Ilya Duvent

Wenn Sturm Tränen trocknet

Manuela Maer

Impressum

Die Region im hinteren Murgtal in Baden-Württemberg bietet wahnsinnig viele historische Begebenheiten, die sich hervorragend als Ideengeber eignen. Die Inhalte, die ich in dieser Geschichte darstelle, beanspruchen keines-falls hundertprozentige Wahrheiten oder Hinweise da-rauf. Dies ist eine Fantasy-Geschichte, in der ich mir die künstlerische Freiheit erlaube, Realitäten durchaus zu verändern. Eventuelle Namensgleichheiten und schein-bar realistische Darstellungen von echten Personen und Orten sind rein zufällig.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek - Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
September 2020
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by Manuela Maer
Lektorat: Sophie Fendel
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Verena Ebner
Coverbild: Reinhold Bauer / Fotograf
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Obere Findelstätte 50a
49124 Georgsmarienhütte
Deutschland

Danke!

... meiner Familie, meinem Mann und meinen Kindern!
... meinen Betalesern: Elke, Uschi und Andy, Reiner, Steffi, Ulla, Hannelore, Maria und Simone


Danke an Bernd Schneider für die tollen und wertvollen Hinweise und Korrekturen.


Danke, dass ihr alle an mich glaubt.

Ilya Duvent - Wenn Sturm Tränen trocknet

Ȇber den Bach sich beugen,

tief das Haupt verneigen

vor dem reinen und klaren

in dem hellen und wahren

Wasser, das Vater und Mutter,

Schwester und Bruder,

Sein und Leben

und alles dir ist.«

Dr. Carl Peter Fröhling
(*1933), deutscher Germanist, Philosoph und Aphoristiker

 

Forbach - Ortsteil Bermersbach, Februar 2015

Das aufsteigende Licht der Sonne hatte gerade begonnen, sich mühevoll durch den Frühnebel zu kämpfen. Ein tiefes Motorengeräusch erstreckte sich kilometerweit durch den Wald und hallte aus der Ferne zurück.

Kleine Steinchen spritzten zur Seite.

Etwas zu schnell fuhr Ortsbauamtsleiter Drillich den Gemeindewagen den Glücksweg entlang.

Zum Wandern war er am Montag in der Frühe allerdings nicht unterwegs. Spaziergänger hatten am Sonntag eine Entdeckung gemacht.

Völlig aufgelöst hatte ein Familienvater auf den Anrufbeantworter der Gemeinde gesprochen, während der Rest der Familie im Hintergrund nicht zu überhören war.

An Sonntagen arbeitete hier niemand im Rathaus, und so verstand Drillich nicht, dass sich die Ausflügler darüber auch noch aufregten. Zumindest wurde man wirklich nicht schlau aus den aufgekratzten Worten. Wenigstens erwähnte der Mann mehrmals den Glücksweg, ein Wasserbecken und etwas, das in der Mauer steckte.

Die Mitarbeiterinnen am Empfang des Rathauses schlossen daraus, dass wohl das Stauwehr gemeint war, das sich am Stutzbach auf etwa einem Drittel der Wegstrecke befand.

Der Glücksweg gehört zu den zahlreichen Wanderwegen, die diese Region bietet, recht nah an dem kleinen Bergdorf Bermersbach gelegen, welches idyllisch eine Bergkuppe säumt.

Seit Tagen schon erfreute trockenes, sonniges Wetter die Gemeinde. Kaum zu glauben, dass es zwei Wochen zuvor noch geschneit hatte. Nicht umsonst behaupteten Einheimische, man befände sich hier auf der Sonnenterrasse des Murgtales. Vor einigen Jahren erst hatte man das 625-jährige Bestehen des 750-Seelen-Dorfes gefeiert, das sich mit seinen Häusern inzwischen weit die Hänge hinunterzog.

Schönes Dorf hin oder her.

Es half alles nichts.

Die Kollegen vom Bauhof hatten heute Morgen keine Zeit, den Hinweisen der Spaziergänger nachzugehen, folglich lag es heute am Ortsbauamtsleiter, die Meldung zu überprüfen.

Abrupt trat er auf die Bremse.

Zwei streitende Elstern kreuzten mit lautem Gekreische seinen Weg. Der Wagen kam zum Stehen und hinterließ dabei eine Bremsspur auf dem taunassen Feldweg.

Sein Herz schlug doppelt so schnell, als er feststellte, dass der Wagen sehr nah an die stark abfallende Böschung gerutscht war. Kopfschüttelnd und verärgert atmete er tief durch. Im Schritttempo lenkte er den großen Jeep zurück in die Wegmitte, und mit deutlich gedrosselter Geschwindigkeit näherte er sich seinem Ziel. Ein Stück weiter vorn stellte Drillich den übergroßen SUV ab. Bewaffnet mit einer kleinen Kamera, einer Taschenlampe und einem Rucksack mit Werkzeugteilen marschierte er die wenigen Schritte bis zur rot-weißen Absperrung. Die hätten hier unten gar nicht sein dürfen! Was hatten die da zu suchen?

Vorsichtig betrat er den schmalen Pfad, der sich durch das Gestrüpp abwärts schlängelte. Das dürre Gras war feucht und glitschig. Trotzdem kam er immer wieder gerne hierher. Dieser Ort hatte etwas ganz Eigenes an sich.

Die Natur zeigte sich inzwischen sehr bemüht, den Zugang zum Wehr vor den Blicken Neugieriger zu schützen.

Da der Pfad weiter oben offener lag, hatte man Absperrbalken aufgestellt, eigentlich, um zu verhindern, dass keiner dort hinunterkletterte. Es gab keine Sicherung um das Becken herum, somit war es für Neugierige zu gefährlich, es zu betreten.

Zu dieser Jahreszeit allerdings konnte er das Stauwehr schon von oben einsehen.

Nebelschwaden schlierten über dem Becken umher und spiegelten sich glitzernd auf der Wasseroberfläche. Ein eher unheimlicher Ort inmitten des Waldes.

Unbedeutende Waldgeräusche, fast nur Stille, empfingen ihn, als er unten ankam und seinen Blick über das Staubecken wandern ließ. Unwillkürlich hielt er kurz den Atem an. Wo um alles in der Welt soll ich mit der Suche nach dem angeblichen Fund beginnen?

Vorsichtig trat er weiter an die bemooste Stauwehrmauer heran.

Der Stutzbach trennte ihn vom eigentlichen Wehr. Zumindest heute donnerte er in einem kräftigen kleinen Strom über die Betonstufen.

Mittlerweile hielt Drillich die Taschenlampe in der Hand, deren Strahlpunkt er schmaler stellte, um gezielt kleine Bereiche auszuleuchten. In dem Moment, als er über die schmale Betonbrücke zum eigentlichen Staubecken hinüberwollte, fiel ihm linker Hand auf, dass der untere Bereich der Mauer unter dem Moos und herunterhängendem Gestrüpp brüchige Stellen zeigte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und die Stelle fixierend, richtete er den Strahl der Taschenlampe genau auf diesen Punkt. Er konnte kaum glauben, was er sah.

Sein Blick wanderte flüchtig zu seinen Füßen. Die Schuhe reichten zwar über die Knöchel und waren für solche Untergründe perfekt geeignet, allerdings nicht tauglich, um damit im Wasser zu stehen. Er zögerte. Immerhin könnte er auch zurück zum Wagen eilen, um die Gummistiefel zu holen, die im Kofferraum lagen.

Die kühlen Temperaturen zeigten seine deutlich erhöhte Atemfrequenz. Das Adrenalin putschte ihn mehr und mehr auf. Seine für wenige Momente andauernde Regungslosigkeit endete unversehens darin, dass er sich vorsichtig auf eine der Betonstufen hinabließ. Als das eiskalte Wasser sich in Bruchteilen von Sekunden seinen Weg durch das Schuhwerk bahnte, zog er zischend die Luft durch die Zähne. Er spürte den Druck des vorbeifließenden Wassers, bemerkte aber schnell, dass er ohne Probleme stehen konnte.

Sich an der Mauer abstützend, das Licht der Lampe genau auf die auffällige Stelle gerichtet, schob er sich Stück für Stück näher heran. In der Tat, seine Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt und die Spaziergänger hatten recht behalten. Deutlich klaffte eine poröse Mulde in der Mauer, aus der tatsächlich einige Knochen herausragten. Seine Fassungslosigkeit wuchs umso mehr, je genauer er erkannte, was er da vor sich hatte. Für Sekunden schloss er die Augen und atmete tief durch.

Zog dann seinen Rucksack vom Rücken und kramte hektisch einen Pickel hervor. Mit Schwung schleuderte er danach den Rucksack auf den kleinen Zugangssteg. Hauptsache, er konnte den Blick für kurze Zeit woandershin richten.

Es half nichts.

Sein Herz schlug wild und die Hände zitterten, und das lag nicht daran, dass er im eiskalten Wasser stand, welches unaufhörlich seine Füße umspülte.

Erneut schloss er, schnell durchatmend, seine Augen und wandte sich zögernd der Stelle zu. So langsam es ihm irgendwie möglich war, krochen jetzt seine Pupillen nach oben.

Noch nie hatte der Ortsbauamtsleiter so etwas in der Realität gesehen. Es kostete ihn einiges an Überwindung, genauer hinzusehen. Doch so sehr in der Anblick anfänglich erschreckte, so rasch wandelte sich dieses Empfinden in Neugierde.

Dadurch angetrieben konnte er ab dieser Sekunde den Blick nicht mehr von dem schadhaften Bereich in der Mauer lösen.

Vorsichtig schabte er um die Knochen herum das Moos zur Seite. Unmittelbar bestätigte sich die Information, die seine Sinne ihm schon ein paar Minuten zuvor gesendet hatten, er aber nicht hatte glauben wollen.

Ein Schädel schaute zur Hälfte aus der Mauer heraus, und eines war sicher: Es war ein Menschenschädel!

 

»Doppeltes Feuer

Die Erde wird bald ein Aschenhaufen;

es brennen von oben und unten daran

der Himmel, so viel die Menschen wollen,

die Hölle, so viel der Teufel kann.«

Wilhelm Müller
(1794–1827), genannt Griechen-Müller, deutscher Liederdichter (Wander-, Müller-, Griechenlieder) und Philhellene

 

Bermersbach um 1921

»Meinst du wirklich, dass wir das tun sollten?«

»Sei still! Diese ignoranten, engstirnigen Idioten müssen endlich einsehen, dass es besser ist.«

»Aber müssen wir deswegen tatsächlich die Heuhütte ...«

»... sie werden es sonst nie verstehen. Außerdem kommt hier ja keiner zu Schaden. Im Übrigen bezahle ich dich für deine Hilfe, schon vergessen?«

Geduckt und flüsternd in ihr Streitgespräch vertieft, schlichen die zwei jungen Burschen im Schatten der kargen Häuser durch das Dorf, hinunter in Richtung Sägemühle. Ausgerechnet heute Nacht stand der Vollmond in seiner ganzen Pracht am Himmel, folglich gestaltete es sich schwierig, unbemerkt zu ihrem Ziel zu gelangen. Hierzu mussten sie erst den Berg hinunter, an der Sägemühle vorbei und dahinter den Hang wieder hinauf. Dorthin, wo zig Heuhütten das Landschaftsbild zierten.

Der ansässige Ortsdiener, der gleichzeitig mit einem Lichtvertrag zur Betreuung der Straßenlampen bestellt worden war, hatte die fortschrittliche nächtliche Beleuchtung wegen des Vollmondes nicht angeschaltet.

Es berührte die beiden Unruhestifter allerdings ohnehin nicht, weil sie keinen der offiziellen Wege betraten. Der, der vorausging, hatte eine Petroleumlampe in der Hand, die allerdings nur schwach leuchtete. Ihre Scheiben waren geschwärzt, sodass das Licht keine Aufmerksamkeit auf sie lenken konnte. Der andere, der in ständigen flüsternden Zweifeln hinterherstolperte, trug einen prall gefüllten Kartoffelsack, der bei jeder Bewegung merkwürdig klappernde Geräusche erzeugte. Mitternacht lag schon weit über eine Stunde zurück. Sie mussten sich beeilen, denn schon bald würden die ersten Dorfbewohner ihr Tagwerk beginnen.

Endlich hatten sie die Sägemühle passiert und eilten soeben den Sersbach entlang, die Anhöhe hinauf, bis vor an den Waldrand. Am Hang verteilt standen unzählige Heuhütten.[1] Über die Schattenseite näherten sich die beiden der Hütte, die am weitesten vom Waldrand entfernt stand. Sie wirkte schon etwas baufällig, dennoch tat sie brav ihren Dienst und beherbergte schon eine beachtliche Menge Heu für den nächsten Winter. Indessen kniete der mit der Petroleumlampe nieder und lehnte sich mit der Schulter an die Hütte.

»Na los, duck dich gefälligst! So erkennt man dich ja schon von Weitem«, blaffte er den Jüngeren an. Mit einem Wisch schob er die Kapuze seiner Leinenjacke nach hinten. Unsanft wiederholte er dies bei seinem Begleiter.

»Gib mir den Sack!« Der harsche Tonfall ließ keine Zweifel an dem geplanten Vorhaben. »Du passt auf, dass da niemand ist ...«

»Wer soll schon um diese Zeit unterwegs sein?«

»Tu, was ich sage, und sei still!«

Mittlerweile hatte der offensichtliche Wortführer den Sack ausgeschüttet. Ein Kienspanhalter und jede Menge kleine Holzschnitze lagen auf einem Haufen zu seinen Füßen. Da die Hütte auf einem Fundament aus großen Steinen stand, die jeweils unter den Hausecken aufgeschichtet waren, begann er, in dem dadurch entstandenen Spalt unter dem Dielenboden einen Haufen mit den Hölzern aufzustapeln. Er nahm den Halter, klemmte einen Span ein und entzündete ihn an der Petroleumlampe.

»Bist du wirklich sicher mit dem, was du da tun willst?« Geschockt blickte der junge Beobachtungsposten dem Älteren ins Gesicht. Schließlich starrten sie beide minutenlang auf den brennenden Span, ehe der in dem Miniaturholzstapel verschwand. Beide hielten den Atem an.

Zögerlich züngelte die Flamme umher. Sie tastete sich zunächst an der einen Stelle vor, dann an der anderen, bis sie endlich einen weiteren Holzspan erfasste. Mit einem Mal fraß sich die Feuerzunge schnell voran. Ein Hölzchen ums andere entzündete sich, und der Schein des Brandherdes erhellte flackernd den Boden unter der Hütte.

Augenblicklich erhob sich der Verursacher. Fasste versonnen in seine Hosentasche, zog die Faust hervor und betrachtete, ohne dass es der Jüngere bemerkte, den Inhalt in seiner Hand. Ein Taschenmesser. Sicher nichts Kostbares, dennoch stand ein Name darauf. Unbemerkt warf er es unter die Hütte, gab dem Jungen einen Klaps auf die Schulter und zerrte ihn mit sich fort, weiter hinauf in den Wald. Erst als sie sich in sicherer Entfernung wähnten, blieben sie stehen und starrten wieder minutenlang auf das sich immer weiter ausbreitende Feuer. Schon längst hatte es auf die Hütte übergegriffen und breitete sich inzwischen funkensprühend auf die Seitenwände aus.

Die beiden Burschen schlugen einen großen Bogen, sodass sie letzten Endes aus einer ganz anderen Richtung zurück ins Dorf gelangten, wo man längst auf das Feuer aufmerksam geworden war.

Betont unauffällig reihten sie sich in die derweil angewachsene Menschenmenge ein, die zwar nichts mehr retten, aber Schlimmeres durch Funkenflug verhindern konnte. Schnell hatten die Leute eine Kette vom Sersbach her gebildet, und schnell wurde ein Eimer nach dem anderen mit Wasser gefüllt und weitergereicht.

Plötzlich wurden die beiden Missetäter von hinten grob an der Schulter gepackt und aus der Menschenkette gezogen. Erschrocken und verdaddert zugleich schauten sie in das Gesicht des Ortsdieners.

»Ei, sieh an, der Benno und der Georg, die Fissel-Brüder! Ich hätt’ schwören können, dass ich euch vor einer Stund’ gehört hab’. Habt ihr eine Ahnung, wie das passiert ist?«

Aufgebracht zeigte er zur brennenden Schier, die mehr und mehr zu rauchen begann, wobei das Feuer deutlich kleiner wurde. Betroffen schüttelten sie ihre Köpfe.

»Ich sag’ euch, wenn ich herausfind’, dass ihr etwas damit zu tun habt, ich komm’ persönlich und versohl’ euch den Hintern.«

Mit diesen Worten schlug er ihnen, etwas zu wirsch, nacheinander auf den Hinterkopf.

Georg zog Benno, seinen jüngeren Bruder, mit sich fort. Er wollte die Gelegenheit nutzen und nach Hause marschieren. Weshalb sollte er auch dabei helfen, ein Feuer zu löschen, das er selbst gelegt hatte? Außerdem war er der Meinung, je weniger Dorfbewohner sie zu Gesicht bekämen, desto eher könnten sie behaupten, sie wären nicht da gewesen.

Schon eine ganze Weile lag Benno nach dieser Aktion mit schlechtem Gewissen in seinem Bett und starrte im Dunkeln an die Decke, als sein Bruder in seine Kammer trat. Ohne etwas zu sagen, schob er ihm ein kleines Jutesäckchen unter das Kopfkissen und verschwand, noch bevor Benno reagieren konnte. Kurz wartete dieser, dann tastete er suchend nach der Stelle und zog ein Säckchen hervor, in dem es vernehmlich klimperte.

***

Noch Tage später sorgte der Vorfall für Gesprächsstoff im Dorf. Er lenkte von der zur gleichen Zeit schwelenden Diskussion ab, die wegen des elektrischen Stroms herrschte. Eine Modernisierung der elektrischen Anlage wurde diskutiert, wobei die Erweiterung und Versorgung der privaten Haushalte im Vordergrund stand. Zur besseren Auslastung war eine Talsperre geplant, und viele Bermersbacher scheuten sich so erst recht, einen Hausanschluss installieren zu lassen. Im Grunde herrschte also nicht die Angst vor dem Unbekannten in den meisten Köpfen vor, sondern die Befürchtung, es könne eine Talsperre erbaut werden, die große Veränderungen bewirken würde.

Den Gemeindeoberen war bewusst, dass noch eine Menge Aufklärungsarbeit nötig war. Die Ängste, die durch die Unwissenheit über den Umgang und die Nutzung des elektrischen Stroms grassierten, wurden durch einige wichtige Dorfbewohner geschürt. Das erschwerte die zügige Umsetzung erheblich.

Somit kam der Heuhüttenbrand also gerade recht, um in der andauernden Diskussion eine Wende herbeizuführen. Die Befürworter versuchten, diesen Vorfall für ihre Sache zu nutzen, indem sie mit Nachdruck auf die Nachteile des offenen Feuers hinwiesen.

In der Zwischenzeit hatte der Ortsdiener in den Trümmern der fast gänzlich abgebrannten Schier nach Hinweisen gesucht, die auf die Ursache des Brandes schließen lassen könnten. Was er dort fand, überraschte ihn nicht im Geringsten.

Wütend und aufgebracht machte er sich am frühen Abend auf den Weg ins Unterdorf. Zielstrebig steuerte er auf das Fissel-Haus zu. Die Mutter der Brüder betrieb dort einen kleinen Kolonialwarenladen. Der Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekommen.

Grob, polternd und ohne anzuklopfen, betrat er das Haus durch den Hintereingang, der direkt in die große Wohnküche führte, die beinahe die Hälfte der Grundfläche des Hauses einnahm. Die beiden Jungs saßen am Tisch, die Mutter hantierte am Küchenofen und schöpfte eben in diesem Moment Kartoffelschnitze auf einen der Teller, die neben ihr standen.

Erschrocken drehten sich alle zur Tür.

»Himmel Herrgott!«, entfuhr es der Mutter. »Kannst du nicht anklopfen? Irgendwann bleibt mir mal noch das Herz stehen.« Erleichtert, weil es nur Leopold, der Ortsdiener, war, wischte sie ihre Hände an der Küchenschürze ab, streifte ihre dunkelbraunen langen Haare hinter die Ohren und streckte ihm zur Begrüßung die Rechte hin. Der jedoch winkte ab.

»Es hat heute einen anderen Grund, Marie, weshalb ich hier bin«, wetterte er los. Just in dieser Sekunde knallte er seine Hand auf den Tisch, sodass Benno erschrocken zurückschnellte und stocksteif sitzen blieb.

Georg versuchte indes, sich nichts anmerken zu lassen, und wandte sich der Mutter zu, die ihm daraufhin einen Teller reichte.

»Was glaubt ihr wohl, was ich euch bringe?«, zeterte Leopold weiter. Marie trat näher heran und betrachtete irritiert die Hand, die jetzt wie ein Fremdkörper auf dem Tisch lag. Ruckartig zog Leopold sie fort. Ein Taschenmesser kam zum Vorschein – verräterisch, weil es durch seine Anwesenheit einiges offenbarte. Zumindest zog Ortsdiener Leopold seine eigenen Schlüsse aus dem Fund. In diesem Augenblick hielt sogar Georg still, und Benno stockte der Atem, so sehr versetzte ihn der Anblick des Messers in eine Art Schockzustand.

Ein angekokelter Holzgriff aus Eichenholz, der eine einzelne Klinge verbarg, lag vor ihnen.

Stirnrunzelnd nahm die Mutter das Messer in die Hand und betrachtete es genauer. Deutlich erkannte sie die ins Holz hineingeritzten Buchstaben. BENNO war mehr als eindeutig zu lesen.

»Junge, was hat das zu bedeuten? ... Leopold, würdest du mich bitte darüber aufklären, weshalb du dich hier so aufführst?«

Eben verstummten ihre letzten Worte, da packte der Ortsdiener den armen Benno, riss die Küchentür auf und zerrte ihn hinaus in den Hof. Gegen den schmächtigen Jungen wirkte der breitschultrige, vollbärtige Mann wie ein Bär.

»Leopold! Was ist denn nur?«, kreischte die Mutter, entsetzt hinterherstürmend. Georg blieb seelenruhig sitzen und begann grienend, seine Kartoffeln zu essen, während Leopold draußen dem hilflosen Benno ein paar saftige Ohrfeigen verpasste. Der Junge schrie auf. Blut schoss ihm aus der Nase. Marie benahm sich in diesem Augenblick ihrerseits wie eine Furie, zerrte an dem starken Mann und schaffte es schließlich, sich zwischen ihn und ihren Sohn zu stellen. Jetzt lag Benno auf dem Boden, die Arme schützend über seinen Kopf haltend.

»Du sagst mir auf der Stelle, was das soll und was du ihm vorwirfst! Auf keinen Fall wirst du weiter Hand an ihn legen!« Schon kniete sie neben ihrem Sohn und drückte ihm ihre Schürze vor die Nase.

»Du willst wissen, was er getan hat? Tja, hör gut zu! In den Trümmern der abgebrannten Schier habe ich das Messer gefunden und das hier!« Umständlich zog er einen schmiedeeisernen Kienspanhalter aus seiner Manteltasche. Die Griffe waren mit einem unverkennbaren Muster aus Messing verziert. Wütend warf er ihn der Frau vor die Füße. »Erkennst du den wieder? Ich selbst habe ihn bei dir benutzt. Erinnerst du dich? Vor ein paar Wochen, kurz bevor du deinen Hausanschluss für den Strom bekommen hast.«

Fassungslos starrte Marie den Halter an. »Benno, was hat das zu bedeuten?« Als ihr Sohn keine Reaktion zeigte, wurde ihre Stimme lauter: »Ich frage dich, Benno, was hat das zu bedeuten?«

Eine beklemmende Stille umhüllte die drei für wenige Momente, bis Maries der Hysterie nahen Stimme sie erneut durchbrach: »Das ist doch kein Dummejungenstreich! Was hast du dir dabei gedacht?«

Die einzige Antwort, die die beiden Erwachsenen zu hören bekamen, war Bennos erbärmliches Schluchzen. Sein Bruder stand mit ernstem Blick in der Tür. Der Ortsdiener trat einen Schritt zurück und atmete tief durch.

»Marie, ich hoffe, du glaubst mir, wenn ich dir sag’, dass das an meinen Gefühlen zu dir nichts ändert. Dir muss aber klar sein, dass er die Konsequenzen dafür tragen muss. Er kann froh sein, dass ich die Sachen gefunden habe und nicht die Wachleut’. Das war die Hütt’ von den Wolls. Ich denk’, wenn der Bub zu denen geht, sich entschuldigt und ihr ihnen was zur Entschädigung gebt, machen die kein großes Tamtam um die Sache. Die haben ja selber Buben und wissen, was die für Flausen im Kopf haben in diesem Alter.« Ohne weitere Worte zu verlieren, verließ er den Hof und marschierte zurück zur Sägemühle.

Am Abend trat Georg zu dem kleinen Bruder in die Kammer und schob ihm erneut etwas unters Kopfkissen. »Bin stolz auf dich, dass´d mich nicht verraten hast.«

***

Befremdliche Tage folgten. Leute, die Marie sonst nie in ihrem Laden sah, kauften plötzlich bei ihr ein, und andere, die sonst immer bei ihr die Besorgungen erledigten, blieben fern. Ihr war durchaus bewusst, dass dies nur eine Frage der Zeit war. Nicht zum ersten Mal war sie das Gesprächsthema Nummer eins. Diesmal waren es gleichwohl weniger schöne Umstände. Bisher hatte es sich allenthalben darum gedreht, dass sie die Unverfrorenheit besaß, als Witwe den Kurzwaren- und Lebensmittelladen ihres verstorbenen Mannes weiterzuführen. Seit klar war, dass ihr Mann nicht mehr zurückkehren würde, hätte sie wohl in Schwarz herumlaufen und Trübsal blasen sollen. Das tat sie beim besten Willen nicht.

Zugegebenermaßen war das Unerhörteste, dass sie mit Leopold, dem Ortsdiener, zusammen war, ohne zu heiraten, und überhaupt keinen Anlass dazu sah, dies zu verheimlichen. So war sie eben, selbstbewusst und stur, vor allem, wenn es um ihr Leben und das ihrer Kinder ging.

 Marie war sich sicher, sobald die Dorfbewohner den Vorfall genügend diskutiert hatten, würde ganz gewiss wieder Normalität einkehren, wie es in der Vergangenheit immer gewesen war.

Leopold und Marie hatten sich in diesen Tagen ausgesprochen, und Marie gab dem Vorschlag Leopolds wohlwollend nach, Benno unter seine Fittiche zu nehmen. Im Innersten war sie froh darüber, dass Leopold ihren Buben wenigstens ein klein wenig den Vater ersetzte.

Georg lernte das Bäckerhandwerk. Leopold hatte schon ein Jahr zuvor unten in Forbach mit einem der Bäcker geredet, der den Jungen im Anschluss an die Schule zu sich in die Ausbildung holte. Das traf sich gut, denn so konnte er seiner Mutter am Nachmittag im Laden helfen, sofern es notwendig war.

Von nun an musste also der junge Benno jeden Morgen hinüber zur Sägemühle laufen und dort mit dem Ortsdiener zusammen alle anfallenden Arbeiten verrichten. Das beinhaltete die Pflege und Wartung der Turbine und des Generators. Der Wasserzufluss musste ständig gereinigt werden, damit das Wasser die notwendige Kraft entwickeln konnte, und das Mühlrad musste gepflegt und gewartet werden.

In der Frühe, wenn es hell wurde, schalteten sie das Straßenlicht aus und am Abend, sofern kein Vollmond am Himmel stand, wieder ein. Selbst die Pflege und Wartung der neuen Straßenlaternen fiel dem Jungen bald nicht mehr schwer. Er lernte, was den elektrischen Strom anging, mehr und mehr dazu, und seine Furcht davor schwand zunehmend.

So vergingen die Wochen, und Benno fand sogar Gefallen daran, dem Leopold zur Hand zu gehen.

***

An einem sehr heißen Junitag, etwa vier Wochen nach dem Hüttenbrand, stand Benno im Sersbach. Die Sonne stand hoch am mittäglichen Himmel. Leopold hielt das Wasserrad an, während der Junge sich bemühte, einen Berg klatschnassen Heus zwischen dem Wasserrad und dem Mauerwerk zu entfernen. Irgendwo weiter oben am Berg hatten wohl einige Flegel eine Heuhütte geräubert und in ihrem Übermut das Heu in den kleinen Sersbach geworfen. Der Ortsdiener berichtete Benno gerade, dass demnächst eine neue Hochdruckturbine bei ihnen eingebaut werden würde und man sich gegen eine Talsperre ausgesprochen hatte, als die traute, geschäftige Zweisamkeit jäh unterbrochen wurde.

Die große Glocke vom Löschkarren gab wild ihren Ton zum Besten, dicht gefolgt vom Glockengeläut der Kirche.

Überrascht blickten beide fast gleichzeitig hinauf zum Dorf. Sekundenlang trauten sie ihren Augen nicht, schwarze Rauchwolken stiegen inmitten der Häuser auf.

Benno fing sich zuerst. »Mutter!«, schrie er, wuchtete sich aus dem Wassergraben heraus und rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, den Weg talaufwärts. Da Bermersbach auf einer Bergkuppe gelegen war, zog sich jeder Marsch zum Dorf mühselig den Berg hinauf. Heute jedoch flog Benno förmlich über die Wiese. Als sich Leopold endlich aus seiner Schreckstarre löste und hinterherpreschte, hatte Benno bereits beinahe das Rathaus erreicht, welches von dieser Seite her gut sichtbar ins Tal schaute. »Beeennooo!«, rief er ihm keuchend nach, doch der hörte ihn schon nicht mehr.

Völlig außer Atem, mit brennenden Lungen, erreichte der Junge die Straße, in der sein Elternhaus lag. Über alle Maßen erleichtert stellte er fest, dass es nicht ihr Haus war, welches in Flammen stand was die Lage freilich nicht weniger schlimm machte. Aus dem Scheunenanbau am Haus der Familie Kepper, etwa fünfzig Meter weiter, loderten die Feuerzungen empor und die Funken flogen meterweit in den Himmel. Das war gefährlich, denn diese Funken konnten bei einem anderen Haus oder einer Scheune einen Brand auslösen.

Bennos Mutter stand mit Eimern in der Hand mitten auf der Straße. Sie war natürlich nicht die Einzige. Ihr Sohn stürmte auf sie zu, riss die Eimer an sich und reihte sich zusammen mit einigen anderen in die Helferkette ein, die vom Blohbrunnen aus einen Kübel nach dem anderen durchreichte. Während die Helfer der Feuerwehr einen Wasserstrahl auf die Scheune gerichtet hatten, versuchten zahlreiche Dorfbewohner mühevoll, die Nebengebäude zu schützen.

Es schien ewig zu dauern, bis sich endlich ein Erfolg zeigte und die Flammen kleiner wurden. Letztendlich sackten sie in sich zusammen und lediglich dicker, dunkler Rauch stieg über dem Ort des Geschehens auf. Einige Männer in schützenden Feuerwehruniformen machten sich augenblicklich daran, ins nebenstehende Wohnhaus einzudringen. Sie durchsuchten das Gebäude nach deren Bewohnern. Einige weitere durchwühlten die qualmenden Trümmer der Scheune nach Glutnestern. Hin und wieder schüttete einer der Männer Wasser über die ein oder andere Stelle. »Da ist niemand!«, rief es von irgendwoher.

Benno stand derweil bei seiner Mutter. Ortsdiener Leopold stand bei ihr. Er klopfte dem Jungen anerkennend auf die Schulter. Er hatte gesehen, wie eifrig er bei den Löscharbeiten geholfen hatte.

»Hoffentlich ist Agathe nichts passiert! Hoffentlich ist sie unversehrt!«, murmelte Bennos Mutter mit Tränen in den Augen.

Erneut schallte es zwischen den Häusern: »Da ist keiner! Die ist nicht da!«

Ein Raunen durchzog die schaulustige Menge, die nunmehr in ausreichender Entfernung stand. Erleichterung breitete sich auf den Gesichtern aus. Schließlich war es schon schlimm genug, dass die Scheune abgebrannt und das Haus stark beschädigt war. Gut, dass es keine Verletzten oder gar Tote zu beklagen gab.

»Was ist hier los?«, tönte es plötzlich von einer Frau mittleren Alters, die einen großen, mit Heu gefüllten Holzkarren hinter sich herzog. »Was ist denn passiert? Nun lasst mich doch mal durch!«

Bereitwillig traten die Leute beiseite, sodass der Blick frei wurde auf das Desaster. Für Sekunden, die sich ewig hinziehen wollten, herrschte fast vollkommene Stille auf der Straße. Dann ...

»Nein ... nein ... mein Haus ... meine Scheune... Wer hat das getan? Wie konnte das passieren? Mein Haus!« Agathe Keppler schlug die Hände vor das Gesicht und starrte auf den Trümmerhaufen - minutenlang.

Wie in Zeitlupe ließ sie schließlich die Deichsel fallen und befreite sich von dem Strick, mit dem sie den Karren gezogen hatte. Schritt für Schritt stakste sie auf ihr Haus zu, bis sie vor den Scheunenresten stehen blieb, in denen immer noch Männer standen, um den noch vorhandenen Glutnestern Einhalt zu gebieten. Bennos Mutter eilte zu ihr hin. Immerhin waren sie beste Freundinnen. Sachte legte sie einen Arm um die Schultern der entsetzten Frau und sagte etwas zu ihr.

Plötzlich riss sich Agathe von ihr los und drückte ihre Trostspenderin mit kräftigem Schwung von sich fort, sodass diese beinahe rückwärts gestürzt wäre.

»Du! Das war dein missratener Sohn! Er war das!«

Sie starrte wie von Sinnen in die Menge und entdeckte dabei Benno. Langsam schritt sie in seine Richtung. Ihr Finger zeigte anklagend auf ihn, den Blick einer Verrückten in den Augen, die kurz davor war, durchzudrehen.

»Du warst das! Warum? Was habe ich dir getan? Warum hast du mein Hab und Gut angezündet?«

Mit jedem Schritt, den sie näher kam, wurde sie lauter. Benno hatte sich unwillkürlich hinter den Ortsdiener Leopold gestellt, der sofort reagierte und seine Stimme erhob.

»Immer mit der Ruhe, Leute! Agathe, du darfst den Jungen nicht zu Unrecht beschuldigen. Er hat nichts getan. Der Benno war mit mir unten an der Mühle.«

Sekundenlang beherrschte abermals Stille den Platz.

»Das stimmt«, ertönte eine Stimme aus der Menge. Ein rußverdreckter älterer Mann trat vor. »Er sagt die Wahrheit. Der Junge war mit ihm an der Mühle. Ich habe ihn selbst gesehen, als ich beim Leopold heute Morgen Eisenstreben ablud.«

Entsetzt drehte sich Agathe herum. Sie wollte einen Schuldigen haben und war so gar nicht mit dieser Aussage einverstanden. Gerade, als sie etwas erwidern wollte, meldete sich eine andere Nachbarin zu Wort.

»Das muss wahr sein, denn ich habe den Jungen auch gesehen, ganz in der Frühe ist er aus dem Haus und hinunter zur Mühle. Immerhin bin ich bis vor zum Ferdl mit ihm gelaufen.«

Man sah ihr an, dass es ihr peinlich war. Seit dem Vorfall mit der abgebrannten Schier war sie nicht mehr in Maries Laden gekommen. Sie war die ganze Zeit über zum Ferdl einkaufen gegangen, was jetzt allerdings dem Benno zugutekam.

Der Ortsdiener ergriff mit seiner tiefen Stimme erneut das Wort in der Runde, die wie ein anklagendes Gericht zusammenstand.

»Beruhigt euch, Leute. Geht nach Hause. Wir werden herausfinden, was geschehen ist. Geht nach Hause ... na los!«

Agathe saß zusammengesackt auf dem Boden und weinte. Marie versuchte es erneut. Jetzt allerdings ließ Agathe den Trost zu.

Nach und nach zogen die Leute ab, während einige Männer aus dem Löschtrupp die Brandwache übernahmen.

Leopold fasste Marie an den Schultern.

»Ich geh’ mit Benno wieder runter zur Sägemühle. Wir müssen das Wasserrad frei machen. Danach schicke ich Benno wieder her. Trommelt ein paar Männer zusammen und räumt bei Agathe auf. Nimm sie so lang mit zu dir. Sie sollte noch nicht ins Haus gehen. Zumindest nicht allein.«

Voller Dankbarkeit warf Marie ihre Arme um Leopolds Hals. Sie küsste ihn, wenn auch nur flüchtig, bevor sie sich wieder Agathe zuwandte.

***

Zwei Stunden später lief das Sägemühlenrad wieder reibungslos. Benno war den Sersbach ein Stück weit abgelaufen, um zu sehen, ob noch irgendwo Heu im Wasser hing, und Leopold hatte sich verabschiedet, weil er runter nach Forbach laufen wollte. Er wollte im Rathaus über den heutigen Vorfall in Bermersbach berichten. Zudem musste er in Erfahrung bringen, wann die neue Turbine endlich käme. Hierfür mussten schließlich Vorkehrungen getroffen werden.

Da er wusste, dass die Bürgermeister heute in Forbach ein Treffen hatten, nutzte er diese Gelegenheit.

Unten im Rathaus angekommen, platzte er mitten in eine heftige Diskussion. Einige Bauern waren beunruhigt wegen der baulichen Veränderungen, die für die neue elektrische Werkseinrichtung in Bermersbach geplant waren. Leopold hielt sich zunächst im Hintergrund und hörte lediglich aufmerksam zu. Geballter Unmut wurde kundgetan. Man befürchtete Schwierigkeiten bei der Bewässerung der Felder, wenn im Stutzbachtal ein Stauwehr gebaut würde. Ausfälle an Futter würde es geben, und man verlangte Entschädigung. Stimmen wurden laut, dass man das Elektrische nicht wolle. Dass es für Unruhe sorge und gefährlich sei. Widerworte des Ratsschreibers wurden laut, denn er verwies auf den Brand am Mittag in Bermersbach, der sicherlich nicht passiert wäre, wenn Frau Keppler einen elektrischen Hausanschluss besessen hätte und nicht noch immer mit Öl- und Petroleumlampen hantieren würde. Dass sie, als der Brand ausbrach, gar nicht zu Hause gewesen war, verschwieg der Ratsschreiber geflissentlich. Dann wies er noch einmal mit Nachdruck darauf hin, dass man doch schon längst von der Errichtung einer Talsperre abgesehen hätte und dass in Kürze mit dem Um- und Neubau des Stauwehrs begonnen würde und er keine Störungen während der Bauphase erwarte.

Ortsdiener Leopold wurde hellhörig. Soso, es war also schon in allen Einzelheiten bekannt hier unten, was geschehen war.

Kaum hatte er seinen Gedanken beendet, bekam er trotz des lauter werdenden Gemurmels noch Folgendes mit: »Meine Herrschaften, beruhigen Sie sich. Hören Sie zu! Ich bin der Meinung, und da stehe ich nicht alleine da, dass solche Vorfälle wie der Brand oben in Bermersbach nicht passieren würden, wenn die Leut’ auf den elektrischen Strom umrüsten würden, und das sag’ ich nicht nur, weil ich hier Ratsschreiber bin, sondern weil auch ich ein Haus habe und dies in Sicherheit wissen möchte.«

»Woher sollen wir das Geld nehmen?«, rief jemand aus der Menge dazwischen. Der Redner vermied geflissentlich, darauf einzugehen. Er verzog noch nicht einmal seine Miene.

»Besinnen Sie sich und überlegen Sie, wogegen Sie hier Protest einlegen, meine Herrschaften. Die Sicherheit sollte jedem von uns wichtig sein.«

Leopold kam das merkwürdig vor.

Er verließ den Raum und trat vor das Rathaus, zog seine Pfeife aus dem Hosensack und begann, sie zu stopfen. Er hatte keine Lust, das Gejammere weiter anzuhören, zumal sich die Widerworte und Erklärungen ständig wiederholten. Um nicht gerade so auf dem Präsentierteller zu stehen, begab er sich um die Ecke und lehnte sich dort an die Mauer, direkt unter einem der Rathausfenster.

Da stand er und blies kleine Rauchkringel in die Luft, und zufällig vernahm er ganz deutlich Stimmen, die aus dem Raum über ihm durch das halb geöffnete Fenster drangen. Was er da wiederum mitbekam, gefiel ihm gar nicht.

»... besser hätte es nicht laufen können. Du hast dir dein Geld redlich verdient. Diese engstirnigen Ignoranten werden hoffentlich begreifen, dass der Fortschritt nicht mehr aufzuhalten ist und sie alle früher oder später einen Hausanschluss haben werden.«

»Soll ich denn noch mal was machen? Ich könnt’ wetten, die verdächtigen eh meinen Bruder, insofern bin ich da aus dem Schneider ...«

»Aber sicher! Ich meine, jetzt sind sie da oben wieder mal aufgerüttelt, da sollte der nächste Vorfall nicht auf sich warten lassen. Unter den Voraussetzungen kommen sie sicherlich gerannt wie die Ameisen zur Brotzeit und wollen einen Hausanschluss. Schließlich muss sich die neuerliche Investition rechnen, mein Junge.«

»Dann warte ich noch drei, vier Tage ab. Vielleicht kann ich es sogar wieder so hindrehen, dass es den Anschein erweckt, dass Benno am Werk war ...«

Benno? Da hatte sich mit einem Wort der Verdacht von Leopold bestätigt. Kam ihm die Stimme doch gleich so bekannt vor. Georg, Bennos Bruder, hatte da also die Finger im Spiel. Nur, wer stachelte ihn an?

Aufgeregt stapfte er davon.

Sich das Hirn zermarternd, eilte er den steilen Weg nach Bermersbach hinauf. Mit Marie konnte er darüber nicht reden. Nicht jetzt zumindest! Aber was sollte er tun? Der Junge wollte in ein paar Tagen erneut einen Brand legen? Das musste er verhindern, unbedingt! Sicher, er war auch dafür, dass der elektrische Strom überall Einzug halten sollte. Dennoch respektierte er die Meinung derer, die nach wie vor der Sache skeptisch gegenüberstanden. Von Zwang hielt er nichts, er war der Meinung, dass man die Leut’ über den Zweck und den Nutzen besser aufklären sollte. Ihnen Zeit lassen sollte, über die Wirkungsweise und darüber, wie der Strom eben funktionierte, etwas zu lernen. Aber doch nicht so ...!

Die Wut, die in ihm brodelte, steigerte sich mit jedem Schritt, den er seinem Heimatdorf näher kam. Dass der Georg sich aber auch zu so einem Unfug hinreißen ließ! War ihm denn nicht bewusst, wie unglücklich er damit seine Mutter machen würde? »Verdammt!« Immer wieder stieß er Flüche aus, um seinem Zorn wenigstens ein klein wenig Luft zu machen.

Zwanzig Minuten später erreichte er die Sägemühle. Außer Benno war keiner da. »Wo sind die alle?«

»Die sind hoch zu Agathes Haus, helfen den Schutt wegtun. Die kann jetzt jede Hilfe gebrauchen ... und ... ähm ... Leopold, ich möcht’ dir danken, dass du mich verteidigt hast. Ich -« Der vollbärtige Mann, dem die Zornesröte im Gesicht stand, unterbrach ihn raubauzig: »Schon gut! Ich weiß ja, dass du es nicht warst.« Hastig verschwand er in seiner Kammer, rumorte darin herum und kam zurück, beladen mit einer groben Ledertasche, in die er einige Gläser eingemachtes Obst steckte. Ein Päckchen Salz und ein Päckchen Zucker verschwanden ebenso darin.

»Du, Junge, bleibst hier. Hörst du! Bis ich wiederkomme. Wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, musst du das Licht einschalten. Hast du mich verstanden?«

Funkelnd blickte er Benno an. Der spürte, dass der Ortsdiener irgendwie anders war als sonst, traute sich aber nicht, etwas zu sagen, und nickte nur.

»Ach, übrigens, erzähl deiner Mutter nichts, wenn sie fragt. Es ist besser, wenn sie nichts davon weiß.«

Polternd stürmte Leopold hinaus und stapfte davon. Benno sah ihm grübelnd hinterher.


»Zeit ohne Hoffnung

Die Jahre verderben uns unter den Händen,

die Wasser ringen nach Atem,

nur die Wolken können fliehen,

vergebens klammern die Bäume ihre Arme in den Himmel –

er kennt keinen Trost.«

Hans-Christoph Neuert und Elmar Kupke,                     

deutsche Dichter, Essayisten und Aphoristiker

 

Forbach - Ortsteil Bermersbach, Februar 2015

Vier große Transporter parkten mittlerweile am Rand des Glücksweges. Ortsbauamtsleiter Drillich hatte seinen erschreckenden Fund sogleich mit dem Handy fotografiert und an einen Freund aus der nahegelegenen Polizeiwache geschickt, mit der Frage, was in solch einem Fall zu unternehmen sei. Natürlich rief der ihn unmittelbar an, nachdem er das Bild gesehen hatte, und wollte jede Einzelheit darüber erfahren. Er versprach ihm, sich sofort darum zu kümmern und selbst zum Fundort zu kommen, sobald er die entsprechenden Maßnahmen in die Wege geleitet hatte. Drillich wartete angespannt.

Gegenwärtig stand er oberhalb der Stauwehranlage und beobachtete das Treiben des Leichenbeschauers und der Forensiker mit Argusaugen. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass dies solch einen Personenauflauf verursachen würde. Mitzuerleben, wie die Gerichtsmediziner und die forensischen Kriminalbeamten ihre Arbeit machten und mit welchen Hightech-Gerätschaften sie hier aufwarteten, war allerdings schon ein immens beeindruckendes Ereignis.

Damit im Moment keine weiteren Wanderer den Glücksweg benutzten, hatte sich Förster und Ortsvorsteher Weiderkling bereit erklärt, mit Kollegen die Zugänge für die Zeit abzusperren, die benötigt wurde, um die notwendigen Untersuchungen durchzuführen.

Ein weiteres Polizeifahrzeug fuhr heran, begleitet von einer Staubwolke. Zwei Beamte stiegen aus und näherten sich zügig. Hans-Peter Drillich hob seine Hand zum Gruß: Er erkannte seinen Freund, Hauptkommissar Albert Reiter. Der Kollege ging zu den Transportern, während Albert bei Drillich stehen blieb.

»Hey, Hans-Peter! Da ist ja ganz schön was los.«

»Das kannst du laut sagen. Ich hadere noch mit mir, ob ich es bereue, dass ich Bescheid gegeben habe.« Drillich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Immer wieder rieb er mit seiner Hand übers Kinn. Ein wenig nervös war er schon.

»Erzähl mir noch mal, Hans-Peter, wie genau bist du darauf gestoßen?«

»Na ja, ganz einfach: Ramona, unsere Mitarbeiterin vom Bürgerbüro, hatte heute Morgen auf dem AB eine seltsame Meldung. Hm, ja schon fast hysterisch, will ich meinen. Da haben irgendwelche Sonntagsspaziergänger diese Knochen gefunden. Weshalb die hier unten waren, ist mir schleierhaft, da hier oben deutlich abgesperrt ist.« Er zeigte auf die rot-weißen Sperrbalken. »Wie dem auch sei, wie die Leut’ halt so sind eben. Die haben daraufhin, wohl mit dem Handy, bei uns angerufen. Man verstand sie schlecht, aber wir waren uns alle einig, dass es sich um nichts anderes als den Glücksweg und das Stauwehr handeln konnte. Hör dir das nachher am besten selber mal an. Also, ich denke nicht, dass die damit etwas zu tun hatten.«

Ein großgewachsener, dunkelhaariger Mann in Uniform bemühte sich in diesem Moment den Weg vom Stauwehr herauf. Er sah zu ihnen hin und es war klar, dass er mit ihnen reden wollte.

»Sind Sie Reiter?« Eine Antwort abwartend, blickte er ihn ernst an. Albert nickte. »Gut!« Jetzt lächelte der Polizist und streckte ihm die Hand hin. »Kroll mein Name, wir haben telefoniert.«

»Reiter, und das ist Drillich. Er ist hier der Ortsbauamtsleiter. Er war derjenige, der dieser Meldung nachgegangen ist und den Fund an mich gemeldet hat.«

Kroll musterte Drillich. »Wie kommt’s, dass Sie als Bauamtsleiter solch eine Meldung überprüfen? Haben Sie dafür keine Mitarbeiter?«

»Eigentlich schon.« Wieder rieb sich Drillich das Kinn. »Aber die sind gerade alle eingespannt in andere Arbeiten. Wir sind hier auf dem Land, da kümmert man sich um viele Dinge.«

Die Antwort schien den Kriminalbeamten zufriedenzustellen. In Sekundenschnelle hatte er entschieden, dass Drillich die Informationen, die er mitzuteilen hatte, auch erfahren sollte.

»Nach ersten Erkenntnissen kann man annehmen, dass die Knochen in der vorderen Mauer von einem Jugendlichen stammen. Die Kollegen dort unten können nach den vorgefundenen Umständen zumindest schon mal garantieren, dass diese Knochen schon länger als dreißig Jahre dort in der Mauer stecken. Genaueres werden die Untersuchungen zeigen.«

Reiter unterbrach ihn, weil ihm der Tonfall des Beamten komisch vorkam.

»Sie sagen die vordere Mauer so betont?«

»Oh!« Kroll erschien angenehm überrascht von Reiters Aufmerksamkeit. »Sie haben richtig gehört. Die Knochen, die man sieht, sind, wie gesagt, von einem Jugendlichen. Maximal vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Durch das Röntgengerät konnten unsere Forensiker feststellen, dass in allen vier Mauerwerken des Staubeckens Knochenteile stecken. Ob die alle menschlich sind, werden die Untersuchungen zeigen. Ich denke, dass ich mit Ihnen, Herr Drillich, den richtigen Mann hier habe. Der Großteil des Wassers muss abgelassen werden. So können die Kollegen besser arbeiten. Immerhin müssen wir die Knochen aus der Mauer herausholen und den Grund des Beckens nach vorhandenen Spuren absuchen. Wenn wir die Arbeiten abgeschlossen haben, können Sie die Reparatur der Mauer in die Wege leiten. Dann können Sie das Stauwehr baldmöglichst wieder in Betrieb nehmen.«

Reiter zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Hat das nicht Einfluss auf die Stabilität der Mauer, wenn ihr da Löcher reinhaut, um die Knochen herauszuholen?« Fragend blickte er zu seinem Freund. Der presste für einen Moment die Lippen aufeinander und schien zu überlegen.

»Wohl nicht«, mutmaßte der, »immerhin musste das die letzten dreißig Jahre ja auch schon halten.«

»Sie haben recht«, stimmte ihm Kroll zu, »doch so wie es den Anschein hat, zumindest konnten das die Kollegen feststellen, wurde einst eine nur relativ kleine Ausbuchtung in die Mauer geschlagen und dann die Knochen mit Zement dort eingemauert. Diese Ausbuchtungen werden wohl keine Auswirkung auf die Stabilität haben. Aber das ist, denke ich, Ihr Fach.« Wieder wandte er sich direkt an Drillich. »Sie werden schon wissen, was zu tun ist.«

»Weshalb sind eigentlich so viele von euren Leuten hier? Ich dachte, es kämen maximal ein Rechtsmediziner und Leichenbeschauer«, wollte Reiter noch wissen und verfolgte interessiert die umherwuselnden jungen Polizeianwärter.

Kroll drehte ihnen den Rücken zu und sah selbst hinunter auf das Team, dann lachte er.

»Ja, das sind schon sehr viele. Aber keine Sorge, ich leite das forensische Team hier, ich passe schon auf die auf. Wir benutzen diesen Anlass dazu, um mit den Doktoranden und Forensikern in spe einen echten Außeneinsatz zu machen. Hier können die mal zeigen, was sie in den letzten Monaten gelernt haben. Die stehen teilweise kurz vor dem Abschluss. Man muss nur aufpassen, dass sie nicht übereifrig werden. Nicht, dass die Ihnen das ganze Stauwehr abreißen.«

Drillich, der mittlerweile vom ständigen nervösen Reiben ein rötliches Kinn hatte, sah man regelrecht an, dass ihn noch einige Fragen beschäftigten.

»Wohin werden diese Knochen gebracht?«, wollte er wissen, und der Kriminalbeamte beantwortete ihm geduldig diese und alle weiteren Fragen.


»Die unumschränkteste Gewalt ist eben die, der man sich nicht bewusst ist – die Abhängigsten sind jene, die aus eigenem Willensimpuls zu handeln glauben, denen selbst das Wissen um ihre Abhängigkeit wegtyrannisiert wurde.«

Prentice Mulford