauras Eltern taten noch mehr: Sie haben sich durchgesetzt, Hilfen erstritten und Lauras Gesundheitszustand dadurch wesentlich verbessert. Das tun nicht alle Eltern. Es können auch nicht alle. Letztlich führten die kleinen Einschränkungen von Laura aber dazu, dass die ganze Familie sich laufend durchsetzen musste, dass sie ihre Netzwerke und Freunde verlor und selbst etwas ins Abseits rückte. Der Umbau unserer Schulen zur besseren Integration von Kindern mit Einschränkungen ist dringend nötig. Die Vorarbeiten dazu laufen, bislang jedoch nur schleppend.2

Sechs Schulaufgaben lassen sich formulieren, die wir gemeinsam zum Wohle unserer Kinder lösen müssen.3

1. Wissen ist nicht alles: Fertigkeiten und Fähigkeiten entfalten

»Non scholae, sed vitae discimus«, heißt es immer wieder. Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir. Dabei hatte Seneca den Satz im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung anders formuliert. »Non vitae, sed scholae discimus«, schrieb er. Nicht fürs Leben, für die Schule lernen wir. Eine deutliche Kritik an der Schule schon damals. Wir dürfen und müssen heute für ein langes Leben lernen. Das tun wir in der Schule, jedoch nicht nur dort. Auch die Familie, der Freundeskreis, die Sportvereine, die Jugendgruppen und die Medien sind wichtige Orte. Auf keinen Fall darf es dabei eine zu scharfe Arbeitsteilung geben nach dem Motto: Die Schule ist für die kognitiven Kompetenzen zuständig, alle außerschulischen Lernorte übernehmen den großen Rest.4 Leitwerte und Schlüsselkompetenzen kann man auch lehren und erlernen. In der Schule brauchen sie einen herausragenden Platz.

Wir müssen die Unterrichtsformen ändern. Demokratie lehren und lernen, Werte, kulturelle und soziale Kompetenzen vermitteln und die Bereitschaft schulen, Verantwortung zu übernehmen. Unterrichtsinhalte dürfen wir nicht zu früh verengen. Über ein langes Leben hinweg müssen wir immer wieder auf ihnen aufbauen können. Wir müssen auch, aber nicht nur, bei der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern ansetzen. Es bedarf großen Könnens, aus Vielfalt großen Nutzen für alle zu ziehen. Es lohnt sich.

2. Von Vielfalt profitieren: Länger miteinander lernen dürfen

Nach Hunderten von Jahren läuft die »Pädagogik der Vielfalt« in Deutschland noch immer ins Leere. »In heterogenen Gruppen erfolgreich miteinander umgehen und miteinander handeln können«, so lautet eine von drei Schlüsselkompetenzen, die der OECD wichtig sind. Learning by doing, Lernen durch Handeln, heißt ein zentraler Grundsatz der Pädagogik. Wie soll das in einem gegliederten System geschehen, das auf Homogenität setzt? Wie sollen dort alle Schülerinnen und Schüler lernen, Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Gruppen anerkennend und respektvoll zu begegnen? Wie sollen die Lehrerinnen und Lehrer ohne entsprechende Ausbildung diese Schlüsselkompetenzen vermitteln? Und wie sollen an den Rand sortierte Gruppen die gesellschaftlichen Einstiegsleitern finden, wenn man sie so früh organisatorisch trennt?

Den Umgang mit Vielfalt nicht erlernen zu können und das Menschenrecht auf inklusives Lernen zu verweigern, das sind die zentralen Probleme unseres Schulsystems. Weitere kommen hinzu und sind aufs Engste damit verbunden: Die starke Prägung der Bildungschancen durch das Elternhaus führt zu Chancenungleichheit. Der fehlende Ausgleich für diese Benachteiligungen und unterschiedliche Entwicklungsmilieus verstärken die Unterschiede in den Leistungen weiter.

Unser Schulsystem lässt zu viele zurück und schafft einen hohen Sockel von Bildungsarmen. Wir nutzen nicht unsere Potenziale. Und wir vernachlässigen sogar die Exzellenz.

Wir müssen also Strukturen verändern. Wir müssen die Kinder länger gemeinsam lernen lassen, mindestens bis zum Alter von vierzehn, besser bis zum Alter von sechzehn Jahren, wie es in vielen Ländern bereits erfolgreich praktiziert wird. Wir werden dadurch niemanden verlieren, aber viele gewinnen. Und unsere Potenziale heben. Das heißt auch: Wir müssen die Systemfrage nochmals stellen.

3. Schneller ist nicht besser:Mehr Zeit zum Lernen

Meine Großmutter wurde 1900 geboren, meine Mutter 1930 und meine Schwester 1960. Die Lebenserwartung der Generation meiner Großmutter betrug 53 Jahre, die der Generation meiner Mutter 72 Jahre, meine Schwester kann auf 81 Jahre hoffen. Angesichts unserer steigenden Lebenserwartung bei guter Gesundheit verkürzen wir den Anteil von Bildung an unserem Leben stetig. Alle Frauen beendeten die Schule mit neunzehn Jahren. Die Zeit für Bildung gemessen an der Lebenserwartung ging im Laufe der Jahre immer weiter von 25 Prozent auf 18 Prozent und schließlich auf 16 Prozent zurück. Würde meine Enkelin 2020 geboren, so läge aus heutiger Sicht der Anteil ihrer Bildungszeit an ihrer Lebensspanne noch viel niedriger. Obgleich die Menschen immer älter werden, haben wir die Gymnasialzeit um ein Jahr verringert, die Studiendauer durch die Bachelor- und Masterstudiengänge verkürzt. Insgesamt wird die Zeit für Bildung im Leben also weiter sinken. Kitas, Kindergärten und Ganztagsschulen fangen den Verlust nicht auf. Weiterbildung wird nur schleppend ausgebaut. Über Umschulungen im positiven Wortsinn wird viel zu wenig nachgedacht. Innovation kann nicht mehr über den Austausch der Köpfe erfolgen, davon haben wir zu wenige. Wir gehen den falschen Weg.

Stattdessen müssen wir Kindern, Eltern und Lehrern mehr Bildungszeit geben. Wir brauchen rascher als geplant mehr und qualitativ gute Kinderhorte, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen. Das G8 für alle Gymnasiasten ist nicht zielführend. Wir brauchen eine Zweit- und Drittausbildung. Wir brauchen die Jahre im Ausland, die aufgrund von G8 zurückgehen. Um Bildung überhaupt in Erwerbsarbeit übersetzen zu können, brauchen wir auch den Mut, unsere Erwerbsverläufe zu unterbrechen und langsamer zu treten. Eine geringere Arbeitszeit heute erhöht die insgesamt möglichen Jahre in Erwerbsarbeit. Man kann auf die eigene Gesundheit besser achten und die eigenen Qualifikationen weiterentwickeln. Nicht umsonst ist Nachhaltigkeit und ein schonender Umgang mit Ressourcen eines der vordringlichen Ziele guter finnischer Bildungsarbeit.

4. Eine Bildungsrepublik braucht Kreativität: Mehr Autonomie für unsere Schulen

Im letzten Jahr durfte ich mit einer Delegation der nordrheinwestfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nach Kanada reisen, um das dortige Schulsystem von innen kennenzulernen. Kanada, ein föderaler Staat, hat ein sehr leistungsfähiges Bildungssystem aufgebaut. Uns allen fiel sofort auf, wie gut vernetzt jede Schule ist, wie sehr man darauf achtet, dass das Umfeld stimmt. Auffällig war auch, wie entgegenkommend sich die Schulen gegenüber ihren Schülern zeigen. Jede Schule arbeitet nach einem eigenen Plan, der passgenau auf die soziale und regionale Situation der Schülerinnen und Schüler abgestimmt ist. Zum Plan gehört auch, welche Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter, Mentoren und ehrenamtlichen Helfer ausgewählt werden. Er legt fest, welches Unterrichtsmaterial verwendet wird, wie die Unterrichtsstunden zugeschnitten sind, wie lange der Unterricht dauert, und beschreibt die Ferienangebote, die Elternarbeit und die Schularchitektur. Die Schulen sind für die Schüler da, das ist hier das höchste Prinzip. Viele dieser Gestaltungsmöglichkeiten nutzen auch deutsche Schulen bereits. Dieses Bewusstsein müssen wir in die Fläche tragen und weiter stärken.

Wir müssen uns also darüber verständigen, was Schülerinnen und Schüler können sollten. Wir brauchen Rahmenpläne, Maßstäbe oder Standards, ganz gleich wie wir das Ergebnis nennen. Sind diese gemeinsamen Richtlinien gefunden, brauchen Schulen aber die Freiheit, Lehrerinnen und Lehrer selbst auszuwählen, Materialien und Unterrichtsformen selbst zu bestimmen. Je nach Standort benötigen die Schulen unterschiedlich viel Geld. Eine Brennpunktschule etwa muss viel stärker und intensiver mit den Schülerinnen und Schülern arbeiten als eine Schule in einem Stadtteil, wo sich eben auch die Eltern kümmern können. Autonomie ist eine große Herausforderung. Die Schulleiterinnen und Schulleiter müssen entsprechend ausgebildet sein. Wir brauchen hier richtige Organisationstalente, deren erster Blick den Schülerinnen und Schülern gilt. Auch das kann man lernen.

5. Zum Wohle unserer Jugend:Mehr Geld für die Bildung

Geld allein macht noch kein gutes Bildungssystem aus und sorgt nicht für gute Bildungsergebnisse. Das zeigen einfache Vergleiche: Im OECD-Durchschnitt liegen die Ausgaben pro Schüler im Primar- bis zum Tertiärbereich bei 9900 US-Dollar. 5 Finnland investiert durchschnittlich 9500, Deutschland 9100 US-Dollar. Beide Länder geben also weniger aus als andere. Der Abstand zwischen ihnen ist gering und erklärt sicher nicht die unterschiedlichen Bildungsergebnisse. Schaut man sich die Zahlen jedoch genauer an, wird deutlich, dass sich Deutschland vor allem in den frühen Schuljahren stark zurückhält, wo für die Kinder ein kompensatorisches Lernen am nötigsten ist. Sind die Kinder dann auf die verschiedenen Schulformen verteilt, investiert unser Schulsystem mehr. Konkret: In den Primarschulen und in der Sekundarstufe I gibt Deutschland weniger als Finnland pro Schüler aus. Der Unterschied liegt bei 1200 beziehungsweise 3500 US-Dollar zugunsten der finnischen Schüler. In der Sekundarstufe II gibt Deutschland wesentlich mehr als Finnland aus: Der Unterschied liegt bei 3100 US-Dollar zugunsten der deutschen Schülerinnen und Schüler.6 Sicher, in die Kosten fließen auch die jeweiligen Lehrergehälter mit ein, doch das ist Ausdruck einer Bildungspolitik, die historisch gewachsen ist, aber nicht mehr dem heutigen Erkenntnisstand entspricht.

Ein weiterer Punkt ist mir wichtig: die Verteilung finanzieller Mittel über und innerhalb der Bundesländer. Finanzschwache Bundesländer und Brennpunktschulen müssen mehr Geld und damit einen größeren Gestaltungsrahmen erhalten. Zum Wohle unserer Kinder brauchen wir einen solidarischen Föderalismus.

Wir müssen bis 2015 das selbst gesteckte Ziel erreichen, 10 Prozent des Bruttosozialprodukts in Bildung und Forschung zu investieren. Wir brauchen mehr Geld in unserem Bildungssystem. Wir müssen umsteuern und gerade die frühen Schuljahre stärker als bislang finanzieren. Sozialräumlich besonders geforderte Schulbezirke lassen sich mittlerweile sehr einfach identifizieren. Ihnen sollten wir nach Kräften helfen.

6. Gemeinsam sind wir stark:Alle Akteure miteinander vernetzen

Inhalte, Strukturen, Zeit, Kreativität und Geld – diese Schulaufgaben bilden ein einheitliches Programm. Mit ihm wird das Ziel verfolgt, eine Infrastruktur aufzubauen, welche mit gut qualifiziertem und gut bezahltem Personal unsere Kinder bildet. Eltern übernehmen dabei die wichtigste Rolle, Unterstützung muss ihnen daher sicher sein. Die vielen Akteure und Einrichtungen im Bildungsverlauf der Kinder müssen miteinander vernetzt werden, sodass wir mit langem Atem und viel Zeit die Kinder unterstützen und ihnen helfen können. Hierzu benötigen wir die Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Institutionen und Professionen. So wird es gelingen, mehr Kinder als bisher besser zu bilden. Wir schenken ihnen dadurch mehr gemeinsame Zeit, ob in der Kita, im Kindergarten oder in der Schule. Reformpädagogische Ansätze werden greifen und dazu führen, dass unsere Gesellschaft allen eine Chance gibt und möglichst wenige Kinder zurücklässt. Die Umsetzung dieses Programms wird viel kosten. Doch der Ertrag ist hoch. Nicht nur, wenn wir ihn in der Währung von Glück und Zufriedenheit messen.

Die Bundesregierung hat bereits viele Qualifizierungsprogramme aufgelegt, auch solche, die eine Vernetzung über Raum und Zeit ausdrücklich fördern. Viele Stiftungen engagieren sich und arbeiten zusammen für eine bessere Bildung unserer Kinder. Nun müssen wir dies in die Fläche tragen und im Wege stehende rechtliche Hürden abbauen. Das Kinder- und Teilhabepaket vom 1. April 2011 und dessen Umsetzung zeigen, wie viele Umwege im Moment zu gehen sind, um Kindern zu helfen. Viel einfacher und zielgenauer wäre es, wenn der Bund wieder direkt mit Ländern und Gemeinden kooperieren dürfte. Das »Kooperationsverbot« muss auch für die Bildung zugunsten eines solidarischen Föderalismus fallen.

 

Einige mögen nun fragen: »Fehlt dieser Sammlung von Schulaufgaben nicht ein siebter Punkt?« Ein Heft, das der Rechnungslegung dient? Ein Heft, in dem die Leistungen der Schüler, Klassen und Schulen säuberlich aufgelistet sind und verglichen werden, um dann Prämien für Lehrer, Klassen und Schulen mit den besten Werten zu vergeben? Müssten nicht Leistungslöhne und Bonuszahlungen auch für Lehrer und Schulen eingeführt werden, wie es an den Universitäten jüngst geschehen ist?

Nein. Wir brauchen Transparenz zur Qualitätsentwicklung unserer Schule, sie ist unverzichtbar. Einem Wettbewerb aber, dem Rangordnungen von Schulen zugrunde liegen, vertraue ich nicht. Ganz im Gegensatz zu anderen Ländern, auch den skandinavischen Nachbarländern, hat Finnland schon immer auf Ranglisten von Schulen verzichtet. Indiskutabel sind Belohnungen oder negative Sanktionen für Schulen, die besser oder schlechter abschneiden: »Vom Wiegen wird die Sau nicht fett«, sagte dazu Rainer Domisch.7 Evaluationen brauchen das Vertrauen und die Akzeptanz aller Beteiligten. Ihr Ziel ist zu erfahren, wie sich die Lernprozesse der einzelnen Schülerinnen und Schüler gestalten und wie man weiter unterstützen kann. Das Wohlbefinden ist ein zentraler Punkt, entsprechend misst man auch das wahrgenommene »Glück« der Schülerinnen und Schüler. Ein solcher »sozialer Standard« sei aussagekräftiger als fachbezogene Tests.8 »Schools We Can Envy«, Schulen, auf die wir neidisch sein können, schreibt Diane Ravitch, eine der einflussreichsten Bildungsexpertinnen der USA.9 Sie meint damit den Umstand, dass Finnland eines der leistungsfähigsten Schulsysteme hat, ohne Leistungen zu belohnen oder zu bestrafen und ohne besonders auf Tests vorzubereiten.

Ein eigenes Heft für Rangordnungen braucht es nicht. Wir müssen den Schulen gute Rahmenbedingungen geben und ihnen eigene Möglichkeitsräume eröffnen. Die Voraussetzung für gelingende Schulen kennen wir: Da hilft Kooperation weit mehr als Wettbewerb.