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Astrid M. Eckert

ZONENRANDGEBIET

Astrid M. Eckert

ZONENRANDGEBIET

Westdeutschland und der Eiserne Vorhang

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann, Bernhard Jendricke und Barbara Steckhan

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel West Germany and the Iron Curtain. Environment, Economy, and Culture in the Borderlands bei Oxford University Press.

Die Übersetzung ins Deutsche wurde durch eine Förderung der Emory University in Atlanta/Georgia ermöglicht.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Ch. Links Verlag ist eine Marke

der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

www.christoph-links-verlag.de

entspricht der 1. Druckauflage von 2022

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung eines Fotos von der innerdeutschen Grenze bei

Travemünde an der Ostsee vom 8. Juni 1989 (© IMAGO/sepp spiegl)

Karten: Bill Nelson

ISBN 978-3-96289-151-0

eISBN 978-3-86284-515-6

Inhalt

Auf der Westseite des Eisernen Vorhangs

1 Die Entstehung des westdeutschen Grenzlandes

Wirtschaftsleben mit Demarkationslinien

Die Demarkationslinie und die örtliche Wirtschaft

Grenzlandbildung und die Formierung von Interessengruppen

Die Folgen der Grenzschließung von 1952

Im Schatten des »Wirtschaftswunders«: Bundeshilfen für das Grenzland

Ideologisch abwehrbereit – Kulturförderung am Zonenrand

»Echte« Grenzen produzieren ein Grenzland

2 Der Osten vom Westen: Ein wirtschaftliches Randgebiet an der Grenze

Raumplanung und Zonenrandförderung

Imageprobleme: Westdeutsches Entwicklungsland

Gegen den Status quo: die 1970er und 1980er Jahre

Offene Grenze und neue DMark-ationslinien

Teilungsbedingte (Alt-)Lasten: Das Ende der Zonenrandförderung

Vom Rand in die Mitte?

Verteidigung von Subventionen

3 »Grüße von der Zonengrenze«: Der Eiserne Vorhang als Touristenattraktion

Wie man die Grenze zu betrachten hat

Die Gefahren eines Grenzbesuchs

Grenztourismus als politische Propaganda

Besucher und Besuchte

Der westliche Grenztourismus aus DDR-Sicht

Urlaub am Eisernen Vorhang

Der westliche Blick

4 Salze, Abwässer und schwefelhaltige Luft: Grenzüberschreitende Umweltverschmutzung

Alle Flüsse fließen nach Westen

Der Kalibergbau an der Werra

Innerdeutsche Umweltdiplomatie

Cum grano salis: Die Werra-Gespräche

Es liegt was in der Luft

Grenzenlose Umweltverschmutzung

5 Grenzgeprägte Naturräume: Der Eiserne Vorhang und sein Einfluss auf die Landschaft

Grenzbefestigungen und Niemandslandschaften

Tiere am Eisernen Vorhang

Der Drömling

Naturbeobachtung entlang des Eisernen Vorhangs

Im Westen erdacht, im Osten verworfen: Die Idee grenzüberschreitender Naturschutzgebiete

Der Ausverkauf des Schutzstreifens

November 1989: Von jubelnden Menschen und bedrohten Tieren

Das Grüne Band wird geknüpft: Naturschutz in Zeiten des Übergangs

Die Geschichtlichkeit von Landschaft

6 Der nukleare Brennstoffkreislauf im Grenzgebiet: Gorleben und die Energiezukunft der Bundesrepublik

Die globale Dimension von Gorleben

Standortkämpfe: Der Gorleben-Konflikt

Gorleben und die DDR

Am Verhandlungstisch: Die Rolle des Landkreises

»Gorleben soll leben«: Protestkultur an der Grenze

Abfall für die Ewigkeit

Westdeutschland vom Rand her betrachtet

Anhang

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archive

Gedruckte Quellen

Literatur

Personenregister

Ortsregister

Abbildungsnachweis

Danksagung

Die Autorin

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Auf der Westseite des Eisernen Vorhangs

»Friedemann Grün« stand auf dem Lkw, der am 3. August 1984 auf das Gelände des Kohlekraftwerks Buschhaus bei Helmstedt rollte. An vier Polizeisperren und am Werkschutz vorbei. Der fingierte Firmenname ergab erst im Nachhinein Sinn: Peaceman Green, besser bekannt als Greenpeace. Innerhalb weniger Minuten setzten Greenpeace-Aktivisten eine Leiter aus Alustangen zusammen, erklommen den Kühlturm und entrollten ein Transparent, das die Luftverschmutzung durch das Kraftwerk anprangerte. Buschhaus löste eine akute politische Krise in der Bundesrepublik aus, weil es auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte über sauren Regen und Waldsterben ohne Entschwefelungsanlage in Betrieb gehen sollte. Obwohl eine Rauchgasentschwefelung für neue Kraftwerke seit 1983 gesetzlich vorgeschrieben war, pochte die niedersächsische Landesregierung auf eine Ausnahme, weil Buschhaus bereits Jahre vor dieser Neuregelung genehmigt worden war. Die Befürworter des Kraftwerks argumentierten mit Arbeitsplätzen, die Gegner mit Schadstoffemissionen. Zeitgenossen begriffen Buschhaus als einen klassischen Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie. Der Streit ging als Indiz für das neu entwickelte Umweltbewusstsein der Bundesrepublik in die Geschichte der westdeutschen Umweltpolitik ein.1

Doch was den Konflikt verschärfte, war der Standort des Kohlekraftwerks. Buschhaus befand sich im westdeutschen Grenzgebiet direkt an der innerdeutschen Grenze. Es gehörte zu einem Unternehmen, den Braunschweigischen Kohlen-Bergwerken (BKB), deren Tagebaufelder 1952 durch die Demarkationslinie geteilt worden waren. Ohne Zugriff auf den vollen Umfang seiner Kohlevorkommen war die Existenz der BKB langfristig gefährdet. Die Belegschaft sah in Buschhaus deshalb eine Arbeitsplatzgarantie.

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Am 17. Juni 1985 protestierte die Umweltgruppe Robin Wood gegen das Kohlekraftwerk Buschhaus direkt an der innerdeutschen Grenze mit einem Wachturm als Hintergrund.

In der politischen Ökonomie der Bundesrepublik hatten die Regionen entlang der innerdeutschen Grenze einen besonderen Status: Das »Zonenrandgebiet«, in dem sich die BKB befanden, galt als wirtschaftlich benachteiligt und erhielt entsprechende politische Aufmerksamkeit. In die Grenzbezirke flossen staatliche Subventionen zur Schaffung und Bewahrung von Industriearbeitsplätzen. Daher rührte die verbissene Unterstützung der Landesregierung für das dreckschleudernde Projekt. Die Grenznähe vergrößerte aber nicht nur die politische, sondern auch die ökologische Dimension von Buschhaus. Die Rauchschwaden des Kraftwerks waren nicht irgendein Umweltproblem, sie waren ein grenzüberschreitendes Umweltproblem. Zu einer Zeit, als die Bundesrepublik die DDR für ihre beispiellosen Schwefeldioxid-Emissionen rügte, war es diplomatisch unklug, ein Kohlekraftwerk ohne Filtertechnik direkt an der Grenze zum Nachbarn in Betrieb zu nehmen. Die Umweltaktivisten wussten das Stichwort der Grenzüberschreitung für ihre Zwecke zu nutzen. Am 17. Juni 1985, dem Tag der Deutschen Einheit, protestierte die Organisation Robin Wood an der Grenze. Ihr Banner, an Ballons über der Demarkationslinie schwebend, verkündete, dass Luftverschmutzung nun einmal keine Grenzen kenne – ein DDR-Wachturm bildete die Kulisse. Der Konflikt um Buschhaus war weit mehr als ein Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie. Er war geprägt von der Nähe zur innerdeutschen Grenze und erinnerte daran, dass Deutschland nach wie vor ein geteiltes Land war.

Dieses Buch untersucht die Bedeutung der innerdeutschen Grenze für das westliche Deutschland. Es betrachtet die Geschichte der »alten« Bundesrepublik und des Wiedervereinigungsprozesses aus der räumlichen Perspektive der westdeutschen Grenzgebiete, die entlang der Demarkationslinie des Kalten Krieges entstanden. Im Gegensatz zur Berliner Mauer verlief die 1393 Kilometer lange innerdeutsche Grenze vornehmlich durch ländliche Regionen – schier endlose Sperranlagen schlängelten sich über Wiesen und Felder. Doch in den westlichen Grenzregionen befanden sich auch Städte wie Lübeck, Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter, Göttingen, Kassel, Fulda, Coburg und Hof. Je nach wirtschaftlichem Profil entwickelten diese Städte und Landkreise aufgrund ihrer neu definierten geografischen Lage ihre je eigenen Defizite.

Die Regionen entlang der innerdeutschen Grenze waren der sensibelste geografische Raum der alten Bundesrepublik.2 Hier traf Westdeutschland in einer konkreten und alltäglichen Weise auf den ideologischen Gegner des Kalten Krieges, die DDR. Wollte der neue Weststaat erfolgreich sein, mussten die Segnungen seiner wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ordnung jeden Winkel der Bundesrepublik erreichen. Im Grenzland mussten sich die westdeutschen Behörden mit den praktischen Folgen der Teilung auseinandersetzen, wollten sie diese Räume fest in das neue Staatsterritorium integrieren – Folgen, die sich in der lokalen Wirtschaft und Infrastruktur bemerkbar machten, sich als ideologische Konkurrenz im kulturellen Bereich manifestierten und die, wie die Buschhaus-Episode zeigt, in Umweltbeziehungen greifbar wurden. Hier spiegelten sich die längerfristigen Entwicklungslinien der Bundesrepublik nicht nur wider, hier wurden sie mitgeformt.

Das Buch folgt neueren Forschungen, die gezeigt haben, dass die Geschichte der innerdeutschen Grenze nicht allein aus der Diplomatie des Kalten Krieges oder im einseitigen Fokus auf die DDR verstanden werden kann. Vielmehr wurde sie durch Aushandlungsprozesse zwischen den beiden deutschen Staaten und dem alltäglichen Mit- und Gegeneinander der Deutschen auf beiden Seiten, durch das Geben und Nehmen, das sich sowohl in der »hohen« Politik als auch in lokalen Begegnungen entfaltete, wesentlich mitgeformt.3 Als sich die Grenze in den späten 1940er Jahren zuerst in der politischen Rhetorik und dann auch physisch verfestigte, schuf sie auf beiden Seiten neue Randgebiete. Auf DDR-Seite etablierte die SED-Führung 1952 eine fünf Kilometer tiefe Sicherheitszone nach sowjetischem Vorbild. Das Alltagsleben der Bewohner dieses Sperrgebiets wurde bis ins kleinste Detail reguliert und überwacht. Bis auf wenige Ausnahmen war es für Nichtansässige tabu und wurde als Pufferzone vor der eigentlichen Demarkationslinie zu einem integralen Bestandteil der Grenzbefestigungen.4 Von der engmaschigen und wenn nötig gewaltsamen Überwachung der »Staatsgrenze West« ausgehend, übertrug sich das Grenzregime wellenartig in den Sozialraum der DDR-Gesellschaft. Die konkrete »Grenzverletzung« am Eisernen Vorhang hatte ein Pendant im DDR-Alltag. Auch hier konnten Grenzen durch Nonkonformität und eigensinniges Verhalten »verletzt« werden. »Das Wissen um die Existenz dieser unsichtbaren Grenzen, und um die Risiken, sie unbedacht oder wissentlich zu ›verletzen‹«, schreibt der Historiker Thomas Lindenberger, »war praktisches DDR-Bürgerwissen.« Auf diese Weise erwies sich das Grenzregime als konstitutiv für die DDR. Lindenberger charakterisiert den SED-Staat deshalb als eine »Diktatur der Grenzen«.5

Auch in der Bundesrepublik entstand ein Grenzgebiet, allerdings wurde es den Menschen nicht von oben aufgezwungen, sondern entwickelte sich aus den wirtschaftlichen Konsequenzen der Demarkationslinie. Die Städte und Gemeinden entlang der Trennlinie zur sowjetischen Besatzungszone hatten zwar durchaus unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen, litten aber alle auf die eine oder andere Weise an der immer undurchlässiger werdenden Grenze. Um auf ihre Misere hinzuweisen, fanden sich gewählte Vertreter aus Bund, Ländern und Gemeinden sowie Repräsentanten aus Wirtschaft und Handel zusammen und verschafften sich als »Grenzlandfürsprecher« bei der frisch konstituierten Bundesregierung Gehör. Damit ihre Regionen nicht weiter ins Hintertreffen gerieten, forderten sie, als Ausgleich für die durch die Grenze verursachten wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, staatliche Unterstützung. Zwar ließ Hilfe aus Bonn auf sich warten, doch als Mitte der 1950er Jahre erste Hilfsmaßnahmen in Gang kamen, wurde der Landstrich entlang der innerdeutschen Grenze in Westdeutschland als »Zonenrandgebiet« bekannt. Dabei kamen nicht nur Regionen entlang der Landgrenze mit der DDR in den Genuss von »Zonenrandförderung«. Zum Fördergebiet gehörten auch die schleswig-holsteinische Ostseeküste sowie der bayerische Grenzraum zur Tschechoslowakei. Mit einer Tiefe von 40 Kilometern umfasste das Zonenrandgebiet fast 20 Prozent des Territoriums der Bundesrepublik, knapp 12 Prozent der westdeutschen Bevölkerung lebten hier.6

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Die innerdeutsche Grenze bei Rasdorf (Hessen) und Buttlar (Thüringen) in den 1960er Jahren.

»Zonenrandgebiet«: Der sperrige Name dieser Grenzregionen war selbst ein Produkt des frühen Kalten Krieges. Lange hielt sich in der Bundesrepublik die Gewohnheit, die DDR als »Zone« zu titulieren. Der Begriff implizierte, dass sich die DDR nicht wesentlich von der sowjetischen Besatzungszone unterschied, die sie bis Oktober 1949 gewesen war. Die Staatsgründung, so unterstellte der Ausdruck, könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass der ostdeutsche Staat ein sowjetisches Marionettenregime bleibe. Die westdeutschen Regionen entlang der Demarkationslinie »Zonenrandgebiet« zu nennen, erinnerte die Bürger der Bundesrepublik gleichzeitig daran, dass dieser Landstrich als Produkt der Teilung unverschuldet in eine Abseitsposition geraten war und deshalb einen moralischen Anspruch auf die Solidarität des ganzen Landes hatte.7

Dieses Buch erklärt erstmals, wie die Bedingungen des frühen Kalten Krieges das Zonenrandgebiet hervorbrachten. Es zeigt, welche Rolle das Grenzland in der Geschichte der »alten« Bundesrepublik spielte und wie es im wiedervereinigten Deutschland nachwirkt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf umwelthistorischen Fragen. Die Grenzregionen sind aber nicht nur ein Ort, den das Buch untersucht. Sie eröffnen auch räumliche Perspektiven, von denen aus sich die Nachkriegsgeschichte und der Prozess der Wiedervereinigung neu betrachten lässt.

Die Grenzgebiete entlang des Eisernen Vorhangs haben wenig mit den lebendigen Kontaktzonen und kulturell hybriden Räumen gemein, die in der Regel im Mittelpunkt von Borderland Studies stehen.8 Das DDR-Grenzregime hatte das genaue Gegenteil im Sinn. Obwohl der innerdeutschen Grenze nie die hermetische Abriegelung gelang, die der Metapher »Eiserner Vorhang« innewohnt, sollte sie Alltagskontakte unterbinden, die gegnerische Ideologie abwehren, Mobilität regulieren und schließlich die Abwanderung vollständig verhindern.9 Der sich wandelnde Charakter der Grenze von einer relativ offenen, dynamischen »grünen Grenze« zur tief gestaffelten, militarisierten Grenzzone blieb nicht ohne Folgen für die grenzübergreifenden Beziehungen: Sie verkümmerten so lange, bis sich die Menschen aus den Grenzgebieten schließlich »entfremdet« gegenüberstanden.10

Dennoch blieben diese Regionen auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze spezifische Kommunikationsräume. Hier trafen ost- und westdeutsche Grenzsoldaten aufeinander, patrouillierten alliierte Truppen, beackerten Bauern ihre Felder, liefen westdeutsche Touristen auf und kamen Staatsgäste zu Besuch. Hier bestanden zudem naturräumliche Beziehungen fort, die selbst diese hochgerüstete Grenze nicht abschneiden konnte. Schließlich spielten sich hier auch menschliche Dramen ab. Die innerdeutsche Grenze wurde zu einem tödlichen Bauwerk, das gemeinsam mit der Berliner Mauer das Kernstück der Gewaltgeschichte des SED-Regimes bildet. Früh erlangte die Demarkationslinie traurige Berühmtheit als ein Ort der Gewalt und des Todes. Während der militärischen Besatzungszeit herrschten an der Schnittstelle zwischen den Besatzungszonen Willkür und Chaos, gleichsam als Spätausläufer des Krieges.11 Als sich die SED-Führung darauf verlegte, ihren Macht- und Herrschaftsanspruch an der Grenze gegenüber den eigenen Bürgern auch gewaltsam zu verteidigen, wurden die Sperranlagen zu einer tödlichen Falle. Nach neuesten Forschungen kamen an der innerdeutschen Grenze gut dreihundert Ostdeutsche durch Staatsgewalt ums Leben.12 Nicht zuletzt wegen der Grenzopfer blieb sie bis zu ihrer Öffnung im Herbst und Winter 1989 politisch umstritten und behielt als Teil des metaphorischen Eisernen Vorhangs ihre zentrale Symbolkraft als Frontlinie des globalen Kalten Krieges.

Dementsprechend wurden alle Aktivitäten in Grenznähe unweigerlich mit politischer Bedeutung aufgeladen, auch wenn es sich um Vorgänge handelte, die in anderen Kontexten harmlos und alltäglich gewesen wären. Zum Beispiel nahmen die DDR-Grenzbehörden Sonntagsausflüge von Westdeutschen an die Grenze als eine Form psychologischer Kriegsführung wahr, die die DDR delegitimieren sollten. Auch die Verschmutzung grenzquerender Flüsse war nicht nur ein Umweltproblem wie jedes andere, sondern wurde zu einem brisanten Thema in den innerdeutschen Beziehungen, weil Schadstoffe aus der DDR in die Bundesrepublik schwappten. Durch die Grenze hatte diese Umweltverschmutzung neben der rein ökologischen Dimension sofort auch eine politische. Grenzüberschreitende Luft- und Gewässerverschmutzung brachten in den 1970ern und 1980ern einige Orte im westdeutschen Grenzland in Verruf, doch dieselben Jahrzehnte markierten eben auch deshalb eine »Wiederentdeckung« des Grenzlandes als eines vermeintlich authentischen ländlichen Raums mit angeblich intakten Landschaften, weil die beschleunigte Modernisierung der bundesdeutschen Wiederaufbaujahre trotz Zonenrandförderung an diesen Regionen vorbeigegangen war. Was in den 1950er und 1960er Jahren noch als Makel der »Unterentwicklung« galt, wandelte sich in den 1970er und 1980er Jahren zu einem touristischen Pluspunkt. Schließlich spielte das Zonenrandgebiet auch eine Schlüsselrolle, als es um die zukünftige Energieversorgung der Bundesrepublik ging. Im Jahr 1977 wurde ausgerechnet ein grenznaher Standort – die niedersächsische Gemeinde Gorleben an der Elbe – für eine nukleare Wiederaufbereitungsanlage und Endlagerstätte für Atommüll ausgewählt. Die Entscheidung galt als wegweisend für die weitere Entwicklung der deutschen Atomindustrie. Gorleben wäre die bis dahin größte industrielle Investition der Bundesrepublik geworden. Doch anstatt die Zukunft der Atomenergie zu sichern, löste die Standortwahl eine nachhaltige Protestbewegung aus. Durch die Zugkraft des Gorleben-Protests wurde die Peripherie buchstäblich zum Zentrum des bundesdeutschen Widerstands gegen Atomkraft.13

Als geschichtswissenschaftliches Thema tritt die innerdeutsche Grenze langsam aus dem Schatten der Berliner Mauer heraus. Neuere Arbeiten haben zudem unterstrichen, dass die Grenze und das Grenzland nicht nur eine Politik- und Militärgeschichte, sondern auch eine Sozial-, Kultur- und, wie dieses Buch zeigt, eine Umweltgeschichte haben.14 Eine der wegweisenden Studien hat die Perspektive von den Hauptstädten in die benachbarten Grenzstädte Neustadt (Bayern) und Sonneberg (Thüringen) verlegt. Sie zeigt, dass die Grenze »nicht einfach von den Supermächten des Kalten Krieges auferlegt wurde, sondern auch ein improvisierter Auswuchs der verunsicherten Nachkriegsgesellschaft war«. Aus Moskau, Washington, Ost-Berlin und Bonn kamen zwar die Rahmenbedingungen, aber ihre »Form und Bedeutung erhielt die Grenze von den misstrauischen Anwohnern, die mit ihr leben mussten«.15 Das soziale Verhalten im Alltag, die Wahrnehmungen der Nachbarn, die plötzlich auf einer »anderen« Seite zu stehen schienen, verfestigten die Grenze bereits, als sie noch gar nicht physisch markiert war. Bevor die Grenze überhaupt im Gelände sichtbar wurde, war sie bereits in den Köpfen der Menschen real.16

Wie beeinflussten staatliche Vorgaben, veränderte Lebensbedingungen und wirtschaftliche Eigeninteressen entlang der Demarkationslinie den Alltag in den Grenzregionen? Wie viel Handlungsspielraum blieb den Bewohnern der Grenzregionen, als der Kalte Krieg ihre Heimat erfasste? Die Antworten auf diese Fragen fallen regional unterschiedlich aus. Zwischen den Provinzstädten Sonneberg und Neustadt entwickelte sich eine andere Dynamik als im geteilten Eichsfeld, wo das soziale Gefüge oft an Landbesitz gebunden war und die Grenze Landwirte von ihren Feldern trennte. Während die Bauern eine Zeit lang noch versuchten, die Landverluste durch Tausch-, Kauf- und Pachtverträge untereinander auszugleichen, nahm ihr Handlungsspielraum im Laufe der 1950er Jahre ab. Die staatlichen Strukturen in Ost und West festigten sich und damit auch die Durchsetzung der Grenze.17 Dass die Zustände entlang der Grenze nicht einheitlich waren, zeigt auch die Sondersituation des geteilten Dorfs Mödlareuth an der Grenze zwischen Bayern und Thüringen. Hier war die Lage noch einmal verschärft, denn der östliche Teil des Dorfs befand sich im sogenannten Schutzstreifen direkt an der Demarkationslinie und war damit einer Hyper-Überwachung ausgesetzt. Für dieses Umfeld liegt der Schluss nahe, dass der Eiserne Vorhang sehr wohl »von oben nach unten« auf die Dorfgemeinschaft herniederging, und zwar in einem Prozess, »in dem die Dorfbewohner den Staat als eine externe Kraft ansahen, der [ihnen] die Teilung aufzwang«.18

Der deutsche Abschnitt des Eisernen Vorhangs bestand nicht nur aus der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze, sondern umfasste auch die Grenze zwischen Bayern und der Tschechoslowakei, die eine historisch etablierte Staatsgrenze war und als solche in der Zwischenkriegszeit in den Nationalitätenkonflikten zwischen Deutschen und Tschechen eine Rolle spielte.19 Nach 1945 wurden die deutschstämmigen Einwohner der böhmischen Länder größtenteils über diese tschechisch-deutsche Grenze vertrieben – eine Erfahrung, die diesen Abschnitt des Eisernen Vorhangs entscheidend mitprägte.20 In der Bundesrepublik ansässige Vertriebene eigneten sich den bayerisch-tschechischen Grenzraum durch oft religiös konnotierte Gedenkorte wie Kapellen, Holzkreuze und Schreine an, um dort an ihre verlorene Heimat zu erinnern. Während die innerdeutsche Grenze in Westdeutschland zu einem wirkmächtigen Symbol des Kalten Krieges wurde, trug der bayerisch-tschechische Teil des Eisernen Vorhangs die zusätzliche Last der Erinnerung an die Vertreibung.21 Studien zum Eisernen Vorhang außerhalb Deutschlands bestätigen die ungleiche Entwicklung der Teilungserfahrung während des Kalten Krieges. Von Finnland bis an die Adria spielten lokale Kontexte und frühere Erfahrungen mit dem Leben entlang von (Staats-)Grenzen eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit der Teilung des europäischen Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg.22

Seit Winston Churchill im März 1946 von einem Eisernen Vorhang gesprochen hatte, der sich von Stettin bis Triest über den europäischen Kontinent senkte, war die Trennlinie zwischen den Gegnern des aufziehenden Kalten Krieges auch eine Propagandazone geworden.23 Beide deutsche Staaten instrumentalisierten die Grenze und ihre Opfer, um das jeweils eigene Staatswesen zu festigen und zu legitimieren und die Gegenseite zu diskreditieren.24 Die SED-Führung rechtfertigte das rigide Grenzregime als defensive Maßnahme gegen die Aggressionen des »faschistischen« und »imperialistischen« Westens, während sich für die Bundesrepublik an der Grenze die Möglichkeit eröffnete, den Antikommunismus der Gründungsjahre an einem konkreten Ort zu artikulieren.25 Dabei entwickelte die Bundesrepublik in ihren Propagandaschriften eine offizielle Bildpolitik, in der die Verantwortung für die deutsche Teilung und die hochgerüstete Grenze allein der DDR zugeschrieben wurde, eine Sichtweise, die sich nach 1989 auch in der Erinnerungskultur im wiedervereinten Deutschland fortsetzte.26

Trotz aller gegenseitigen Abgrenzungsversuche blieb die innerdeutsche Grenze eine geteilte Last in einem geteilten Land. Sie brachte Probleme hervor, die beide Seiten regelrecht zur Zusammenarbeit zwangen. Von der Wasserwirtschaft und Stromversorgung über die genaue Bestimmung des eigentlichen Grenzverlaufs bis hin zum Katastrophenschutz blieb Deutschland während des Kalten Krieges politisch zwar »geteilt, aber nicht unverbunden«.27 Auch wenn die Grenze wegen der dort verübten Staatsgewalt im zeitgenössischen westdeutschen Diskurs und in der Erinnerungskultur nach 1990 als eine Grenze ohnegleichen verabsolutiert wurde, hatte sie in ihren Anrainerregionen dennoch wirtschaftliche, soziale und, wie dieses Buch zeigt, ökologische Konsequenzen, die sie mit anderen Grenzen vergleichbar macht.28 Zudem war die Grenze das Produkt der Neugründung zweier konkurrierender Staaten. Beide waren bemüht, das ihnen durch den Kriegsausgang zugewiesene Territorium zu vereinnahmen und durch administrative, wirtschaftliche, infrastrukturelle und symbolische Aneignung des Raums und der dort lebenden Menschen zu durchdringen.29 Die Formen dieser Vereinnahmung wandelten sich im Laufe der Zeit und jene der Bundesrepublik unterschieden sich von denen der DDR. Die DDR-Führung stellte ihren politischen Handlungsraum letztlich unter Rekurs auf Gewalt her, indem sie die eigenen Bürger daran hinderte, sich ihrer Herrschaft durch Migration zu entziehen. Aber auch die Bundesrepublik war auf Territorialität bedacht und suchte ihr Staatsgebiet »bis an den letzten Zentimeter«, wie es der SPD-Politiker Herbert Wehner 1952 ausdrückte, zu erschließen.30 Die Entstehung des Zonenrandgebiets ist dafür beredtes Beispiel.

Dieses Buch ist nicht rein chronologisch angelegt, sondern gliedert sich in thematische Kapitel. Es betont die Bedeutung der innerdeutschen Grenze für die alte Bundesrepublik und erfasst die grenzbedingten Wechselwirkungen zwischen West und Ost. Zwei Kapitel betrachten die wirtschaftlichen Folgen der innerdeutschen Grenze für die Bundesrepublik. Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass das Zonenrandgebiet sich aufgrund wirtschaftlicher Prozesse überhaupt erst als räumliche Einheit formierte, nicht zuletzt dank der geschickten Lobbyarbeit von Vertretern der lokalen Politik und Wirtschaft. Die Entstehung des Zonenrandgebiets war dabei Teil eines umfassenderen Prozesses, in dem sich die Bundesrepublik an die neue Wirtschaftsgeografie der Nachkriegszeit anpasste. In einem weiteren Kapitel wird das Phänomen des Grenztourismus untersucht, wobei der Eiserne Vorhang selbst als »Sehenswürdigkeit« fungierte. Grenzfahrten boten den westdeutschen Besuchern die Möglichkeit, die globalen Entwicklungen des Kalten Krieges durch lokale Aktivität erfahrbar zu machen. Was in den frühen 1950er Jahren als Schaulust begann, wurde nach dem Mauerbau von staatlicher Seite in politische Bildung umgemünzt und prägte westdeutsche Sichtweisen auf die Grenze.

Drei Kapitel befassen sich mit Umweltthemen. Die grenzüberschreitende Umweltverschmutzung avancierte in den 1970er Jahren zu einem neuen Aspekt in den bereits komplexen innerdeutschen Beziehungen. Der massive Anstieg der Verschmutzung ging auf den wachsenden Verschleiß der ostdeutschen Industrie und Infrastruktur zurück und kündigte so gesehen den Zusammenbruch der DDR an. Allerdings erkannten die Verantwortlichen in der Bundesrepublik diese Zusammenhänge nicht und verhandelten weiter mit der DDR, als gäbe es auf östlicher Seite noch die Möglichkeit, Verhandlungsergebnisse (so spärlich diese ohnehin waren) überhaupt umzusetzen. Gleichzeitig fiel der Grenzstreifen Naturschützern erstmals durch seinen Artenreichtum auf. Vögel, Lurche und Pflanzen, die in der industrialisierten Agrarlandschaft selten geworden waren, konnte man entlang der innerdeutschen Grenze noch antreffen. So befasst sich ein weiteres Kapitel mit dem ökologischen »Fußabdruck« des Grenzregimes und seinen Folgen für Landschaft, Tiere und Menschen. Es historisiert gleichsam das »Grüne Band«, ein Naturschutzprojekt der Nachwendezeit. Schließlich greift ein letztes Kapitel die Kontroverse um die Standortentscheidung für ein »nukleares Entsorgungszentrum« in Gorleben auf. In der Gemeinde an der Elbe wollte die Bundesrepublik den nuklearen Brennstoffkreislauf schließen. Die unmittelbare Nähe Gorlebens zur innerdeutschen Grenze formte die Standortkontroverse auf allen Ebenen. Zusammen bilden diese drei Kapitel die erste Umweltgeschichte der innerdeutschen Grenze.

Obwohl dieses Buch den Blick bewusst auf die westlichen Grenzregionen lenkt, ist es dennoch tief in der Geschichtsschreibung sowohl der Bundesrepublik als auch der DDR verwurzelt. Seine Ergebnisse stützen sich auf Recherchen in neunzehn Archiven mit Materialien aus beiden deutschen Staaten. Ich habe zudem private Sammlungen, zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften, Regierungspublikationen sowie Ephemera wie Flugblätter, Broschüren und Postkarten mit herangezogen. Letztere konnte ich oft auf Internetauktionen erwerben, wo Memorabilien zum Eisernen Vorhang nach wie vor angepriesen werden.31 Interviews und Korrespondenzen mit Zeitzeugen runden die Quellenbasis ab.

Mir war es zudem wichtig, die jeweiligen Perspektiven auf die innerdeutsche Grenze, die ich in diesem Buch eröffne, über die Zäsur von 1990 hinaus zu entwickeln und so die »lange« Nachkriegszeit mit den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung zusammen zu denken. Nach wie vor bleiben viele zeitgeschichtliche Studien dem Zeitraum von 1945 bis 1990 verhaftet, während die Forschung zur Wiedervereinigung nicht frei von einer Jahrestagskonjunktur ist.32 Vielversprechend ist die Wiederaufnahme der Transformationsforschung, die zeitlich im Spätsozialismus ansetzt und zumindest die erste Dekade des wiedervereinigten Deutschlands mit erfasst, dabei freilich die Vorstellung einer »Transformation« zu oft allein auf Ostdeutschland anwendet, ohne auch nach den Folgen der Wiedervereinigung für die alte Bundesrepublik zu fragen.33 In jedem Fall erscheint es mir gut dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung immer weniger gerechtfertigt, das Jahr 1990 als End- oder Ausgangspunkt historischer Darstellungen zu akzeptieren,34 und ich versuche in diesem Buch aufzuzeigen, wie man über diese Zäsur hinwegschreiben kann.

Ich bin auf der westlichen Seite der innerdeutschen Grenze aufgewachsen. Geboren in den frühen 1970er Jahren in einer niedersächsischen Gemeinde, war es für mich »normal«, dass die Landstraßen eine halbe Stunde weiter östlich endeten. Auf dem Schulweg kam ich täglich an unserem Kleinstadtbahnhof vorbei, wo regelmäßig NATO-Militärfahrzeuge darauf warteten, auf Güterzüge verladen zu werden. Ich schlängelte mich zwischen Panzern, Lastern und Kübelwagen hindurch, auf denen holländische, französische oder britische Fahnen prangten. Bei einem Ausflug in den lokalen Forst stolperte ich einmal regelrecht in einen getarnten Unterstand. Junge Rekruten mit geschwärzten Gesichtern und Grünzeug auf dem Helm hoben die Köpfe und signalisierten mir, dass ich in ihrem Manöver nichts zu suchen habe. Mitte der 1980er Jahre hatte meine Gesamtschule französische Austauschschüler zu Besuch – aus Paris! Was hatten wir Landeier diesen Teenagern aus Paris zu bieten, die uns beim Gegenbesuch sicherlich zum Louvre, auf den Eiffelturm und nach Versailles führen würden? Uns blieb fast nichts anderes übrig, als sie zum Eisernen Vorhang mitzunehmen, dem Ort, an dem unsere ländliche Region plötzlich einen Hauch von Weltpolitik verströmte. Oft fuhr ich auch mit meiner Familie auf Besuch in die DDR. Wenn meine Brüder mit den entfernten Cousins ihre militärische Ausbildung verglichen, scherzten sie gern darüber, wer zuerst den Stützpunkt des anderen erreichen würde. Ein gewisser Fatalismus war uns zu eigen – gut möglich, dass »die Russen kommen« oder ein nuklearer Sprengkopf im Grenzgebiet herniederging, wo jeder Gully auch ein Sprengschacht war.35 Dieses Buch ist also auch mein Versuch, die Absurditäten zu verstehen, mit denen ich aufgewachsen bin, und warum ich sie damals nicht absurd fand.