Josef Brockmann, Holger Kirsch,
Svenja Taubner
Mentalisieren
in der psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapie
Grundlagen, Anwendungen, Fallbeispiele
Mit einem Vorwort von Peter Fonagy
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von Brockmann, Elisabeth, Single Point Of Truth (SPOT), 2021 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-98407-1
E-Book ISBN 978-3-608-11673-1
PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20515-2
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Dieses Buch hat meinen Beifall und ist mir herzlich willkommen! Wie es häufig der Fall ist, wenn die Dinge noch im Werden sind: Das Neue, das seine Identität und Eigenständigkeit etablieren muss, findet sich unter Umständen separiert von seinen Ursprüngen; möglicherweise wird es, berauscht von seiner Neuheit, die Verbindung mit seinen Wurzeln und seiner Vorgeschichte nicht wahrhaben wollen und sich damit einer ständigen Quelle der Inspiration selbst berauben. Als die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) ihre chronologische und wohl auch psychologische Adoleszenz erreichte, wandte sie sich, genauso wie ihr adoleszentes Pendant, die heranwachsende Person, von der Herkunftsfamilie ab und geriet zunehmend unter den Einfluss ihrer neuen Freunde in der Welt der psychosozialen Therapien – der Entwicklungspsychologie, der evidenzbasierten Praxis, der dritten Welle der kognitiven Verhaltenstherapie, der Neurowissenschaften, der »Philosophie des Geistes«, der Anthropologie, der Sozialpsychologie usw. Und dennoch liegt der Ursprung der Mentalisierungsbasierten Therapie, historisch wie intellektuell, in der Psychoanalyse und der psychodynamischen Psychotherapie (Fonagy, 1991). Im Verlauf der vergangenen 15 Jahre hat die MBT sich zu einem integrativen Modell entwickelt, das den Schwerpunkt auf das soziale Verstehen und dessen zahlreiche Komponenten legt, also auf soziales Referenzieren, soziale Aufmerksamkeit, Empathie, Imitation, auf das Erschließen von Wünschen und Erkenntnissen und auf die Entwicklung des Selbstgewahrseins (Bateman & Fonagy, 2019). Das Besondere an dem MBT-Ansatz allerdings war das, was psychoanalytisches Denken dazu beigetragen hat.
Die Mentalisierungsbasierte Therapie erreichte die Welt auf der Erfolgswelle der (sinnvoll zu ToM abgekürzten) Theory of Mind. ToM diente vor Jahrzehnten als erstes Etikett zur Bezeichnung der Fähigkeit, ein Verhalten auf der Grundlage der mentalen Prozesse der jeweiligen Person zu erklären. Das Konzept erfuhr eine Einkleidung in die Geschichte einer Puppe und deren nicht mehr zutreffenden Ansicht, was den Aufbewahrungsort eines Stücks Schokolade anging (die Schokolade war in ihrer Abwesenheit anderswohin verbracht worden), und zog buchstäblich Tausende von experimentellen Untersuchungen nach sich (Wellman et al., 2001; Imuta et al., 2016; Devine & Hughes, 2018). Als das ToM-Thema Fahrt aufnahm, wurde eine Fülle von Versuchsdesigns und philosophischen Konzeptualisierungen in den schmalen Koffer des »Eine Theory of Mind-Besitzens« gestopft (erinnert sei etwa an Daniel C. Dennetts Konzept der »intentionalen Einstellung«; Dennett, 1987). Da mit dem Terminus ToM keine saubere Trennung zwischen dem Konzept und einem experimentellen Design möglich war, und da bei Verwendung des Substantivs die Gefahr bestand, eine Aktivität bzw. einen Prozess zu verdinglichen, wurde der gleiche alternative Begriff – »Mentalisieren« – jeweils unabhängig von zwei Psychologen ins Spiel gebracht, die völlig unterschiedliche Traditionen vertraten: Uta Frith führte ihn in ihrer kognitionspsychologischen Beschreibung des Autismus ein (Frith, 1989), während George Moran, der damalige Leiter des Anna Freud Centre, und ich (Fonagy, 1989) ihn aus psychoanalytischer Perspektive und unter dem Einfluss sowohl der Bindungstheorie als auch einer wichtigen französischen Tradition der Psychosomatik (Lebovici, 1967) thematisierten. Auch wenn es mittlerweile 35 Jahre zurückliegt, erinnere ich mich deutlich, als ich die Idee zuerst am UCL präsentierte, dessen psychologische Fakultät damals fast ausnahmslos kognitivistisch orientiert war. Opposition kam von jenen, die glaubten, Autismus sei das paradigmatische Beispiel für ein Misslingen des Mentalisierens und Individuen mit dieser Diagnose seien mit der gleichen Wahrscheinlichkeit sicher gebunden wie Kinder, die sich normal entwickeln. Mentalisieren galt diesen Zuhörern als eine Fähigkeit, die sich unabhängig von sozialen Erfahrungen entfaltet, und entsprechende Defizite reflektierten in ihren Augen biologische – vermutlich genetische – Schwachstellen. Was diesen Punkt angeht, haben selbst die glühendsten Vertreter der kognitivistischen Position inzwischen etwas eingelenkt (z. B. Brink et al., 2015).
Wo MBT sich einen neuen und eigenen Weg zu bahnen suchte, ging es darum, die Fähigkeit, menschliches Verhalten in Form intentionaler mentaler Zustände wahrzunehmen und zu interpretieren, in einen dynamischen Kontext zu stellen. Selbst in ihrer ursprünglichen Formulierung ging MBT über die damals gängige Definition einer evolutionär selektierten Fähigkeit hinaus, die optimale Entscheidungen zum Besten der Person und der Gemeinschaft sowie das Lernen von anderen ermöglichte, zugleich den Wettstreit förderte, die Evaluierung des anderen zuließ und sein Verhalten voraussagte. Die Theorie der MBT bejahte es, dass Mentalisieren all dies und mehr bewirkt. Aber Mentalisieren bringt auch das von der Realität losgelöste Imaginieren mit sich; es bringt Myriaden von kontextuellen Faktoren, es bringt schiefe Annahmen und Verständnisverzerrungen mit sich, hinter denen wiederum irrelevante Informationen, unzutreffende Überzeugungen, einseitige Wertvorstellungen und offene Vorurteile stehen, veranlasst durch die Identität und den Gruppenstatus von Individuen in Interaktion (s. auch Park et al., 2021). In einer Reihe von Beiträgen haben Mary Target und ich versucht, uns mit dieser Komplexität auseinanderzusetzen (Fonagy & Target, 1996a; Target & Fonagy, 1996; Fonagy & Target, 2000; Fonagy & Target, 2007a). Wir verknüpften das Mentalisieren mit Freuds Konzept der psychischen Realität und schlugen eine Reihe von Heuristiken vor, die zu einem differenzierten Gebrauch des Begriffs »Symbolisierung« in der Psychoanalyse beitrugen. Auch versuchten wir, unser Denken sowohl mit Wilfred Bion (Alpha-Funktion) als auch mit Donald Winnicott (Spiegelung und containment) in Einklang zu bringen. Nicht dass wir Erfolg gehabt hätten – aber wir machten doch den bewussten und freiwilligen Versuch, nicht auf Originalität zu pochen, wo es sie nicht gab. Die psychoanalytische Gemeinschaft, zumindest im Vereinigten Königreich, machte sich das Konzept des Mentalisierens nicht zu eigen. Ungeachtet unserer beharrlichen Bemühungen, in psychoanalytischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen (z. B. Fonagy & Target, 1995; Fonagy & Target, 2007b; Fonagy & Allison, 2016), war das Mentalisieren kein Thema, das auf der Agenda der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft erschien.
Das war, wie ich jetzt bei der Lektüre dieses herausragenden Buches mit einiger Verspätung feststelle, kein Indiz für Engstirnigkeit auf Seiten unserer psychoanalytischen Kollegen (nicht dass sie sich in anderen Fällen etwa nicht der Engstirnigkeit schuldig gemacht hätten). Es war unsere mangelnde Beschäftigung mit der Frage, wie sich psychoanalytische Schlüsselideen in Begriffen oder in der Sprache des Mentalisierungskonzepts wiedergeben lassen könnten. Um welche Schlüsselideen handelt es sich dabei? Es gibt eine überwältigende Anzahl psychoanalytischer Theorien, und Freud selbst veröffentlichte sehr viel mehr zur Theorie als zur Praxis der Psychoanalyse (Fonagy, 1999b). Wo ist das Unbewusste in der MBT? Wo sind die Abwehrmechanismen? Wo sind die Verursacher menschlichen Unglücks – Aggressivität, Neid, Perversion, Narzissmus und der Hauptpfeiler des psychoanalytischen Denkens, die Sexualität? Wir haben bescheidene Anstrengungen unternommen, uns dem letztgenannten Konstrukt anzunähern (Fonagy, 2008), aber im Großen und Ganzen hat die MBT die wichtigsten konzeptionellen Triebkräfte des Objektbeziehungsdenkens wie die Abwehrorganisation, die paranoid-schizoide Position und, noch grundlegender, den psychischen Konflikt ausgelassen. Ohne hier eine großartige Analogie ziehen zu wollen, meine ich doch, dass John Bowlby sich in einer ähnlichen Situation befand, als er versuchte, Ideen aus der benachbarten Disziplin der Ethologie in das psychoanalytische Denken einzuführen (z. B. Bowlby, 1981; Bowlby, 1984). Er sah es als eine herausfordernde Aufgabe an, die notwendigen Zusammenhänge herzustellen, um die Bindungstheorie für Kliniker anwendbar zu machen, deren Ideen sich unter dem Einfluss der komplexen Matrix von Übertragung und Gegenübertragung entwickelt hatten. In weitaus geringerem Umfang wird die Mentalisierungstheorie, die ebenfalls ein Waisenkind unter den an die Psychoanalyse angrenzenden Disziplinen ist, sowohl von kognitiven Neurowissenschaftlern als auch von ernsthaften psychoanalytischen Denkern abgelehnt. Die Ersteren halten die Umsetzung neurowissenschaftlicher Konstrukte und Forschungen in unseren Theorien für sowohl vereinfachend als auch potenziell naiv, da aktuelle Fortschritte wie etwa das Ruhezustandsnetzwerk (Default Mode Network, DMN) in der Mentalisierungstheorie nur unzureichend berücksichtigt werden (Gilead & Ochsner, 2021). Die Letzteren finden in der MBT wenig Neues und beklagen das Verschwinden von Komplexität und Subtilität, wenn Subjektivität auf die psychische Äquivalenz, den Als-ob-Modus und die teleologische Funktion reduziert wird (Hoffman, 2004; Hoffman, 2009).
Indem die Autoren nun also das Psychodynamische in das Mentalisieren zurückholen, hoffe ich sehr, dass sie damit einen echten Schritt in Richtung der Versöhnung zwischen MBT und Psychoanalyse machen. Ich habe häufig Anlass, über den Beitrag von Joseph Sandler zum psychoanalytischen Denken zu reflektieren (Sandler, 1987), den ich lange Zeit bewunderte und noch immer erhellend und wichtig finde. Mit der Einführung eines ausgesprochen kognitivistischen Modells, das Sandler als »Grundmodell der Psychoanalyse« bezeichnete (Sandler & Joffe, 1969), führte er zugleich das Konzept der repräsentationalen Welt (Sandler & Rosenblatt, 1962) ein. Damit brachte er die Psychoanalyse in Einklang mit dem dominanten theoretischen Bezugsrahmen der 1950er und 1960er Jahre: dem Strukturalismus und der Schematheorie. Auch wenn ihm dafür von vielen Seiten keine Anerkennung zuteilwurde: die stille Revolution, die er und seine Kollegen an der Hampstead Clinic in die Psychoanalyse und das psychoanalytische Denken brachten, wurde zur plausiblen Plattform für die Objektbeziehungstheorie, die das psychoanalytische Denken wieder mit dem sozialwissenschaftlichen Denken des ausgehenden 20. Jahrhunderts verband (Fonagy & Cooper, 1999).
Wie erreichte er das? Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den sogenannten Hampstead Index – die Fallberichte von Kindern und Heranwachsenden aus der Hampstead Child Therapy Clinic, die er im Anna Freud Centre fand – und übernahm eine erhebliche Anzahl der darin enthaltenen Vorstellungen in sein gedankliches Schema der Selbst- und Objektrepräsentation und der sie beherrschenden emotionalen Reaktionen (Sandler, 1962). Das Modell war robust genug, um Otto Kernbergs außerordentlich kreative Theorien zu stützen, und hatte auch angesichts der relationalen Wende im psychoanalytischen Denken weiterhin Bestand. Sandlers Überlegungen bildeten eine Brücke zwischen der Ich-Psychologie und der Objektbeziehungstheorie, wie sie von den Vertretern der Interpersonellen Psychoanalyse als auch vom Klein-Bion-Modell und von der unabhängigen sogenannten britischen Tradition her konzipiert wurde. Und hier ist die Kluft, die das vorliegende Buch schließen möchte. Wir haben einen Fehler gemacht; die MBT hat die Verbindung nicht zustande gebracht. Wir brauchten eine Brücke, um klinische Fälle, Therapien real existierender Menschen, gleichzeitig aus der traditionellen und aus der neuen theoretischen Perspektive zu betrachten, und eben das ist es, was dieses Buch so eloquent leistet. Wir können das Mentalisieren nicht in das psychodynamische Denken integrieren, wenn wir nicht zu einer Verständigung kommen, indem wir den Fokus auf die gemeinsame Realität der klinischen Begegnungen legen.
Aber halten wir einen Augenblick inne! Ist das nicht eben das, was mit dem Mentalisieren gemeint ist? Geht es beim Mentalisieren etwa nicht um die Schaffung einer Zwei-Ebenen-Struktur bzw. darum, dass ein gemeinsames Objekt von zwei mentalen Systemen untersucht wird, die ihre jeweiligen Perspektiven koordinieren? Geht es nicht um einen gemeinsamen Fokus, der es ermöglicht, unterschiedliche Perspektiven anzuerkennen? Geht es in unserer Theorie denn nicht darum, die eigene Perspektive mit der Perspektive und der mentalen Verfassung eines anderen Individuums zu koordinieren, wenn der Fokus auf einer objektiven, aktuellen physischen Realität »da draußen« liegt? Haben wir nicht zu verstehen gegeben, dass wir durch das Mentalisieren unsere eigene Subjektivität mit der wahrgenommenen Subjektivität einer anderen Person zusammenbringen, auf deren physische Realität verwiesen wird? Wenn wir die Dinge so betrachten, kommt unser Unvermögen, ein gemeinsames Modell mit unseren psychodynamisch orientierten Kollegen zu entwickeln, eindeutig einem Versagen der Mentalisierung gleich. In Hinblick auf die Polaritäten der Mentalisierungsheuristik haben Patrick Luyten und ich (Fonagy & Luyten, 2009; Luyten et al., 2019) uns eines unausgewogenen Mentalisierens schuldig gemacht. Das bezieht sich weniger auf die Überbetonung des Kognitiven gegenüber dem Affektiven, in der viele eine wesentliche Schwäche des MBT-Ansatzes sehen, als vielmehr auf die fehlende Balance zwischen Selbst und Objekt. In unserem Bemühen, den Einfluss des Objekts auf das Selbst zu reduzieren, unser vielleicht fragiles, rudimentäres Modell gegenüber dem weitaus anspruchsvolleren und weiterentwickelten psychodynamischen Gedankengut in Schutz zu nehmen, haben wir die eigene Position immer wieder mit Nachdruck betont, ohne die Perspektive unserer psychodynamisch orientierten Kollegen auf dieselbe klinische Welt ernsthaft zu hinterfragen.
Und wie die Mentalisierungsbasierte Therapie uns lehrt: Wenn wir feststellen, dass das Mentalisieren nicht gelingt – wobei an der Komplexität der Aufgaben, denen unser mentales System sich gegenübersieht, kein Weg vorbeiführt –, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns demütig zu zeigen und vielleicht eine Entschuldigung anzubieten. Die Entschuldigung schließt ein, dass wir die Verantwortung für einen begangenen Fehler – bzw. in diesem Fall eher einen Unterlassungsfehler – auf uns nehmen. Ich hoffe und wünsche, dass dieses Buch dazu beiträgt, eine in meinen Augen in der Tat sehr beklagenswerte Kluft zu schließen. Die Mentalisierungsbasierte Therapie hätte nicht entstehen können ohne den psychoanalytischen Hintergrund ihrer Begründer George Moran, Anthony Bateman, George Gergely, Mary Target und vieler anderer. In Einzelfällen haben Mitglieder der Mentalisierungsfamilie versucht, eine duale Struktur zu entwickeln. Das vorliegende Buch ist aber das erste, das ernsthaft und unmittelbar darauf zielt, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Im Interesse der gesamten Mentalisierungsfamilie, aber weit mehr noch für meine eigene Person möchte ich diesen bemerkenswerten Autoren für die bisher umfassendste Darstellung danken, die es uns ermöglicht, die Mentalisierungstheorie in ihrer Entwicklung und ihren ursprünglichen Bezugsrahmen innerhalb des psychoanalytischen Korpus zusammenzudenken. Dies ist nicht nur ein einzigartiges Buch, es ist auch ein höchst kreativer Beitrag zur Literatur, der, wie ich dringend hoffe, viele weitere Initiativen nach sich ziehen und die Psychoanalyse damit wieder in ein fruchtbares Gespräch mit der Mentalisierungstheorie bringen wird. Es ist spät, aber keineswegs zu spät.
Übers. Ulrike Stopfel
»Ich bin sehr zufrieden, wie sehr meine Arbeit sich verbessert.
Ich habe selber viel weniger Stress und Leistungsdruck,
und das führt dazu, mehr von den Menschen zu erfahren.
Ich kann viel mehr bei der Patientin sein,
und das erhöht natürlich die Qualität meiner Arbeit.«
(Rückmeldung einer Fortbildungsteilnehmerin 2021)
Mentalisierungsorientiert zu arbeiten verändert die psychotherapeutische Praxis und macht die Arbeit mit »schwierigen Patienten« leichter. Dies ist insbesondere der Haltung geschuldet, die davon ausgeht, dass »schwierige« Patienten meistens nur schwierig zu erreichende Menschen sind. Ebenso wurde die Erfahrung gemacht, dass eine mentalisierungsbasierte Haltung einzunehmen und die Behandlung von schwer belasteten Patienten so zu strukturieren die Behandlungen erfolgreicher macht. Unsere persönliche Erfahrung ist das eine, die empirische Evidenz das andere. Empirische Evidenz, gewonnen aus Ergebnissen der Psychotherapieforschung, belegen dies: Die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) gehört zu den evidenzbasierten Behandlungen, z. B. bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen (s. Kap. 3).
Dieses Buch versucht dezidierter als andere, das Mentalisierungskonzept auf die psychodynamische und psychoanalytische Langzeitpsychotherapie zu beziehen, schwerpunktmäßig bei strukturellen Störungen, aber nicht nur. Unter theoretischen und praktischen Aspekten beschäftigt sich dieses Buch mit der Schnittstelle zwischen MBT, Psychoanalyse sowie psychodynamischer und psychoanalytischer Psychotherapie. Wir behaupten dabei kühn, dass der Mentalisierungsansatz zur Erweiterung des Korpus psychoanalytischer Modelle beiträgt und versuchen, dies zu belegen. Dabei hoffen wir, dass die Zeiten vorbei sind, wo Neues (z. B. an der Psychotherapieforschung orientierte Ergebnisse) von psychoanalytischen Kollegen als »nicht zur Psychoanalyse gehörend« oder als Verwässerung gebrandmarkt wird bzw. – in milderer Form – unter ein »ökumenisches Dach« verfrachtet wird, was man toleriert, aber letztlich doch weiß, dass der andere falsch liegt. Die Gefahr besteht aber weiter, dass das, was als Entwicklung unter den Gesichtspunkten von Adaptation an Forschungsergebnisse und neueren Erkenntnissen gemeint ist, als Unterminierung der Psychoanalyse erlebt wird (Lemma & Johnson, 2010).
Die entscheidende Schwäche des Mentalisierungsansatzes ist zugleich seine Stärke: Er rückt von einigen traditionellen psychoanalytischen Konzepten ab und greift bereits seit 20 Jahren Ergebnisse von Nachbarwissenschaften auf (Fonagy et al., 2002). Dabei ist das Mentalisierungskonzept in seinen theoretischen Annahmen eng mit den Grundlagen der Psychoanalyse verbunden, z. B. in den Bereichen der Selbstentwicklung, der Bedeutung von Repräsentanzen oder der Objektbeziehungen, sowie der Bindungstheorie und kann auch hier als eine Bereicherung der Psychoanalyse verstanden werden.
In der Behandlungstechnik sind die Unterschiede zwischen MBT und klassischer Psychoanalyse jedoch am größten. Das Buch vermittelt hier einen eigenen Standpunkt, weil sich Setting, Interventionsformen und therapeutische Haltung in der traditionellen psychoanalytischen Behandlung und der MBT unterscheiden. Während sich MBT originär auf ein teilstationäres Behandlungsprogramm mit Einzel- und Gruppentherapie bezieht, kommt die klassische psychoanalytische Behandlung mit dem Setting von 3–4 Sitzungen pro Wochen im Liegen in der psychotherapeutischen Versorgung praktisch nicht mehr vor und wird auch von Psychoanalytiker*innen zur Behandlung schwer beeinträchtigter Patient*innen zunehmend deutlicher in Frage gestellt (z. B. Yeomans et al., 2015; Lohmer 2013; Rudolf, 2006).
In diesem Buch haben wir versucht, die psychoanalytischen und mentalisierungsbasierten Modellvorstellungen vermittelnd gegenüberzustellen. Es ist ein Versuch der Integration, der weiterer Diskussion bedarf. Wir sind aus unserer längeren Erfahrung mit beiden Modellen der Überzeugung, dass unter Berücksichtigung der sich weiterentwickelnden Psychotherapieforschung und ihrer Ergebnisse sich neue gemeinsame Perspektiven eröffnen können.
Der Anspruch des Mentalisierungskonzepts als Brückenkonzept leitet sich ab aus der Überzeugung, dass die Förderung der Mentalisierung der zentrale gemeinsame Wirkfaktor unter den therapeutischen »Techniken« ist. Gegenwärtig gibt es ca. 400 Therapieverfahren, und es werden jährlich mehr. Sollten Therapeut*innen erwarten, dass nun endlich das ersehnte innovative und effektive Verfahren entwickelt wurde, das den erwünschten Erfolg liefert? Die Ergebnisse der Therapieforschung sind da eindeutig: Die Antwort lautet nein! Die Behandlungsverfahren, die evidenzbasiert sind, sind im systematischen Vergleich in etwa gleich effektiv. Aber wir wissen, einige Therapeut*innen sind effektiver als andere.
Wir wissen auch, Psychotherapie wirkt hauptsächlich durch die gemeinsamen Wirkfaktoren (common factors), zu denen an erster Stelle die therapeutische Beziehung gehört. Weiter legen die Forschungsergebnisse zur Diagnostik nahe, dass sich Persönlichkeitsstörungen am besten durch einen gemeinsamen P-Faktor (P steht für generelle Psychopathologie) erklären lassen. Bei stark beeinträchtigten Patienten ist deshalb ein transdiagnostischer und personenspezifischer therapeutischer Zugang sinnvoller als ein störungsspezifischer. Diese Ergebnisse zur Dimension der Persönlichkeitsstörungen (P-Factor) unterstützen so indirekt die Common-Factor-Konzeption.
Das Modell der allgemeinen Wirkfaktoren wirft in der wissenschaftlichen Diskussion aber ebenso viele Fragen auf, wie es erklärt (s. Kap. 1). Zum einen müssen die allgemeinen Faktoren spezifischer gefasst werden. Zum anderen können neben den allgemeinen Wirkfaktoren spezifische Interventionen bei spezifischen Störungen wirken. Ihr Anteil am Behandlungserfolg bleibt dabei aber unklar, denn ebenso werden die allgemeinen Wirkfaktoren auch durch spezifische Behandlungstechniken und Interventionen realisiert.
Alle wirksamen Psychotherapien fördern direkt oder indirekt die Mentalisierungsfähigkeit und epistemisches Vertrauen. Dadurch öffnen sie dem Patienten den Zugang zu sozialem Lernen innerhalb und außerhalb der therapeutischen Beziehung und den Weg zu neuen, »gesünderen« Beziehungskontexten (Salutogenese). Das Mentalisierungskonzept versteht eine Persönlichkeitsstörung als ein Versagen der Kommunikation, als eine Schwierigkeit im sozialen Lernen und nicht als ein Versagen des Individuums. Therapie zielt deshalb – aus dieser Sicht – immer auf die Veränderung dieser Kommunikationssysteme.
Bei der Vermittlung des Mentalisierungskonzepts an erfahrene Kliniker wurden das Mentalisierungskonzept und das praktische Vorgehen nur selten als unvereinbar mit den vertrauten Konzepten erlebt. Das Mentalisierungskonzept versteht sich als Brückenkonzept und fokussiert auf Prozesse, die implizit oder explizit bereits in verschiedenen Therapiemodellen berücksichtigt werden. Wir sind deshalb der Überzeugung, dass der Mentalisierungsansatz als Brückenkonzept den Realitätstest bestehen wird.
Auf dem Weg zum Brückenkonzept bauen sich jedoch zwei Hindernisse auf, die nicht vom Konzept herrühren, sondern von seiner Vermittlung. Zwar gibt es mittlerweile kein therapeutisches Konzept mehr, das nicht auch von Mentalisierung und dem Mentalisierungskonzept spricht, aber dann explizit oder implizit mit dem Nebensatz abschließt: »Das machen wir auch so.« Das hat Abwehrcharakter, vielleicht gepaart mit einem Missverständnis. Integration geht anders. Das zweite Hindernis: Mentalisierung wird als kognitive Empathie oder affektive Kognitionen missverstanden. Dies erspart den Weg zur Auseinandersetzung mit dem Mentalisierungskonzept und der mit ihr verbundenen Behandlungstechnik. Da der Mentalisierungsansatz zusammen mit seinen Interventionstechniken eine große Klarheit hat, ist er einerseits gut lehrbar und erlernbar, andererseits besteht aber die Gefahr, nur schematisch die Techniken zu erlernen, dabei die Kreativität und die im Hintergrund stehende und die Technik bestimmende therapeutische Haltung sowie das Verständnis der therapeutischen Beziehung, die von unbewussten Prozessen und Re-Inszenierungen bestimmt wird, zu vernachlässigen. So braucht der Mentalisierungsansatz die Psychoanalyse, wie eine moderne Psychoanalyse den Mentalisierungsansatz braucht.
Das Buch berücksichtigt die neueren Entwicklungen des Mentalisierungsansatzes. Dazu gehören:
die weitere Ausarbeitung des Konzepts des epistemischen Vertrauens in theoretischen und praktischen Aspekten und in Bezug zur therapeutischen Beziehung (Kap. 2.4, Kap. 6.2);
das Konzept der mentalisierten Affektivität und seine Umsetzung in der Psychotherapie (Kap. 5.1).
Dies weitet den Anwendungsbereich mentalisierungsorientierter Behandlungen auch auf Patienten mit reiferen Strukturen aus. Es sind Patienten, bei denen die Mentalisierungsfähigkeit eher konfliktbedingt und situativ zusammenbricht. Hier sind die Bearbeitung von Konflikten (inhaltlich) und die Wiedererlangung von Mentalisierungsfähigkeit (Prozess) als ein Wechsel in der Priorität zu sehen. Es ist der Perspektivwechsel hinsichtlich eines Vordergrunds (Konflikt) und eines Hintergrunds (Mentalisierungsfähigkeit), wobei die Bearbeitung des Hintergrunds bei strukturellen Störungen die Voraussetzung zur Bearbeitung des Vordergrunds ist:
der Einbezug neuerer Ergebnisse der Psychotherapieforschung mit Hilfe des Modells allgemeiner Wirkfaktoren (Wampold, 2015; Wampold et al., 2018) und angesichts neuerer Ergebnisse zum allgemeinen Faktor P (Caspi et al., 2014; Sharp et al., 2015), der eine »transdiagnostische Sichtweise« nahelegt und die Differenzierung zwischen strukturellem Defizit und Konfliktmodell relativiert. Beide Ergebnisse liefern Belege dafür, dass das Mentalisierungskonzept als ein Brückenkonzept in der Psychotherapie verstanden werden kann (Kap. 1);
in den vergangenen Jahren haben Fonagy und Kolleg*innen weitere theoretische Überlegungen zum Mentalisierungsansatz beigesteuert, die hier Berücksichtigung finden. Wie stehen unbewusste Prozesse und Bewusstsein zueinander? Wie werden triebhafte Impulse wie Sexualität und Aggression innerhalb dieses Modells verstanden? (s. Kap. 4). Diese Überlegungen haben nicht nur theoretische Relevanz, sie können auch die mentalisierungsfördernde Haltung und die Behandlung beeinflussen.
Nicht nur die Mentalisierungstheorie ist für Therapeut*innen attraktiv, sondern vor allem die Verbindung mit einer als kongruent und überzeugend erlebten Behandlungstechnik. Sie basiert auf entwicklungspsychologischen (Störungs-)Modellen und zeichnet sich durch eine hohe Transparenz aus: sowohl im therapeutischen Prozess als auch durch die Handlungen und Haltung des Psychotherapeuten.
Die Transparenz wird vermittelt durch die mentalisierungsbasierte Behandlungstechnik (Kap. 3). Dazu gehört eine Haltung, die an Kooperation und einem gemeinsamen Verstehen orientiert ist. Die therapeutische Haltung des Nicht-Wissens ist beispielsweise verbunden mit der Sichtweise, dass es keine richtigen und falschen Interventionen gibt, sondern nur unterschiedliche Perspektiven und Fehler, die korrigiert werden können. Es ist ein offener Umgang mit Fehlern und Missverständnissen. Fehler sind wertvoll, sie geben die Gelegenheit, im Therapieprozess reflektiert zu werden, und ermöglichen uns, unsere Fähigkeit, mit Missverständnissen mentalisierend umzugehen, zu verbessern oder sich einfach nur einmal für einen Fehler zu entschuldigen. Wer sich zu sehr bemüht, keine Fehler zu machen, wird starr und unauthentisch. Diese Haltung in Bezug auf Fehler empfanden die Teilnehmer in unseren Fortbildungen häufig als erleichternd.
Im Laufe von zwei Jahrzehnten hat sich das Mentalisierungskonzept weiterentwickelt, und es haben sich Differenzierungen ergeben. Zum einen wurde Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) zu einem Markenzeichen, das durch eine manualisierte und durch Forschung abgesicherte Behandlungsform charakterisiert ist. Dabei ist MBT in den Behandlungsteilen und in der Behandlungszeit festgelegt, um Forschungskriterien zu genügen (Kap. 3). Die Autoren betonen dabei die Chancen, bei verschiedenen Störungsbildern eine evidenzbasierte Behandlungsform als ›Best Practice‹ anzuwenden. Dies ist zurzeit für die Behandlung von Borderline-Patient*innen gelungen.
Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) wird charakterisiert durch eine klare Indikation zur Behandlung struktureller Störungen bzw. schwerer Persönlichkeitsstörungen. MBT gilt dabei als neue Behandlungstechnik und nicht als neues Behandlungsverfahren.
Zum anderen entwickelte sich der Mentalisierungsansatz als ein Baustein in der psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapie: »MBT is a focus for therapy rather than a specific therapy in itself.« (Bateman & Fonagy, 2016, S. 159). In dieser Hinsicht verändert MBT die psychoanalytisch begründeten Behandlungsformen und ihre Behandlungstechnik. Das Mentalisierungskonzept liefert dabei auch neue Sichtweisen zu psychoanalytischen Modellen. Eine Reihe von Publikationen namhafter Psychoanalytiker*innen stützt die Verbindung zwischen Psychoanalyse und Mentalisierung (z. B. Altmeyer & Thomä, 2016, Mertens, 2012, Schultz-Venrath & Döring, 2011).
Die in Deutschland gültigen Therapierichtlinien ermöglichen ambulante Langzeittherapien. In anglo-amerikanischen Ländern sind diese Möglichkeiten erheblich eingeschränkt. Da die Wiedergewinnung von Mentalisierung (oder ihre Entwicklung) bei strukturellen Störungen erhebliche Zeit braucht, ergeben sich hier Chancen, das Mentalisierungskonzept in der Praxis mit psychodynamischer und psychoanalytischer Langzeitpsychotherapie zu verbinden und die Notwendigkeit von Langzeittherapien durch ein integratives Modell weiter zu begründen (Kap. 5.7). Wir sind dabei der Überzeugung, dass das Mentalisierungskonzept, insbesondere durch die Prozessorientierung, die therapeutische Haltung und die mentalisierungsfördernden Interventionen, für die psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapien generell nützlich ist, nicht nur bei der Behandlung struktureller Störungen, sondern auch bei affektiven Störungen. Das integrative Modell hat zwei Schwerpunkte, den Prozessfokus (Förderung des Mentalisierens) und den Inhaltsfokus (Interpretation bewusster und unbewusster interpersoneller Muster). Es orientiert sich an den Vorschlägen von Lemma, Target und Fonagy (Lemma et al., 2011).
Der Mentalisierungsansatz verändert die psychodynamische und psychoanalytische Therapie grundsätzlich, vor allem durch den Prozessfokus, die gezielte Förderung der Mentalisierung mit den typischen MBT-Interventionen und die breite Berücksichtigung von Ergebnissen der Psychotherapieforschung. Spezifisch sind dabei unter anderem die Regulierung des emotionalen Arousals, das Hervorheben der Bedeutung von Affekten in sozialen Interaktionen sowie die fortlaufende Reflexion der therapeutischen Beziehung unter Beachtung des epistemischen Vertrauens als ein zentraler Aspekt der therapeutischen Beziehung. Die Förderung der Mentalisierung ist der zentrale Fokus, aber er ist nicht Selbstzweck. Ziel ist die Förderung sozialer Lernprozesse innerhalb und außerhalb der Therapiesitzungen. Dazu dient auch die Einbeziehung von Interpretationen bewusster und unbewusster Muster auf der Grundlage der Objektbeziehungstheorien.
Kapitel 6 enthält ausführliche Fallbeispiele. Mehrere Episoden aus Psychotherapien, die den mentalisierungsorientierten Ansatz versuchen zu realisieren, werden dargestellt und sowohl aus mentalisierungsorientierter als auch traditionell psychoanalytischer Sichtweise kommentiert. Den Abschluss des Buches bildet ein Ausblick auf mögliche Konsequenzen für Ausbildung und Weiterbildung: die Mentalisierungsfähigkeiten der Therapeut*innen.
Kapitel 1
Psychotherapieforschung ist bei Psychotherapeut*innen nicht besonders beliebt und wird auch nicht häufig rezipiert. Praktiker*innen gründen ihre Expertise häufig eher auf ihre Ausbildung, Erfahrung, Kollegen, Supervision und weniger auf Forschungsergebnisse (Castonguay et al., 2015). Kritik wird an den Methoden der Forschung, der Kleinteiligkeit der Erkenntnisse, dem mangelnden Bezug zur alltäglichen Praxis und vielleicht auch im Hinblick auf die mangelhafte Replizierbarkeit mancher Ergebnisse geübt. Gleichwohl besteht ein gewisser Legitimationsdruck seitens der Gesundheitssysteme, die eine Evidenzbasierung verlangen, wobei unterschiedliche Ideen zur Evidenzbasierung existieren. Insgesamt scheint aber die Akzeptanz der Psychotherapieforschung bei Psychotherapeut*innen zu steigen (Taubner et al., 2014). Dies könnte daran liegen, dass sich Forscher*innen und Praktiker*innen in den vergangenen Jahren mehr umeinander bemüht und Forschungs-Praxis-Netzwerke gebildet haben, um den »Gap« zwischen Praxis und Forschung zu verkleinern. Neue Therapiemethoden wie die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) haben sich aus diesen Forschungs-Praxis-Netzwerken heraus entwickelt. Daher soll die MBT hier als eine Methode vorgestellt werden, die sowohl den Ansprüchen von Praktiker*innen als auch Forscher*innen an eine moderne Psychotherapiemethode entspricht. Dazu werden die Forderungen der Psychotherapieforschung, der Evidenzbasierung und die Ideen zu den aktiv wirksamen Wirkmechanismen beleuchtet und auf die MBT angewendet. Das Kapitel beginnt mit einer Darstellung der aktuellen Sachlage zur Wirksamkeit der MBT bei verschiedenen Störungsgruppen. Darauf folgt eine Einführung in die aktuellen Erkenntnisse zu allgemeinen und spezifischen Wirkfaktoren in der Psychotherapie. In einem weiteren Schritt wird dargestellt, welche allgemeinen und spezifischen Wirkmechanismen in der MBT angenommen bzw. forciert werden. An wichtigster Stelle ist hier die Stabilisierung oder Steigerung von Mentalisierung zu nennen als dem zentralen Wirkmechanismus der MBT sowie der Etablierung von epistemischem Vertrauen. Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung der aktuellen Evidenz zur Veränderung von Mentalisierung durch MBT oder Psychotherapie allgemein. Allen, Fonagy und Bateman haben die Veränderung von Mentalisierung als einen Wirkfaktor bezeichnet (Allen et al., 2008), der in allen Psychotherapien bedeutsam ist, und damit Mentalisierung als einen allgemeinen Wirkfaktor eingestuft, der allerdings in der MBT im Mittelpunkt von Diagnostik und Intervention steht. Tatsächlich könnte die Verbesserung von Mentalisieren in der aktuellen neueren Konzeption der MBT als Mediator verstanden werden, also als messbare, sich verändernde Variable, die als Katalysator des zentralen Wirkmechanismus wirkt, als Re-Etablierung sozialen Lernens durch funktionales epistemisches Vertrauen (Fonagy et al., 2017a).
Die empirische Psychotherapieforschung hat inzwischen eine fast 70-jährige Geschichte. Nachdem zu Beginn die allgemeine Wirksamkeit von Psychotherapie im Vordergrund stand (»Legitimationsphase«), begannen Forscher*innen später mit vergleichenden Studien, um eine differentielle Wirksamkeit verschiedener therapeutischer Ansätze zu untersuchen. Diese sogenannte »Wettbewerbsphase« hält bis heute an und wird durch die Forderungen der evidenzbasierten Medizin aufrechterhalten. Um im Rahmen der evidenzbasierten Medizin als wirksam zu gelten, muss für spezifische Maßnahmen oder Methoden der Nachweis erbracht werden, dass die gemessenen Wirkungen ohne ihren Einsatz ausbleiben und nicht auf andere Einflussfaktoren zurückgeführt werden können. Um diesen Nachweis zu führen, wird in den aktuellen Leitlinien fast ausschließlich auf randomisiert-kontrollierte Studien (RCTChambless & Hollon, 1998RCTRCT