Hongkong:
Umkämpfte Metropole
Von 1841 bis heute
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ISBN Print: 978-3-451-39973-2
ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82722-8
ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82713-6
Einführung
I. UNTER BRITISCHER KRONE
Perle des Orients
Zwischen den Weltkriegen
An der Frontlinie des Kalten Krieges
II. WEICHENSTELLUNGEN FÜR DIE ZUKUNFT
Die Verhandlungen
Ein Land, zwei Systeme
Der Weg zur Rückgabe
III. HONGKONG ALS TEIL CHINAS
Übergangsdilemma
Zentrum des globalen Kapitalismus
Aufeinanderprallende Identitäten
Der Kampf um Selbstbestimmung
Ausblick
Anhang
Chronologie
Karten
Abkürzungen
Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Über die Autoren
Dem traditionell wichtigsten Produkt der Region, dem Räucherholz, verdankt Hongkong seinen Namen, der übersetzt „duftender Hafen“ (Hoenggong auf Kantonesisch bzw. Xianggang auf Hochchinesisch) bedeutet. Unter den Briten war die Stadt aber als „Perle des Orients“ bekannt. Beide Bezeichnungen drücken die Faszination für eine Stadt aus, die auf einer tropischen Insel in einer beeindruckenden geografischen Umgebung entstand. Heute wird die immer noch im Zentrum dicht bewaldete und bergige Insel umsäumt von einem Kranz riesiger Wolkenkratzer und greller Neonlichter. Die vielfältige, kosmopolitische, mobile und kreative Bevölkerung bereichert mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Vergangenheiten vom chinesischen Festland oder aus anderen Teilen Asiens das urbane Leben. Aber Hongkong ist auch eine Stadt unter Druck. Proteste, Straßenkämpfe und hartes Durchgreifen haben die Stimmung geprägt. Die chinesische Zentralregierung behandelt Hongkong seit den politischen Konflikten in den letzten drei Jahren wie einen unliebsamen Verwandten: ein Problem, das hoffentlich ohne weitere Eskalation gelöst werden kann. Und Hongkong kommt mit dem Rollenwechsel vom reichen, gönnerhaften Onkel zum ungezogenen Neffen nicht gut zurecht. Hinzu kommt: Die Geschäftswelt bewegt sich seit Jahrzehnten kaum. Dominiert von Immobilienmagnaten, den sogenannten Tycoons, hat sie in den letzten 30 Jahren keine innovativen Unternehmen mehr hervorgebracht. Das ist auch ein Erbe der britischen Kolonialherrschaft, in der die Bürokratie die Wirtschaftseliten kontrollierte, indem sie Land – die knappste Ressource der Stadt – den Gefügigen zuteilte. So hängt trotz der hektischen Betriebsamkeit des Alltags ein stagnierender und deprimierender Geist über der Metropole.
Hongkong ist eine Welt für sich, deren Gegenwart und Zukunft heute mehr denn je Gegenstand von kontroversen Diskussionen, kühnen Spekulationen und weltweiter Aufmerksamkeit sind. Für viele Beobachter zeichnet sich hier ein großer Kampf zwischen der autoritären Supermacht China und dem freiheitsliebenden Westen ab. Auf dem Spiel steht, so wird gesagt, die Zukunft der Demokratie.[1]
Aber um die Zukunft zu denken, ist es zunächst notwendig, die Vergangenheit zu verstehen. Hongkong wurde von der Geschichte eine Bürde auferlegt, die in keinem Verhältnis zur Größe und bescheidenen Herkunft der Stadt steht. Ereignisse und Zustände in der Vergangenheit haben das Leben in Hongkong bis heute geprägt und beeinflusst. Genauso wie die heutige Stadt ihrer Geschichte vor 1997 – dem Jahr der Rückgabe an China – nicht entkommen kann, wird sie in der Zukunft nicht in der Lage sein, sich von den Erfahrungen und Enttäuschungen der Gegenwart zu lösen.
Die Geschichte hat Hongkong zu einem Ort der Gegensätze und Widersprüche gemacht. 1967 beschrieb der Journalist und Autor Richard Hughes Hongkong treffend als eine „Unwahrscheinlichkeit, fast eine Unmöglichkeit, […] ein Paradox“.[2] Gegründet wurde Hongkong im Jahre 1841 als kleine britische Kolonie gegen den Willen des chinesischen Kaiserreichs, das aufgrund einer Kriegsniederlage der Abtretung zustimmen musste. Die Kolonie wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts sukzessive erweitert. 1898 zwang Großbritannien im dritten und letzten Vertrag China, die New Territories für 99 Jahre an Großbritannien zu verpachten. Aus dem Auslaufen der Pacht 1997 ergab sich schließlich die Rückgabe Hongkongs 1997 an das chinesische Festland.
Hongkongs Rolle war und ist unvermindert einzigartig. Vier Aspekte charakterisieren seinen heutigen Platz in der Weltgeschichte. Erstens: Hongkong als Ort zwischen den großen Mächten. Im Laufe der Geschichte haben nicht nur Großbritannien und China, sondern auch Japan und die USA Hongkong für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Dabei ging es ihnen um die Entfaltung militärischer Macht, politischen Einfluss oder ökonomische Interessen. Das Wohlergehen der lokalen Bevölkerung war für die Mächte meistens sekundär. Aber Hongkong zeigt, dass sich Peripherien auch unter diesen Bedingungen dynamisch und kreativ entwickeln und ihre Existenz behaupten können. Die Stadt hat langjährige Erfahrung im Kampf um Selbstbehauptung gegenüber Fremdbestimmung. Verschiedene Hongkonger Gruppen entwickelten unter diesen Umständen innovative Strategien für Überleben und Wohlstand. Dazu gehört nicht zuletzt in den letzten Jahren zivilgesellschaftliches und politisches Engagement.
Zweitens: Hongkong im Banne Chinas. In den letzten 180 Jahren spürte der kleine, aber bedeutsame Stadtstaat immer wieder die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen auf dem chinesischen Festland, selbst zur Zeit des Kalten Krieges, als Hongkong unter britischer Herrschaft war und ein „Bambusvorhang“ die Stadt umgab. Dabei spielte Hongkong nicht nur die Rolle des Gegenpols oder Widersachers, sondern auch des Partners und Unterstützers für das Festland. Die Stadt war darüber hinaus gefangen im freien Spiel von globalen Veränderungen und chinesischen Entwicklungen und fand sich dabei oft zwischen den Stühlen. Seitdem China die Souveränität über Hongkong wieder zurückerhalten hat, stehen die sozialen und politischen Systeme des Territoriums in vielerlei Hinsicht in scharfem Kontrast zu denen des chinesischen Festlands. Daher kämpfen Teile der städtischen Zivilgesellschaft heute verbissen um die Beibehaltung und Erneuerung ihrer widerspenstigen und widersprüchlichen Rolle, mit ungewissem Ausgang. Der Druck des Festlands geht in Richtung fester Integration und Beendigung des Sonderstatus, aber es sind gerade das Andersartige und die Widersetzlichkeit, die es Hongkong erlaubt haben, eine wichtige, bereichernde Rolle in der modernen chinesischen und globalen Geschichte zu spielen.
Drittens: Hongkong als Brennglas für den Kampf der Systeme. Im grellen Scheinwerferlicht der Stadt kollidierten die Systeme von Kolonialismus, Sozialismus chinesischer Prägung und Demokratie. Das Ringen um Demokratie hat in dem Stadtstaat eine weit in die britische Zeit zurückreichende Geschichte. Als Kolonialmacht verwehrte Großbritannien der Hongkonger Bevölkerung demokratische Mitsprache. Zum Zeitpunkt der Rückgabe an das Festland gab es keine funktionierenden und widerstandsfähigen demokratischen Strukturen und Prozesse. Umgekehrt aber haben sich auch viele Hongkonger zu lange zu selten für Politik interessiert. Hongkong boomte als Ort des Kapitalismus in seiner extremsten Form. Mit dem Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ war die Demokratiefrage plötzlich allgegenwärtig. Anders als in funktionierenden Demokratien finden zwischen den verschiedenen Interessengruppen Hongkongs keine oder kaum Aushandlungsprozesse statt, weil das politische System ihnen weder den Zugang noch die Plattform dafür bietet. Politik wird daher eher auf der Straße gemacht als im Parlament oder in den Gremien. Alle heute vorhandenen demokratischen Elemente kommen aus der Mitte der Hongkonger Zivilgesellschaft, die darum mit großem Einsatz und großer Leidenschaft gekämpft hat. Dieses zarte Pflänzchen der demokratischen Selbstverwaltung ist heute zweifelsohne bedroht vom eisernen Griff des Festlands. Junge Hongkonger bezeichneten ihren Kampf um Selbstbestimmung und Autonomie im Jahr 2019 treffenderweise als „Freiheit für Hongkong: Revolution unserer Zeit“. Diese Revolution aber ist in Gefahr, weil sich zu wenige im Westen oder in China für Hongkongs Interessen und Belange einsetzen.
Viertens: Die Schattenseiten des Kapitalismus. Die Hongkonger Bevölkerung als bunter Flickenteppich aus Einwanderern aus China, Europa und Asien war sich selten einig, in welche Richtung es gehen sollte. Die Stadt bewegte sich schon immer im Spannungsfeld zwischen Profit und Werten. Die reichen Unternehmer waren bereit, alles zu tun, um ihre guten und äußerst lukrativen Beziehungen mit China zu erhalten, unabhängig davon, wer dort mit welchen Methoden regierte. Die arme Bevölkerung schuftete in Fabriken, am Hafen und in den Lagerhallen und lebte unter erbärmlichen Bedingungen. Ungleichheit und Ausbeutung waren und sind an der Tagesordnung. Selbst die demokratische Opposition ist tief zerstritten.
Heute ist Hongkong keine Kolonie mehr, und vieles hat sich verändert in der Stadt, in der Region und in der Welt. Die Stadt ist weiterhin und unvermindert ein Ort der Gegensätze, an dem sich die Herausforderungen und Kämpfe der Moderne widerspiegeln. Jenseits des Konflikts der politischen Systeme führte die grenzüberschreitende und umfassende Mobilität von Menschen, Ideen, Kapital und Waren zur Erosion der alten Frontstellungen und zur Zersplitterung und Auflösung der großen politischen Leitideen. Die Geschichte ist komplizierter, als die vereinfachte Vorstellung eines Kampfs zwischen Gut und Böse, zwischen Demokratie und Autokratie suggeriert. Zunehmend wurden einige wenige kohärente politische Weltanschauungen von den vielen Ansprüchen und Ideen ganz unterschiedlicher Gruppen – ethnische, religiöse, weltanschauliche Untergruppen etc. – in Bezug auf Gesellschaft und politische Führung abgelöst. All das hat eine kulturelle Matrix hervorgebracht, die der Soziologe Andreas Reckwitz als Suche nach Singularitäten bezeichnet: Selbstentwürfe, die individuelle oder partikulare Gruppenidentitäten samt ihrer Vergangenheitsbezüge und Zukunftserwartungen konstruieren, die sich nicht mehr einfach in einem großen Deutungsrahmen einfangen lassen.[3]
Diese Prozesse finden überall auf der Welt statt. Sie lassen sich auch in Hongkong beobachten. Die Stadt ist gleichsam ein Reagenzglas, weil zusätzlich zur Zersplitterung innerhalb der spätmodernen Gesellschaft hier die Systeme der Welt aufeinanderprallen und die Protagonisten aufgrund der Geschichte nicht die richtigen Werkzeuge, Fähigkeiten, aber auch nicht die internationale Unterstützung haben, um diese Konflikte konstruktiv zu ihrem Besten zu lösen. Dieses Buch soll zum Verständnis der Kämpfe in der Vergangenheit und Gegenwart Hongkongs beitragen, indem es „sine ira et studio“ die Geschichte eines außergewöhnlichen Schicksals in der modernen Welt erzählt.
Hongkong liegt an der Südküste Chinas nahe der Mündung des Perlflusses. Das Gebiet umfasst im Wesentlichen drei große geografische Zonen: Hong Kong Island, Kowloon Peninsula und die New Territories. Dazu gehören außerdem 263 teilweise unbewohnte Inseln; die größte davon ist Lantau Island. China ist das einzige direkt an Hongkong angrenzende Nachbarland. Das Klima ist tropisch mit geringen Unterschieden zwischen den Jahreszeiten. Die Tageslängen schwanken kaum, und die Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter sind ebenso gering. Die durchschnittlichen Tageshöchsttemperaturen liegen je nach Jahreszeit zwischen 19 und 32 °C. In den kälteren Monaten sinkt die Temperatur nachts teilweise auf bis zu 14 °C im Monatsmittel ab.
Das Gebiet von Hongkong hat eine Gesamtfläche von nur ca. 1110 km2 und eine Küstenlänge von insgesamt 733 km (einschließlich Inseln). Diese Fläche entspricht ungefähr 1,2-mal der Größe Berlins. Hongkong ist damit einer der kleinsten Stadtstaaten in Asien und flächenmäßig auf Platz 187 weltweit.
Hongkong verdankt seine einzigartige Bedeutung größtenteils seiner strategischen Lage. Es besitzt einen natürlichen Tiefwasserhafen und ist sowohl vom chinesischen Binnenland als auch vom offenen Meer aus leicht zu erreichen. Hong Kong Island und die angrenzende Halbinsel liegen im Mündungsdelta des Perlflusses im Süden Chinas. Diese Region war seit dem 18. Jahrhundert ein Zentrum des transnationalen Handels zwischen China, Südostasien und dem Westen. Im Bereich des Perlflussdeltas fließen Chinas drittlängster Fluss Xijiang und weitere Flüsse in einem stark verzweigten Netz von Wasserläufen in den 177 km langen Perlfluss. Das vielarmige Flussgeflecht ist eine einzigartige Landschaft, die als großes Ästuar in das Südchinesische Meer übergeht.
Im 18. und 19. Jahrhundert begannen die europäischen Mächte, Stützpunkte für ihren Handel und ihre Schiffe in der Region zu etablieren. Das nahe gelegene Kanton (Guangzhou) war einer der wenigen Häfen, die vor den Opiumkriegen von den Ausländern angelaufen werden konnten. Auf der Suche nach einem kolonialen Stützpunkt für ihre Flotte nahmen die Briten daher Hongkong ins Visier. Der Erste Opiumkrieg mit China bot einen geeigneten Vorwand, die lang gehegten Pläne in die Tat umzusetzen. Für 156 Jahre (1841–1997) wurde die als Perle des Orients bezeichnete Kronkolonie von Großbritannien regiert. Hongkong wurde als letzte der britischen Kronkolonien aufgelöst und als einzige an einen anderen Staat übergeben.
Die Geschichte Hongkongs unter britischer Herrschaft lässt sich in drei große Phasen gliedern. Die erste Phase umfasst die Gründung, Ausweitung und Konsolidierung der Kolonie und erstreckt sich von 1841 bis zum Ersten Weltkrieg. Die Kolonialisierung Hongkongs vollzog sich in drei Etappen, die alle eng mit wichtigen Ereignissen der chinesischen Geschichte zusammenhingen: Im Jahr 1841 besetzte Großbritannien Hong Kong Island. Nach dem Ersten Opiumkrieg wurde die Inbesitznahme im Vertrag von Nanking besiegelt. Die Halbinsel Kowloon auf der Südspitze des Festlands wurde 1860 im Zweiten Opiumkrieg als Kriegsbeute annektiert. Die letzte Etappe war im Jahr 1898 die Pacht der nach Norden hin an die Halbinsel angrenzenden New Territories. Im Gegensatz zu den dauerhaft abgetretenen Gebieten Hong Kong Island und Kowloon war die Pacht der New Territories von Anfang an auf einen Zeitraum von 99 Jahren begrenzt und sollte 1997 auslaufen. Vor allem die erste Phase der britischen Herrschaft über Hongkong zeichnete sich durch die typischen Geißeln des Kolonialismus aus: Ungleichheit, Ausbeutung, Rassismus und autoritäre Herrschaft.[4]
In der zweiten großen Phase der britischen Herrschaft wurde Hongkong von weitreichenden Veränderungen und politischen Turbulenzen auf dem Festland und in der Welt beeinflusst. Diese Phase reicht vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war eine Zeit des Aufruhrs, der wirtschaftlichen Krisen und Proteste. Die britische Herrschaft sah sich in dieser Zeit wachsenden internen Herausforderungen gegenüber. Häufig war die Kolonie Unruhen ausgesetzt, die zum Teil vom Festland ausgingen und die chinesische Bevölkerung mobilisierten. Zugleich bildete sich eine wohlhabende chinesische Oberschicht heraus, die mehr Mitsprache forderte. Den Kulminationspunkt der Krisen stellte die Besetzung Hongkongs durch Japan dar. Die britische Herrschaft über der Kolonie war existenziell bedroht. Am Ende war die japanische Besetzung zwar nur von kurzer Dauer, aber sie entblößte die Anfälligkeit der Kolonie für Angriffe von außen.
Mit dem Heraufdämmern des Kalten Krieges begann wiederum eine neue Phase für Hongkong. Nun fand sich die Kolonie an der Frontlinie der Auseinandersetzungen zwischen den großen Blöcken des Kommunismus und Kapitalismus wieder und wurde zum Symbol des Westens in Asien. Die wieder eingesetzte Kolonialregierung diskutierte politische Reformen, aber Angst vor einer inneren Destabilisierung vereitelte alle Neuerungen. Eine neue Macht betrat die Bühne: Die USA nutzten Hongkong als sichere Basis für ihre militärischen Operationen in Asien von Korea bis Vietnam. Ebenfalls in Hongkong aktiv wurde die 1949 gegründete Volksrepublik (VR) China. Für das weitgehend isolierte Festland fungierte die Stadt als wichtiges, ja einziges Tor zur Welt. Hongkong gelang in dieser Phase ein Wirtschaftswunder, das die Kronkolonie zu einem der ostasiatischen Tigerstaaten mit hohem Wachstum und Lebensstandard machte. Aber das Wunder war auch ein Tanz auf dem Vulkan, denn eine Frage wurde in der Kolonie kollektiv verdrängt: Was würde nach Auslaufen des Pachtvertrags 1997 passieren?
Die Geschichte der späteren britischen Kronkolonie führt zurück zum ehemaligen chinesischen Kaiserreich. Abseits von den Zentren der Macht und des Wohlstands gelegen, war die Region klassisches Hinterland. Weder Beamte noch Händler schenkten dem späteren Hongkong viel Aufmerksamkeit. Das änderte sich mit der Ankunft europäischer Handelshäuser im 16. Jahrhundert, die in Kanton lukrative Geschäfte betrieben. Da das Perlflussdelta eine wichtige Rolle im internationalen Handel spielte, suchten die europäischen Händler einen günstig gelegenen Stützpunkt für die Wartung ihrer Schiffe und die Lagerung von Waren. Schnell fiel der Blick auf das spätere Honkong. Nach der Eroberung und Besetzung der Bucht durch britische Soldaten 1841 errichtete die britische Krone sukzessive eine Kolonie. Aufgrund der landschaftlichen Schönheit bekannt und gepriesen als Perle des Orients sollte die Hafenkolonie der britischen Flotte und den britischen Handelshäusern bei ihren Geschäften mit China helfen. Entsprechend wurde sie mit minimalen finanziellen Mitteln von einem mit weitgehenden Vollmachten ausgestatteten Gouverneur autoritär regiert. Die chinesische Bevölkerung hatte keinerlei Mitspracherecht und wurde von den europäischen Einwohnern segregiert. Opium- und Menschenhandel waren lange Zeit ihre einzigen wirtschaftlichen Säulen. Sie verhalfen vielen Briten zu Reichtum, brachten Hongkong aber den Nimbus einer wilden, rauen und menschenverachtenden Grenzstadt ein.
Als die ersten Vertreter der britischen Kolonialmacht 1841 die Insel Hongkong betraten, war sie keineswegs ein unwirtlicher, unbewohnter Felsen. Die Region blickte auf eine lange, bis in die vorchristliche Zeit hineinreichende Geschichte zurück. Als Teil des chinesischen Kaiserreichs hatte sich die Region, insbesondere das nahe gelegene Kanton, im Laufe der Geschichte zu einem wichtigen überregionalen Handelsknotenpunkt entwickelt, dessen Kontakte bis nach Südostasien, Indien, zum Persischen Golf und auch nach Europa reichten.[5]
Die Geschichte der menschlichen Besiedlung der Gegend lässt sich auf das vierte vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgen. Um 214 v. Chr. wurde die Insel erstmals von Truppen des ersten chinesischen Kaiserreichs der Qin-Dynastie (259–210 v. Chr.) eingenommen. Während der darauffolgenden Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) wurde die Region als Präfektur in das chinesische Kaiserreich integriert. Die Gegend war von zwei Stämmen besiedelt: den Yao und den Dan, wobei die Letzteren auf Booten lebten und ihren Lebensunterhalt durch Fischerei und Perlentauchen bestritten. Eine unberührte Landschaft und dicht bewaldete Hügel prägten die Region. Zahlreiche Buchten und Inseln bildeten einen Schärengarten von großer Schönheit. Berichte belegen das Vorkommen von Elefanten und Krokodilen.
Während der Tang-Dynastie (617/18–907) erfolgte die erste Besiedlung durch chinesische Einwanderer. Chinesische Quellen erwähnen für diese Zeit auch erstmals eine kleine Garnison mit dem Namen Tunmen im Gebiet des späteren Hongkong. Im 12. Jahrhundert zur Zeit der Song-Dynastie (960–1126) erfolgte eine Besiedlung im größeren Umfang durch chinesische Einwanderer, die aufgrund der Eroberung durch die Tungusen aus Nordasien in den Süden flohen. Einige Clans ließen sich in der Region des späteren Hongkong nieder. Mit den Einwanderern hielt die Landwirtschaft Einzug, und erste Rodungen fanden statt. Auch Fischerei und Salzherstellung wurden zum Lebensunterhalt betrieben. Die Region war jedoch relativ dünn besiedelt. Daher wurde sie gern von Piraten und Schmugglern als Basis genutzt, die von hier aus im Schutz der vielen Buchten ihren illegalen Geschäften nachgingen.
In den folgenden beiden Jahrhunderten wuchs die Bevölkerung langsam, aber kontinuierlich. Angetrieben durch den Handel mit Kanton und anderen Orten entlang des Perlflusses entwickelte sich auch die Wirtschaft. Aufgrund der zunehmenden Piraterie beschlossen die Behörden der Ming-Dynastie (1368–1644) 1394, die Region militärisch zu befestigen. Die wachsende Bevölkerung der Region machte gegen Mitte des 16. Jahrhunderts auch eine Reorganisation der Verwaltungsgebiete notwendig. Das Gebiet des späteren Hongkong wurde dem 1537 neu geschaffenen Landkreis „Neuer Frieden“ (xin’an xian) zugewiesen.[6] Im Jahr 1540 wurden die lokalen Befestigungen mit dem umfassenden Seeverteidigungssystem der Provinz Guangdong verbunden.
Mitte des 16. Jahrhunderts musste die kaiserliche Seeverteidigung mit einer neuen Bedrohung umgehen: dem Vordringen europäischer Händler und bald auch von Kriegsschiffen und Militär. Zuerst kamen die Portugiesen. 1557 pachtete die portugiesische Krone eine Siedlung am Ende einer von Mauern umgebenen Küstenhalbinsel südlich von Kanton. Der Ort liegt im Mündungsdelta des Perlflusses, etwa 50 km westlich von Hongkong. Bekannt als Macau wurde er für Europäer zum Tor nach China. Von dort aus entstand nicht nur ein reger Handel mit Kanton, sondern Macau war auch für Portugiesen und andere Europäer der Ausgangspunkt für Reisen auf das chinesische Festland auf der Suche nach weiteren lukrativen Handelsgeschäften. Damit war die Region um Kanton an den internationalen Seeverkehr und den globalen Weltmarkt angebunden. Der Handel, vor allem mit Europa, war auch für China lohnend. Die Region am Perlflussdelta profitierte in besonderem Maße von dieser Entwicklung. Sie wurde wohlhabender, internationaler und kosmopolitischer.
Der letzte dynastische Machtwechsel in der Geschichte Chinas von der Ming- zur Qing-Dynastie (1644–1911) löste eine weitere große Bevölkerungsbewegung vom Norden in den Süden aus. So wurde die Region auch ethnisch diverser. Vor allem Angehörige der Hakka siedelten sich hier an. Die Hakka wurden nie vollständig in die einheimische Bevölkerung assimiliert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Chinesen mieden sie Praktiken wie das Fußbinden bei Frauen. Die Hakka haben ihre eigene Sprache, die Affinitäten sowohl zu Kantonesisch, der Sprache der Provinz Guangdong, als auch zu Mandarin, der Sprache eines Großteils Nord- und Zentralchinas, aufweist. Die Hakka teilten sich nun die Region mit den lokalen kantonesischsprachigen Clans.
Als im Januar 1841 britische Marineinfanteristen auf Hong Kong Island an Land gingen, waren im Landkreis „Neuer Frieden“ etwas über 7000 Menschen angesiedelt, hauptsächlich Fischer und Bauern unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft, darunter auch 2000 auf Booten lebende Menschen aus Südostasien. Die Nordküste der Insel war größtenteils unbesiedelt.
Die Ankunft britischer Soldaten war ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die große Politik die unberührte Region erreicht hatte. Der strategisch günstig gelegene Kreis Neuer Frieden wurde Anfang des 19. Jahrhunderts zum Schauplatz der chinesisch-britischen Auseinandersetzungen um die Ausweitung des äußerst lukrativen Handels zwischen China und Europa. Die Ming-Dynastie hatte den Handel über das Meer verboten, um den florierenden Schmuggel zur Vermeidung von Steuern entlang der Küste zu bekämpfen. Aber westliche Handelshäuser beteiligten sich aktiv an illegalen Handelsaktivitäten und kauften Güter zur Verschiffung nach Europa auf. Auch England unternahm aggressive Schritte, um seinen Anteil am Chinageschäft zu erhöhen. 1637 fuhr unter Missachtung der Seeverbotspolitik der Ming-Dynastie ein Geschwader von sechs englischen Handelsschiffen in den Hafen von Kanton ein. Sie waren im Auftrag der East India Company unterwegs, wurden aber postwendend zurückgeschickt. Das im Jahr 1600 gegründete Unternehmen war größtenteils in privatem Eigentum.[7] Die Gründung erfolgte auf der Grundlage einer Royal Charter (königliche Satzung) vom britischen Königshaus. Dieses Rechtsdokument ermächtigte das Unternehmen, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um in den gefährlichen Gewässern und der oft feindlichen Umgebung im Osten Handel zu betreiben. Dazu gehörte auch das Recht, Streitkräfte aufzustellen und im Namen der Krone die Verwaltung von Territorien zu übernehmen, die für den Handel als wesentlich erachtet wurden.
Die East India Company hatte zuvor Handelszentren in Indien eingerichtet, und ihr Handel mit Asien übertraf nach und nach den der anderen Handelsgroßmächte Holland und Portugal. Aus Sicht der East India Company war der chinesische Handel hochprofitabel und hatte ein größeres Potenzial als der Handel mit Britisch-Indien. China bot Produkte und Waren wie Porzellan, Seide und Tee an, welche in Europa großen Absatz fanden. Das Unternehmen stieß immer wieder vor und durfte schließlich 1715 eine Handelsstation in Kanton eröffnen.
Die restriktive Handelspolitik wurde zum Unwillen westlicher Handelsfirmen auch im 18. Jahrhundert fortgesetzt. Der Handel zwischen China und europäischen Ländern ging aufgrund der Eroberung Chinas durch die Mandschus und der Gründung der Qing-Dynastie Mitte des 17. Jahrhunderts sogar zurück. Außerdem trachteten chinesische Kaufleute, Zoll- und Qing-Beamte danach, ihre eigenen Gewinne und Interessen zu schützen, und waren an der Konkurrenz durch ausländische Kaufleute nicht interessiert. Erst 1757 reagierte Kaiser Qianlong auf den Rat seiner örtlichen Beamten und begann eine neue Außenhandelspolitik. Der ausländische Handel wurde legalisiert, allerdings durften Schiffe aus Übersee nur noch in den Hafen von Kanton einfahren und wurden dort besteuert. Chinas internationaler Handel in Kanton wurde über von der Qing-Regierung speziell autorisierte und lizenzierte chinesische Cohongs abgewickelt. Das Wort Cohong kommt von gonghang und bedeutet „offiziell autorisierte Firma“. Westliche Händler konnten von Oktober bis März ausschließlich in Kanton mit von den chinesischen Cohongs geleiteten oder mit ihnen kooperierenden Fabriken oder Manufakturen Handel treiben.
Trotz der Beschränkungen nahm der Handel im späten 18. Jahrhundert aufgrund der hohen britischen Nachfrage nach chinesischem Tee kontinuierlich zu. Produkte aus Indien, wie zum Beispiel Baumwolle, wurden über Kanton nach China importiert, während britische Schiffe im Austausch Tee, Porzellan und Seide nach Europa brachten. Bald schon zeigten sich Engpässe: Es gab zu wenig Anlegestellen, Cohongs und Transportunternehmen für das wachsende Handelsvolumen. Der Handel stand zudem unter der klaren Kontrolle chinesischer Behörden und chinesischer Kaufleute.
Ende 1792 ernannte die British East India Company Sir George Macartney, einen erfahrenen Diplomaten und Kolonialverwalter, zum Leiter einer diplomatischen Mission nach China, um die Öffnung von Hafenstädten für britische Händler und die Reparatur britischer Schiffe auf chinesischem Gebiet auszuhandeln. Macartney reiste 1793 mit drei Schiffen mit mehr als hundert Mitarbeitern, Wachen und Wissenschaftlern sowie einer Vielzahl von Geschenken wie Uhren, Teleskopen, Waffen, Textilien und anderen technischen Produkten nach Nordchina. Die Geschenke sollten die Fortschritte der europäischen Zivilisation zeigen und den chinesischen Hof beeindrucken. Der Qing-Hof behandelte die britische Delegation als Tributmission und forderte Macartney auf, sich an der feierlichen Zeremonie des Kotaus (tiefe Verbeugung mit dem Kopf auf den Boden) vor dem Kaiser zu beteiligen. Aber Macartney lehnte standhaft ab und bestand darauf, dass er sich nur vor seinem eigenen König verneige. Daher weigerte sich der Kaiser, über die britischen Forderungen zu verhandeln, und die britische Delegation musste ergebnislos abreisen.
Das Scheitern der Mission veranlasste die East India Company, nach Wegen zur Aushebelung der Handelsbeschränkungen im lukrativen Chinageschäft zu suchen. Insbesondere seit das Unternehmen bengalisches Opium nach China verschiffte, um die chinesischen Handelswaren zu bezahlen, waren die Gewinne im Chinahandel stark gestiegen. Der Einsatz von Opium war in China seit langem bekannt. Schlafmohn wurde traditionell als Heilmittel gegen Durchfall, als Schlafmittel und als Schmerzmittel bei Krankheiten wie Ruhr und Cholera verwendet. Die East India Company hatte sich 1773 in Bengalen und 1830 in Bombay ein Opiummonopol gesichert. Ab den 1770er Jahren tauschte das Unternehmen immer häufiger Opium gegen Tee, Seide und Porzellan ein. Trotz wiederholter Versuche der chinesischen Regierung, den privaten Opiumkonsum zu unterbinden, trieb ein größeres Opiumangebot die Nachfrage und den Verbrauch in ganz China in die Höhe. Die Briten taten alles dafür, den Handel auszubauen. Sie bestachen Beamte und arbeiteten mit Schmugglern zusammen, um das Opium ins Landesinnere zu transportieren. Nicht nur gerieten viele Chinesen in Abhängigkeit; China kämpfte auch mit negativen wirtschaftlichen Folgen. Silber zur Bezahlung von Opium floss aus dem Land ab. Viele von Chinas späteren wirtschaftlichen Problemen waren direkt oder indirekt mit dem Opiumhandel verknüpft.
Für die East India Company machten die Einnahmen aus dem Opiumhandel in den 1830er Jahren über 8 % ihrer Gesamteinnahmen aus Britisch-Indien aus. Daher stand für Großbritannien und Britisch-Indien viel auf dem Spiel. Die Besetzung von Hongkong durch die Briten ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Sie war das Ergebnis eines langen Lobbyings britischer Opiumhändler, die eine Basis an der chinesischen Küste zu Absicherung ihres Chinahandels forderten. Im Gegensatz zu den anderen europäischen Seeimperien Holland, Portugal und Spanien, die Stützpunkte in Batavia (dem heutigen Jakarta), Macau bzw. Manila besaßen, hatte Großbritannien außerhalb Indiens keinen Standort im östlichen Teil Asiens (Singapur wurde erst 1819 gegründet). Als 1821 chinesische Behörden gegen den illegalen Opiumhandel einschritten, errichteten britische Händler Lager für Waren und Nachschub auf mehreren Küsteninseln, darunter auch Hong Kong Island. James Matheson, Chef des größten britischen Unternehmens in der Region, Jardine Matheson, forderte die britische Regierung auf, eine Basis zum Schutz der britischen Handelsinteressen in Südchina zu schaffen. Im August 1834 schloss sich Lord Napier, britischer Superintendent für den Handel in China, diesen Forderungen an und erdachte einen Plan, nach dem eine kleine britische Streitmacht Hong Kong Island in Besitz nehmen sollte.
Der Qing-Hof konnte die durch den Opiumkonsum verursachten sozialen und wirtschaftlichen Probleme – zunehmende Drogenabhängigkeit, Verarmung und Silberabfluss – nicht mehr ignorieren.[8] Daher beschloss die kaiserliche Regierung die Entsendung eines der fähigsten Beamten nach Kanton: Lin Zexu erhielt 1838 den Befehl, alles Notwendige zu tun, um sowohl den Konsum der Droge als auch den Handel damit zu unterdrücken. Er ging energisch an die Arbeit. Süchtige wurden zusammengetrieben, festgehalten und entwöhnt. Einheimische Drogenhändler wurden hart bestraft. Lins wichtigstes Ziel aber war es, ausländische Lieferungen zu stoppen. Daher ließ er 1839 sämtliches in Kanton gelagertes britisches Opium vernichten. Außerdem hinderte er britische Schiffe daran, in Kanton anzudocken, und machte so weitere Lieferungen von Opium unmöglich.
Als die Nachricht von den Ereignissen in Kanton England erreichte, war die öffentliche Meinung dort gespalten. Einige britische Bürger kritisierten den Drogenhandel mit China. Ihre Bedenken wurden jedoch von denen überstimmt, die geschäftliche Interessen an der Steigerung des Chinahandels hatten, und von denen, die dem „arroganten“ Qing-Hof eine Lehre erteilen wollten. Dieses Lager argumentierte, dass die Politik der Qing die Prinzipien des Freihandels verletze und daher ungerechtfertigt sei. Die britische Regierung schloss sich dieser Meinung an und bereitete eine militärische Aktion gegen das Qing-Reich vor. Der Krieg sollte in den Worten von Außenminister Lord Palmerston „eine ungerechte und demütigende Tat auslöschen, den Wert eines bestimmten Eigentums plus Ausgaben ersetzen […] und nach und nach Englands Beziehungen zum Reich der Mitte auf eine neue und richtige Grundlage stellen“.[9] Im September 1839 kam es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen vor Hong Kong Island. Der Krieg dauerte fast zwei Jahre und endete mit einer vollständigen Katastrophe für das Qing-Reich. Die technologische Überlegenheit der britischen Flotte war offensichtlich. Ihre dampfgetriebenen Militärschiffe ermöglichten eine dem chinesischen Militär unbekannte Form der Kriegsführung. Im Sommer 1842 feierte die britische Flotte schließlich den Sieg im Opiumkrieg, als sie den Yangzi erreichte und einen Angriff auf die alte Hauptstadt Nanjing in Zentralchina vorbereitete. Im Angesicht des drohenden Angriffs auf die alte Hauptstadt kapitulierte der Qing-Hof.
Die Besetzung von Hong Kong Island erfolgte 1841 auf Befehl von Charles Elliot, Chief Superintendent des britischen Handels in China. Die Abtretung der Insel sollte eine Kriegskompensation für die Kriegsverluste der Briten darstellen. Darunter fiel auch die von den Briten als unrechtmäßig angesehene Zerstörung des Opiums durch Lin Zexu. Am Morgen des 26. Januar 1841 fuhr ein kleines Marinegeschwader der Royal Navy unter dem Kommando von Kommodore Sir Gordon Bremer in eine kleine Bucht an der Nordwestküste von Hong Kong Island ein.[10] Begleitet von Offizieren des Marinegeschwaders, einigen Armeeoffizieren und einer Gruppe Royal Marines ging Bremer an Land, stieß dort auf Königin Victoria an und beanspruchte Hongkong in ihrem Namen nach Salutschüssen von Bord der englischen Kriegsschiffe. Der Schauplatz dieses Akts wurde als Possession Point bekannt. Die britische Besatzung stieß auf keinen Widerstand: Es waren keine Soldaten des chinesischen Kaiserreichs präsent. Den wenigen Fischern und Bauern auf den Inseln waren die weltpolitischen Ereignisse weder bekannt, noch konnten sie die Folgen der Geschehnisse einschätzen.
„Mit großem Bedauern drücke ich Ihnen meine äußerste Enttäuschung über Ihre Verhandlungen aus“, schrieb am 21. April 1841 der Außenminister und spätere Premierminister Lord Palmerston in einem Brief an Charles Elliot. Mit diesen harschen Worten tadelte er Elliot dafür, dass er eine „unfruchtbare Insel mit kaum einem Haus darauf“ als Kolonie erworben habe, die niemals zu einem großen „Handelsmarkt“ werden könne.[11] Das Schreiben an Elliot war im Grunde eine Abmahnung: Anstatt einen Hafen von der Qualität der portugiesischen Kolonie Macau zu annektieren, habe Elliot lediglich eine unbedeutende und unbekannte Insel eingenommen.
Nach ihrer Kapitulation mussten die Qing den Vertrag von Nanjing (August 1842) unterzeichnen, den ersten der sogenannten ungleichen Verträge. Dieser eröffnete europäischen Firmen leichteren Zugang zum chinesischen Markt und markierte den Beginn einer wachsenden westlichen Dominanz. Nach seinen Bestimmungen musste der Qing-Hof Kanton und vier weitere Häfen für den direkten Handel zwischen Ausländern und Chinesen öffnen. China wurde gezwungen, Reparationen in Höhe von 21 Millionen Silberdollar an die britischen Kaufleute zu zahlen, die aus Kanton vertrieben worden waren und deren Opium vernichtet worden war. Der Betrag stellte eine erhebliche Belastung für die ohnehin angespannten Qing-Finanzen dar. In dem Vertrag wurde auch Hong Kong Island auf unbegrenzte Dauer an Großbritannien abgetreten. Damit wurde die Besetzung der Insel ein Jahr zuvor faktisch legalisiert.
Abbildung 1: Sir James John Gordon Bremer, Kommodore der britischen Armee
Nach der Besetzung wurde Hongkong zum Freihafen erklärt. Entgegen der Einschätzung von Palmerston entwickelte sich die Stadt beinahe über Nacht zu einer „Boomtown“. Hongkong hatte in den Jahren nach der Besetzung etwas von der rauen Atmosphäre einer Grenzstadt, nicht unähnlich den Goldrauschstädten im amerikanischen Westen oder in Australien und Neuseeland. Es zog sehr schnell Chinesen aller Gesellschaftsschichten aus Guangdong sowie europäische Kaufleute und Missionare aus Macau an. Schon Anfang 1842 hatte sich die Zahl der Einwohner mehr als verdoppelt. Hongkong entwickelte sich zu einer geschäftigen Stadt mit rund 20 000 Einwohnern, wobei die ursprünglichen Bewohner des Landkreises „Neuer Frieden“ eine Minderheit wurden und auch an der Entwicklung nicht partizipierten. Außerdem setzte eine hektische Bautätigkeit ein. Offizielle Gebäude wie das Amtsgericht, die Post, das Land- und Protokollamt sowie das Gefängnis wurden in kürzester Zeit errichtet und mit Geschäftsbauten wie Kais, Piers, Lagerhäusern, Läden, Bordellen, Spielhäusern, Schneidergeschäften und dem Marktplatz durch Straßen verbunden. Auch herrschaftliche private Wohnhäuser wurden gebaut. Schon 1845 berichteten europäische Besucher häufig über aufwendige Regierungsgebäude und opulente Kaufmannsresidenzen in Hongkong.
Gemäß dem von der britischen Krone erlassenen Letters Patent vom 5. April 1843, das eine Art Verfassung darstellte, sollte dieser neue Außenposten von einem vom Königshaus auf Vorschlag der britischen Regierung ernannten Gouverneur regiert werden. Ein Colonial Secretary bzw. später Chief Secretary stand dem Gouverneur bei der Leitung der Verwaltung zur Seite. Als Vertreter der Krone und Hauptgeschäftsführer der Kolonie verfügte der Gouverneur über „volle Macht und Autorität“ und war lediglich der Regierung in London unterworfen. Zunächst beauftragte Charles Elliot den stellvertretenden Superintendenten für den Handel in China, Alexander Robert Johnston, mit der Verwaltung der Kolonie. Ihm folgte im August 1841 Henry Pottinger als der erste Gouverneur.
Der Gouverneur wurde von einem Exekutivrat (executive council) unterstützt, dessen Mitglieder er selbst ernannte. Dieser hatte die Aufgabe, den Gouverneur bei der Ausübung der Regierungsgeschäfte zu beraten. Das zweite wichtige Organ war der Legislativrat (legislative council). Während der britischen Herrschaft hatte er eine beratende Funktion beim Erlass von Gesetzen und Verordnungen. Seine Mitglieder wurden zum Teil vom Gouverneur ernannt, zum Teil über sogenannte funktionale Wählergruppen (functional constituencies wie zum Beispiel Handwerker, Erzieher, Bankiers, Händler usw.) korporativ gewählt. Die Kolonie bestand aus einer kleinen Gemeinde britischer Kolonisten sowie einer größeren Zahl chinesischer Arbeiter. Es war daher nicht nötig, neben der Gemeindeverwaltung überkommunale oder außenpolitische Zuständigkeiten der Kolonie an eine separate Körperschaft zu übertragen. Der Gouverneur fungierte deshalb de facto auch als Bürgermeister, obwohl er London und nicht einem gewählten Stadtrat oder den örtlichen Steuerzahlern verantwortlich war. Die britische Kolonialverwaltung war insgesamt schlank. Das Modell der britischen Herrschaft über Hongkong war der minimale Staat. Die Regierung regelte lediglich grundlegende Aufgaben: öffentliche Ordnung und Bauangelegenheiten, Justiz sowie Gesundheits- und Sozialdienste für die kleine Gemeinschaft der europäischen Zivilisten.
Obwohl das Letters Patent während der 156 Jahre britischer Souveränität über Hongkong gelegentlich geändert und neu gefasst wurde, blieb die Grundstruktur des politischen Systems im Wesentlichen während der gesamten Zeit gleich. Die Kronkolonie wurde im Gegensatz zu England selbst undemokratisch regiert. In Hongkong gab es keine wirksame Gewaltenteilung. Ebenso fehlte eine effektive Kontrolle der Hongkonger Regierung durch die Bevölkerung mittels demokratischer Wahlen oder anderer Formen der Mitwirkung. Die schwächste der Regierungsgewalten war die Legislative, die über keine verfassungsmäßig garantierten Rechte oder gesetzgeberische Funktion verfügte.
Für die Angelegenheiten der chinesischen Bevölkerung war ab 1844 ein des Chinesischen mächtiger britischer Beamter mit dem Titel Registrar General zuständig. Der Registrar General war das einzige Regierungsmitglied, das die Interessen der chinesischen Gemeinschaft in der Verwaltung vertrat. Die relative Bedeutungslosigkeit dieses neuen Amts spiegelte sich in seinem Ausschluss von der Mitgliedschaft im Exekutivrat bis 1883 wider. 1913 wurde der Posten umbenannt in Secretary for Chinese Affairs. Den modern klingenden neuen Titel Secretary for Home Affairs erhielt die Stelle erst 1969. Zu diesem Zeitpunkt unterschied die koloniale Regierung in der Verwaltung nicht mehr länger zwischen europäischer und chinesischer Bevölkerung.
Abbildung 2: Britische Royal Marines nehmen Hongkong am Possession Point in Besitz.
Anders als die anderen Kolonien war Hongkong bis 1859 sowohl dem Secretary of State for the Colonies als auch dem Foreign Secretary in der britischen Regierung unterstellt. Diese Anomalie trug den Erwägungen Rechnung, dass Hongkongs Rolle als wichtiges Handelszentrum zwischen China und Großbritannien intensiven diplomatischen Austausch mit China notwendig machte.
Ursprünglich umfasste das Gebiet der Kronkolonie lediglich Hong Kong Island. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es zu erheblichen Erweiterungen. Sie waren als Ergebnis von Konflikten auf dem Festland sozusagen eine Nebenwirkung von Ereignissen weit entfernt von der Kolonie.
Die Europäer führten von 1856 bis 1860 einen zweiten Opiumkrieg mit China.[12] Zu diesem Zeitpunkt war die Qing-Dynastie mit der Niederschlagung des gewaltigen Aufstands Taiping Tianguo (Himmlisches Reich des Ewigen Friedens) beschäftigt, dem ca. 40 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Der Anlass für den Zweiten Opiumkrieg war das Bestreben britischer Kaufleute nach einem besseren Zugang zum chinesischen Markt, als ihn die Bestimmungen des Vertrags von Nanjing gewährten. Sie warteten auf eine Gelegenheit, um den Status quo zu verändern. Solch ein Anlass wurde bald von chinesischen Beamten geliefert, die die Vertragsbestimmungen unterliefen. Obwohl Kanton für Europäer offiziell geöffnet worden war, leistete die lokale Bevölkerung Widerstand gegen die „Eindringlinge“.
In der angespannten Atmosphäre ereignete sich im Oktober 1856 ein schwerwiegender Vorfall. Die Polizei von Kanton beschlagnahmte die Arrow, ein in chinesischem Besitz befindliches und in Großbritannien registriertes Schmuggelschiff unter britischer Flagge, und beschuldigte die chinesische Besatzung der Piraterie. Der britische Konsul in Kanton, Harry Parkes, beorderte eine kleine Flotte von Hongkong nach Kanton zur Rettung der Arrow. Französische Truppen aus Indochina schlossen sich dem Unternehmen mit der Begründung an, der französische Missionar Auguste Chapdelaine sei in Guangxi hingerichtet worden. Die Regierung in London ernannte Lord Elgin zum britischen Abgesandten und beauftragte ihn, Reparationszahlungen und einen neuen Vertrag zu erwirken. Da ihm die Einreise nach Peking verweigert wurde, entschied Lord Elgin, die Dagu-Forts anzugreifen und zu besetzen. Bei den sich anschließenden Verhandlungen in Tianjin hatten die Qing-Vertreter keine andere Wahl, als den neuen Forderungen der Briten und Franzosen nachzukommen. Russische und US-amerikanische Diplomaten konnten die gleichen Privilegien für ihre Landsleute aushandeln. Im Juni 1858 wurden vier Tianjin-Verträge unterzeichnet, die unter anderem Folgendes vorsahen: die Öffnung von zehn weiteren Häfen für den Außenhandel; die Erlaubnis für ausländische Schiffe, den Yangzi zu befahren; den Aufenthalt ausländischer Diplomaten in Peking; und die Freiheit christlicher Missionare, sich uneingeschränkt zu bewegen, um ihr Evangelium zu verbreiten.
Fast ein Jahr später traf Mitte 1859 Lord Elgins jüngerer Bruder, der designierte britische Bevollmächtigte Frederick Bruce, in den Dagu-Forts ein, um die Ratifizierung der Verträge in Peking zu vollenden. Bruce lehnte es ab, für seine diplomatische Mission die von den Qing geforderte spezielle Landroute für Tributmissionen zu benutzen. Er hob hervor, dass seine diplomatische Mission nicht mit einer Tributmission zu verwechseln sei, und ließ seine kleine Flotte Position vor der Küste einnehmen. Diesmal war das Qing-Militär jedoch vorbereitet. Der mongolische General Senggelinqin hatte den Angriff vorhergesehen, die Forts verstärkt und gut geschulte Truppen eingesetzt. Als die britischen und französischen Truppen schließlich angriffen, wurden sie von dem Beschuss aus den Forts aufgehalten und erlitten schwere Verluste. Diese erste Niederlage gegen die in fast jeder Hinsicht als weit unterlegen eingeschätzte kaiserliche Armee war ein Schock für die Briten und andere westliche Nationen. Als die Nachricht der Niederlage England erreichte, begann die britische Regierung sofort mit der Planung umfassender und drakonischer Repressalien. Die alliierten Streitkräfte von ca. 24 000 Mann brachten den Abgesandten Lord Elgin Ende Juni nach China zurück. Lord Elgins Befehl lautete, den Vertrag zu ratifizieren und vom Kaiser eine Entschuldigung und Kriegsentschädigung für den Angriff zu fordern. Am 26. Juni 1860 erklärten die alliierten Länder China offiziell den Krieg. Die Invasion begann im August.
Diesmal überraschten die alliierten Truppen das Qing-Militär jedoch mit einem Angriff auf dem Land. Da sie einen Angriff vom Meer aus erwartet hatten, waren die Verteidigungstruppen des Qing-Militärs chancenlos. Am 21. August 1860 befanden sich die Festungen in den Händen der europäischen Verbündeten. Anschließend stieß Lord Elgin nach Peking vor. Das chinesische Imperium musste hilflos zusehen, wie sogar die Hauptstadt Mitte Oktober 1860 besetzt und der Palastkomplex am Stadtrand von Peking, Yuanmingyuan (Garten der vollkommenen Helligkeit), niedergebrannt wurde. Kaiser Xianfeng floh aus der Stadt in seinen Sommerpalast nach Chengde. Die Qing-Armee verlor über 5000 Mann; auch auf der Seite der Alliierten gab es erhebliche Verluste.
Nach der chinesischen Niederlage wurde ein weiterer Vertrag zwischen China und Großbritannien abgeschlossen und als Convention of Peking 1860 vom jüngeren Bruder des Kaisers unterzeichnet. In dem Vertrag wurde eine Erhöhung der Schadenszahlungen an die englische Krone festgelegt und das britische Recht, eine diplomatische Vertretung in der Hauptstadt zu unterhalten, bestätigt. Kurz vor Abschluss der Convention forderten die Briten außerdem die Abtretung eines Teils der Kowloon Halbinsel nördlich sowie der Stonecutters Insel westlich von Hong Kong Island. Die chinesische Seite, die eine schnelle Beendigung des Konflikts wünschte, willigte ohne größere Gegenwehr ein. Damit wurde das Gebiet von Hongkong als Nebenprodukt des großen Konflikts mit China auf dem Festland erheblich vergrößert.
In den 1880er und 1890er Jahren forderten britische Militärs und Händler in Hongkong abermals eine Ausweitung des Territoriums der Kolonie. Im Mittelpunkt standen strategische Interessen: Es sollten ein Puffer zwischen Hong Kong Island und China geschaffen sowie zusätzliche landwirtschaftliche Flächen zur Versorgung der Stadt gewonnen werden. Zu diesem Zweck sollten insbesondere die nördlich an die Kowloon Halbinsel angrenzenden Gebiete auf dem Festland zur Kolonie dazukommen. Anfänglich stand London diesem Ansinnen skeptisch gegenüber. Die britische Regierung befürchtete, dass solche Vorschläge den Handel mit China beeinträchtigen und bei den anderen europäischen Mächten Misstrauen wecken würden. Aber Ereignisse in China bewirkten eine Änderung der Position Londons.
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