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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Hunde die bellen morden nicht

Anette Schwohl, 1959 geboren, hat in Hamburg Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften und in einem Aufbaustudium Kulturmanagement studiert. Nach beinahe zehn Jahren als Museumsdirektorin in Sachsen, kehrte sie im Jahr 2002 nach Schleswig-Holstein zurück. Sie ist freiberuflich als Kunsthistorikerin, Kulturmanagerin und Dozentin für Kreatives Schreiben tätig. Etliche ihrer Kurzkrimis wurden in Anthologien veröffentlicht.

Sie liebt es, in die Abgründe der Menschen bzw. ihrer literarischen Figuren zu schauen. Seit 2019 organisiert sie alle zwei Jahre das Rendsburger Frauenkrimifestival. Sie ist Mitglied bei der Autorinnenvereinigung »Mörderische Schwestern«.

Anette Schwohl

Katrin Lund

und der Tote am
Leuchtturm

Kriminalroman

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Originalausgabe

Print-ISBN 978-3-95441-605-9

Die handelnden Figuren
in diesem Kriminalroman entspringen
ausschließlich meiner Fantasie.
Einige der beschriebenen Örtlichkeiten sind
in St. Peter-Ording vorhanden,
andere wiederum frei erfunden.
Es obliegt Ihnen als geneigte Leser*in,
sich auf die Suche nach diesen Orten zu machen.
Seien Sie bitte nicht enttäuscht, wenn Sie das
eine oder andere nicht finden werden.
Halten Sie es mit der Protagonistin
und gehen Sie einen Kaffee trinken …

und lesen Sie weiter.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Rezept für Katrins Caponata

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1

Katrin Lund hasste es, jeden Morgen so früh aufstehen zu müssen. Aber leider war das Los einer Köchin eben genau dies. Andererseits – wenn sie morgens um sechs Uhr dreißig durch den Wilhelminenkoog am Siel entlang zum Deich radelte und dann weiter an den Salzwiesen vorbei in Richtung Sankt Peter-Ording, was gab es Friedlicheres?

Die Möwen über ihr zogen ihre Bahnen, und die Schafe, die im Vorland, jetzt bei Sonnenaufgang, ihr Frühstücksgras rissen, blökten leise und gemütlich vor sich hin. Das Meer roch nach Tang, und der Wind schmeckte nach Salz. Näher konnte sie der Natur nicht sein. Und sie liebte diese Landschaft. Sie gab ihr Kraft für einen neuen anstrengenden Tag in der Großküche der Kurklinik »Ebbe und Flut«. Der Fahrtwind auf ihrer Haut ließ sie sich noch mehr mit allem um sie herum im Einklang fühlen. Wasser und Wind, das waren ihre Elemente. Das war Leben.

Ihre Gedanken wanderten. Chefin einer Großküche. Das war also nun aus ihren hehren Plänen geworden, es zu einer Sterneköchin zu bringen. Immerhin Chefköchin. Aber mit einem selbstbestimmten und kreativen Arbeiten hatte das beileibe nichts zu tun. Ihr Ausbilder Georg Kessler hatte ihr seinerzeit gesagt, die Zutaten für gutes Kochen bestünden zu dreißig Prozent aus Können, zu dreißig Prozent aus Improvisation und Neugier, zu weiteren dreißig Prozent aus Psychologie, und der Rest sei Zufall. Wohin also sollte sie mit ihrer Neugierde und ihrem psychologischen Talent in einer Großküche?

Sie trat stärker in die Pedale. Ihren Hüften tat es gut, zügiger zu fahren. Sie begann jetzt mit ihren Mitte vierzig ein bisschen in die Breite zu gehen. Obwohl ihre Figur noch proper war. Also, schämen musste sie sich nicht, das stand mal fest. Schon gar nicht in Anbetracht ihres Jobs. Dafür war sie sogar regelrecht schlank. Alle waren immer erstaunt, wenn sie ihren Beruf nannte. »Wenn man Sie so ansieht, würde man nicht darauf kommen«, war so eine Standardansage. Als ob alle Köchinnen dick sein müssten.

Da sie wie üblich Gegenwind hatte, geriet sie recht bald aus der Puste und trat langsamer. Ihr erstes Etappenziel hatte sie erreicht, wenn rechter Hand der Golfplatz auftauchte. Dann noch ein Stück weiter, und sie konnte von ferne den alten Böhler Leuchtturm ausmachen. Der runde, rotbraune Backsteinturm war das Wahrzeichen des Ortsteils Böhl und hieß korrekt »Sankt Peter Leuchtfeuer«.

Zu dieser frühen Stunde lag die zum Meer gewandte Seite noch im Schatten. Von Weitem sah er aus, als sei er in der Mitte senkrecht durchgeschnitten worden.

Katrin fuhr unterhalb des geteerten Deichs entlang, um ein bisschen vor dem Wind geschützt zu sein.

Was war denn das? Sie konnte es nicht genau erkennen. Saß da etwa schon so früh jemand auf der Bank am Leuchtturm? Aber warum auf der beschatteten Seite, wo es frühmorgens noch kühl war? Na ja, nur von dort hatte man einen Blick aufs Meer. Sie kam näher. Tatsächlich, da hockte jemand. Und der war nackt. Sie stieg vom Fahrrad ab und stapfte den Deich hoch.

»Heilige Scheiße!«, entfuhr es ihr. Sie näherte sich vorsichtig. Der Kopf des Mannes hing entspannt vornüber auf dem Brustbein, wie bei jemandem, der beim Lesen eingeschlafen ist. Die Augen waren geschlossen. Die Hände lagen im Schoß. In der Klinik hatte sie mal einen Kurs über Autogenes Training gemacht. Da hieß das Kutscherhaltung.

Dieser Mann hier war tot, da brauchte sie keinen Puls zu fühlen. Das erkannte sie. Diese farblose Haut war schon länger nicht mehr durchblutet worden. Sie hatte schon genug totes Fleisch in ihrem Leben gesehen. Aber menschliches totes Fleisch war doch etwas anderes als tierisches. Dieses hier wollte sie um gar keinen Preis berühren.

Sie zerrte sich ihren Rucksack von der Schulter und zog das Handy aus der Fronttasche. Ja, was auch sonst: kein Empfang. Wie fast überall in dieser Gegend. Sie rannte ein paar Meter landeinwärts, in der Hoffnung, in Reichweite eines Sendemastes zu kommen, und versuchte es erneut. Die Verwaltungsleiterin hatte erst vor drei Monaten darauf bestanden, dass alle Mitarbeiter die Telefonnummer der örtlichen Polizei auf ihrem Handy speicherten.

»Polizeistation Sankt Peter-Ording?« Die Ansage war gleichzeitig eine Aufforderung loszulegen.

»Katrin Lund hier. Auf der Bank am Böhler Leuchtfeuer sitzt ein Toter.«

»Bitte sagen Sie mir noch einmal Ihren Namen.«

»Katrin Lund. Meine Telefonnummer ist …«

Die Telefonstimme unterbrach sie. »Die sehe ich. Danke. Haben Sie Ihr GPS an, damit wir Sie orten können?«

»Ja, habe ich.«

»Bleiben Sie dort, bis jemand von uns eintrifft.«

»Oh, ich muss eigentlich zur Arbeit.«

»Sie müssen dort bleiben.«

Katrin überlegte kurz. »Was passiert, wenn ich fahre, Ihnen aber die Adresse meiner Arbeitsstelle gebe?«

»Na gut. Okay. Wo arbeiten Sie?«

Sie beschrieb dem Polizisten genau, wo man sie in der Klinik finden konnte. War ja schließlich eine große Klinik, da konnten sich Ortsunkundige schon mal verlaufen. Außerdem wollte sie nicht, dass sie überall herumfragen mussten, um sie zu finden. Polizei war nicht gut in so einem Haus, wo so viele Kranke aufeinanderhockten und auf ein bisschen Abwechslung vom schnöden Alltag warteten. Das gab entweder zu viel Aufregung oder es wurden hanebüchene Geschichten zusammengesponnen.

»Okay, wir haben Sie geortet. Jetzt brauche ich noch Ihre Wohnadresse.«

»Da bin ich aber tagsüber nicht zu erreichen.«

»Die brauche ich, um zu überprüfen, ob Sie dort gemeldet sind.«

Katrin gab ihm die Adresse.

Sie wollte gerade wieder aufs Fahrrad steigen, fort von der Leiche, als sie es sich plötzlich anders überlegte. Gleich würden hier die Polizei und sicher auch ein Kommissar und die Spurensicherung und überhaupt das ganze große Aufgebot heranrauschen. Das wollte sie sich nicht entgehen lassen. Wenn auch die Leiche in so unmittelbarer Nähe sie immer wieder erschauern ließ, war sie doch zu neugierig. Sie ließ sich auf einer Bank in der Nähe nieder und rief in der Küche an, dass sie sich verspäten würde.

Sie wartete.

Erst jetzt spürte sie ihr wild pochendes Herz.

Sie hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Aber ihre Freunde schliefen noch, und die, die nicht mehr schliefen, hatten Kinder, die sie um diese Uhrzeit unter Dampf hielten.

Sie schaute auf die Uhr ihres Mobiltelefons: sechs Uhr sechsundfünfzig. Ihre Schwester konnte sie auch noch nicht behelligen. Die erschien immer erst um neun Uhr in ihrer Kanzlei, und zu Hause wollte sie sie nicht anrufen, da deren Tochter um diese Uhrzeit den Aufstehblues spielte. Und Sebastian war in Italien. Der war mit seinem Foto-Team bestimmt schon vor Sonnenaufgang losgefahren und jetzt mitten bei der Arbeit.

Sie stand auf und näherte sich noch einmal vorsichtig dem Leuchtturm. Ob sie den Anblick des Toten wohl aushalten konnte? Sie redete sich ein, dass das hier nur etwas Lebloses war. Um sich abzulenken, las sie, was auf dem Hinweisschild am Leuchtturm geschrieben stand: Sankt Peter Leuchtfeuer. Es stand dort etwas zu dem Standort im Längen- und Breitengrad und Infos zur Linse des Leuchtfeuers. Ursprünglich hatte hier seit 1745 eine hölzerne Bake gestanden, der Turm war dann 1892 als Peilbake gebaut und erst 1914 zum Leuchtfeuer umgebaut worden. Sie müsste eigentlich auch unbedingt mal hoch zum Westerhever Leuchtturm und schauen, was der für eine Geschichte hatte, dachte sie bei sich. Auf was für Ideen man kam, wenn man sich ablenken wollte …!

Sie äugte um die Ecke, überwand ihren Abscheu und traute sich, die Leiche genauer anzusehen. Alle Härchen auf ihrem Körper stellten sich auf. Nirgends an dem Toten waren Blutspuren oder Verletzungen zu entdecken. Sie bückte sich, um in sein Gesicht sehen zu können. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Aber das hieß nichts. Sie sah jeden Tag so viele Gesichter, dass sie manchmal miteinander zu verschwimmen schienen. Außerdem war er nackt, da war es sowieso schwierig – mit Kleidung hätte sie ihn vielleicht eher zuordnen können. Sie nahm flüchtig einen merkwürdigen Geruch wahr, konnte ihn aber nicht einordnen.

Böge, der Polizist, der Katrins Anruf entgegengenommen hatte, leitete den Inhalt ihrer Meldung unverzüglich an die Kriminalpolizei weiter. Für Tote waren sie hier in der kleinen Polizeistation nicht zuständig. Schade eigentlich, wenn man bedachte, dass mal was Interessanteres geschah, als dass sich die Kur- und Rehagäste gegenseitig beklauten. Aber immerhin mussten sein Kollege und er ausrücken, um zumindest erst einmal den Tatort, so es einer war, zu sichern.

Böge klopfte mit den Knöcheln seiner Faust auf seinen Schreibtisch und gab seinen beiden Kollegen mit einem Kopfnicken das Zeichen, dass sie aufbrechen mussten. Sie schnappten nach ihren Dienstmützen und Notizblöcken und machten sich mit dem Streifenwagen auf den Weg.

Vereinzelte Gruppen von Nordic Walkern hinderten sie daran, zügig zum Tatort durchfahren zu können. An der Sportkleidung konnte man die sozialen Unterschiede sofort erkennen. Da gab es die schicken, figurbetonten Outfits, die suggerierten, dass man täglich Sport treibe, und dann gab es die weiten, sackartigen, meist bunt gemusterten Jogginganzüge, die kurz vor Kurantritt noch schnell in irgendeinem Großsupermarkt gekauft worden waren. Aber eines war allen Walkern gemeinsam: ihre Stöcke, die sie nicht unter Kontrolle hatten. So beschaulich so ein Kurort war, er hatte eindeutig seine Nachteile. Den Kurgästen mit ihren Stöcken war nur mit dem Martinshorn und Blaulicht beizukommen. Wie aufgeschreckte Gänse stoben sie auseinander und verhedderten sich in ihren Stöcken.

Bei der Kripo in Husum war um diese Uhrzeit gerade Schichtwechsel. Der nächtliche Bereitschaftsdienst übergab die Meldung an Kriminalhauptkommissar Dirk Huber, den Leiter der zuständigen Kriminalpolizeistelle. Der warf einen Blick auf das erste Protokoll, teilte seine Leute ein und bat seinen Kollegen Harm Harmsen, ihn zum Fundort der Leiche zu begleiten. Am Abend zuvor war Männerkochabend bei Huber gewesen. Es hatte zu jedem Gang einen anderen Wein gegeben, und Harmsen hatte zu tief ins Glas geschaut. Da hatte Huber ihm das Bett seines Sohnes angeboten, der nicht bei ihm lebte.

Harmsen sah furchtbar aus. Verquollene Augen und seine aufgedunsene Gesichtshaut waren eindeutige Zeugnisse des letzten Abends. Im Vorübergehen warf Huber einen Blick in den Spiegel. Na gut, er konnte sich sehen lassen, keinerlei äußere Spuren. Er steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund.

Hubers Kollege hatte immer einen Koffer mit der Grundausstattung bei sich. Er liebte es, sich über Spuren herzumachen – sehr zum Missfallen der Mitarbeiter der Kriminaltechnik. Das traf sich in diesem Fall aber gut, denn die entsprechenden Kollegen brauchten von Flensburg aus noch länger als er und Harmsen von Husum aus.

Das von ferne zu hörende Martinshorn des Polizeifahrzeugs ließ Katrin von dem Toten zurücktreten. Na endlich! Sie war erleichtert, dass sie nun Gesellschaft bekam. Sie zitterte. War doch irgendwie gruselig – allein mit einer Leiche.

Als der Einsatzwagen auf sie zufuhr, stand sie auf und winkte, um sich bemerkbar zu machen. Die Beamten sprangen aus dem Auto. Einer von ihnen kümmerte sich sofort um sie. »Guten Tag, mein Name ist Böge. Sind Sie die Dame, die uns verständigt hat?«

Katrin nickte nur.

»Wir hatten gar nicht damit gerechnet, dass wir Sie hier antreffen. Sie sagten doch, Sie müssten zur Arbeit.«

»Ja … ähm …« Was sollte sie darauf antworten? Dass ihre Neugierde über ihr Pflichtbewusstsein gesiegt hatte? »Ich dachte, es wäre besser so, als wenn die Polizei bei mir auf der Arbeit erscheint.«

Der andere Beamte holte Metallstäbe aus dem Kofferraum des Wagens und stellte sie weiträumig um den Fundort des Toten herum auf. Dann knotete er das rot-weiße Flatterband daran fest.

»Okay, dann pfeife ich meinen Kollegen mal zurück. Der ist nämlich schon auf dem Weg zu Ihrer Kurklinik.« Er wandte sich ab zum Auto und sprach in sein Funkgerät. Als er sein Gespräch beendet hatte, winkte er Katrin zu sich heran. »So, jetzt benötige ich Ihre Personalien und Ihre Aussage.«

Während Katrin ihm alles schilderte, beobachtete sie interessiert das Treiben über die Schulter des Polizisten hinweg.

Jetzt stapften Nordic Walker aus dem Wäldchen hinter dem Leuchtturm und gesellten sich um das Absperrband. Katrin sah entsetzte, aufgerissene Augen und hörte vereinzelt ein Aufstöhnen und kurze spitze Schreie.

Auf die Aufforderung, dass sie weitergehen sollten, reagierten sie allesamt mit Ignoranz. Schließlich war das hier ihr Kurort. Da hatte man doch ein Recht zu erfahren, was geschehen war! Einige rammten ihre Stöcke mit Nachdruck in den Boden, andere gestikulierten wild mit ihnen herum. Der Polizist, der versuchte, sie vom Fundort wegzudrängen, musste das eine oder andere Mal ausweichen oder in die Hocke gehen, um nicht von den Stöcken erwischt zu werden. Katrin schmunzelte. Die ewigen Kurgäste. Ihr halbes Leben aßen sie zu viel und zu ungesund, und dann versuchten sie, innerhalb von drei Wochen alles wiedergutzumachen: gesunde und kalorienreduzierte Kost, Nordic Walking, Radfahren, Schwimmen, Wandern. Und zu Hause machten sie dann sowieso wieder da weiter, wo sie aufgehört hatten, bevor sie hierhergekommen waren. Sie erinnerte sich daran, wie enthusiastisch sie ihre Arbeit mal angetreten hatte. Sie wollte die Kurgäste mit guter und vernünftiger Ernährung missionieren. Aber es war so zwecklos. Na ja, jedenfalls bei den meisten. Kein Mensch war perfekt.

Jetzt rollten offenbar die zuständigen Kriminalbeamten aus Husum an. Das bemerkte sie daran, wie beflissen Böge und sein Kollege plötzlich zu dem dunklen Audi liefen.

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Das hat er noch nie gemacht, dass er nachts nicht nach Hause gekommen ist. Nicht, dass ich ihn vermisse. Vielleicht hat ja unser Streit damit zu tun. Entweder kommt er zur Besinnung oder er haut ab (was ich nicht traurig finden würde). Warum bloß kann nicht alles wieder so sein wie früher?

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2

Aus dem Wagen stieg einer, der so aussah, als ob er gerne gut lebte: Bauchansatz, freundliches Gesicht, helle, strahlende Augen, volle dunkle Haare mit feinen grauen Strähnchen durchzogen. Der Polizist Böge, der Katrin befragt hatte, stürzte auf ihn zu und schien ihn über Katrins Aussage zu informieren, denn der Blick des Neuankömmlings ließ die ganze Zeit über nicht von ihr ab. Dann kam er auf sie zu. Er trug einen steingrauen Dreiteiler mit Krawatte. Und erst die Schuhe: sahen aus wie handgefertigt. Gut, dass der nicht ins Watt musste. Katrin konnte sich ein Grienen nicht verkneifen.

»Dirk Huber, Kriminalpolizeistelle Husum.«

»Katrin Lund, Köchin Kurklinik »Ebbe und Flut«, Sankt Peter-Ording.«

Huber grinste.

Ob er sich seine silbrigen Strähnchen wohl färben ließ?

»Ich muss Sie leider bitten, mir das Ganze noch einmal zu erzählen. Tut mir leid, ist sicher nicht so angenehm für Sie.« Er holte ein kleines Notizbuch und einen Schreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Katrin war beeindruckt, ein Montblanc-Meisterstück. Das war eine richtige Kapitalanlage. Dirk Huber war ein Mann mit Stil und offenbar mit Geld. Aber als Kriminalkommissar verdiente man doch wohl kaum so viel?

Geduldig erzählte sie ihm alles noch einmal.

Ihr Telefon klingelte. Sie erkannte die Nummer der Küche. »Entschuldigen Sie, ich muss da rangehen. Arbeit.«

Katrin verstand nur Bruchstücke von dem, was ihre Assistentin sagte. Der Weg zum Deich hinauf war nun versperrt durch die Tatortsicherung. Dann war die Verbindung unterbrochen.

»Ich glaube, ich werde auf der Arbeit gebraucht.«

»Gehen Sie ruhig. Wir haben erst einmal, was wir brauchen. Ich melde mich bei Ihnen. Sie müssen Ihre Aussage auf der Dienststelle noch einmal offiziell zu Protokoll geben.« Er gab ihr die Hand zum Abschied. »Dann erholen Sie sich ein bisschen von dem Schreck am frühen Morgen.«

»Leider nicht möglich. Jetzt geht’s richtig zur Sache: laute Küche, genervte Kurgäste und eine Hauswirtschaftsleiterin, die verlangt, dass wir aus Scheiße Gold machen sollen … Entschuldigung.«

»Schon gut. Manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen.« Huber grinste wieder.

Katrin schwang sich auf ihr Fahrrad. Huber blickte ihr hinterher. Ihr Kleid und ein paar Strähnen, die sich aus ihren hochgesteckten Haaren gelöst hatten, wehten im Fahrtwind. Sie winkte kurz mit einer Hand, ohne sich zu ihm umzudrehen. Hatte sie etwa seinen Blick in ihrem Rücken gespürt?

Huber räusperte sich und wandte sich an Harmsen, der mit seiner ihm eigenen Akribie den gesamten Fundort mit seinen Klebestreifen auf eventuelle Spuren untersuchte. Mit seinem Fotoapparat hielt er jedes Detail der Leiche und rund um die Leiche fest.

»Bleib bloß weg«, rief Harmsen ihm jetzt zu. »Wäre schön, wenn du mir nicht auch noch die letzten Spuren vernichtest. Die blöden Walker haben schon genug Schaden angerichtet.« Er wischte sich mit seiner latexbehandschuhten Hand eine Haarlocke aus der Stirn, die sofort wieder an ihren Platz zurückrutschte, und krabbelte dann auf allen vieren zum Waldrand.

Huber hatte nach seiner ersten näheren Leichenbeschau noch keinen Anhaltspunkt darüber, wer der Tote war und wie er zu Tode gekommen sein konnte. Er wandte sich an seinen uniformierten Kollegen.

»Machen Sie doch bitte ein Foto vom Gesicht des Toten und drucken es auf Ihrer Dienststelle aus. Dann mailen Sie es bitte an meine Husumer Kollegen.«

Damit konnten dann die Befragungen durchgeführt werden, ob den Toten jemand vermisste, ihn vielleicht sogar erkannte.

»Aber bitte diskret«, gab Huber vorsichtshalber mit auf den Weg, »… also die Befragungen. Fragen Sie zunächst nach Vermissten und zeigen das Foto nur, wenn es unumgänglich ist.«

Die Einsatzleitstelle hatte einen Bestatter beauftragt, den Leichenwagen zu schicken, und nun war der Tote auf dem Weg in die Rechtsmedizin.

»Dirk, ich hab hier was gefunden.« Harmsen kam aus dem Unterholz hervor, stemmte sich hoch und hielt Huber einen Gegenstand entgegen. Beim Näherkommen erkannte er eine kleine Sprayflasche mit einem Aufsatz.

»Was ist das? Asthmaspray oder so was?«

Harmsen strich seine Tolle wieder aus dem Gesicht, rückte seine Brille zurecht und las, was auf dem Inhalator stand. Er nickte.

»Dann ab ins Labor damit.«

Viel zu spät betrat Katrin die Küche. Ihre Mitarbeiter waren schon damit beschäftigt, das Frühstücksgeschirr der Kurgäste vorzuspülen und die Geschirrspüler zu füllen. Sie rief ein für alle hörbares »Entschuldigung« in die Runde und rauschte durch in ihr Büro.

Noch ihren Kittel zuknöpfend, kam sie zurück in die Küche und winkte ihre Assistentin, Jeanette Menzel, zu sich heran. »Du hattest angerufen. War irgendwas Besonderes?«

»Nö, schon erledigt. Aber es hat sich herumgesprochen, dass du heute früh eine Leiche entdeckt hast.«

Katrin zog die Brauen hoch.

»Die Nordic Walker verbreiten ihre Neuigkeiten schneller, als sie laufen können.« Jeanette musste über ihren eigenen Witz lachen. Als Katrin nicht darauf reagierte, verendete ihr Lachen in einem kläglichen Hüsteln.

Katrin kam wieder zur Sache. »Aber die Stubenrauch ist zu ihrer morgendlichen Stippvisite noch nicht erschienen, oder?«

Jeanette verneinte mit einem Kopfschütteln.

»Gut, dann machen wir uns an die Arbeit.«

Als ob sie den Teufel beschworen hätten, öffneten sich in genau diesem Augenblick beide Flügel der Schwingtür. Ihre Majestät, die Hauswirtschaftsleiterin Ingrid Stubenrauch, schritt in die Küche. Ihr Blick glitt prüfend durch den Raum, und ihre schmalen, sonst geraden Lippen zogen sich kräuselnd zusammen.

Katrin verkrümelte sich in die Speisekammer, ohne, wie sie dachte, die Stubenrauch auf sich aufmerksam gemacht zu haben.

Um zehn Uhr hatte sie einen Ernährungskurs mit laktoseintoleranten Kurgästen und suchte entsprechende Lebensmittel und Getränke heraus, packte alles in eine große Kiste, und als sie sich umdrehte, stand die Stubenrauch in der Tür und versperrte ihr den Weg.

»Da haben Sie ja schon am frühen Morgen für richtig viel Aufregung gesorgt, Frau Lund.«

»Das war wohl weniger ich als der Tote am Leuchtturm.« Katrin schob sich mit ihrer Kiste an ihr vorbei. Mit einem Plumps stellte sie die Kiste auf der Ablage neben der Speisekammer ab.

Während sie die darin befindlichen Lebensmittel mit ihrer Liste auf dem Klemmbrett verglich, fragte sie die Stubenrauch, ohne sie anzusehen: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Nein, schon gut. Beruhigen Sie sich erst mal. War doch wohl ein ganz schöner Schock.«

»Das war’s. Ja.«

Aber ohne mahnende Worte konnte die Hauswirtschaftsleiterin nicht gehen. »Denken Sie dann noch bitte daran, rechtzeitig Ihre Kalkulation für das nächste Quartal bei mir abzugeben?«

»Ja, mach ich«, brummte Katrin in sich hinein.

Ganz anders, als sie aufgetreten war, verschwand Ingrid Stubenrauch erstaunlich undramatisch aus der Küche. Hatte sie etwa Mitgefühl?

Was das wohl immer sollte mit diesen Kostenkalkulationen? Ein Drittel strich die Stubenrauch sowieso von vornherein. So konnte man keine Küche in einer Kurklinik führen, die auch noch Ernährungsumstellungen in ihrem Leistungskatalog anpries. Wenn die Kurgäste wüssten, was sie hier hinter verschlossenen Türen für Nahrungsmittel verarbeiten musste – es konnte einem manchmal schlecht werden. Die Convenience-Lebensmittel waren nicht mal das Schlimmste. Nein, es fand sich auch schon mal Schimmel an Brot, Aufschnitt oder Gemüse, den sie zwar großflächig entfernten, aber wer wusste schon, wo Pilzgeflechte endeten?

Wieder schob sich das Gesicht des Toten vor ihr inneres Auge. Katrin hielt inne. Woher kannte sie bloß sein Gesicht?

Die Frage ließ ihr keine Ruhe; sie drängte sich immer wieder vor die Gedanken an ihre Arbeit.

Eine Leiche in einem Kurort war so ziemlich das Schlimmste, was Huber sich vorstellen konnte. Die Meute war irgendwann nicht mehr beherrschbar. Ein Ort, an dem man gesund werden sollte, und dann ein Toter. Es gab sicher Kurgäste, die das schon zum Anlass nahmen, sofort ihre Koffer zu packen und abzureisen. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was geschehen konnte, wenn jemand dabei war, der ihm sachdienliche Hinweise geben konnte – vielleicht, ohne dass dieser Jemand das selbst wusste. Denn wenn derjenige erst mal abgereist wäre, würde es für die Polizei schwierig, noch an diese Informationen zu kommen.

Wie auf Bestellung rief in diesem Moment die Tourismus-Direktorin an. Sie brachte Verständnis dafür auf, dass Huber seine Arbeit machen musste, bat aber um äußerste Diskretion, gerade zu dieser Zeit. In der Feriensaison barst der Ort vor Urlaubern aus allen Bundesländern. Wenn sich da herumspräche, dass hier an so exponierter Stelle eine Leiche gefunden worden war …

Das spricht sich sowieso herum, dachte Huber, da konnte er so diskret sein, wie er wollte. Er blickte zu den Nordic Walkern hinüber.

Die Stimme der Direktorin klang jetzt aufgeregt, als sie ihm unmissverständlich mitteilte, dass sie es nicht duldete, dass der Ort dadurch in Unruhe versetzt wurde. Da können Sie gar nichts gegen machen, wollte er entgegnen, biss sich aber auf die Lippen und versicherte ihr, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Allerdings, so betonte er, müsste er diesem Fall nachgehen, und da stünde an erster Stelle nun mal die Aufklärung des Todesfalls.

Hubers Kollege Harmsen war ganz in seinem Element. Die Flensburger Kollegen waren mittlerweile vor Ort und zeigten erstaunlicherweise keinen Missmut, als Harmsen ihnen seine bisherigen Ergebnisse berichtete.

Nun ging alles seinen Gang.

Huber überließ daher Harmsen alles Weitere und fuhr zur Polizeistation Sankt Peter-Ording.

Als Erstes rief er die Staatsanwaltschaft in Flensburg an und klärte den ihm zugewiesenen Staatsanwalt über den Leichenfund und die Zeugenaussage von Katrin Lund auf. Der entschied ad hoc: »In jedem Fall obduzieren.«

Huber kündigte der Rechtsmedizin die Leiche an und machte im Labor die Dringlichkeit klar, die eingehenden Spuren akribisch zu untersuchen. Endlich setzte er sich an einen Schreibtisch und sortierte und schrieb auf, welche Informationen er bis jetzt von wem gesammelt hatte. Während er nach Worten rang, drängte sich immer wieder das Bild von Katrin Lund vor sein inneres Auge, wie ihre unordentlich hochgesteckten Haare ihr rundes, freundliches Gesicht einrahmten.

Er richtete sich auf seinem Stuhl auf und ermahnte sich, die Gedanken nicht abschweifen zu lassen.

Trotz der Leiche befand er sich in einer Art Hochstimmung.

Huber mochte die Arbeit vor Ort, war sie doch eine willkommene Abwechslung zu seinem sonstigen Berufsalltag, der hauptsächlich am Schreibtisch stattfand. Er griff sich eine Kopie des Fotos der Leiche und machte sich wie seine Kollegen vor Ort auf den Weg zu den Befragungen. Über Funk gab er durch, dass er die größeren Einrichtungen wie Hotels, Kurkliniken, Altersheime und Jugendgästehäuser selbst übernehmen würde. Es konnte ja sein, dass er heute noch einmal auf Katrin Lund traf. Der Gedanke an sie beschwingte ihn.

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Mama hat mir dieses Tagebuch zu Weihnachten geschenkt. Sie hat gesagt, ein Tagebuch ist dein bester Freund. Darin schreibst du das auf, was du sonst niemandem anvertrauen kannst. Ich konnte nichts damit anfangen. Bis jetzt. Jetzt ist der Moment, in dem ich diesen Freund brauche.

Ich weiß gar nicht, wie Papa so geworden ist, wie er die letzten Jahre war. Irgendetwas muss doch passiert sein, dass er uns so behandelt. Er kann doch um uns kämpfen. Nicht mit Gewalt, aber ein bisschen Köpfchen reicht, und er kann uns zurückbekommen. Bestimmt kann wieder alles so werden, wie es mal war.

Eigentlich wollte ich ihm das gestern sagen, aber dann ist er wieder so dermaßen ausgetickt. Ich hätte ja keine Ahnung, ich solle ihn in Ruhe lassen, ich stehe ja sowieso auf der Seite von Mama. Er kreiste nur um sich selbst. Als ob ER das Opfer ist.

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3

Katrin warf einen Blick auf die Küchenuhr. Eine halbe Stunde hatte sie noch Zeit, bevor sie zu ihrer Gruppe in die Übungsküche musste. Alle Mitarbeiter zogen jetzt in die Frühstückspause. Auch sie brauchte dringend Ruhe, und vor allem musste sie einen Moment allein sein.

»Ich muss mich mal kurz sammeln. Jeanette, hältst du die Stellung?«

»Jawoll, Chefin.« Jeanette salutierte grinsend.

Katrin hatte einen Platz in den Salzwiesen, der versteckt inmitten von Gestrüpp lag und ihr die Möglichkeit für ein paar Minuten Flucht am Tag bot. Der Aufenthalt hier, abseits der offiziellen Wege, war verboten, aber bisher war sie noch nie entdeckt worden. Sie schnappte sich ein Handtuch und flitzte los.

Obwohl die Sonne ihren Körper durchwärmte, zitterte sie am ganzen Leib. Der Schock brach erst jetzt aus ihr heraus. Sie konnte das Gesicht der Leiche nicht vergessen. Sie konzentrierte sich auf die Sonne und die Wärme, die in ihren Körper einzog. Das leise Trillern der Alpenstrandläufer um sie herum und die Brise, die das Seegras kaum hörbar zum Wispern brachte und ihre Haut sanft streifte, beruhigten sie, zumindest verebbte das Zittern.

Sie rief Sebastian an. Wie sie schon vermutet hatte, forderte seine Mailbox sie auf, eine Nachricht zu hinterlassen.

»Basti, bitte ruf mich zurück, sobald du das abhörst. Ich habe heute ’ne Leiche gefunden.« Sie legte auf. Sie hatte nicht die Energie, das Geschehene auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Lieber noch fünf Minuten die Wärme der Sonne genießen.

Als sie ihr Zittern einigermaßen unter Kontrolle hatte und ihr Körper durch die Sonnenwärme etwas entspannter war, schwang sie sich auf.

So fröhlich, wie es ihr möglich war, begrüßte Katrin die Frauen und Männer der Kochgruppe. Sie blickte in lauter schlecht gelaunte Gesichter. Das kannte sie schon: Keinem macht es Freude, von seinen Essgewohnheiten lassen zu müssen. Aber mit Allergien war nun mal nicht zu spaßen. Das würden die meisten auch irgendwann einsehen.

Sie verteilte Schürzen mit dem Logo des Kurheims »Ebbe und Flut«. Einige der Frauen zierten sich noch, sie umzubinden. Die Männer hingegen waren schon eifrig dabei, die Bänder zu verknoten. Männer trugen gern Schürzen, das war eine Beobachtung, die sie schon öfter gemacht hatte.

»Sagen Sie, was ist das bei den Männern, dass Sie so gerne Schürzen tragen?«, feixte sie.

Einer aus der Runde antwortete sofort. »Ja, das habe ich mich auch schon immer gefragt.« Er blickte in die Gesichter der anderen. »Und ich habe recherchiert: Das soll noch aus der Zeit der Handwerksmeister kommen. Man wechselt von einem Zustand in den nächsten. Also vom Zustand des Privatmannes in den Zustand des Handwerkers. Das ist wie ein ritueller Übergang.«

»Und für uns Frauen bedeutet die Schürze die Bindung an Heim und Herd«, warf eine Teilnehmerin ein. Ein zustimmendes Gemurmel von weiblicher Seite.

Diesen Exkurs über die männliche Schürzenbegeisterung würde sie in ihr Kochbuch aufnehmen. Kapitelüberschrift: »Eine kleine Geschichte der Küchenschürze – oder warum Männer gerne Schürzen tragen.«

»Okay, ran an den Herd. Egal ob mit oder ohne Schürze.« Katrin goss etwas von der Sojamilch, der laktosefreien Milch, der Ziegenmilch und der Hafermilch in kleine Becher. Sie war unkonzentriert und verschüttete etwas. Einer der Männer schnappte sich einen Lappen und wischte die Platte sauber. Katrin dankte es ihm mit einem Lächeln.

Sie forderte die Teilnehmer zum Probieren auf.

Zögerlich nahmen sie die Becher, rochen daran und nippten an den unterschiedlichen Milchsorten. Einige verzogen das Gesicht, andere lächelten zufrieden.

Nun drapierte sie verschiedene Käsesorten auf einem Brett mit aufgeschnittenen Kiwis und Feigen und ließ auch dieses herumgehen. Die Farbe des Ziegenkäses hatte Ähnlichkeit mit der Farbe der blassen Haut des Toten. Übelkeit stieg in ihr hoch. Mach jetzt bloß nicht schlapp!, beschwor sie sich selbst.

Während die anderen die Käsesorten und die Milch kosteten, legte sie Äpfel, Bananen, Ananas, Papaya und diverse andere Obstsorten in einen großen Korb, Gemüse wie Möhren, Kartoffeln, Rüben, Rote Bete und Auberginen in einen anderen Korb. Alles zusammen ergab eine prachtvolle Komposition von verschiedenen Lebensmitteln, wie auf dem Bild eines Alten Meisters. Das war ein schönes Fotomotiv. Sie zückte ihr Handy, stellte den Obstkorb auf die Fensterbank und machte ein Foto von dem prall gefüllten Korb mit den Bäumen draußen als Hintergrund. Sie hatte bereits etliche Fotos von Obst, Gemüse und zubereiteten Speisen in ihrer Handydatei gespeichert. Sie war sich noch nicht im Klaren, ob sie ein Buch oder vielleicht doch nur einen Blog herausgeben wollte. Das war etwas, worüber sie mit noch niemandem gesprochen hatte. Sie wollte nicht, dass ihr da jemand hineinredete. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Wenn sie damit eines Tages an die Öffentlichkeit trat, würde sie sich zuvor ohnehin fachlichen Rat von außen suchen müssen.

Essen hatte so viel mit Genuss zu tun und konnte so viel Zufriedenheit verschaffen – dies den Menschen zu vermitteln, war ihr oberstes Ziel. Dazu brauchte man nicht stundenlang in der Küche zu stehen und alles zerkochen, bis einem die Trostlosigkeit aus den Töpfen entgegenquoll. Alles, was man benötigte, waren gute, frische Zutaten.

Allmählich entspann sich ein angeregtes Gespräch zwischen den Teilnehmern.

»Hmmm … schmeckt gar nicht so schlecht.«

»Haben Sie schon den Ziegenkäse mit den Feigen probiert?«

»Ja, köstlich!«

»Ich dachte bei Ziege immer an Stallgeruch, aber dass der Käse so lecker schmecken kann, hätte ich nicht gedacht.«

Katrin holte aus der angrenzenden Speisekammer ein Glas mit selbst gemachter Rote-Bete-Konfitüre. »Hier, probieren Sie die mal zu dem Ziegenkäse. Der erdige Geschmack der Bete mit der Süße der Konfitüre … Sie wollen den Käse nie mehr anders essen.«

Einer der Männer schraubte das Glas auf und roch daran. »Hmmm«, macht er. »Das riecht schon gut.«

Eine der Teilnehmerinnen tat sich einen ordentlichen Klacks auf ihr Stück Käse. Sie ließ den Geschmack auf der Zunge zergehen. »Das ist ja wirklich fantastisch! Können Sie uns das Rezept geben?«

»Das bekommen Sie nachher mit, wenn wir fertig gekocht und gegessen haben.«

Nun war der Augenblick gekommen, in dem Katrin das Kochgeschirr aus dem Schrank holte. Dabei erklärte sie die einfachen Rezepte, die sie mit den Allergikern ausprobieren wollte.

Nach den angesetzten zwei Stunden verließen die Teilnehmer inspiriert und schnatternd die Küche. Das war Katrins schönster Moment nach so einem Kurs. Dann hatte sie das Gefühl, etwas bewirkt zu haben.

Heute allerdings konnte sie diesen Moment nicht so recht genießen. Ihre Gedanken wurden immer wieder von dem Bild der Leiche am Leuchtturm gefangen genommen. Und immer wieder drängte sich ein Gefühl von Übelkeit in ihr hoch.

Die kleine Pause, die Katrin vor ihrem Kochkurs im Seniorenheim Enzian haben würde, wollte sie nutzen, um ihrer Mutter einen kurzen Besuch abzustatten. Nach einem Oberschenkelhalsbruch nahm diese dort nach der üblichen Reha noch eine Kurzzeitpflege in Anspruch.

Katrin hatte sich mit ihrer Schwester Lena geeinigt, dass sie die persönlichen Ressourcen zur Verfügung stellte und Lena die finanziellen. Die verdiente neuerdings als Partnerin in der Anwaltskanzlei mehr als gut. Lena hatte Katrin allerdings auf Knien überreden müssen, die Mutter professionell pflegen zu lassen. Katrin hatte die Idee gehabt, für die Zeit der Rekonvaleszenz bei der Mutter einzuziehen. Das hatte Lena einfach unterbunden, indem sie eigenmächtig einen Pflegeplatz in der Seniorenresidenz Enzian im Stadtteil Böhl organisiert hatte. Ausgerechnet Enzian, hier am nordwestlichsten Zipfel Deutschlands. Das Haus war fest in alpiner Hand.

Katrin radelte auf das Gelände. Das Heim war in einem Halbrund um einen kleinen Platz gebaut worden, dessen Mitte ein Springbrunnen und drum herum Sitzbänke zierten. Zwei der Bewohnerinnen saßen auf einer der Bänke und genossen die Wärme der Sonne. Am Fahrradständer neben dem Haupteingang schloss Katrin ihr Fahrrad an.

Mit einem Mal wusste sie wieder, woher sie den Toten kannte.

Huber befand sich gerade in der Lobby des »campushus« – eines Gästehauses in nächster Nähe zum Fundort –, als sein Handy klingelte. Es standen tatsächlich schon einige gepackte Koffer an der Rezeption, wobei Huber nicht wusste, ob die Leiche daran schuld war.

»Gut, dass Sie sich so schnell erinnern konnten. Das erspart uns eine Menge Aufregung bei den Befragungen.« Er machte auf der Stelle kehrt und lief zu seinem Auto. »Danke, Frau Lund.« Sofort rief er seine Leute an, teilte ihnen die Neuigkeit mit und blies die Befragungsaktion vorläufig ab.

Kurze Zeit später fuhr er auf den Parkplatz der Seniorenresidenz Enzian. Na, die trauten sich was: am Eingang blau-weiße Fahnen, die im kräftigen Nordseewind aneinanderschlugen. Wäre es nicht gerade das Rautenmuster, passten die Farben ja wirklich gut an die See.

Im Foyer hockten drei ältere Frauen auf ihren Rollatoren und schienen zu warten.

Ein junger Mann trat aus einer der Türen auf die Alten zu. »So, meine Herrschaften, dann wollen wir mal. Oder sollte ich lieber Damschaften sagen?« Er zwinkerte ihnen zu.

Die drei erhoben sich von ihren Sitzen und schoben hinter ihm her, eine der drei mit festem Blick auf seinen strammen Po. Als sie an Huber vorbeirollten, lächelte sie ihn verschmitzt an.

»Wir fahren Eis essen«, kicherte sie.

»Na, dann viel Spaß«, wünschte ihr Huber. Die Alte kicherte wieder und rollte weiter.

Auf der Terrasse, die über eine Seitentür des Foyers zu erreichen war, sah er Katrin Lund neben einer gepflegten älteren Dame mit Hochsteckfrisur auf Gartenstühlen sitzen. Er nahm Kurs auf die beiden.

Katrin erhob sich und winkte. Hubers Schritte beschleunigten sich.

»Mami, das ist Kommissar Huber. Und das ist meine Mutter Gerti Lund.« Sie legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Mutter.

»Für Fremde immer noch Gertrud, meine Liebe«, erwiderte die Mutter und streckte Huber ihre rechte Hand entgegen. Als er sie ergriff, zwinkerte sie ihm zu. »Vor allem, da der Herr Kommissar ja sicher wahrheitsgemäße Angaben braucht.«

»Entschuldigung«, murmelte Katrin kaum hörbar.

»Ich bin von der Kriminalpolizei Husum.« Huber hielt eine angedeutete Verbeugung für angebracht. Dann wandte er sich Katrin zu. »Schön, Sie so schnell wiederzusehen.«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Können Sie mir verraten, wo ich die Leitung des Hauses finde?«

Der Zeigefinger der Mutter hob sich in Richtung des Halbdunkels des Foyers. »Den linken Gang, dann hinten links irgendwo.«

»Danke.« Huber schlug die angegebene Richtung ein.

Die dritte Tür links war es dann.

HEIMLEITUNG Frau Kusch, stand auf dem Schild neben der Tür.

Huber klopfte.

»Ja bitte«, hörte er eine geistesabwesende Stimme von innen. Er trat ein. Frau Kusch saß an ihrem Computer und starrte mit konzentriertem Blick auf den Bildschirm.

Als sie Huber »Guten Morgen« sagen hörte, blickte sie erstaunt in seine Richtung. Diese Stimme kannte sie nicht. Ihr Gesicht umgab eine toupierte Frisur. Wie aus einer Modezeitschrift aus den Sechzigern. Viele solcher Hefte hatte er im Nähzimmer seiner Mutter gefunden, als sie vor Jahren einmal das Elternhaus aufgeräumt hatten. Das Haarspray der Kusch hatte eine Art grauen Schleier über die Haare gelegt, deren Farbe irgendetwas zwischen brünett und blond war.

»Ja? Guten Morgen?«, erwiderte Frau Kusch fragend.

»Huber. Ich bin von der Kripo Husum und möchte wissen, ob Sie diesen Mann kennen.« Er nestelte das Foto des Toten aus seiner Jacketttasche und zeigte es ihr.

Bei dem Blick auf das Foto riss sie entsetzt die graublauen Augen auf und schnappte nach Luft.