Michael Schmidt

 

 

 

 

Silbermond

 

 

 

Drei Horrorgeschichten

 

 

 

 

 

 

Das Titelbild stammt von Lothar Bauer

 

Vita

Michael Schmidt wurde 1970 in Koblenz geboren. Er veröffentlichte bisher über 30 Kurzgeschichten, die sich zumeist mit der dunklen Seite der Menschen beschäftigt. Als Herausgeber zeichnete er schon für diverse Anthologien verantwortlich. „Zwielicht I+II“ (Eloy Edictions) gewann zweimal in Folge den Vincent Preis.

 

Seine Homepage befindet sich auf:

www.defms.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Weststadt

Oststadt

Gipsy Queen

 


Weststadt

 

Prolog

 

Es ist ein berauschendes Gefühl, auf diese Stadt hinunter zu blicken. Berauschend ja, aber wie ein guter Wein führt übermäßiger Genuss zu einem schweren Kater. Dabei ist der erste Blick furios.

Ich stehe hier oben, auf dem höchsten Berg, und blicke hinunter zu dem Moloch namens Silbermond. Weit breitet sich die Ebene aus, bei guter Sicht kann man fast die komplette Stadt überblicken, hügelig und lieblich stelle ich sie mir vor, zu Zeiten, als sie noch unberührt war.

Aber das muss lange her sein. Jetzt gibt es hier selten eine klare Sicht. Große Schlote speien schwarze Wolken in die Luft, eine schier unüberschaubare Anzahl von Schornsteinen sticht gen Himmel. Silbermond ist ein riesiger Moloch. Ein Moloch, der lebt, atmet, seine widerlichen Ausscheidungen in die Luft stößt und ein wohl ehemals wunderschönes Tal verschandelt, eine schwärende Wunde in der ansonsten unberührten Natur. Hier und da blitzen grüne Flecken inmitten der Wüste aus Beton, als wollen sie aufbegehren und verlorenes Terrain zurückerobern, doch trügt der Schein. Auch sie sind vom Absterben bedroht.

Drei Flüsse vereinigen sich in Silbermond. Drei Flüsse namens Rhyn, Mohyn und Lehyn, die dem Moloch ihr unverwechselbares Gesicht geben, für gemäßigte Temperaturen sorgen und ihm gleichzeitig die Grenzen aufzeigen. Der Mohyn entspringt dem Gebirge, auf dem ich stehe und teilt die Stadt in West und Ost. Der Westen wird von einem unwegsamen Sumpfgebiet beherrscht, in dem der Abschaum der Stadt, die Beutelleute wohnen. Dieser Sumpf verhindert auch eine Ausbreitung Silbermonds, denn kaum jemand traut sich überhaupt in diese Gegend: Eine Rückkehr ist mehr als ungewiss.

Im Osten sorgt der breite und stolze Rhyn für eine natürliche Grenze, seine Bewohner blicken auf die Enklave Badenau, die jeglichen Kontakt unterbindet und fast schon Krieg mit der Stadt führt.

Der Lehyn dagegen mündet in den Rhyn und ist selbst Mündung für den Mohyn. War der Lehyn lange Zeit ebenfalls Grenze Silbermonds, wuchert seit geraumer Zeit Neustadt jenseits des Flusses, ein besonders hässlicher Fleck voller hoher Betontürme und großer Felder industrieller Anlagen. Aber Neustadt bietet auch Wohnstatt für unzählige Menschen, und so streiten sich die heimlichen Herrscher von West und Ost um diesen stetig wachsenden Teil des Molochs.

Ja, Silbermond pulsiert, man spürt förmlich, wie der Organismus verdaut und ausscheidet.

Doch, lieber: sieh dich vor: Du wärst nicht der erste, der eine Stippvisite mit dem Leben bezahlt. Das Leben in Silbermond ist gefährlich und für viele ist es nicht nur Geburtsstätte sondern auch das Grab.

Aus den Reiseberichten des Hermann Mommens.

 

1. Jasper

 

Der Mohyn, auf dessen Oberfläche sich das Mondlicht reflektierte, sorgte für einen Schwall frischer Luft, die zusammen mit dem Regen vom Ostwind herüber geweht wurde. Das rissige Pflaster glänzte schmierig und warf das bunte Licht der Neonreklame zurück, flackernd und seltsam unwirklich. Die Farben verblassten und nahmen an Intensität zu, ganz im Rhythmus der synchronen Schlagzeuge.

Unmengen hatten sich auf dem Wandaplatz versammelt und Jasper mittendrin. Aus tausenden Kehlen trieb Ekstase, angefeuert von der elfköpfigen Kombo, deren intensives Spiel nicht vom Regen abgekühlt wurde, eher fachte es die Leidenschaft der Musiker noch an. Drei Gitarren wetteiferten miteinander in schrillen Töne, deren Melodien sich voneinander entfernten, um sich in verspieltem Werben wieder zusammen zu finden, im seltsamen Widerspruch von Gemeinsamkeit und Egoismus, während im Hintergrund Bass und Rhythmusgitarre den Klangteppich der beiden Schlagzeuger untermauerten. Die letzten Barrieren der Vernunft wurden niedergerissen und verwandelten den Mob in eine kreischende Menge. Drei Stimmen im Chor, monoton und hypnotisch, nur unterbrochen vom kehligen Gesang des Frontmannes, der sich schreiend, fast spastisch gebärdete.

Silbermond. Du Quell meiner Leidenschaft.

Silbermond. Ich begehre dich.

Silbermond. Du bist meine Schaffenskraft.

Silbermond. Ich liebe und hasse dich.

Ach, Silbermond, du einzigartige Stadt. Mein Grab, für immer, gefangen in Ekstase. Du bist ein Moloch, der Sündenpfuhl, der mich aushöhlt.

Ach, Silbermond, was hast du mir angetan?

Silbermond. Du Quell meiner Leidenschaft.

Silbermond. Ich begehre dich.

Silbermond. Du bist meine Schaffenskraft.

Silbermond. Ich liebe und hasse dich.

Jasper tanzte mit, schrie die Zeilen heraus, während er, die Arme gereckt, im Einklang mit der Menge hin und her wogte. Doch plötzlich schwindelte ihm. Sein Gesichtsfeld verschob sich, verzerrte die Wahrnehmung, als würde die Welt in die Länge gezogen, an den Rändern nach innen gestülpt.

Oh Scheiße!

Irgendwas in dem Stoff musste übel gewesen sein. Eine solche Wirkung hatte er niemals zuvor gespürt. Die Musik trat in den Hintergrund, seltsam dumpf, als wäre ein Filter vorgeschaltet. Er schwankte, hielt mühsam die Balance und wischte sich mit dem rechten Arm den Schweiß von der Stirn.

Mann, geht's mir dreckig!

Er blickte sich um, auf Normalität hoffend. Doch der seltsame Modus, der von ihm Besitz ergriffen hatte, blieb und trieb ihn fast an den Rand des Wahnsinns. Als er es nicht mehr aushielt, drehte er sich um und suchte Abstand von der Menge. Er wankte nach rechts, vorbei an den schattenhaften Gestalten, während die Musik mal klarer, mal dumpfer wurde. Hier und da rempelte er versehentlich Menschen an. Flüche und Schläge ignorierend eilte er weiter, ganz gefangen in seiner persönlichen Agonie, während um ihn herum die Stimmung neue Höhen erreichte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er das Ufer des Mohyn erreicht. Er fiel auf die Knie und tauchte die Hände in die brackige Brühe. Er empfand keine Erleichterung, also spritzte er einen Schwall Wasser in sein Gesicht, tauchte schließlich den ganzen Kopf unter Wasser, um sich wenig später schüttelnd zu erheben. Das kalte Wasser wischte die glückselige Dumpfheit des Maronpulvers hinweg. Doch auch dies vertrieb den Wahnsinnmodus nicht. Die Welt zog, streckte, bog, dehnte, stülpte und normalisierte sich in einem wiederkehrenden, doch alles andere als periodischen Rhythmus. Die Farben flackerten, verliefen ineinander, bis plötzlich das Bild gefror.

Nur noch schwarz und weiß, die Musik verstummte und machte einer bedrohlichen Stille Platz. Er schaute sich um und erstarrte. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Er schwankte wie ein Baum im Sturm unter dem Eindruck des Bildes, das sich ihm bot.

Die Menge war verschwunden, stattdessen wurde der Platz von Karikaturen der Beutelleute bevölkert. Wirkten jene schon anormal, mit abstoßenden Gesichtern und verwachsenen Gliedern, schreckten diese Wesen durch ihre noch schrecklichere Gestalt ab.

Auf dem Rücken thronte ein riesiger Buckel, der ein unheimliches Eigenleben führte, pulsierte, als wäre in ihm etwas Lebendiges, das jederzeit ausbrechen könnte. Im Gesicht prangten riesige Nasen, aus denen weißlicher Schleim lief, der nach einer Mischung aus Eiter und Metall roch und ihm einen Brechreiz verursachte.

Eines der Wesen kam näher, öffnete den Mund und entblößte bläuliche Zähne, klein und messerscharf wirkend. Ein Schwall abgestandener Luft traf ihn, eine Kloake menschlicher Exkremente ähnelnd. Als lange, knochige Finger nach ihm griffen, war es zu viel für ihn.

Das Licht flackerte erneut, wich diesmal aber absoluter Dunkelheit. Er spürte noch einen Schmerz, als er auf den Boden fiel, dann ging das Licht aus. Das wohlige Schwarz des Vergessens hatte von ihm Besitz ergriffen.

 

Hart klatschte eine Hand an seine Wange und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Zuerst orientierte er sich mühsam, den nebligen Fetzen des Albtraumes abstreifend, doch eine weitere Ohrfeige brachte ihn zur Besinnung. Abwehrend hob er die Hände. Aufstöhnend folgte er den Worten der Frau, die auf ihn einsprach. Es sprudelte aus ihr heraus, erst unverständlich, es dauerte, bis er ihrem hastig dahin gestammelten Gebrabbel folgen konnte.

„…los mit dir. Hey, ich mach dir nichts. Ich seh' dich nur hier liegen, denk, ich helf' dir. Denke, vielleicht hat der Typ Stoff für dich. Ich hab dir das Leben gerettet, quasi. Der Nächste hätte' dich ausgenommen. Abgestochen. Echt! Komm! Gib mir ein wenig Maron! Du hast doch was?“

Das Gesicht sah verlebt aus, tiefe Falten hatten sich um Mund und Augen gegraben. Falten, die von intensivem Leben zeugten. Maron, Alkohol und mehr, vielleicht Schlimmeres. In diesem Teil der Stadt lebten die Leute schnell und nahmen alles an Vergnügen mit, was das Leben zu bieten hatte. Wer wusste schon, wann der Tod kam? Er lauerte an jeder Straßenecke…

Man konnte die vergangene Schönheit der Frau noch erkennen. Strähniges blondes Haar umrahmte das schmale Gesicht, in dem der volle Mund hervorstach. Blaue Augen spiegelten unerfüllte Wünsche wider und sahen sehnsüchtig, süchtig und auch ein wenig trüb auf ihn herab: „Maron!“

Als er sie mit langem Blick unverständlich musterte, erschien ein ärgerlicher Ausdruck in ihren blauen Augen: „Mann, was ist jetzt? Hast du was für mich?“

Er schüttelte seine Starre ab, spürte die steif gelegenen Glieder und rang immer noch mit den seltsamen Eindrücken, die ihm das verschnittene Maronpulver beschert hatte: Entartete Beutelleute, die eine unheimliche Parodie Silbermonds bevölkerten. In seiner Erinnerung wirbelten Fetzen von Türmen, Erkern und seltsamen blau leuchtenden Lampen…

Er lachte auf, sah ihren bösen Blick und packte ihr Handgelenk, als sie sich abwenden wollte. Sich in die Höhe stemmend, ignorierte er ihr Gejammer und blickte sich um. Immer noch dröhnte die angesagteste Mucke Weststadts aus überdimensionierten Lautsprechern und verwandelte den Wandaplatz in einen sprudelnden Quell von Lebensenergie. Die Menge tanzte selbstvergessen, gefangen in der Magie der rockigen Musik. Von Beutelleutekarikaturen war natürlich weit und breit nichts zu sehen. Er schalt sich einen Narren und überlegte, wie er die nächsten Stunden verbringen wollte. Die Stimmung zum Abrocken war auf jeden Fall verflogen.

Er schaute in ihre blauen Augen, kramte in seinen Taschen und brachte einen Rest Maron zutage.

„Wir teilen“, erwiderte er bestimmt. „Irgendwas ist hier voll krass. Können wir nicht woandershin? Wo wohnst du?“

In ihren Augen blitzte es, dann sah sie zu Boden.

„Ey, ich bin nicht so eine. Ich mache nicht für ein bisschen Pulver die Beine breit, das kannste dir abschminken. Such dir ´ne andere für deine perversen Spielchen.“

Unwillkürlich musste er grinsen, rappelte sich vollends auf und zog sie hinter sich her. Als sie sich sträubte, ließ er sie los.

„Du brauchst keinen Schiss zu haben. Ich will nur quatschen. Quatschen und ein wenig vergessen. Ich hatte gerade einen ziemlich üblen Trip. Du kannst es aber auch lassen. “

Sprach es und schritt von dannen, weg von der Musik, weg von der kreischenden Menge. Und es dauerte nicht lange, da hörte er ihre Schritte.

 

Sie hatten sich ein gutes Stück vom Mohyn entfernt. Die Frau wohnte in einer kleinen, vollgestopften Bude mehrere Blocks weit vom Wandaplatz entfernt. Er stand auf dem winzigen Balkon, während sie in der Küche Kaffee kochte. Der Beutel mit Maron lag auf dem Tisch, zusammen mit zwei Halbliterflaschen Bier. Er musterte die verschachtelten Gässchen und die unzähligen kleinen Häuser, die sich unter ihm ausbreiteten. Häuser mit Türmchen und Erkern, auf vielen thronten kürzere bis längere Kaminschlote, aus denen dunkler Rauch emporstieg. Die Fassaden waren zumeist grau oder braun oder ganz dunkel, die Wandfarbe blätterte an vielen Stellen ab und zeigte den schon lang anhaltenden Verfall des Viertels. Umtriebig wuselten die Menschen durch die Straßen, manche nach Hause zur Liebsten, andere auf der Jagd nach Vergnügen oder auf dem Weg zu ihren dunklen Geschäften.

Hier, im fünften Stock, hatte man einen recht guten Überblick. Nur ganz verteilt lagen weitere, mehr als dreistöckige Häuser, trotzdem sah er kein Ende der Betonwüste, egal, in welche Richtung er blickte. Er glaubte, den Mohyn zu erkennen oder besser ein Glitzern auf der Oberfläche, aber genauso gut konnte es pure Einbildung sein. Die Musik wehte bis hier hinauf. Doch das war nur ein schwacher Abklatsch dessen, was sie vorher gehört hatten. „Wie heißt Du eigentlich?“

Unbemerkt war sie an ihn herangetreten, sah hinab in die regennassen Straßen, ihr Blick zeigte eine Mischung aus Faszination und Abscheu. Silbermond wurde selten vorbehaltlos geliebt und Weststadt war alles andere als die Schokoladenseite des Betonstarrenden Molochs.

„Ich bin Jasper, der Wandelbare. Aber frag bitte nicht, wie ich zu diesem Namen gekommen bin. Es ist eine bittere Geschichte, die ich an diesem Abend nicht erzählen möchte. Sie handelt vom Schmerz und vom Tod, und ich habe Lust auf Zerstreuung, nicht auf unangenehme Erinnerungen. Wie nennt man dich?“

Ihre Augen waren undurchdringlich, wirkten immer noch verschleiert durch eine Mischung aus Sehnsucht, Trübsinn und etwas anderem, dass er nicht deuten konnte. Vielleicht steckte doch mehr hinter der verlebten Fassade, als der erste Eindruck vermittelte.

„Ich bin Renata. Das Schicksal der Suchenden. Auch meine Geschichte braucht einen anderen Abend, um erzählt zu werden. Sie wird deiner an Bitterkeit in nichts nachstehen. Lass uns das Maron versuchen.“

Sie schien jetzt weniger apathisch, weniger hilflos zu sein. Eigentlich hatte der Wandel schon stattgefunden, als sie sich zusammen auf den Weg zu ihrer Wohnung gemacht hatten.

Der Kaffeeduft stieg ihm in die Nase und er folgte ihr zurück in die kleine Wohnung, den Blick auf die sich wiegenden Hüften fixiert. Sie hatte einen strammen Hintern und auch die Beine schienen knackig. Sie setzte sich, erkannte wohl diesen speziellen Blick und lächelte tiefgründig. Als sie einschenkte, fiel sein Blick unwillkürlich auf ihren Ausschnitt.

Ey, ich bin nicht so eine. Ich mache nicht für ein bisschen Pulver die Beine breit, das kannste dir abschminken.

Ihre Worte klangen in seinen Gedanken nach und er begann, nach einer verborgenen Botschaft zu suchen. Zum wiederholten Male blickte er in ihre blauen Augen und sah überrascht, dass alle Naivität verschwunden war. Immer noch sah sie sehnsuchtsvoll und verloren aus, aber noch etwas Anderes lauerte in den Abgründen ihres Seins.

Er bekam einen Steifen, malte sich aus, wie er ihr das Shirt auszog, dachte an den prallen Hintern...

Jasper nahm einen Schluck Kaffee, auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob sie ihn nicht bewusst manipulierte. Man hörte viel von abgeschleppten Typen, die mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden wurden. Er war sich sicher, mit ihr fertig zu werden, aber man sollte die Gefahren Weststadts niemals unterschätzen.

Neben auf dem Schrank lag ein armlanges Messer, ein Fleischklopfer und mehrere Gabeln. Gerade das armlange Messer war eine nicht zu unterschätzende Waffe.

Sein Blick fiel auf Renata und er revidierte seine Einschätzung erneut. Er glaubte, Rätsel in ihr zu erkennen. Ein Mysterium, aber keine Boshaftigkeit. Sie war harmlos, da war er sich sicher. Trotzdem würde er auf der Hut bleiben.

Er öffnete den Beutel und hielt ihn ihr hin. Sie nahm eine Prise des braunen Pulvers, schüttete es auf ihren Handrücken und leckte es in einem Zug auf.

Ihre Grazie bewundernd, gab er sich eine Dosis in die Handfläche und schüttete sie gierig in seinen Schlund. Es war an der Zeit zu vergessen. Und vielleicht erfüllten sich seine Träume.

Die Wirkung setzte ein, seine Begierde wuchs und mit ihr sein Ständer. Er schaute sie an, suchte nach einem Anzeichen von Lust in ihren Augen. Langsam trübten sich die Farben, die Welt zog sich zusammen und wieder zu, so auch ihr Gesicht, ein skurriles Schifferklavier. Es war wieder wie vorhin und er verfluchte sich dafür, die Droge erneut benutzt zu haben.

Er blickte sich um. Die Wände schienen zu leben. Gesichter bildeten sich. Männer, Frauen, die Münder vor Qual verzerrt. Der Boden warf Wellen, auf denen die Köpfe Verstorbener ritten. Ein unheimliches Kichern erklang.

Plötzlich eine Bewegung in den Augenwinkeln. Renata – besser gesagt eine Karikatur Renatas – sah ihm höhnisch entgegen. Sie riss sich das Shirt vom Leib, doch statt wohlgeformter Brüste wanden sich Rattenköpfe und fauchten ihn an. Ihr Gesicht hatte tiefe Furchen, in denen es von Maden wimmelte, die scheinbar aus ihrem Innern hervor krochen. Auf ihrem Rücken thronte ein Buckel, der hin und her wogte, als sei etwas Lebendiges in ihm.

Ihre Nase war lang und krumm. Schleim tropfte heraus und verätzte den Boden. Blasen bildeten sich und verzerrten sich zu weiteren Gesichtern, die ihn stumm anschrien. Seine Angst wuchs ins Irrationale als sie sich ihm näherte, die Brustratten streichelnd und das Becken kreisend, während sie vulgäre Worte herausschrie. Panisch tastete er seine Umgebung ab und packte nach dem nächstbesten Gegenstand, den er fand: ein armlanges Messer.

Er stach nach den Rattenköpfen, schnitt sie vom Torso. Die Ratten verhöhnten ihn mit hoher Stimme, während sie zu Boden klatschten und sich dort weiter gebärdeten und ihn zum hemmungslosen Sex aufforderten. In Raserei gefangen stach er in Renatas Augen, in ihre Arme, ihr Bein und in den Unterleib. Er stach wieder und wieder auf sie ein.

Urplötzlich verschwanden die Gesichter in den Wänden, der Boden blieb ruhig und vor ihm lag Renatas grausam zugerichteter Leib in einer riesigen Blutlache. Nirgendwo waren Rattenköpfe zu sehen, und auch Boden und Wände boten keine Gesichter oder Fußspuren. Ihr Gesicht wirkte normal, sah man von der Schweinerei ab, die er mit dem Messer angerichtet hatte. Die Brüste hingen zerfetzt an ihrem Körper, Eingeweide hingen aus dem geöffneten Unterleib.

Ihre Augen zeigten selbst gebrochen noch das Entsetzen, welches sein Handeln in ihr hervorgerufen hatte. Würgend erbrach er sich auf den Parkettboden, immer wieder, bis sein Magen nur noch bittere Galle hervorbrachte. Als die Kehle vom Brechen schmerzte, hielt er inne.

Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, was er getan hatte. Er floh so schnell er konnte, fiel fast die Treppe hinunter und verschwand schreiend in der Dunkelheit.

 

Die Häuser flogen nur so an ihm vorbei. Hier das schreiend blaue Haus des Amelika, dort die bunten Hütten der Karifen,

Monoton platschten seine Füße auf dem nassen Betonboden. Sein Atem ging keuchend, die Lunge schmerzte, die Beine brannten und er lief weiter und weiter. Doch die beginnende Erschöpfung lenkte ihn ein wenig von den Ereignissen der letzten Stunde ab. Er wurde langsamer und begann, seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung zu lenken. Die Gegend wurde belebter und ihm fiel auf, dass er trotz seiner Panik den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Den Weg nach Hause.

Plötzlich sah er sie und seine Schritte verlangsamten sich bis er stehenblieb, den Blick nach hinten gerichtet. Er registrierte die fünf Ghessinen, die gerade auf potentielle Kunden einredeten. Er gaffte sie an, doch das war ihm ziemlich schnuppe. Diese Nacht war anders. Sie war magisch, aber nicht in einem positiven Sinne. Ein Albtraum in Reinkultur, unmenschlich, ja böse. Da galten menschliche Konventionen, auf die er eigentlich so viel gab, einen Scheißdreck.

Eine Frau geriet in sein Blickfeld und ging auf ihn zu. Ihr Haar war lang und golden, wallte in einer unglaublichen Fülle fast bis zum Boden. Der Ausschnitt versprach mehr: Ein voller Busen, dessen Anziehungskraft fast unüberwindbar schien. Seine Augen folgten dem wallenden Kleid, dem wohlgeformten Bein in schwarzen Strümpfen, das sie ein wenig angewinkelt hatte. Ihre blassen blauen Augen sahen ihn belustigt an, duldeten stumm seine Musterung. Ihre roten Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Sie beugte sich vor und hauchte einen Kuss in seine Richtung.

„Liebster, ich verspreche dir eine Nacht, die du niemals vergisst. Und glaub mir, der Preis lohnt sich …“, warb sie mit kokettem Augenaufschlag, der Jasper schlagartig zur Besinnung brachte. Eine Bordsteinschwalbe, das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Kurz hatte er an ein Wunder gedacht: Die perfekte Frau zum richtigen Zeitpunkt, das Licht in der schwärzesten Nacht, die er je erlebt hatte, doch die Illusion zerbarst wie ein billiger Maronrausch und hinterließ nur Enttäuschung in ihm.

Ein erneuter, genauerer Blick zeigte ihm wabbliges Fleisch, das die beste Zeit schon lange hinter sich hatte. Die Strumpfhose war löchrig und versifft. Ihre wirklich interessanten Augen wurden umrahmt von tiefen Furchen, die andeuteten, wie anstrengend das Gewerbe auf Dauer war und wie wichtig es gewesen wäre, rechtzeitig umzusatteln. Selbst die zentimeterdicke Schminke konnte nicht darüber hinwegtäuschen und gab ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes, fast schon Abstoßendes.

„Na, Schätzchen, hast wohl schon bessere Zeiten hinter dir. Wie lang stehst du hier schon und wartest vergeblich?“, lästerte er im Fortgehen und quittierte die Schimpfkanonade, die ihm hinterher brandete, mit einem Lächeln. Sein Blick wanderte die Häuserwände entlang, musterte das verwitterte und geschwärzte Mauerwerk, die blinden Fenster. Den Kopf schüttelnd sinnierte er über vergangene, bessere Zeiten. In Weststadt verkam die Gegend immer mehr. Der Einfluss der Banden – vor allem der falschen – stieg beängstigend und sorgte für eine unheilvolle Konzentration aus Gewalt und Gegengewalt. Er war froh, zu fünf der großen Banden gute Beziehungen zu haben. Aber das Aufkommen der Easy Rider machte ihm ernsthaft Sorgen. Dort hatte er keinen Fuß in der Tür. Bei den wenigen Bandenmitglieder, die er kannte, mochte er sich nicht blicken lassen, waren sie doch wenig freundschaftlich auseinandergegangen. Wenn die Entwicklung anhielt, musste er diese Gegend Weststadts über kurz oder lang verlassen und sich ein neues Betätigungsfeld suchen.

Allerdings machten ihm im Moment andere Dinge Sorgen. Um die Ecke biegend lief er mit vollem Schwung in eine Faust. Sein Kopf stieß in den Nacken, doch mit Mühe hielt er die Balance. Der nächste Schlag traf ihn am Kinn und schleuderte ihn zu Boden. Der metallische Geschmack des Blutes war nur die Ouvertüre. Die ersten Tritte erduldete er noch stumm, dann begann er zu schreien, verstummte erneut, als die Heftigkeit der Schläge zunahm. Der Schmerz brannte an unzähligen Stellen und er versuchte instinktiv, den Hieben auszuweichen, doch sie malträtierten ihn von allen Seiten. Wimmernd ertrug er Tritte, Schläge und nahm die Beschimpfungen nur am Rande wahr.

Irgendwann ließen sie endlich von ihm ab und durchsuchten seine Kleidung. Ein triumphaler Schrei als sie den Maronvorrat fanden, dann entfernten sich Schritte.

Er blieb mehr oder minder regungslos liegen. Ein ums andere Mal wurde ihm schwarz vor Augen, während Schmerzwellen durch seinen Körper brandeten.

Später, er wusste nicht, ob es Minuten oder Stunden waren, raffte er sich auf, ging erst schwankend, dann immer sicherer, die leere Straße entlang. Erneut packten ihn Krämpfe, hatte er Erscheinungen, seltsam unwirklich, wie aus einem Traum. Schwebende Frauen, halb durchsichtig, und flüsternde Stimmen, die in einer fremden Sprache vor sich hin fabulierten auf eine Weise, die ihm aus unerfindlichen Gründen obszön vorkam. Nach Ewigkeiten hatte er seine Bude erreicht, im dritten Stock einer der Mietskasernen. Seine bescheidene Bleibe, die aus zwei Zimmern bestand: Dem Schlafwaschraum und einem Wohnzimmer, das gleichzeitig sein persönlicher Poseidontempel war.