11.Kapitel

  

Zwei Wochen später, nach vielen Gesprächen mit ihrem Therapeuten Dr. Kies, kehrte Melissa in ihre Wohnung zurück.

Sie war nun wieder alleine und auf sich gestellt und hatte den Entschluss gefasst, sich nicht mehr unterkriegen zu lassen.

Er hatte sie darin noch bestärkt und war auch davon überzeugt, dass sie es schaffen würde, weil er wusste, dass sie eigentlich schon immer eine starke Kämpfernatur war. So war sie denn nun zu Hause in ihrem trauten Heim und genoss die Ruhe.

 

  

Inzwischen war es Mitte April und das Wetter ganz typisch dafür.

Manchmal schneite es sogar wieder und dann war es wieder warm mit Temperaturen, die schon eher dem Sommer glichen.

Melissa genoss ihre Privatsphäre, die sie in der Klinik nicht wirklich hatte. Sie war sehr froh, wieder in ihren eigenen vier Wänden zu sein.

Sie beschäftigte sich mit allen möglichen Dingen, die ihr Freude bereiteten.

Sie malte Bilder und stellte Blumensträuße her, die sie dann verschenkte.

Sie saß im Garten und las, ging spazieren und fütterte die Enten im nahe liegenden Bach, die sie so gerne hatte. Gesund war sie noch nicht ganz, aber es besserte sich zusehends.

 

 

Eines Tages rief sie ein Bekannter an, der eine Sicherheitsfirma hatte und fragte sie, ob sie nicht für einen Tag bei ihm einspringen könnte, denn ihm fehlten Leute, weil sie wegen Krankheit ausgefallen waren. Er hatte aber eine große Veranstaltung, die er besetzen musste, und so suchte er nach anderen Leuten, die für ihn einsprangen.

Melissa überlegte, ob sie gesundheitlich schon so weit war, dass sie das packte. Sie beschloss, es einfach zu versuchen, und sagte zu.

Drei Tage später sollte das Fest stattfinden und Melissa zog sich abends um zwanzig Uhr an und machte sich fertig für die Arbeit.

Schwarze Cargo Hose, schwarzer Pulli, schwarze Jacke mit „Security“ Aufdruck. Sie steckte noch ihre Kevla Handschuhe ein für alle Fälle und macht sich auf den Weg.

Die Bühne, auf der eine Band spielte, war übermäßig groß und der ganze Platz davor war voll mit Leuten. Melissa war von der Musik nicht gerade begeistert, aber sie war ja auch zum Arbeiten gekommen und nicht zum Feiern. Die Sicherheitsleute teilten sich alle in Zweiergruppen auf und bewachten die Bühnenzugänge, den Bühnengraben, und die anderen drehten ihre Runden am Platz.

Melissa ging mit einer anderen Kollegin ihre Runden am Platz und passte auf, dass es keine größeren Reibereien gab. Nach dem, was sie in diesem Beruf schon alles geleistet hatte, war dies im Vergleich zu anderen Aufträgen, eine Kleinigkeit für sie.

Der Abend verstrich ohne größere Probleme und sie hatten alles im Griff. Bis auf einen jungen Mann, der ganz offensichtlich schwer unter Drogen stand, der austickte und auf jemand anderen losging, war alles ruhig. Melissa hatte Mühe gehabt, ihn zu bändigen, und hatte ihm den Arm auf den Rücken gedreht, sodass er handlungsunfähig war. Die Polizei hatte ihn dann mitgenommen.

Es war so gegen halb zwei Uhr in der Nacht, als plötzlich eine Stimme zu ihr sagte: „Melissa? Nein oder? Bist du es?“ Sie drehte sich um und sah in sein Gesicht. Sie war plötzlich wie vom Donner gerührt und konnte es einfach nicht glauben, wer da so aus heiterem Himmel, urplötzlich vor ihr stand. Nach all den Jahren, nachdem sie ihn nicht mehr gesehen hatte und obwohl er sich völlig verändert hatte, wusste sie sofort im selben Augenblick, wer er war. Er hatte jetzt lange Haare und einen Bart. Damals, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, sah er völlig anders aus, nämlich mit kurzen Haaren und bartlos.

„Roby? Ich glaub’s ja nicht…du?“ Sie konnte es nicht fassen, dass er so unverhofft vor ihr stand.

Sie wusste in dem Moment erst gar nicht, was sie sagen sollte.

Nie hatte sie damit gerechnet, dass sie ihn noch einmal wiedersehen würde. Nach so langer Zeit.

Sie fielen sich sofort in die Arme und es war, als wollte keiner der beiden den anderen jemals mehr loslassen.

Es war sofort klar, dass jeder den anderen sehr vermisst hatte.

Sie sahen sich tief in die Augen und hielten sich fest umschlungen.

„Ich habe so lange Zeit nach dir gesucht, ich hatte meine Hoffnung schon aufgegeben, dich je wieder zu finden. Mein Gott freue ich mich! Ich kann es gar nicht glauben, ich hab dich wieder gefunden! Jaaa!“ Er strahlte über das ganze Gesicht wie ein Honigkuchenpferd.

„Sag, bist du alleine oder hast du einen Freund?“, fragte er vorsichtig leise. „Nein, ich bin alleine“. antwortete Melissa.

„Und dass du mich nicht finden konntest, lag wohl daran, dass ich lange Zeit nicht hier war. Ich ging damals dann nach Deutschland und blieb dort drei Jahre. Aber ich bin jetzt seit ein paar Monaten wieder hier.“

Roby gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange, und drückte sie so sehr, dass ihr fast die Luft wegblieb. Unverkennbar, dass er sich sehr darüber freute, dass sie sich wiedergefunden hatten.

Melissa wurde bewusst, dass ja noch ihre Kollegin neben ihr stand, und alles mit ansah, und sie sich wohl auch ihren Teil denken würde.

Sie löste sich von Roby und tauschte mit ihm die Telefonnummern aus, damit sie sich in den nächsten Tagen treffen konnten.

„Ich muss leider arbeiten jetzt, aber wir sehen uns auf jeden Fall in den nächsten Tagen, ok?“, sagte sie zu Roby. Der nickte und umarmte sie noch mal, dann verabschiedeten sie sich. Melissa war danach etwas irritiert. Nie hatte sie damit gerechnet. Es hatte sie getroffen wie ein Blitz. Sie hatte diese Geschichte mit ihm damals so tief in sich vergraben und verdrängt, dass es ihr gar nicht bewusst gewesen war, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Nun kam irgendwie alles ganz plötzlich mit einem Schlag wieder hoch. Sie war total aufgewühlt innerlich. Sie hatte kein Vertrauen mehr zu Männern. Aber Roby stand auf einem anderen Blatt, da er eben der Einzige war, der sie nie verletzt hatte damals.

Melissa ging um vier Uhr dann nach Hause, mit dem Kopf voller Erinnerungen und dem unerwarteten Aufeinandertreffen mit Roby.

Sie wusste noch nicht, was sie davon halten sollte.

Vor allem hatte sie keine Ahnung, ob er noch derselbe Mensch war wie damals, oder ob er sich wie die meisten anderen auch, so verändert hatte. Tausend Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum. Sie musste das alles erst einmal verdauen.

Sie hatte abgeschlossen mit der Liebe und war nicht auf so etwas vorbereitet gewesen. Schon gar nicht, dass sie Roby je wiedersehen würde.

Irgendwie war es, als ob das alles sehr lange ihn ihr verschlossen und ganz tief verborgen gewesen war und ganz urplötzlich wie mit einem lauten Knall, aufbrach, und alle Gefühle, die sie für ihn damals empfunden hatte, nach oben geschossen kamen, genau wie damals.

Wie eine geschüttelte Sektflasche, die explodiert.

Sie wusste nicht, ob sie diesen Gefühlen wirklich trauen konnte.

War es möglich, nach so langer Zeit, dieselben Gefühle zu haben für einen Menschen, den man dreizehn Jahre nicht gesehen hatte?

War das wirklich möglich? Oder spielte ihr ihre Sehnsucht nach der wahren Liebe einen Streich? Sie wusste keine Antwort darauf.

Doch sie beschloss, auf ihr Herz und nicht auf ihren Verstand zu hören. Und das machte ihr unmissverständlich klar, dass sie Roby noch immer in ihrem Herzen trug.

 

 

  

Am nächsten Tag überlegte sie, ob sie ihn anrufen sollte.

Nach so langer Zeit wirkte alles ein wenig befremdlich. Es war wie früher und doch auch wieder sehr neu und ungewohnt für sie, nach so langer Zeit.

Sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Sie fasste sich trotzdem ein Herz und rief ihn an. Er hob ab und sagte: „Hallo, Melissa, schön dass du anrufst. Ich habe mich so gefreut gestern, ich bin noch ganz durcheinander, weil ich nicht mehr damit gerechnet habe, dich je wieder zu sehen.“ „Ja, ich auch, mir geht es genau wie dir“, antwortete sie.

„Sag mal, machst du noch immer Massagen, Roby?“, fragte sie ihn.

„Ja klar, willst du eine? Ich könnte dann morgen zu dir kommen, wenn du willst, so um drei Uhr?“, sagte er. Melissas Herz tat einen merklichen Sprung, und sie wusste in dem Moment, dass es richtig war.

„Ja, das würde ich gerne machen, das tut mir auch sicher gut“, sagte sie zu ihm. Er wusste genauso gut wie sie, dass es nur ein Vorwand war, aber es war ihm nur recht, denn auch er wollte sie so schnell wie möglich wiedersehen. Sie teilte ihm noch ihre Adresse mit und verabschiedete sich am Telefon von ihm. Ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht. Roby,…mein Gott war das lange her….und nun hatte sie das Schicksal wieder zusammengeführt.

 

Am nächsten Tag war Melissa sehr nervös. Der Tag zog sich langsam dahin und die Stunden wollten einfach nicht vergehen.

Sie lenkte sich ab, indem sie die ganze Wohnung putzte und alles auf Vordermann brachte.

Danach ging sie unter die Dusche und wusch ihre Haare mit einem duftenden Shampoo mit Kokosnuss.

Sie wusste genau, was heute passieren würde, sie wusste es genauso gut wie er. Irgendwie war alles so, als ob das Schicksal es so geplant hätte.

Nach dem Haare Föhnen, schlüpfte sie in ihren schönsten weißen BH und einen seidenen weißen Slip.

Sie streifte sich eine ihrer engen schwarzen Jeans über und zog ein enges pinkfarbenes T-Shirt an.

Sie stand vor dem Spiegel und betrachtete das Ergebnis.

Sie hatte nicht mehr viel Selbstvertrauen und es war für sie inzwischen sehr ungewohnt geworden, sich so anzuziehen.

Eine Ewigkeit war es her, dass sie sich so gezeigt hatte.

Lange Zeit hatte sie sich absichtlich nur mehr, quasi in Sack und Asche gehüllt, um vor Männern ihre Ruhe zu haben.

Sie war jeder Versuchung auf jede erdenkliche Weise aus dem Weg gegangen.

Früher war das anders, denn sie hatte kein Problem damit gehabt und war es gewohnt gewesen, dass immer alle Männer hinter ihr her waren.

Aber seit Daniel vermied sie es tunlichst, dass einer sie auch nur wahrnahm.

 

 

 

 

Es war kurz vor zwei Uhr nachmittags, da klingelte es an der Türe.

Melissa wunderte sich, wer das sein konnte, sie erwartete sonst niemanden und für Roby war es ja noch zu früh.

Sie öffnete die Türe und war total überrascht. Da stand er und sagte:

„Sorry, aber ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, ich musste dich einfach so schnell wie möglich wiedersehen.“

 

Er nahm sie in die Arme und küsste sie zärtlich.

„Lass mich erst mal die Türe schließen“, sagte sie lächelnd und schloss die Türe hinter ihm zu.

Danach nahm er sie wieder ganz fest in seine starken Arme und ließ sie nicht mehr los. Sie sahen sich eine ganze Ewigkeit tief in die Augen.

Es war offensichtlich, was beide füreinander fühlten.

Alles war genau wie damals, dieselben Gefühle, die sie verzehrten.

Es kam, wie es kommen musste. Sie wussten es beide, dass es so kommen würde. Er begann, sie zu küssen, und seine Zunge war tief und fordernd und ihr Herz schlug immer schneller.

Langsam zog er sie aus und danach sich selbst. Da standen sie nun beide, nackt wie Gott sie geschaffen hatte. Sie hielten sich fest umschlungen und spürten den Herzschlag des anderen.

Er hob sie hoch, trug sie ins angrenzende Schlafzimmer und legte sie vor sich auf das Bett. Er betrachtete sie liebevoll und flüsterte leise:

„Ich liebe dich immer noch Melissa. Mein Herz hat sich so sehr nach dir gesehnt. Ich habe immer alle nur mit dir verglichen, aber keine war so wie du. Ich bin so glücklich, dass du jetzt wieder zu mir gehörst.“

Melissa lächelte. Sie war einfach nur glücklich und sie wusste jetzt, dass es das Richtige war. Ihr Herz ließ es sie spüren.

So lange Zeit war sie ohne Liebe gewesen und hatte alles abgelehnt, was auch nur in ihre Nähe kam. Aber jetzt gehörte sie nur mehr zu ihm.

Sie gab sich ihm ganz hin und sie erklommen gemeinsam die Gipfel der Lust.

Es war, als wären sie niemals getrennt gewesen.

Melissa war einfach nur glücklich, sie wusste genau, dass er nun niemals mehr von ihrer Seite weichen würde und sie nicht von der seinen.

Zu viel Zeit hatten sie in den langen Jahren verloren, die es nachzuholen galt.

Nie mehr wollten sie sich je verlieren. Nie mehr….

 

 

ENDE

 

 

 

Impressum:

Copyright: © 2019 Denise Devillard
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN: 978-3-750276-66-6

Inhaltsangabe:

 

Das Buch ist die Lebensgeschichte einer über 40 jährigen Frau, die durch ihre Liebe zu einem jungen Mann völlig aus den Fugen gerät. Sie hat ihr ganzes Leben sehr viel Leid und Schmerz erlebt und ist nun an dem Punkt angekommen, wo sie niemandem mehr vertraut und sich von der Welt da draußen zurückzieht. Sie war stets eine Kämpferin, aber nun hat sie keine Kraft mehr, zu kämpfen. Sie versucht, ihr Leben und all das, was passiert ist, aufzuarbeiten mithilfe ihres Therapeuten in der Klinik, in die sie selbst freiwillig gegangen ist. Bis sie auf jemanden aus der Vergangenheit trifft, den sie einst sehr geliebt hatte….


Melissa

Leben mit Vergangenheit

 

Nach einer wahren Geschichte

von

Denise Devillard

1.Kapitel

  

Sie starrte aus dem Fenster. Die Regentropfen hinterließen Spuren an der Scheibe. Ihr Blick fiel auf den Horizont ins Nirgendwo.

Sie fühlte sich leer und allein. Sie konnte nicht hinaus aus diesem Haus, in dem sie war, doch sie wollte es auch gar nicht.

Sie fühlte sich hier sicher, obwohl es eine sehr kalte Ausstrahlung hatte dieses große Haus, in dem sie nun ihr Zimmer hatte. Lange leere Gänge,

große Hallen mit Marmorböden, die nichts als Kälte ausstrahlten.

Und doch war es der einzige Platz, an dem sie sich sicher fühlte. Sie hatte sich schon lange zurückgezogen von dieser Welt da draußen.

Sie hatte jahrelang gekämpft und doch verloren. Nun hatte sie einfach keine Kraft mehr zu kämpfen. Es war der Punkt erreicht, an dem gar nichts mehr ging. Ihre Seele war zerrissen von all den schmerzlichen Dingen, die sie durchgemacht hatte. Ihr Körper hatte um Hilfe gerufen und sie erlitt einen totalen Kreislaufkollaps. Dann kam sie freiwillig hierher in diese Privatklinik.

Dr. Klein, ihr zuständiger Arzt, war außer ihrem Therapeuten, der einzige, der sich sehr um sie bemühte. Er versuchte, ihr ein klein wenig Halt zu geben. Medikamente hatte sie schlichtweg abgelehnt, da sie Chemie hasste. Er bestand jedoch darauf, dass sie eine Therapie machte, was sie auch annahm. Sie nannte ihren Therapeuten Dr. Kies heimlich „Sushi“, weil er immer einen leichten Geruch von Fisch um sich verbreitete. Er war ein Mittdreißiger ohne Kinder und sein Haar schon etwas schütter. Man merkte jedoch, dass er seinen Beruf mit Liebe erfüllte und den Menschen, die er betreute, wirklich zu helfen versuchte.

Da saß sie nun wieder einmal alleine vor diesem großen Fenster, das den weiten Blick, auf den riesigen, zum Krankenhaus gehörigen Garten freigab. Sie liebte es, hier stundenlang zu sitzen und ihren Gedanken nachzuhängen.

Sie hatte ja auch sonst nichts zu tun. Da war niemand, der sie besuchen kam. Kein Vater, keine Mutter und auch sonst niemand.

Sie war ganz auf sich gestellt. Sie versuchte, hier Antworten zu finden und einen Weg zurück ins normale Leben.

Melissa strich durch ihre langen roten glatten Haare und seufzte tief. Die Vergangenheit hatte sie zu dem gemacht, was sie heute war.

Eine ängstliche Person mit dreiundvierzig Jahren, die kein Vertrauen mehr zu anderen Menschen aufbauen konnte. Es war ihr einfach nicht mehr möglich, nach all ihren schrecklichen Erlebnissen, die sie schlussendlich in dieses Haus geführt hatten.

Traurig starrte sie hinaus in den Regen. Sie liebte den Regen und den Wind, weil sie ihr das Gefühl zu leben gaben. Im Sommer, wenn es warm war und der Regen fiel, ging sie am liebsten draußen spazieren.

 

Doch heute war es noch etwas zu früh und zu kalt, sonst wäre sie schon längst in ihren Mantel geschlüpft und hätte den Regen draußen genossen.

Bilder von ihrer Kindheit tauchten vor ihren Augen auf.

Sie war damals ein kleines Mädchen mit langen Haaren gewesen, das in einer sehr schwierigen Umgebung aufwuchs.

An ihren Vater hatte sie nur wenige Erinnerungen. Er war ein großer schlanker Mann, der immer ein wenig depressiv und traurig wirkte.

Sie hat ihn geliebt ihren Vater, ihren richtigen Vater und sie vermisste ihn, auch wenn er nicht immer gut zu ihr war.

Eines Tages kam ihre Mutter nach Hause und sagte Melissa, dass er niemals mehr zurückkommen werde, denn er sei gestorben.

Für Melissa, die damals gerade mal dreizehn Jahre alt war, einfach unbegreiflich. Ihr Vater hatte sich das Leben genommen und sich erhängt. Sie war wie erstarrt und weinte sich jeden Abend in den Schlaf, allein. Beim Begräbnis hatte ihre Mutter geweint wie ein Schlosshund und jeder fragte sich warum, denn schließlich war sie schuld an seinem Tod.

Ihre Mutter war ein Mensch gewesen, der keinerlei Gefühle zeigen konnte. Sie nahm sie nie in den Arm und auch die vier Worte: „Ich hab dich lieb“, kamen ihr zeitlebens nicht ein einziges Mal über ihre Lippen.

Melissa litt sehr unter dieser jahrelangen Gefühlskälte. Sie bekam von ihrer Mutter

nur immer eines zu hören: „Ohne dich hätte ich mehr im Leben erreichen können, deinetwegen musste ich arbeiten gehen, hatte keine Ausbildung und musste auf alles verzichten!“

Dabei war sie doch selbst schuld daran, sie hatte ihren Vater auf einem Fest kennengelernt, hatte sich in ihn verliebt, als sie gerade mal sechzehn Jahre alt war und kurze Zeit später war sie auch schon schwanger gewesen mit Melissa.

Von ihrer Großmutter erfuhr Melissa damals mit sechzehn Jahren, dass sie sie eigentlich nie behalten und lieber abtreiben lassen wollte. Was für Melissa die Erklärung für ihre jahrelange Gefühlskälte ihr gegenüber war. Sie war ein ganz und gar unerwünschtes Kind gewesen.

Sie hatte es nur ihrer Großmutter zu verdanken, dass sie lebte, die damals darauf bestand, dass sie Melissa behalten musste.

So wurde ihre Mutter dazu gezwungen, Mutter und Ehefrau zu sein, obwohl diese das eigentlich nie wollte. Sie heiratete ihren Vater, als Melissa zwei Jahre alt war. Sie zogen dann weg in ein anderes Bundesland, in eine große Dachgeschosswohnung mit drei Zimmern, Küche, ebenerdigem Dachboden und Balkon.

Als ob es heute wäre, konnte Melissa sich an diesen Dachboden erinnern, in dem sie immer alleine mit ihrem Dreirad fuhr.

Sie konnte die Türe zur Küche nicht alleine öffnen, weil sie so schwer war, und hatte oft das Gefühl dort eingesperrt zu sein.

Sie hatte Angst, dort zu spielen, da es viel zu oft vorkam, dass sie an die Türe klopfte, damit ihr geöffnet wurde, doch keiner öffnete. Mit ihren drei Jahren machte ihr das schreckliche Angst.

Obgleich sie des Nachts schlimme Träume von Schlangen hatte, und das sehr oft, kam niemand um sie zu trösten und sie im Arm zu halten. Sie weinte dann immer so lange, bis sie vor Erschöpfung einschlief.

Solange sie sich erinnern konnte, war sie dauernd allein.

Ihre Mutter verbot ihr, mit den Kindern, die auch in diesem Haus wohnten, zu spielen. Also blieb ihr nichts außer ihrem schwarzen Kater Blacky, den sie über alles liebte. Manchmal legte sie ihn in ihren Puppenwagen, zog ihm eine alte Unterhose von ihr an und band ihm eine Puppenhaube um. Blacky ließ alles mit sich machen und rührte sich nicht, im Gegenteil, er schnurrte. Es war, als konnte er spüren, dass sie ihn brauchte. Melissa war ein sehr eingeschüchtertes, trauriges Kind gewesen. Von Ängsten geplagt und dauernd allein gelassen. Niemand der wirklich mit ihr spielte, außer ihrem Kater.

Nie hatte sie erlebt, dass ihre Mutter mit ihr spielte.

Ihre Eltern gingen von früh bis spät arbeiten und kümmerten sich nicht wirklich viel um sie. Wenn ihr Vater nach Hause kam, war er immer müde und abgeschlagen und setzte sich vor den Fernseher.

Aber wirklich wahrgenommen hatte er sie nicht.

Melissa versuchte immer, sich an die Gebote der Eltern zu halten, doch das war nicht leicht. Wie jedes Kind hätte sie viel lieber draußen mit den anderen Kindern gespielt, als jeden Tag daheim zu verbringen nach der Schule und alleine ihre Hausaufgaben zu machen.

 

Mit sieben Jahren musste sie tägliche Hausarbeiten verrichten. Sie wusch jeden Tag alleine das Geschirr ab, während ihr Vater vor dem Fernseher saß und sich Zeichentrickfilme ansah. Wie gerne hätte sie die doch auch einmal gesehen. Die Küche war gleich neben dem Wohnzimmer und ab und zu erhaschte sie einen Blick auf den Fernseher. Doch wenn er registrierte, dass das Geschirr nicht mehr klapperte, bekam sie sofort sein lautes Schimpfen zu hören.