Ilya Duvent

Der Sturm in Dir

Manuela Maer

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen,
Namen (mit Ausnahme historisch verbürgter Personen) Schauplätze, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig.
Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Juli 2020 2. Auflage
Erstauflage 2016 Waldhardt Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by Manuela Maer
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Ber-lin
Coverfoto: Reinhold Bauer, Forbach
Umschlaggestaltung: Verena Ebner
Lektorat: Waldhardt Verlag 2016
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver-wertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Obere Findelstätte 50a
49124 Georgsmarienhütte
Deutschland
www.tribusverlag.com

Danksagung

Ich möchte Danke sagen.
Herzlichsten Dank an meine Familie, die wie immer die
Entstehung meiner Geschichte mit Spannung und voller Emotionen verfolgte und mich mit lebhaften Diskussio-nen in die richtigen Bahnen lenkte. Meinem Mann und meinen Kindern vielen Dank dafür, dass sie mich ertra-gen, wenn ich Tag für Tag von nichts anderem rede. Danke für ihr großes Verständnis, wenn ich in meine ei-gene Welt abtauche.
Danke für Eure Geduld.
Ebenfalls ein großes Dankeschön an Margot und Rein-hold, die mich während des Schreibens ständig begleite-ten und mich unmittelbar in herzerfrischender Weise auf Unebenheiten in der Story aufmerksam gemacht haben. Vielen Dank an den Historischen Verein Rastatt e. V., in dem ich einen Ansprechpartner hatte, der mich bei mei-nen Recherchen unterstützte (www.hist-ver-rastatt.de).
Danke den Betalesern, Ulla, Hannelore, Elli, Simone und Kristina, die in schweißtreibender Kleinarbeit meine Ge-schichte einmal auseinandergenommen und wieder zu-sammengesetzt haben. In einigen Punkten stellten sie mich danach vor vollendete Tatsachen. Ohne Eure Mei-nung und den darauffolgenden Gedankenaustausch würde ich wahrscheinlich »den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen«, oder besser gesagt, ich sähe die Ge-schichte nicht mehr vor lauter Buchstaben. Dank Eurer aller Hilfe wurde diese Geschichte zu einem Roman.

Die Idee

Ich werde oft gefragt, woher ich meine Ideen nehme. Nun, das ist sehr unterschiedlich. Die Idee zu dieser Geschichte wurde zum Beispiel am Frühstückstisch geboren, an einem
Samstag, als ich mit meiner Familie entspannt das Wochenende begann. Ein lustiger Umstand sorgte wieder einmal dafür, dass meine Fantasie Flügel bekam. Die Sprüche lagen uns quasi auf der Zunge und wurden natürlich unter großem
Gelächter kundgetan und dann passierte das Unglaubliche.
Ich mutmaßte, dass ich einen Dämon heraufbeschwören könnte und meiner Tochter fiel nichts Besseres ein, als diesen
Umstand in ihrem kürzlich erlernten Französisch halbwegs zu formulieren. Sie meinte: »Il y a du vent«. Was, so klärte sie
uns auf, so viel wie »es ist windig« heißt. Das war die Geburtsstunde des Dämons, der aus diesem Wortspiel heraus den
Namen Ilya Duvent bekam. Natürlich war er ein Dämon, der
Macht über den Wind hatte. Als mein Sohn später meinte, dass er einen Zauberspruch in einem Buch suchen könnte,
mit dem Ilya Duvent die Seiten von selbst umblättern lassen kann, weil er ja des Windes mächtig ist, wurde in meinem
Kopf der Seelentrog geboren. Wir frühstückten zu Ende. Danach setzte ich mich für eine halbe Stunde an den Rechner und schrieb meine Idee, die aus diesem lustigen Gespräch entstanden war, in zwei Seiten auf.
Erst nach über einem Jahr schaffte ich es, mir die Zeit zu nehmen, den Figuren Leben einzuhauchen.
Viel Spaß beim Lesen!


Eure Manuela Maer

Hauptpersonen

- Isabelle 1848, Julias Vorfahrin/Ururgroßmutter
- Gustave 1848, junger Arzt, Geliebter von Isabelle
- Julia 2004, Rastatt heute, Bibliothekarin, Nachfahrin von Isabelle
- Steven 2004, Julias Freund
- Günter Gronauer 2004, Julias Chef und Buchladenbesitzer, ehem. Laufbursche von Akabott
- Algäsius Akabott 1848-2004 Ehemann von Isabelle, Antiquitätenhändler
- Irina Yourigca 1848 Kräuterfrau (Hexe)
- Sheila Yourigca 2004, Nachfahrin der Hexe Irina, Lebensberaterin
- Magdalena 1848, Isabelles Kindheitsfreundin


Bedeutungen


- Kontor Büro
- Gilet alter Ausdruck für Weste
- Dörfel Stadtteil von Rastatt

Rastatt, Februar 1848

Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
(Altes Testament, Hosea, Kapitel 8, Vers 7)
Rastatt, Februar 1848
Behutsam öffnete Isabelle ihre Augen, die geschwollen und gerötet waren vom Weinen bis spät in die Nacht. Grell schien die Sonne in ihr Schlafgemach. Immer noch müde, stellte sie fest, dass sie weder die Läden geschlossen noch die Vorhänge zugezogen hatte. Schwerfällig setzte sie sich auf und hielt vorsichtig mit der rechten Hand den linken Unterarm fest. Er war über und über mit blauen Flecken und Blutergüssen bedeckt, ebenso wie ihr restlicher Körper. Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastete sie sich ab, versuchte, die Finger der linken Hand zu bewegen, was nur unter großen Qualen möglich schien. Sehr langsam schlug sie die schwere Bettdecke zurück und legte ein Bein nach dem anderen behutsam zur Bettkante. Selbst sie offenbarten deutlich alte und neue Abdrücke, welche auf die andauernden Misshandlungen ihres Gatten hinwiesen. Auf wackeligen Beinen stakste sie hinüber zur Waschschüssel, goss mühsam mit einer Hand Wasser hinein und tauchte Baumwolltücher in das kühle Nass. Mit diesen Wickeln verband sie ihren linken geschundenen Arm. Der Blick in den übergroßen und reich verzierten Bodenspiegel gefiel ihr ganz und gar nicht, sie zwang sich dennoch hineinzusehen. Drei oder auch vier rötliche Striemen prangten auf der linken Gesichtshälfte. Eine Stelle neben der Augenbraue war besonders geschwollen und machte den Eindruck, als würde sie gleich aufplatzen wollen. An der rechten Hand ihres Mannes befanden sich jeweils an Mittel und Ringfinger breite goldene Herrenringe. Einer der Schläge mit dieser Hand, die sie wie Sandsteine im Gesicht trafen, war vermutlich der gewesen, durch den sie ihr Bewusstsein verloren hatte. Die bittere Erinnerung holte sie ein und sie begann zu zittern, so sehr, dass sie zurück zum Bett humpelte und sich schnell auf der Kante niederließ. Zu ihrem 23. Geburtstag, den sie vor ein paar Wochen feierte, hatte er ihr Besserung versprochen. Leider hoffte sie bisher vergeblich auf die Einlösung des Versprechens.
Ihr Bewusstsein drehte sich im Kreis. Wieder und wieder suchte sie in Gedanken nach Möglichkeiten, ihrem jähzornigen Mann zu entfliehen, der immer und immer wieder seinen Unmut und seine Unzufriedenheit an ihr auslebte. Mühselig schleppte sie sich zum Fenster, erhaschte einen Blick auf die Kirchenuhr und erschrak. Wenn sie nicht erneut den Unmut ihres deutlich älteren Mannes auf sich ziehen wollte, musste sie sich beeilen und zum Wochenmarkt gehen. Pünktlich um 12 Uhr schloss er seinen Antiquitätenladen, den er mitten in der Stadt in vorteilhaftester Lage besaß. Er bestand darauf, dass das Essen genau 15 Minuten nach Ladenschluss auf dem Tisch stand.
Die aufkommende Angst begrub die schmerzlichen Bewegungen und sie schaffte es, sich schnell anzuziehen und zurechtzumachen. Abgesehen von den blauen Flecken im Gesicht und dem deutlich geschwollenen Auge war sie eine wunderschöne junge Frau mit goldbraunen lockigen Haaren, raffiniert nach oben gesteckt. So wirkte sie wie eine Adelige. Zu Recht, denn ihr Vater, hoch angesehen im Regiment, war ein direkter Nachfahre von Carl Ferdinand Freiherr von Plittersdorf. Dieser war damals, zu Zeiten von Augusta Sybilla, eng mit dem Herrschaftshaus verbunden. Genau das war der Grund, weshalb sie nicht mit ihren Eltern über ihr eheliches Desaster reden wollte. Einzig und allein ihrer Freundin Magdalena hatte sie sich anvertraut und ihr damit gleichzeitig das Versprechen der allergrößten Verschwiegenheit abverlangt. Sei es drum, sie musste zum Markt. Kam sie zu spät, würde sie nichts mehr bekommen.
Hurtig überquerte sie das Kopfsteinpflaster, um an der Stadtkirche vorbei zum Marktplatz zu gelangen. Die anhaltenden revolutionären Unruhen gestalteten das Leben in dieser Zeit nicht einfach. Aufmerksam äugte sie in die Seitenstraßen und konnte gerade noch einen Blick auf eine patrouillierende Soldatenriege erhaschen. Tief zog sie die Haube ihres Umhanges ins Gesicht. »Isabelle!«, rief es auf einmal zart von der Seite. »Isabelle, warte!«
Schon spürte sie eine Hand am Arm. Die Berührung ließ sie empfindlich zusammenzucken. Sie hob kaum den Kopf an. »Oh mein Gott, Isabelle! Was hat er dir nur wieder angetan? Wann willst du endlich etwas dagegen unternehmen?«
Isabelles Augen füllten sich mit Tränen. Sie wunderte sich, dass überhaupt noch welche herausdringen wollten, wo sie gerade letzte Nacht ein Meer davon vergossen hatte. Wegen dem Kloß im Hals war es ihr gerade nicht möglich, ein vernünftiges Wort zu sagen. Ihre Freundin schob besorgt den Stoff des linken Armes beiseite, den Isabelle schützend an ihren Körper presste. Magdalena erschrak bei diesem Anblick und bedeckte schnell die sich mittlerweile violettfärbenden Stellen. »Du musst von ihm fort. Ich werde mit meinen Eltern reden. Vielleicht finden wir ja eine Möglichkeit.« Verängstigt schaute sich Isabelle um, räusperte sich und klagte heiser: »Geh! Wenn er uns zusammen sieht, bekommst du vielleicht auch noch Ärger. Das möchte ich auf keinen Fall riskieren. Ich komme schon klar. Mach dir wegen mir keine Sorgen.«
Ohne weitere Worte zu verlieren, marschierte sie los, um an den wenigen Wochenmarktständen für die nächsten paar Tage einzukaufen. Kaum war sie außer Sichtweite ihrer Freundin, lehnte sie sich erschöpft und emotional am Boden zerstört an den Bernhardusbrunnen. Es überkam sie derart, dass sie sogar in die Knie sackte und heftig zu weinen begann.
Ein junger Mann, wenige Jahre älter als sie, hatte das Dilemma beobachtet. Fälschlicherweise nahm er an, die junge Frau habe etwas Schicksalhaftes erfahren. Geschwind eilte er zu ihr hin, um sie zu trösten. In dem Moment, als er Isabelle ausgerechnet am linken Arm berührte, um ihr aufzuhelfen, zuckte sie zusammen und schrie kurz auf. Seelenruhig sah er sich um, fasste sich ein Herz und zog sie dennoch auf die Füße. Große dunkelbraune verweinte Augen blickten ihm erschrocken entgegen. Besorgt stellte er fest, dass ihre linke Gesichtshälfte teilweise angeschwollen war und bedenkliche Striemen zeigte. Ohne zu fragen, streifte er ihren Überhang ein klein wenig nach oben. Sein Gesicht zeigte deutlich die Sorge über das, was er erblicken musste. Ihm war sofort klar, was das bedeutete. Als Arzt hatte er schon so einiges gesehen, vor allem, wenn es um Misshandlungen ging.
Isabelle wich verschüchtert zurück. Jetzt erkannte er sie. Einige Male schon war er bei ihren Eltern zu Hause gewesen, weil der Vater wegen eines Herzleidens regelmäßig seine Hilfe benötigte.
»Sie sind doch Isabelle, die Tochter von ...?« Rasch legte sie ihm einen Zeigefinger auf den Mund. Auch sie hatte ihn erkannt. »Pst, seien Sie still!«, raunte sie. »Wenn uns einer hört, geschweige denn sieht.«
»Aber das ...«, er deutete auf ihren Arm, »... habe ICH gesehen. Das kann ich nicht so hinnehmen. Sie müssen das melden. War das Ihr Mann?«
Sie schüttelte energisch den Kopf. Hob abwehrend eine Hand und wollte sich schon herumdrehen, als er nach ihr fasste und sie gerade noch am Henkel des Einkaufkorbes erwischte. »Sie sollten von ihm weggehen. Ich verstehe Ihre Bedenken und respektiere das, dennoch werde ich Sie jetzt mit zu mir nehmen. Ich will mir das genauer anschauen. Es ist ja nicht weit, dort drüben in der Seitenstraße befinden sich meine Behandlungsräume.«
Sein sorgenvoller Blick löste eine emotionale Explosion in ihr aus und ein Schwall von Tränen rann ihr abermals über das Gesicht.
Um zu seiner Wohnung zu gelangen, mussten sie den Marktplatz überqueren. Isabelle nutze die Gelegenheit und kaufte die wenigen Dinge, die sie brauchte. Dort angelangt, führte sie der junge Arzt in das Zimmer, welches er als Behandlungsraum nutzte. Einige leere Hocker standen an der Flurwand entlang. Isabelle sah verwundert umher.
»Heute habe ich keine Sprechstunde. Ich war gerade auf dem Weg ins Dörfel. An Dienstagen mache ich meistens Hausbesuche und schaue im Hospital vorbei, um dort zu helfen, sollte Bedarf bestehen.«
In seiner kleinen Versorgungsküche suchte er Verbandmaterial zusammen, Salben und eine Schüssel, in die er Wasser und Eis tat. Isabelle stand währenddessen verloren mitten in dem kleinen Zimmer, festgeklammert an ihrem Einkaufskorb. Sie fing an zu zittern, schon allein der Tatsache wegen, was Algäsius sagen würde, wenn er erführe, dass sie hier gewesen war. Nach wenigen Minuten hatte er alles auf einen kleinen Tisch in der Ecke gerichtet und bat sie höflich, ihren Korb abzustellen und den Umhang abzulegen. Sie zögerte, sodass er ihr, ohne zu fragen, den Korb abnahm und sie behutsam auf das einfache Bettgestell drückte, welches ein Drittel des Raumes einnahm.
Sachte hob er ihren linken Arm, streifte den Stoff nach hinten und besah sich das lilagrünblaue Dilemma. »Jetzt wird es wehtun.« Mahnte er an und begann, den Arm Zentimeter für Zentimeter abzutasten. Isabelle zuckte zusammen, ertrug den Schmerz aber still und leidend. Nach eingehender Untersuchung befand er, dass nichts gebrochen sei, und wickelte einige, mittlerweile eisgekühlte Tücher, um den Arm. Danach sah er sich ihre linke Gesichtshälfte an, vor allem das Auge. Immer wieder schüttelte er den Kopf, sagte jedoch nichts weiter, wofür sie ihm sichtlich dankbar war. Endlich, nachdem er ihren Arm in einen Salbenverband gelegt und die Schwellung im Gesicht gekühlt hatte, stand er vor ihr und reichte ihr seine Hand.
»Ich bin Gustave«, und nach einer nachdenklichen Pause, » ich möchte Ihnen gern helfen. So kann das nicht weitergehen.«
Isabelle nahm seine Hand. Er umschloss die ihre liebevoll und erneut drangen Tränen aus ihren Augen. Diesmal nicht vor Schmerzen, Schmach und Erschöpfung, sondern weil sie so viel Glück und zuvorkommende Behandlung erfuhr. Das bereitete ihr ein Gefühl, als wäre sie etwas Besonderes.
»Ich kann nichts gegen ihn unternehmen. Er würde mich lieber ermorden, als mich gehen zu lassen. Es scheint mein Schicksal zu sein, ein Leben im Wohlstand zu führen und gleichzeitig dafür bestraft zu werden. Wo doch in diesen revolutionären Zeiten so viel Armut und Hunger um uns herum herrschen.«
»Schicksal, ach, woher! Er ist ein notorisch jähzorniger Choleriker.«
»Die Zeiten sind hart. Er hat es nicht leicht mit seinem Laden.«
»Nehmen Sie ihn nicht in Schutz! Ein jeder hier im Viertel weiß, dass er an sämtlichen Ecken Mätressen hat, die ihm das Geld aus der Tasche ziehen und an Ihnen lässt er seine Übellaunigkeit aus. Reden Sie mit Ihrem Vater, oder soll ich das für Sie tun? Ihr Vater ist doch einflussreich, er kennt sicher einen guten Advokaten.« »Neiiin, bitte nicht! Algäsius bringt mich um, wenn auch nur einer davon erfährt, was er mir antut. Das hat er mir immer wieder angedroht und mein Vater ist zu krank. Ich kann nicht verantworten, dass er sich aufregt.«
Gustave reichte ihr sein Taschentuch, weil die dicken Tränen weiterhin aus ihr herausliefen. Stille umhüllte die beiden und er betrachtete Isabelle genauer. Eine auffallend hübsche Frau saß da vor ihm, gutherzig und treu, die ohne Zweifel solch ein Leben nicht verdient hatte. Schon sehr lange hegte er im Geheimen starke Gefühle für Isabelle. Sie so erleben zu müssen, schmerzte ihn. Im Innersten musste er sich eingestehen, dass sie auf beeindruckende Weise sein Herz berührte. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, strich er ihr über das Haar.
Isabelle senkte bei seiner zärtlichen Berührung dankbar die Augenlider. In ihren Gedanken brodelte es, die Gefühle purzelten umher. Bisher hatte sie den höflichen und dennoch liebevollen Flirts, wenn sie sich trafen, nicht wirklich Gewicht beigemessen. Jedoch tat ihr diese zuvorkommende Behandlung in der Seele gut und auf einmal wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in seinen Armen zu liegen.
Plötzlich stand sie, erschrocken über sich selbst, auf. Die Zeit drängte, sie musste gehen, das Essen vorbereiten, bevor ihr Mann nach Hause kam.
Die beiden jungen Leute sahen sich an. Sekunden wurden zu Minuten, die Zeit verstrich und sie konnten kaum den Blick voneinander abwenden. Gustave ergriff zuerst das Wort und unterbrach die prickelnde Stille.
»Wann sehe ich Sie wieder?«
»Samstag ist Markt.«
Mit diesen Worten berührte sie ihn zart am Arm, nahm ihren Korb und verließ den jungen Doktor. Mit klopfendem Herz eilte sie den Weg zurück, die Wangen rot vor Aufregung und mit zaghaft wahrnehmbaren Glücksgefühlen. Je näher sie allerdings ihrem Zuhause kam, desto trauriger wurden ihre Gedanken.
Algäsius Akabott kam wie immer pünktlich, zur gewohnten Mittagszeit, nach Hause. Eine Zeitung unter dem Arm setzte er sich an den Tisch und erwartete wie jeden Tag, dass seine Isabelle ihm den Teller mit dem Mittagessen vorsetzte. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er wohl, dass sie den linken Arm verbunden hatte, sagte jedoch nichts dazu.
Nach dem Essen legte er, wie schon so oft, ein Geschenk vor ihr auf den Tisch. Diesmal eine kleine längliche Schatulle.
»Es tut mir leid, dass ich mich gestern Abend so gehen ließ. Ich hoffe, ich kann dich mit diesem Geschenk ein wenig milde stimmen. Ach ... heute Abend wird es sicherlich wieder spät, bis ich heimkomme. Du brauchst nicht auf mich zu warten.«
Isabelle zwang sich, zu lächeln, und nahm die Schatulle an sich. Wie gewohnt blieb er so lange bei ihr stehen, bis sie das Geschenk geöffnet hatte, ihre Freude darüber zeigte und sich bedankte. Anschließend verließ er mit sich zufrieden das Haus, um wieder in seinen Laden zu gehen.
Wut, Zorn und Hass stiegen gleichzeitig in ihr auf, als sie das brillantbesetzte goldene Armband betrachtete. Sie war es leid und wollte gar nicht wissen, wen er bestochen hatte, um an so ein Kleinod heranzukommen.
Am Donnerstag darauf zog sie, kaum hatte ihr Ehemann das Haus verlassen, die Betten ab. Sie war mit ihrer Mutter verabredet und hatte vor, mit ihr gemeinsam einen Waschtag einzulegen. Trotz der schweren Arbeit genoss sie es, denn dann brauchte sie am Mittag nichts für ihren Mann zu kochen. Sie verbrachte fast den ganzen Tag bei ihren Eltern. Es fiel ihr nicht leicht, denn ihr Arm schmerzte bei dieser Belastung. Obwohl die Matratzen dreigeteilt waren, bewerkstelligte sie es heute kaum, diese von den unhandlichen Leinentüchern zu befreien. Geschafft und völlig entkräftet von dem Gewicht der Bettwäsche, welche sie bis zum Haus der Eltern getragen hatte, saß sie dort im Hof.
Die Zugehfrau Bernadette, die ihrer Mutter im Haushalt half, nahm ihr das schwere Bündel gleich ab. »Das sollte Ihre Mutter aber nicht sehen«, flüsterte diese Isabelle zu.
»Wenn ich warten würde, bis mir die einer hierher trägt, wäre ich in vier Wochen noch nicht da.«
»Weshalb nehmen Sie nicht ein Mädchen in Stellung? Ihr Mann verdient sicherlich genug.«
»Er will das nicht. Er meint, dass ich dafür da bin, diese Arbeiten ausführen.« »Fragen Sie Ihren Vater, dass er ein paar Soldaten zu Ihnen schickt, wenn sie Unterstützung benötigen.« Kopfschüttelnd und lachend wehrte Isabelle die Worte ab. Sie wusste, dass ihr Vater es nicht gern sah, dass sie solche Arbeit selbst verrichtete. Er wusste so manches nicht und das war gut so.
Ihre Mutter gesellte sich dazu. Gemeinsam kochten sie in großen Bottichen Isabelles Bettwäsche und die Wäsche der Eltern aus und hängten diese dann über die eigens dafür im Hof gespannte Leine. Immer wieder streiften die Blicke der drei Frauen den Himmel, der sich zusehends bedeckte. Der Wind legte ein wenig zu, doch dies war im Moment von Vorteil.
Isabelle kam nicht umhin, sich den Fragen ihrer Mutter stellen zu müssen, weil sie solche bedenklichen blauen Flecken im Gesicht hatte, vor allem am Auge. Sie tat es geflissentlich ab als eigene Dummheit. Gestürzt sei sie und habe sich dabei das Gesicht gestoßen. Damit gab sich die Mutter zufrieden und hakte, zu Isabelles Erleichterung, nicht weiter nach.
Nachdem endlich das letzte Laken auf der Leine hing, schickte die Mutter Bernadette ins Haus. Sie solle das Essen richten, was sie sich alle jetzt redlich verdient hätten. »Die Zuber kannst du später saubermachen. Und wir, meine liebe Isabelle, wir verscheuchen die Tauben und Spatzen. Die hinterlassen sonst ihre Spuren auf unserer Wäsche«, lachte sie und wedelte schon mit einem Teppichklopfer durch die Luft.
Kurz darauf kam Bernadette aufgeregt zurück in den Hof geeilt. »Frau Ventus, kommen Sie schnell! Ihrem Mann geht es nicht gut. Ich glaube, er hat wieder einen Anfall.«
»Geh und hol den Arzt!«, rief ihr die Mutter zu. »Komm du mit nach oben, Isabelle! Hilf mir!« Sie preschte los, die Tochter im Schlepptau. Während Isabelle gleich eine Schüssel mit kaltem Wasser und ein Tuch richtete, versuchte die Mutter, ihrem Mann Medizin für das Herz einzuflößen.
Schwer atmend lag er auf dem Bett. Im Grunde ein stattlicher Mann, der allerdings in diesem Zustand ein eher jämmerliches Bild bot. Es tat Isabelle weh, ihn so zu sehen. Und jedes Mal hatten sie mehr Angst, er könnte einen Anfall nicht überstehen. Die Minuten verstrichen. Langsam entspannte sich sein schmerzverzerrtes Gesicht und auch der Atem ging wieder gleichmäßiger.
Unten polterte es und eine Tür fiel hart ins Schloss.
Hastige Schritte waren auf der Treppe zu hören.
Der Arzt kam herein.
Hinterher Bernadette, die sich dafür entschuldigte, dass es so lange gedauert hatte. Sofort beugte sich Gustave über den Patienten und untersuchte ihn genau.
Plötzlich begann Bernadette zu schimpfen. »Verflucht und zugenäht, so ein Mist aber auch«, und während sie weiter zeterte, verschwand sie in die Küche. Etwas überrascht und erstaunt schauten sich Isabelle und ihre Mutter an, doch schnell bemerkten sie den Grund, weshalb sich die Haushälterin so erboste. Es roch sehr verbrannt.
In der Aufregung hatte natürlich keiner nach dem Essen in der Küche geschaut. Isabelles Mutter nahm alle Schuld auf sich, da sie ja schließlich Bernadette fortgeschickt hatte, den Arzt zu holen. Und nachdem dieser dann auch noch Entwarnung bezüglich des Vaters gab, hob sich die Stimmung recht schnell wieder an.
»Ich glaube«, meinte die Mutter verhalten, »ich schaue mal eben in die Küche. Bitte Isabelle, biete dem Herrn Doktor etwas zu trinken an!«
Der wiederum nahm Isabelles Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Es freut mich, Sie hier wiederzusehen, wenn auch unter nicht so erfreulichen Umständen.« Mit einem Blick auf ihren Vater, »er muss seine Medizin regelmäßig nehmen, wenn er das nicht tut, kann ich für nichts garantieren.«
Immer noch hielt er Isabelles Hand, der man nach wie vor anmerkte, dass ein schweißtreibender Waschtag hinter ihr lag.
Ohne Vorwarnung schob er den Ärmel des Kleides nach hinten und legte den verbundenen Arm frei. »Wenn ich gerade da bin, kann ich mir das auch gleich ansehen.« »Nein«, rief Isabelle und zog mit der anderen Hand den Ärmel hastig wieder hinunter. »Es tut schon gar nicht mehr weh und sieht auch nicht mehr so schlimm aus.« Die Mutter betrat den Raum und hatte gerade noch einen Blick auf den Verband werfen können. »Kind, ist das etwa auch von deinem Sturz?«
Gustave sah Isabelle erstaunt an. Die versuchte, ihm ohne Worte zu verstehen zu geben, dass die Eltern nichts von der wahren Herkunft der Verletzung erfahren sollten.
»Ja, Mama! Das auch.« »Na dann bin ich aber froh, dass Sie, lieber Gustave, sich das angeschaut haben, wenn man aber auch so schusselig ist. Es ist ja nicht das erste Mal, dass du solche Blessuren hast. Als ob man dich nicht allein lassen dürfte. So warst du doch früher nicht, Kind. Algäsius sollte weniger arbeiten und mehr auf dich aufpassen.« Sie saß jetzt am Bett ihres Mannes und versuchte, ihm etwas Suppe einzuflößen, die er mit halb geschlossenen Augen dankbar zu sich nahm. Die Anstrengung des Anfalls war ihm deutlich anzusehen.
»Er sollte ein wenig schlafen und bitte denken Sie an die Medizin. Ich empfehle mich, habe noch einiges zu tun.« Noch immer hielt er Isabelles Hand.
»Aber lieber Doktor, Sie haben ja gar nichts zu trinken bekommen«, und zu Isabelle gewandt, »Kind, ich bat dich doch ...!«
»Lassen Sie es gut sein, Frau Ventus! Ich danke herzlich, aber ich muss wirklich zurück. Isabelle würde ich am liebsten mitnehmen und mir den Arm noch mal anschauen. Der Sturz«, wobei er das Wort stark betonte, »war nicht so harmlos, wie es den Anschein hatte.« Sie stellte die Suppe zur Seite und drückte ihre Isabelle.
»Natürlich geht sie mit. Nicht wahr, mein Kind?«
Streng schaute sie ihre Tochter an. »Komm gleich wieder zurück, dann können wir zusammen essen und wenn das Wetter noch hält, ist die Wäsche auch bald trocken.«
Es blieb Isabelle also nichts anderes übrig, wie Gustave zu begleiten. Galant, wie er nun mal war, schob er sie sachte, mit seiner Hand in ihrem Rücken, mit sich. In der Sekunde als sie seine Räumlichkeiten betraten, kam die Helferin aus einem kleinen Zimmer heraus, sich gerade einen Mantel umbindend. »Fertig für heute, Herr Doktor. Ich habe die anderen beiden nach Hause geschickt, die sollen Morgen kommen. Ich ahnte ja nicht, dass sie so schnell wieder zurück sind. Ich gehe jetzt auch, muss noch hinüber ins Lazarett.«
Sie lächelte Isabelle freundlich an und verließ eiligst das Haus.
Unheimliche Ruhe umhüllte Isabelle, die mit Herzklopfen in dem kleinen Flur stand. Gustave bat sie in das kleine Behandlungszimmer, in welchem sie schon zwei Tage zuvor einmal gewesen war. Wieder musste er sie auf das Bettgestell drücken, da sie sich nicht freiwillig setzte.
Er löste den Verband, reinigte die betroffenen Wunden, trug frische Salbe auf und umwickelte den Unterarm mit neuem Verbandmaterial.
Isabelles Wangen hatten sich zartrosa gefärbt, so sehr schlug ihr Herz. Gustave bemerkte es und fühlte den Puls. »Ist alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?« Er strich zärtlich über ihre Wange und zuletzt über ihr Haar. Verlegen blickte Isabelle zu Boden.
»Ihr Haar fühlt sich an wie die seidenen Flügel eines Schmetterlings.« Er beugte sich für einen Augenblick zu ihr und roch an ihren Haaren. »Und jetzt weiß ich, nach was Sie duften, nach Flieder. Habe ich recht?«
Er hob sachte, mit seiner Hand unter ihrem Kinn, ihren Kopf an, bis sie ihm in die Augen schauen musste. Ihre Brust bebte und sie fürchtete schon, ohnmächtig zu werden, weil sie die Aufregung beinahe übermannte. Schließlich nahm Gustave sie an beiden Händen und zog sie auf die Füße. Er behielt allerdings ihre Hände fest in den seinen und führte sie an den Mund, um ihr einen innigen Kuss auf die Finger zu geben.
»Gibt es denn eine Chance für uns? Ich glaube, mehr zu
spüren als nur Bekanntschaft. Irre ich mich?« Eindringlich schaute er sie an.
Isabelle hatte das Gefühl, als gäben jeden Moment ihre Beine nach. Ihr Herz schlug jetzt so wild, dass sie glaubte, es würde gleich zerspringen. Ihr war heiß, dann wieder kalt, dann wieder heiß und so sehr sie auch antworten wollte, sie bekam keinen Laut über die Lippen. Ihre Gesichter trennten nur noch wenige Zentimeter.
Die Luft zwischen ihnen war so aufgeladen, dass ein Funke genügen würde, um eine Feuersbrunst zu entfachen.
»Ich kann nicht!«, hauchte sie, legte kurz eine Hand an seine Wange, gab sich einen Ruck und drängte hinaus.
Sie konnte nicht mehr klar denken und der Rückweg zu ihren Eltern war ihr eher lästig als nützlich. Lieber wäre sie jetzt allein mit ihren Empfindungen. Ja, sie hatte es gespürt. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie sich sehr zu Gustave hingezogen fühlte. Es blieben ihr allerdings nicht viele Möglichkeiten, sollte sie Ärger vermeiden wollen. Deshalb durfte sie Gustave nicht mehr sehen. ... Ihr Herz allerdings sprach etwas Anderes. Es schrie förmlich danach, sich dem Gefühl hinzugeben. Zurück bei den Eltern fiel es Isabelle schwer, nicht ständig das Bild von Gustave und ihr selbst vor Augen zu haben. Mehrmals mahnte sie die Mutter an, wo sie denn mit ihren Gedanken sei.
Die Tage bis zum nächsten Wochenmarkt am Samstag zogen sich hin. Algäsius bemerkte die Veränderung von Isabelle nicht, da er entweder nicht anwesend war oder sich hinter den Zeitungen vergrub und seine Ehefrau ohnehin ignorierte.
In der Zwischenzeit hatte Isabelle ihre Freundin Magdalena ins Vertrauen gezogen und ihr von den aufkeimenden Gefühlen für den Arzt berichtet. Wie eine verschworene Gemeinschaft, die die zwei sicherlich waren, mutmaßten sie, wie es wohl sein könnte, mit dem jungen Arzt zusammen zu sein. Je mehr die Freundinnen ihrer Fantasie freien Lauf ließen, desto mehr hegte Isabelle den innigen Wunsch, in Gustaves Armen zu liegen.
Der Samstag brach an und die gepeinigte junge Ehefrau konnte es kaum erwarten, dass ihr Mann das Haus verließ. Hurtig zog sie eines ihrer besten Kleider an und frisierte sich, wie sie es sonst nur an Sonntagen zu tun pflegte. Rouge benötigte sie keines, da ihre Wangen sich von allein rosa färbten. Ihr Herz schlug in freudiger Erwartung, Gustave zu treffen. Ihr war durchaus bewusst, dass sie in der Öffentlichkeit die Etikette wahren musste, dennoch lenkte sie diese Schwärmerei von ihrem leidvollen ehelichen Schicksal ab. War es wirklich nur Schwärmerei? Was, wenn er heute nicht auf den Markt kommen konnte? Sofort stimmte sie dieser Gedanke traurig und aufgrund ihrer Reaktion musste sie sich eingestehen, dass sie drauf und dran war, sich in den jungen Arzt zu verlieben. Sie wurde sich bewusst, dass es keine Schwärmerei war, sondern dass er ihr Herz berührt hatte.