Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Neue Rechtschreibung
© 2022 by Obelisk Verlag, Innsbruck – Wien
Coverentwurf: Evi Gasser
Lektorat: Regina Zwerger
Alle Rechte vorbehalten
Druck und Bindung: Finidr, s.r.o. Český Tĕšín, Tschechien
ISBN 978-3-99128-013-2
eISBN 978-3-99128-037-8
www.obelisk-verlag.at
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Ende
DIE AUTORIN
DIE ILLUSTRATORIN
Ulli steht mit einem mulmigen Gefühl im Bauch vor dem großen Wohnblock, in dem sie in Zukunft wohnen werden. Ein graues Ungetüm von sieben Stockwerken. Daneben ein Parkplatz, an den ein Fußballfeld anschließt, das von einem fünf Meter hohen Zaun umgeben ist.
„Ein Käfig“, murmelt sie. „Sie sperren die Kinder in Käfige.“
„Hä?“ Ihr Zwillingsbruder Olli ist mit einer Bücherkiste neben sie getreten.
„Der Fußballplatz“, sagt Ulli.
Olli zuckt mit den Schultern. „Das ist doch nur, damit der Ball nicht rausfliegt.“
Ulli macht: „Mhm.“ Sie schluckt den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hat. Dann packt sie ihren Koffer und die Tasche mit den Plüschtieren und geht in die Richtung, in die Papa verschwunden ist. Bevor sie in das graue Haus tritt, wirft sie noch einmal einen Blick zurück auf den Berg, der zu ihrer Linken aufragt. Dahin, wo ihre Freundinnen immer noch leben und zur Schule gehen. Wo der Wald gleich hinter dem Haus anfängt und wo Wuschel geblieben ist. Omas Hund.
„Na komm“, sagt Papa mitfühlend.
Ulli tritt zu ihm in den Lift, wo auch Olli schon wartet.
Ein kleiner Junge mit einem noch kleineren Bruder quetscht sich in letzter Sekunde zu ihnen. Er hat dunkle Haare, die ihm über die Augen reichen, und ebenso dunkle Augen. Als er Ulli anlächelt, erscheint ein Grübchen neben seinem Mundwinkel.
„Ihr zieht heute ein? In der Wohnung im dritten Stock?“
Ulli sieht ihren Papa an.
Der meint: „Du wohnst auch hier? Wie heißt du denn?“
„Maximilian“, sagt der Junge und lächelt Ulli wieder an. „Wenn ihr wollt, können wir euch nachher ein bisschen herumführen.“
„Heute haben wir noch etwas Stress mit dem Auspacken“, sagt Papa schnell. „Aber morgen wäre das doch nett, oder? Ulli? Olli?“
Die beiden nicken pflichtschuldig.
Dann hält der Lift und die Bergers quetschen sich an Maximilian und seinem kleinen Bruder vorbei nach draußen. Als sich die Lifttür wieder schließt, strahlt Papa die Zwillinge an. „Seht ihr: Und schon habt ihr einen neuen Freund gefunden!“
Ulli und Olli tauschen einen Blick. Sie denken dasselbe.
„Ihr könnt euch hier auf die freien Plätze zwischen Djamila und Tim setzen“, sagt die Lehrerin freundlich und zeigt auf zwei freie Plätze am Fenster. Sie hat blonde, schnippelkurze Haare und gefällt Ulli sofort.
Verlegen durchquert sie die Klasse, um zu dem Platz neben dem schwarzlockigen Mädchen zu gelangen, das ihr freundlich zulächelt.
„Willkommen in der 4d“, flüstert Djamila ihr zu.
Auch Olli wird von seinem neuen Banknachbarn fröhlich begrüßt. „Hey, du!“, sagt Tim und seine weißen Zähne blitzen in seinem schokoladefarbenen Gesicht auf.
„Hey“, sagt Olli und grinst ihn an. „Dir gefallen Planeten?“ Er deutet auf ein Bibliotheksbuch, das vor Tim auf seinem Platz liegt.
Als der Junge „Ja“ sagt, weiß Ulli Bescheid. Olli hat schon einen neuen Freund gefunden, denn wenn er sich mit jemandem über das Weltall austauschen kann, ist ihr Bruder schon glücklich. Sie will sich gerade wieder ihrer Banknachbarin zuwenden und erkunden, ob es auch etwas gibt, das sie beide gemeinsam haben, da schreit einer schräg gegenüber von ihr:
„Seht mal – alle Superaugen in einer Reihe!“ Der Junge mit den blonden Stoppelhaaren kugelt sich vor Lachen.
Ulli sieht sich um. Der Junge hat recht. Nicht nur ihr Bruder und sie selbst tragen eine Brille. Auch Djamila hat eine und auf Tims Nase sitzt ein riesiges knallgrünes Ding.
Die Lehrerin holt eben Luft, um etwas zu sagen, aber Ulli kommt ihr zuvor. Wütend steht sie auf, beugt sich vor und stützt ihre Hände auf der Bank auf.
„Superaugen? Ich geb dir gleich was auf deine Augen, dann kannst du dich zu uns setzen, wenn du das unbedingt möchtest!“ Sie funkelt den Kerl herausfordernd an.
Dem friert das Lachen auf dem Gesicht ein. „Ich mein ja nur“, stammelt er unsicher.
„Ich mein auch nur.“ Ulli setzt sich wieder hin. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals, so sehr ärgert sie sich.
„Freddie, das war jetzt nicht sehr nett“, sagt die Lehrerin streng zu dem Stoppelkopf.
„Nett …“, faucht Ulli.
„Wir können auch korrekt sagen, wenn dir das besser gefällt, liebe Ulrike. Auch dein Verhalten finde ich nämlich nicht besonders korrekt.“
Ulli fühlt, wie ihre Wangen heiß werden. Das hat sie ja wieder fein hingekriegt. Mit schuldbewusst gesenktem Gesicht meint sie: „Ich weiß. Entschuldigung.“
„Das klingt schon besser. Freddie, ich warte.“ Die Lehrerin schaut streng zu dem Jungen hinüber.
„Tut mir leid“, murmelt auch der, aber an dem Blick, den er Ulli zuschießt, erkennt sie, dass es ihm überhaupt nicht leidtut.
Während des Unterrichts hat sie Zeit, ihre neuen Mitschüler und Mitschülerinnen zu mustern. Ihr Blick fällt auf einen Jungen, der gar nicht weit weg von diesem Freddie sitzt. Es ist Maximilian, der gestern mit ihnen im Lift hochgefahren ist. Ulli stößt ihren Bruder an.
„Schau mal, da drüben: Maximilian!“
Olli folgt ihrem Blick, sieht den Jungen, der in diesem Moment zu ihnen herüberschaut. Er lächelt wieder, sieht zu Freddie hinüber und verdreht die Augen.
„Der geht in die Vierte?“, flüstert Olli und es ist nur natürlich, dass er sich wundert. Dieser Maximilian sitzt an einer Bank für Zweitklässler und er sieht noch kleiner aus, weil neben ihm das vermutlich größte Mädchen der Klasse sitzt.
„Vielleicht hat er eine Klasse übersprungen?“, vermutet Ulli und sieht, dass ihr Bruder den Jungen gleich mit noch größerem Interesse mustert. Ulli grinst in sich hinein. Ihr Bruder, der irgendwann einmal den Nobelpreis in Physik gewinnen möchte, hat was übrig für Kinder, die gern lernen. In ihrer Dorfschule hatte Olli niemanden gefunden, der mit ihm den Abendhimmel studieren oder Bakterien im Mikroskop anschauen wollte. Vielleicht ist dieser Maximilian ja endlich ein Freund nach seinem Geschmack. Ulli wünscht es ihm.
Während die Lehrerin irgendwas von den vier Fällen erzählt, lässt sie ihren Blick weiter über die Bänke schweifen, die in Hufeisenform angeordnet sind. Sie zählt achtzehn Kinder – viel mehr als in ihrer alten Dorfschule. Und das ist die 4d! Das bedeutet, dass es an dieser Schule noch eine 4a, eine 4b und eine 4c geben muss. Mindestens.
Sie beugt sich zu Djamila hinüber. „Wie viele vierte Klassen gibt es eigentlich an eurer Schule?“, fragt sie.
„Fünf“, sagt Djamila.
Ulli macht große Augen. „So viele Kinder!“
Djamila lächelt. „An deiner alten Schule wart ihr wohl nicht so viele?“
Ulli schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Wenn sie ihrer Banknachbarin verrät, dass an ihrer alten Dorfschule die dritte und vierte Klasse zusammen zwölf Kinder waren, lacht die sie vielleicht aus. Aber Djamila bohrt nicht weiter, sondern lächelt Ulli nur noch einmal lieb zu, sodass es ihr ganz warm ums Herz wird.
Die Schulglocke ertönt und die Kinder verlassen die Klasse. Ulli kriecht auf allen vieren unter ihrer Bank herum, um ihre Stifte aufzusammeln. Wie üblich hat sie ihre Schulsachen überall um ihren Platz herum verteilt. Ordnung ist nicht ihre größte Stärke. Djamila hilft ihr.
Da hören sie von draußen auf dem Flur wütende Stimmen – eine davon gehört Olli. „… noch nie irgendetwas weggekommen und jetzt sind diese beiden Neuen da und plötzlich verschwindet Zeug!“, schreit Freddie gerade, als auch Djamila und Ulli auf den Gang treten.
„Ich bin ja die ganze Zeit nicht auf dem Flur gewesen! Wie soll ich das geschafft haben?“ Olli ist hochrot im Gesicht und Ulli sieht, dass er Unterstützung braucht. So schlau ihr Bruder ist, so hilflos ist er, wenn ihn jemand anfeindet.
„Gibt’s da ein Problem?“, fragt sie und baut sich vor Freddie auf.
Auch wenn er einen halben Kopf größer ist als sie, weicht Stoppelkopf zurück. Aber klein beigeben tut er nicht. „Ja, gibt es. Einer von euch hat meine Schuhe gestohlen.“
„Ach so? Und wo haben wir deine Schuhe hingetan, Stoppelkopf?“ Ulli blitzt ihn wütend an.
„Was weiß ich? Gefressen?“
Ulli antwortet nicht auf diese blöde Anschuldigung, sondern sieht dem Kerl weiterhin furchtlos in die Augen. Zufrieden beobachtet sie, wie ein feiner Rosaton seine Wangen überzieht.
„Was ist hier los?“, fragt die Lehrerin.
Dankbar, dass er den Blickkontakt unterbrechen kann, sieht Freddie zu ihr. „Jemand hat meine Schuhe gestohlen“, sagt er klagend und wirft Ulli noch einmal einen vorwurfsvollen Blick zu, den die Lehrerin nicht missverstehen kann.
„Und du wirfst Ulli vor, sie gestohlen zu haben?“, fragt sie.
Stoppelkopf druckst herum.
Ulli schnaubt verächtlich. „Das ist ja eine feine Schule“, sagt sie. „Wir sind keinen Tag hier und werden schon als Diebe beschuldigt.“