Ein Kleinstadtmärchen
für kleine Kleinstädter
und große Großstädter
für große Kleinstädter
und kleine Großstädter
und für alle dazwischen …
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Neue Rechtschreibung
2.Auflage
© 2019, 2020 by Obelisk Verlag, Innsbruck Wien
Coverentwurf: Nadja Grace Bodner Lektorat: Regina
Zwerger
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 9678-3-85197-947-3
ISBN 978-3-99128-044-6
www.obelisk-verlag.at
Illustrationen
von Nadja Grace Bodner
Die Stadt ist geschrumpft,
seit er sie verlassen hat, vor vielen Jahren.
Sie ist auch lebloser geworden.
Herr Benno geht spazieren.
Er geht jeden Tag spazieren.
Immer den gleichen Weg.
Eigentlich denselben.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Als Herr Benno durch die menschenleere Hauptstraße ging, hörte er plötzlich eine Stimme, die ihm leise zuraunte: „Nimm mich! So nimm mich doch!“ Ein dürres Blatt flog auf und landete auf den Stufen eines leerstehenden Geschäfts. Die Auslagenscheiben klirrten. Leise, fast unhörbar. Und dann war da wieder diese Stimme: „Nimm mich! So nimm mich doch!“
Herr Benno blickte sich um, aber es war niemand zu sehen.
Herr Benno schüttelte den Kopf über sich selbst. „Ich werde alt und wunderlich“, dachte er und setzte seinen Spaziergang fort.
Der Abend senkte sich herab. Herr Benno bereitete sich ein kleines Nachtmahl zu. Später schaute er sich die Nachrichten im Fernsehen an, las noch ein bisschen, in seinem rostroten Ohrensessel, und ging dann ins Bett.
Das war jeden Tag so. Oder fast jeden Tag.
Herr Benno hatte die ganze Welt gesehen. Als Journalist war er immerzu gereist, zuerst auf Kriegsschauplätze, später, als ihm das zu gefährlich wurde, zu großen Sportereignissen. In seiner Jugendzeit, nach dem Studium, hatte er zunächst an verschiedenen Theatern als Regisseur gearbeitet. Und seinen Zivildienst vorher hatte er als Pfleger in einem Krankenhaus abgeleistet. Aber das alles war schon sehr lange her.
Sein ganzes Leben hatte er vor lauter Arbeit keine Zeit gehabt. Keine Zeit, eine Familie zu gründen, keine Zeit, das Leben zu genießen.
Dennoch hatte er immer noch eine Menge Lachfalten. Sie hatten sich so tief in sein Gesicht gegraben, dass Kummer und Stress sie nicht hatten wegwischen können.
Denn er war von jeher ein Optimist gewesen und hatte auch in schlimmen Situationen seinen Humor bewahrt. Er ging auch immer noch sehr aufrecht, das Leben hatte es nicht geschafft, seinen Rücken zu krümmen.
Nun, da Herr Benno älter geworden und in Pension gegangen war, wollte er endlich Ruhe finden und war in seine kleine Heimatstadt zurückgekehrt. Seine Eltern waren inzwischen gestorben und hatten ihm ihr Haus vererbt. Da lebte Herr Benno nun seit einiger Zeit. Ruhe hatte er gefunden. Viel Ruhe. Zu viel Ruhe. So viel Ruhe, dass er davon schon ganz unruhig wurde.
Die Stadt hatte sich im Lauf der Jahre sehr verändert. Herr Benno hatte sie lebendiger in Erinnerung. „Früher gab es mehr Menschen auf der Straße“, dachte er. „Und es gab auch keine leerstehenden Geschäfte.“
Jetzt gab es viele, das war traurig. Am Rande der Kleinstadt waren diese schrecklichen Einkaufszentren entstanden, die Herr Benno nicht ausstehen konnte. Die grünen Wiesen wurden zubetoniert, die Innenstädte verödeten. „Die Einkaufszentren rundherum haben das Leben aus der Stadt gesaugt“, dachte er.
Und dann war da noch ein Problem: Herr Benno kannte fast niemanden mehr. Er war ein Fremder in seiner eigenen Heimatstadt geworden.
In dieser Nacht lag Herr Benno lange wach.
„Das Leben ist so kurz und die Nacht so lang“, dachte er und schlug ein Buch auf. Er wusste, er würde wieder stundenlang nicht einschlafen können.
Nicht, dass ihn seine Sorgen wachgehalten hätten. Denn eigentlich hatte Herr Benno keine Sorgen. Er hatte ein nettes Haus mit einem kleinen Garten, er hatte genügend Geld, schließlich hatte er sein Leben lang kaum Zeit zum Geldausgeben gehabt, er war gesund, immer noch sportlich, und auch sein Kopf funktionierte noch tadellos.
Aber er war einsam. Jetzt, wo es zu spät war, bedauerte er, dass er keine Familie hatte. Keine Frau, keine Kinder, keine Enkelkinder.
„Bin ich eigentlich glücklich?“, dachte Herr Benno. „War ich es jemals? Und wenn ja, wann war ich am glücklichsten?“ Er brauchte nicht lange zu überlegen. Am glücklichsten war er immer gewesen, wenn er mit anderen Menschen zusammen war.
„Ich muss etwas in meinem Leben ändern“, dachte Herr Benno. Er wusste nur nicht, was. Und da er das „Was“ nicht kannte, wusste er auch nicht, wie.
Daher setzte er am nächsten Tag zuerst einmal seine gewohnte Routine fort.
Als er durch die menschenleere Hauptstraße spazierte, hörte er plötzlich lautes Schluchzen. „Ich bin wirklich schon ganz blöd“, dachte Herr Benno. „Gestern habe ich Stimmen gehört, und heute höre ich lautes Schluchzen, obwohl schon wieder niemand da ist.“
Das Schluchzen aber hörte nicht auf. Da erblickte Herr Benno auf den Stufen des leerstehenden Geschäfts ein Mädchen. Sie mochte etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, schätzte er. Sie saß zusammengekauert da und weinte.
Herr Benno überlegte, was er tun sollte. Einfach weitergehen, als hätte er nichts gesehen und nichts gehört? Das konnte er nicht.
Er ging die paar Schritte zu dem Mädchen hin und setzte sich neben sie auf die Stufen.
„Kann ich dir helfen?“, fragte er.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Warum weinst du?“, fragte Herr Benno.
„Wegen der Schule“, schniefte das Mädchen unter Tränen.
„Eine schlechte Note?“
Das Mädchen nickte: „Ich hab auf die Mathematik-Schularbeit einen Fetzen … einen Fünfer gekriegt.“
„Und das ist soooo schlimm?“, fragte Herr Benno.
„Ja“, sagte das Mädchen. „Weil ich jetzt nämlich im Halbjahreszeugnis einen Vierer kriege, und damit ist mein Vorzug futsch. Meine Eltern werden sehr enttäuscht sein.“
„Hm …“, machte Herr Benno. Er konnte sich die Situation gut vorstellen. Auch er hatte ehrgeizige Eltern gehabt, denen seine Schulerfolge überaus wichtig gewesen waren.
„Ich verstehe dich“, sagte er zu dem Mädchen. „Aber es ist ja erst das Halbjahreszeugnis. Am Schulschluss kann das schon wieder ganz anders ausschauen.“
Das Mädchen nickte und wischte sich die Tränen ab. „Danke, dass Sie mit mir gesprochen haben“, sagte sie. Dann stand sie auf und lief weg.
Herr Benno blieb noch eine Weile auf den Stufen des Geschäfts sitzen. „Jetzt hab ich das Mädchen nicht einmal nach ihrem Namen gefragt“, dachte er.
Als er aufstand und weggehen wollte, hörte er abermals die leise Stimme, die ihm zuraunte: „Nimm mich! So nimm mich doch!“
Aber jetzt war wirklich niemand zu sehen.
Herr Benno schüttelte wieder den Kopf.
Es begann leise zu regnen. Als er ein Kind gewesen war, hatte es im Jänner immer geschneit. An Regen im Winter konnte er sich nicht erinnern.
Ein paar Tropfen klatschten auf die Stufen des Geschäfts und zerrannen.
Herr Benno beeilte sich nach Hause zu kommen.
Er ging mit leichten, federnden Schritten. Er war so fröhlich wie schon lange nicht.
Zu Hause bereitete er sich das Nachtmahl zu, aß mit großem Appetit.
Unter der Dusche begann er plötzlich zu singen. Ein Lied aus seiner Jugendzeit.
Und dann sang er noch eines. Und noch eines.
Er hatte schon ewig lang nicht mehr gesungen. Seine Stimme klang ein bisschen rau, aber nach und nach wurde sie geschmeidiger.
In dieser Nacht schlief Herr Benno fröhlich ein.