Predigtstudien
Herausgegeben
von Birgit Weyel (Geschäftsführung),
Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann, Wilhelm Gräb,
Doris Hiller, Kathrin Oxen, Christopher Spehr
und Christian Stäblein
Im Jahr erscheinen zwei Halbbände
Darstellungsschema
A-Teil: Texthermeneutik
I Eröffnung
Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?
II Erschließung des Textes
Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?
III Impulse
Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!
Werkstück Predigt
B-Teil: Situationshermeneutik
IV Entgegnung
Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?
V Erschließung der Hörersituation
Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?
VI Predigtschritte
Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!
Werkstück Predigt
© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-kreuz.de
Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall
Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig
Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN E-Book (epub): 978-3-451-82487-6
ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82486-9
ISSN 0079-4961
ISBN 978-3-451-60112-5
Inhalt
Zum Gedenken an Roman Roessler (28.2.1931–20.8.2021)
Predigtvorbereitung im Ringen um eine zeitgenössische Theologie
Wilhelm Gräb/Wilfried Engemann
08.05.2022 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate)
1 Mose 1,1–4a(4b–25)26–28(29–30)31a(31b); 2,1–4a
Jubel – aber nur trotzdem!
Friedhelm Hartenstein/Horst Gorski
15.05.2022 4. Sonntag nach Ostern (Kantate)
Kolosser 3,12–17
Anziehen und Lobsingen
Angela Rascher/Christopher Spehr
22.05.2022 5. Sonntag nach Ostern (Rogate)
Lukas 11,(1–4)5–13
Von Bettlern und Wunschzetteln
Felix Roleder/Jörg Schneider
26.05.2022 Christi Himmelfahrt
Daniel 7,1–3(4–8)9–14
»Die Abenddämmerung der Welt«
Kristin Weingart/Johannes van Oorschot
29.05.2022 6. Sonntag nach Ostern (Exaudi)
Römer 8,26–30
In der Zwischenzeit: Warten und hören
Doris Hiller/Regina Sommer
05.06.2022 Pfingstsonntag
Römer 8,1–2(3–9)10–11
Von der alltäglichen Präsenz des Heiligen Geistes
Christian Stäblein/Wilhelm Gräb
06.06.2022 Pfingstmontag
4 Mose 11,11–12.14–17.24–25(26–30)
Es reicht!
Michael Schneider/Kristian Fechtner
12.06.2022 Trinitatis
Römer 11,(32)33–36
Gotteslob als Ressource
Helge Martens/Christian Butt
19.06.2022 1. Sonntag nach Trinitatis
Lukas 16,19–31
Lazarus – eine Zu-Mutung
Lars Christian Heinemann/Anna Böllert
26.06.2022 2. Sonntag nach Trinitatis
Jona 3,1–10
Göttlich konsequente Inkonsequenz
Rolf Stieber/Gerhard Zinn
03.07.2022 3. Sonntag nach Trinitatis
Ezechiel 18,1–4.21–24.30–32
Stunde Null
Antje Eddelbüttel/Holger Treutmann
10.07.2022 4. Sonntag nach Trinitatis
Johannes 8,3–11
Lossagung
Redlef Neubert-Stegemann/Matthias Kempendorf
17.07.2022 5. Sonntag nach Trinitatis
1 Mose 12,1–4a
Sehnen, schweben, anerkennen
Peter Meyer/Lars Charbonnier
24.07.2022 6. Sonntag nach Trinitatis
Römer 6,3–8(9–11)
Eigentlich bin ich ganz anders – manchmal komme ich sogar dazu
Martin Weeber/Ruth Conrad
31.07.2022 7. Sonntag nach Trinitatis
Johannes 6,1–15
Leben in Fülle
Stephan Seidelmann/Marcel Brenner
07.08.2022 8. Sonntag nach Trinitatis
Markus 12,41–44
Geld oder Leben – eine Witwe wagt zu glauben
Bernhard Liess/Rainer Mogk
14.08.2022 9. Sonntag nach Trinitatis
Matthäus 25,14–30
Mit Mut im Herzen und Angst im Gepäck
Christine Siegl/Antonia Rumpf
21.08.2022 10. Sonntag nach Trinitatis/Israelsonntag: Kirche und Israel
Matthäus 5,17–20
Perspektiven für den Frieden
Ricarda Schnelle/Sabine Winkelmann
28.08.2022 11. Sonntag nach Trinitatis
2 Samuel 12,1–10.13–15a
Der Mann, den Gott nicht fallen ließ
Heinz-Dieter Neef/Christoph Vogel
04.09.2022 12. Sonntag nach Trinitatis
Apostelgeschichte 9,1–20
Ein Riss in allen Dingen
Katharina Fenner/Stefanie Arnheim
11.09.2022 13. Sonntag nach Trinitatis
Lukas 10,25–37
Das Leid des Anderen begreifen
Susanne Wolf/Martin Vetter
18.09.2022 14. Sonntag nach Trinitatis
Jesaja 12,1–6
Dankbarkeit hält die Welt
Klaus-Dieter Kaiser/Rüdiger Sachau
25.09.2022 15. Sonntag nach Trinitatis
Galater 5,25–6,10
Befreiung zu christlicher Lebenskunst
Carsten Claußen/Traugott Roser
02.10.2022 Erntedankfest
5 Mose 8,7–18
»Drei Meilen hinter Weihnachten«
Kathrin Oxen/Jan Roßmanek
09.10.2022 17. Sonntag nach Trinitatis
Jesaja 49,1–6
Zwischen Amen und Aber − Lebenslieder
Ernst Michael Dörrfuß/Jeanette Kantuser
16.10.2022 18. Sonntag nch Trinitatis
Epheser 5,15–20
Der nächsten Generation: Seid nüchtern und dankbar zugleich!
Jörg Dittmar/Clemens Monninger
23.10.2022 19. Sonntag nach Trinitatis
Markus 2,1–12
No Go
Katharina Krause/Verena Mätzke
30.10.2022 20. Sonntag nach Trinitatis
Hoheslied 8,6b–7
Die Liebe ist eine Himmelsmacht
Kristina Kühnbaum-Schmidt/Ralf Meister
31.10.2022 Gedenktag der Reformation
Psalm 46
Ein feste Burg ist unser Gott
Hans Martin Dober/Thorsten Moos
06.11.2022 Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Lukas 17,20–24(25–30)
Zeitsprünge
Wolfgang Vögele/Uwe Hauser
13.11.2022 Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres
Lukas 18,1–8
Wir müssen reden!
Christa Usarski/Renate Gerhard
16.11.2022 Buß- und Bettag
Offenbarung 3,1–6
Umkehr, aber echt jetzt
Reinhard Mawick/Ingo-Christoph Bauer
20.11.2022 Letzter Sonntag des Kirchenjahres: Totensonntag
Johannes 6,37–40
Über den Tod hinaus
Stefan Egenberger/Lucie Panzer
Vergleichstabelle zur neuen Perikopenordnung IV
Perikopenverzeichnis
Anschriften
Predigtvorbereitung im Ringen um eine zeitgenössische Theologie
Zum Gedenken an Roman Roessler (28.2.1931–20.8.2021)
1. Roman Roessler als Mitbegründer und Redakteur der Predigtstudien
Wilhelm Gräb
Am 20. August 2021 ist Roman Roessler gestorben. Mehr als 40 Jahre lang war er der Schriftleiter und Redakteur der Predigtstudien. Roman Roessler hat den Predigtstudien das Format gegeben, mit dem sie zu einem wichtigen, die religiösen, politischen, sozialen und kulturellen Gegenwartsverhältnisse adressierenden homiletischen Ideengeber geworden sind. Es ist keineswegs übertrieben zu sagen, dass ohne Roman Roessler die Predigtstudien nicht das geworden wären, was sie bis heute sind: ein ebenso kritisches wie anregendes Gespräch mit Predigenden über die mögliche Gegenwartsrelevanz des diesem Sonntag durch die Perikopenordnung vorgegebenen biblischen Textes.
Roman Roessler war von Anfang an dabei. Ernst Lange hatte ihn bereits zur Esslinger Tagung (1968), auf der er das Programm der Predigtstudien zur Diskussion stellte, eingeladen. Schon im zweiten Erscheinungsjahr fungierte er als Schriftleiter und gehörte neben Ernst Lange, Dietrich Rössler und Peter Krusche sogleich auch zum Herausgeberkreis. Roman Roessler war es, der Ernst Langes damals geradezu revolutionäre Idee, die Deutung der »homiletischen Situation« mit gleichem Gewicht neben die Auslegung des biblischen Textes zu setzen, im unermüdlichen Gespräch mit den Autoren und Autorinnen zur Durchsetzung verhalf. Im kritisch-konstruktiven Dialog mit ihnen – über die 40 Jahre waren es mehr als 800 Autoren und Autorinnen – betrieb er seine Redaktionsarbeit so, dass sie zur permanenten Herausforderung, aber auch Chance zur Weiterbildung für die Autoren und Autorinnen wurde. Wem die Ehre zuteilwurde, von ihm um einen Beitrag als A- oder B-Autor gebeten worden zu sein, durfte sich freuen, wenn auf die erste Anfrage auch eine zweite und dann weitere folgten. Denn jeder neuen Anfrage war ein längerer, teilweise freundlich zustimmender, dann auch wieder kritisch mahnender Kommentar zum vorangegangenen Beitrag angefügt. Roman Roessler hatte sich notiert, was ihn im Einzelnen besonders überzeugt hatte, aber auch, wo er weniger oder gar nicht folgen konnte bzw. aus theologischen Gründen nicht folgen wollte.
Das war es, was die Redaktionsarbeit von Roman Roessler auf unnachahmliche Weise auszeichnete. Den Autoren und Autorinnen gegenüber, die – mit Ernst Lange geredet – Anwalt des biblischen Textes (A) und mit ebensolcher Dringlichkeit Anwalt der heutigen Situation (B) sein sollen, schlüpfte er in die Rolle eines Anwalts der Predigenden. Roman Roessler hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Autoren und Autorinnen der Predigtstudien sich selbst der Herausforderung der Predigt mit diesem Text an diesem Sonntag stellen müssen. Nicht indem sie bereits anfangen zu predigen, wohl aber, indem sie zur Sprache bringen, wie sie selbst diesen Text verstehen, welche menschlichen Grunderfahrungen der Text für sie zur Sprache und welche religiös provokante Situation heutigen Lebens er ihnen zum Vorschein bringt. Deshalb duldete er es nicht, die Leser der Predigtstudien mit Empfehlungen abzuspeisen, was gesagt werden müsste. Nein, sag es! Roman Roessler wurde nicht müde, seine Autoren und Autorinnen zu einer eigenen Positionierung anzuregen – sowie dazu, sich als theologisches Subjekt zu artikulieren, das sich den Lesern und Leserinnen der Predigtstudien gegenüber zu einer kritischen Zeitgenossenschaft verpflichtet weiß.
Besonderes Gewicht legte er auf die Erkundung und Beschreibung der homiletischen Situation und damit darauf, welche Sicht auf die Wirklichkeit mein Gespräch mit den Hörern und Hörerinnen der Predigt bestimmt. Roman Roessler standen immer auch die kritischen, skeptischen, die kirchlich distanzierten und der Gemeinde entfremdeten Hörer und Hörerinnen vor Augen – denn er zählte sich selbst zu ihnen. Deshalb attackierte er die Unverständlichkeit der traditionellen Glaubenssprache, warnte davor, Glaubensaussagen zu Aussagen über eine andere, supranaturale Wirklichkeit zu machen oder die Predigt an eine mit kirchlichen Gepflogenheiten vertraute Sonntagswelt zu adressieren.
Roman Roessler dachte groß von der Predigt. Für ihn war sie nach wie vor die entscheidende Gelegenheit, öffentlich zur Sprache zu bringen, wofür das Christentum heute steht. Seine große Befürchtung war, dass die Predigt – und mit ihr die evangelische Kirche – mehr und mehr aus der Gesellschaft auswandern und nur noch für die mit der kirchlichen Tradition Vertrauten von Bedeutung sind. Sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen, das war es, was ihn die anstrengende Redaktionsarbeit – jahrzehntelang neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Oberkirchenrat – hat auf sich nehmen lassen. Mit den Predigtstudien und ihrem die kritische Zeitgenossenschaft der Predigt intendierenden dialogischen Verfahren verband er die bleibende Hoffnung auf eine Erneuerung der Kirche.
Ein gravierendes Beschwer war und blieb für ihn dabei bis zuletzt die Verpflichtung auf die Perikopenordnung und damit auf Texte, die manchmal beim besten Willen nicht auf die religiösen, politischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen der eigenen Zeit zu beziehen sind. Auf die jüngste Revision der Perikopenordnung hat er große Hoffnung gesetzt. Er zeigte sich jedoch bitter enttäuscht, da ihm das Ergebnis dieser Revision dann doch nur einen weiteren Rückzug ins traditionell kirchliche Milieu anzuzeigen schien. Als Roman Roessler 2014 aus dem Herausgeberkreis ausschied, schrieb er mir, der ich nach ihm die Geschäftsführung in der Redaktion übernommen hatte, in einem persönlichen Brief, nicht ohne resigniertem Unterton: »In unserer Jahrzehnte langen Bearbeitung der vorgegebenen Predigttexte hat sich uns doch gezeigt, in wie vielen Fällen die vorgegebene Textwahl mit ganz gravierenden Problemen verbunden war. Oft wussten wir doch nicht, wem man die Bearbeitung von diesem oder jenem Text überhaupt zumuten konnte. […] Jetzt liegt der 632 Seiten starke Revisionsentwurf vor, in dem sich kein einziger Satz über die heute relevanten Kriterien der Textwahl findet. Warum haben wir denn in unserem Kreis darüber keine Diskussion geführt? Die homiletische Perspektive ist nahezu ausgeblendet. Wie ist das möglich? Das Kirchenjahr als Gestaltungsprinzip – ein Haus, das von der Mehrzahl der heute ja doch sporadischen Kirchenbesucher so längst nicht mehr bewohnt wird.«
Roman Roesslers unruhiger, kritischer Geist und seine furchtlos mahnende Stimme werden nicht nur den Predigtstudien fehlen!
2. Roman Roessler als theologischer Impulsgeber und kritischer Wegbegleiter
Wilfried Engemann
2.1 Ringen um theologische Leitlinien
Als Roman Roessler mich 1996 zur Mitarbeit im Wissenschaftlichen Beirat und kurze Zeit später in den Herausgeberkreis der Predigtstudien einlud, ahnte ich nicht, dass die damit verbundenen jährlichen Redaktionssitzungen zu den intensivsten, an Standpunkte rührenden und Argumente hinterfragenden theologischen Diskussionen im akademischen Jahreslauf gehören würden. Eben noch zum gemütlichen Small Talk aufgelegt und entspannt an seiner Zigarette ziehend, nahmen die von ihm geleiteten Gespräche sofort Fahrt auf, wenn der Tagesordnungspunkt »Verständigung über exemplarische Beiträge aus den beiden Bänden des letzten Jahrgangs« erreicht und wieder einmal deutlich geworden war, dass die von uns nach bestem Wissen und Gewissen erstellten homiletischen Leitlinien zum Erstellen der Teile A und B in (immer noch) zu geringem Maße berücksichtigt worden waren.
Die Hingabe, mit der Roman Roessler jahrzehntelang tausende Predigtstudien sorgfältig lektoriert hat, stand in einer markanten Spannung zu der Unruhe, die ihn befiel, wenn uns der Austausch über die Ergebnisse unserer Editionsarbeit (die deren Bewertung einschloss) über theologische Untiefen und Abgründe führte und an grundsätzliche Fragen unseres eigenen Bibeltextverständnisses, unseres Gottes- und Menschenbildes oder unseres Gebrauchs begrifflicher Lösungen der christlichen Dogmatik rührte. Die Sitzungsprotokolle, die er über Jahrzehnte hin selbst verfasst hat, legen ein beredtes Zeugnis davon ab, in welchem Maße ihm daran gelegen war, seine Mitherausgeber als homiletische Zeitgenossen Jahr um Jahr ins Gebet zu nehmen: Wenn wir uns als Fachkollegen nicht redlich darum bemühten, so Roman Roessler, in gegenseitiger Offenheit und Deutlichkeit Klartext zu reden, wie sollten wir dann zu einer überzeugenden Kritik latent anzutreffender, nicht mehr zeitgemäßer homiletischer Kriterien finden? »Wir leben im 21. Jahrhundert: Wir brauchen eine Theologie, die mit unserem heutigen Verständnis der Wirklichkeit nicht in krassem Widerspruch steht. Die immer neue Wiederholung der alten Antworten und Denkmuster kann das nicht leisten.«1
Dieser Fragehaltung und permanenten Aufgabenstellung entsprach es, dass Roman Roessler in den meisten Sitzungen, deren Agenda er uns im Vorfeld zusandte, jeweils auch eine theologische Frage diskutiert haben wollte, von der wir selber fänden, dass sie beim Predigen auf dem Spiel stehe – was sich, das war seine Erwartung, früher oder später natürlich auch auf die Brauchbarkeit jener Leitlinien auswirken sollte, die die Autorinnen und Autoren beim Abfassen ihrer Predigtstudien (bis heute) vor sich liegen haben.
2.2 Positionierungen
Sehr oft kamen die entsprechenden Impulse von ihm selbst. Ich wähle aus den vielen Diskussionsgängen fünf Themen und Positionierungen aus, die exemplarisch für Roesslers Argumentation waren. Sie haben sich gewiss auch in den zahllosen Rückmeldungen an die Autorinnen und Autoren (von denen Wilhelm Gräb oben berichtet hat) niedergeschlagen und lassen sich zudem als eine Art Fortsetzung der Theologie Ernst Langes interpretieren.
2.2.1 Die Sprache des Christentums betreffend
Wir müssen ernst damit machen, dass die Sprache auch der christlichen Religion eine symbolische Sprache ist: »Wir reden, recht verstanden, immer in Bildern und Gleichnissen, wenn wir von Gott und Glauben und Religion reden, weil wir dafür keine andere adäquate Sprache haben. […] Symbole, Bilder, Gleichnisse sind wie bunte Glasfenster, durch die man schaut; sie sind transparent, sie sind vieldeutig und wollen gedeutet werden. Wenn diese Gebrochenheit symbolischen Redens nicht festgehalten wird, entstehen zwei Wirklichkeiten, die sich nicht mehr vermitteln lassen: Dort eine überweltliche biblisch-dogmatische Eigenwelt, hier unser heutiges Bewusstsein von Realität.«2 Diese These zielt auf die Abkehr vom Propagieren einer Wortgläubigkeit hin zu den Prinzipien einer »unverkrampften«, gleichwohl gut durchdachten und entschlossenen Interpretation3 – was die Abwahl eines »vorgegebenen« Textes, bei dem der Grad an Unverständlichkeit dazu verleiten könnte, sich in der Predigt auf exegetische Informationen zu verlegen, nicht ausschließt. »Es gibt genug andere gut verständliche Texte in unserer Bibel.«4 Ein interpretatorischer Umgang mit Texten sollte natürlich seinerseits symbolisch, bildhaft und gleichnishaft genug sein, um beim Predigen ein Fenster aufzustoßen, durch das Lebensmöglichkeiten heute in den Blick kommen, statt in der Erklärung vermeintlicher damaliger Ereignisse zu versinken.
2.2.2 Den Charakter der biblischen Texte betreffend
Roman Roessler wehrte sich mit Nachdruck gegen die in den Predigtstudien oft genug anzutreffende Auffassung, man habe es bei den biblischen Texten mit Dokumenten »absolut singulären Charakters« zu tun, »Selbstmitteilung Gottes« genannt. Man unterstelle fälschlicherweise, die Bibeltexte präsentierten einen »Grenzverkehr übernatürlicher Art zwischen Himmel und Erde, in dem alle beteiligten Personen doch letztlich nur Sendboten, Sprachrohr, Komparsen und Werkzeuge« seien. Demgegenüber war ihm daran gelegen, dass die Autorinnen und Autoren die Texte als Menschentexte in den Blick bekamen, als verschiedenartige Zeugnisse dafür, was es heißt, unter ganz bestimmten Umständen, in je konkreten Situationen aus Glauben leben zu können. Das schließe ein, sich von der Vorstellung zu verabschieden, geschichtliche Texte wie etwa den Pentateuch als historische Dokumentation zu betrachten: »Das so großartig komponierte deuteronomistische Geschichtswerk ist kein Dokument eines extraordinären Heilshandelns Gottes. Es ist religiöse Dichtung.« – Dichtung freilich im Sinne »verdichteter Glaubenserfahrung«.5
2.2.3 Die Gottesvorstellungen biblischer Autoren betreffend
Zu den am häufigsten von Roman Roessler angesprochenen Problemen der Predigt und der Predigtstudien gehörte die weitgehend unkritische Übernahme der Gottesvorstellungen von Menschen, die tausende Jahre vor uns gelebt und dementsprechend ganz im Sinne der Welt- und Wertekonzepte ihrer Zeit Gottes direktes Eingreifen für alles und jedes postuliert haben (für familiäres Fortkommen, für Eroberungen von Land, für den Tod der Feinde bis hin zum Genozid), was zur Sicherung des Überlebens des von Gott erwählten Volkes – so die Geschichten – wichtig erschien. »Dieser Gott«, so Roessler, »ist zudem ein höchst ›eifersüchtiger Gott‹ (5 Mo 4,5), der jede Abtrünnigkeit gnadenlos ahndet (vgl. 2 Mo 32,26-29).«6
Auch wenn die problematischen Texte im Zuge der Perikopenrevision immer weiter reduziert wurden, blieb seines Erachtens als Grundproblem der Predigt die latente Solidarisierung Predigender mit Gott – zu Lasten mangelnder Solidarität mit den Hörerinnen und Hörern. Für Ernst Lange wie für Roessler war klar, dass die Solidarität des Predigers nicht Gott oder einem Verfasser gilt, sondern der jeweils anwesenden Gemeinde. Daher, so darf man Roessler interpretieren, sollten bestimmte Gottesvorstellungen auch nicht einfach verschwiegen werden; sie sind im Horizont gegenwärtiger Glaubens- und Gotteserfahrungen zu diskutieren, durchaus auch im Dialog mit dem zeitgenössischen Judentum,7 das vor vergleichbaren Herausforderungen steht. Es gilt, ein Gottesverständnis zu stärken, das ein Leben aus Glauben nicht als Verletzung von Grundlagen der Menschenrechte erscheinen lässt und mit dem verantwortlich und lebensdienlich gepredigt werden kann. Roessler vertrat Auffassungen, die in den Predigtstudien selbst kaum je so klar zur Geltung gebracht worden sind: »Wenn wir uns heute nur einen Augenblick die kosmischen Dimensionen des Universums vor Augen halten, und dann die Winzigkeit unseres Planeten, und dann dieses abseits gelegene kleine Völkchen in Palästina. […] Dies dann als das von allen Völkern so einzig von Gott erwählte Volk auszugeben – ein solches Gottesbild mag noch in den Köpfen ultraorthodoxer Juden spuken, für Menschen unserer Zeit ist es schlicht absurd.«8
2.2.4 Den Geltungsanspruch des eigenen Glaubens betreffend
»Nichts hat auf Erden mehr Unheil geschaffen als die Verabsolutierung der eigenen Rasse, Klasse, Nation oder eben auch der eigenen Religion, wobei in der Religion die eigenen Glaubenspositionen, Dogmen und Lehren zudem noch mit dem Nimbus göttlicher Wahrheit überhöht werden können. Verbunden dann auch mit eigenen Absolutheitsansprüchen, die zu Spaltungen, Intoleranz und Abstrafung Andersdenkender führen.«9 In seinen Vorträgen sowie in unseren Diskussionen hat Roman Roessler jenen Zug monotheistischer Religionen hinterfragt, der – wie auch im Christentum – in Absolutheitskonzeptionen mündet. Von »Du sollst keine Götter haben neben mir« zu Aussagen wie »Extra ecclesiam nulla salus« ist inhaltlich kein langer Weg, mag er historisch auch langwierig und komplex gewesen sein.
Wer christlich predigen will, steht vor der Herausforderung, Glauben auf eine Art und Weise zu vermitteln, die nicht auf das Für-Wahr-Halten eines Absolutheitsmodells oder auf Zustimmung zu bestimmten (meist schwer zu fassenden) Glaubensinhalten zielt, sondern die Menschen als Subjekte eines lebensdienlichen Glaubens im Blick hat.10 Das ist ein Glaube, der z. B. nicht auf die »Unterscheidung zwischen Frommen und Heiden, Christen und Nichtchristen, Gerechten und Sündern« spezialisiert ist, sondern »Risse in uns selber« überwindet, auf Versöhnung aus ist, auf Freiheit nicht verzichten kann und Liebe als »letztgültigen Maßstab für den christlichen Glauben«11 betrachtet.
2.2.5 Die theologischen Lösungen der Theodizeefrage betreffend
Heftigste Frustrationen lösten bei Roman Roessler theologische Lösungen der Theodizeefrage aus. Es sei dahingestellt, inwiefern und wie oft das in einer Predigt zur Sprache kommen muss – aber wenn schon, dann kann und darf die solidarische, Mit-Leid signalisierende Haltung gegenüber der Hörerschaft nicht ausgeblendet werden. Roman Roessler beobachtete, wie im Rückgriff auf eine »neue Spielform der Kreuzestheologie« (unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffer, Walter Kaspar, Eberhard Jüngel, Jürgen Moltmann u. a.) Leid und Elend dadurch als zumutbar erscheinen sollten, dass ja auch Gott selber leide, weshalb – so der Duktus der theologischen Texte bzw. der kritisierten Predigtstudien – menschliches Leiden kein wirklicher Einwand gegen Gott sein könne. »Dies ist für mich freilich eine geradezu abstruse ›Theologie‹, Millionen und Abermillionen leidender Menschen auf dieser Erde als Trost zu verheißen, es habe da angeblich vor 2000 Jahren in Palästina auch einmal einen für ein paar Stunden leidenden Gott gegeben. Das ist blanker Zynismus. […] Das Theodizee-Problem bleibt die offene Wunde auch unseres eigenen Gottesglaubens. […] Es ist mir aus dem Herzen gesprochen, wenn Fulbert Steffensky schreibt: ›Im Alter wird man unversöhnlicher mit dem Leben. Man verschweigt den Zweifel nicht, der einen beutelt. Man weiß, gegen welche Einwände man Gott lobt. Gott ist die Liebe, haben wir gesagt. Wir sagen das immer noch, aber mit schwerer Zunge, und ich kenne mehr Einwände gegen diese Sätze. Wir müssen darauf bestehen, dass alles, was der Welt und dem Leben angetan wird, niemals einen Sinn ergibt, auch nicht unter irgendeiner Hinsicht der Ewigkeit.‹«12
2.3 Wirkungen
Mit diesen Sichtweisen ist Roman Roessler nun auch noch einmal selbst zu Wort gekommen. Die damit exemplarisch markierte Argumentationsweise hat in tausenden Briefen und E-Mails, mit denen er die Arbeit seiner Autorinnen und Autoren begleitetet und gefördert hat, Gestalt gewonnen – und natürlich auch in den schließlich gedruckten Predigtstudien selbst, denen er mit seinen Rückfragen, Impulsen und Verbesserungen seine redaktionelle Handschrift gegeben hat. Dies hat zur nachhaltigen Etablierung der Marke »Predigtstudien« beigetragen und sie zu dem gemacht, was sie heute sind.
Roman Roessler hat sein Vermächtnis in einigen besonders markanten Texten zusammengefasst. Sie reichen von der 1968 mit Dieter Trautwein publizierten Arbeitshilfe »Für den Gottesdienst. Thesen, Texte, Bilder«13 über seinen Essay zur »Theologie im Spiegel heutiger Predigtpraxis«14, die 2010 auf einer Konferenz der EKD in Wuppertal präsentierten »Gravamina gegen die geltende Ordnung der Predigttexte«15 bis hin zu seinen scharf formulierten Einwänden gegen die s.E. zu unkritische Rezeption des lutherischen Verständnisses von »Heilsgeschehen« in einem Grundlagentext der EKD.16 Darin werde, so Roessler, die Bedeutung des christlichen Glaubens kritischen Zeitgenossen gegenüber gerade nicht glaubwürdig vertreten; es handele sich um einen »wirklich höchst ärgerlichen Text lutherischer Gralshüter«17.
Welchen Erfolg seine Bemühungen hatten, zeigt sich nicht nur daran, dass die Predigtstudien seit nunmehr 54 Jahren dankbare Abnehmer finden, sondern dass auch eher kritisch bzw. konservativ eingestellte Fachkollegen das Besondere dieses Format gesehen und gewürdigt haben. Ein prominenter Vertreter jenes homiletischen Konzepts, das vorrangig auf hochprofessionelle exegetische Untersuchungen am Urtext setzte und vorsah, durch anschließende profunde systematisch-theologische Reflexionen eine stimmige Predigtidee zu entwickeln, war der Leipziger Praktische Theologe Gottfried Voigt. Er war (und ist) für seine eigenen, ihrerseits eifrig gelesenen »Homiletischen Auslegungen der Predigttexte« bekannt, die er – aufgrund der Perikopenrevision von 1978 – für zwei komplette Predigtreihen in zwölf Bänden verfasst hat.18 Zu seinen homiletischen Prinzipien gehörte in den 1970er Jahren noch der Satz: »Predigt ist – ›Einbahnverkehr‹ – Anrede Gottes an seine Gemeinde.«19 Gleichwohl vermochte er in einer Rezension dreier exemplarischer Predigtstudienbände der Jahrgänge 1976 bis 1977 das besondere Profil der Predigtstudien trefflich zusammenzufassen: »Zweifellos eine stark anregende, weil von vornherein auf Vielstimmigkeit angelegte, das homiletische Geschehen auflockernde, durchaus auf Lebensnähe bedachte Arbeitsweise. Die PrSt sind durch ein stark experimentierendes Denken gekennzeichnet. Oft wiedersprechen A und B einander. Soll der Text entscheiden? Wie könnte er? Er ist ja auch nur eine ihrer Zeit und ihrer Situation zugehörige Bezeugung der ›Christusverheißung‹ (wie E. Lange gern sagte), nicht anders als die von uns zu haltende Predigt von der Situation provoziert. Nicht verwunderlich, dass in den PrSt mit dem Text oft gerechtet wird: nicht nur historisch-kritisch, nicht nur transformatorisch-interpretierend, sondern empirisch-kritisch, so dass das von der Predigt zu Bezeugende hier und da auch ohne oder gar gegen den Text geltend gemacht wird. Das Bemühen, den Text gehorsam nachzusprechen – in der Überzeugung nämlich, dass der Text ›es in sich hat‹ und darum den Hörer von selbst treffen wird –, hat, wie die PrSt meinen, allzu oft zur Sterilität, zur kirchlichen Introvertiertheit, zur pseudogeistlichen Sicherheit, zur Kommunikationslosigkeit geführt, so dass es Zeit wird, nach ganz neuen Wegen zu suchen.
Unter allen vergleichbaren Unternehmungen sind die PrSt das avantgardistischste. Originelle Formulierungen, fesselnde Schlagzeilen, ›Einfälle‹ (ja, was kann einem nicht alles einfallen!), leidenschaftliches Bemühen um den Menschen von heute in der Solidarität des Fragens, der Befremdung, der Ratlosigkeit, des Angefochtenseins. Dies ist unter allen Umständen zu hören und ernstzunehmen, mehr noch: Es ist verpflichtend und mitreißend. Es liegt in der Natur der Sache, dass aus Arbeiten wie diesen – wenn denn ihr eigener Ansatz nicht verleugnet werden soll – nicht gebrauchsfertige Erkenntnisse übernommen werden können, sondern der Benutzer auf einen Weg geschickt wird, den er jedenfalls selbst nicht nur zu gehen, sondern auch zu finden hat.«20
Nun ist aus dem Text zum Gedenken an Roman Roessler auch eine kleine Würdigung des Konzepts der Predigtstudien geworden. Wir konnten das in diesem Fall nicht wirklich voneinander trennen. In seiner bescheidenen Art hätte es ihm sicher gefallen, dass wir nicht nur von seiner Person, sondern auch von der Sache reden, die ihn so viele Jahrzehnte beschäftigt hat. Dass er nicht nur als Mensch, als Kollege und Freund, sondern eben auch als Experte so intensiv mit uns unterwegs war, hat ihn für viele auf vielerlei Weise zum Segen werden lassen.
Berlin/Wien am Reformationstag 2021
1Ich zitiere hier und im Folgenden aus dem Manuskript zu einem Vortrag, den Roman Roessler im Oktober 2013 in Bremen gehalten hat. Er liest sich wie eine Summa all jener Themen, die er im Laufe der Jahre mit uns besprochen, zu denen er sich positioniert – und nun in diesem Text einmal mehr auf den Punkt gebracht hat. Der Titel seines Vortrags nimmt ein Zitat von Heinz Zahrnt (Glauben unter leerem Himmel. Ein Lesebuch, München/Zürich 2000, 31) auf: »›Der metaphysische Himmel ist eingestürzt.‹ Auf der Suche nach einer Theologie im 21. Jahrhundert«. Der Vortrag wurde im Rahmen einer Themenreihe des religionsphilosophischen Salons in der Evangelischen St. Remberti-Gemeinde in Bremen am 25.1.2013 präsentiert. Dieses Manuskript – wie auch einige andere unveröffentlichte Beiträge und vier im Eigenverlag in wenigen Exemplaren hergestellte Bücher (teils aus unveröffentlichten Vorträgen, teils aus publizierten Aufsätzen bestehend) – hat Roman Roessler Freunden und Weggefährten u. a. bei Einladungen zu seinen runden Geburtstagen in die Hand gedrückt, um mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Das Zitat findet sich auf S. 1 des Manuskripts.
2A.a.O., 2.
3Als Beispiel hierfür brachte Roessler gern Gal 4,4f. ins Spiel.
4Vgl. hierzu die sehr konkreten Vorschläge bei Roman Roessler, Gravamina gegen die geltende Ordnung der Predigttexte, in: Amt der VELKD (Hg.), Auf dem Weg zur Perikopenrevision, Hannover 2010, 135–142.
5Vgl. Roman Roessler, »Der metaphysische Himmel ist eingestürzt« (s. Anm. 1), 6.
6Roman Roessler, Unser Wissen ist Stückwerk. Einwilligung in ein fragmentarisches Leben (Eigenverlag), Bremen 2016, 40.
7In seiner Schrift Unser Wissen ist Stückwerk (s. Anm. 6), 42 zitiert Roessler den jüdischen Historiker Shlomo Sand: »Inwieweit ist die jüdisch–israelitische Gesellschaft bereit, sich von der alten Vorstellung zu verabschieden, die sie zum ›auserwählten Volk‹ macht, und aufzuhören, sich selbst abzugrenzen und andere aus ihrer Mitte auszustoßen, gleichgültig, ob das aus fragwürdigen historischen Gründen oder mittels einer dubiosen Biologie geschieht?« (Schlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010, 456).
8Roman Roessler, Unser Wissen ist Stückwerk (s. Anm. 6), 42.
9A.a.O., 37.
10Schon in seiner Promotionsschrift kündigt sich dieses Denken an. Roessler vermittelt in seiner Auseinandersetzung mit Emil Brunner die Frage nach der Gottesbeziehung des Menschen konsequent mit den Kategorien menschlicher Existenz und Erkenntnis, vgl. Roman Roessler, Person und Glaube. Der Personalismus der Gottesbeziehung bei Emil Brunner, München 1965. Dies wurde in der Rezeption dieser Arbeit als wichtige Beobachtung wahrgenommen, vgl. Wendell Gordon Johnson, Soteriology as a Function of Epistemology in the Thought of Emil Brunner (Phil. Diss, Ph. D.), Rice University, Houston (TX) 1989, 3, 5, 63, 70, 102, 157, 209f.; James Horace Maness, The Doctrine of God in two Representative Types of Personalistic Theology (Phil. Diss, Ph. D.), Emory University, Atlanta (GA), 1969, 14, 18f.
11Vgl. Roman Roessler, »Der metaphysische Himmel ist eingestürzt« (s. Anm. 1), 8.
12Roman Roessler, Unser Wissen ist Stückwerk (s. Anm. 6), 60f.
13Roman Roessler/Dieter Trautwein, Für den Gottesdienst. Thesen, Texte, Bilder, Gelnhausen [1968] 31972.
14Roman Roessler, Theologie im Spiegel heutiger Predigtpraxis. Brief an einen Mitstreiter der homiletischen Zunft, in: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt, Leipzig 2001, 61–67.
15Roman Roessler, Gravamina gegen die geltende Ordnung der Predigttexte (s. Anm. 4), 135–142.
16Rat der EKD (Hg.), Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015.
17Roman Roessler, Warum Luthers damalige Deutung des »Heilsgeschehens« für uns nicht mehr glaubwürdig ist. Eine kritische Replik zum Lutherjahr, in: Ders., Zielsetzungen. Konturen einer progressiven Theologie (Eigenverlag), Bremen 2019, 21–33, 21.
18Gottfried Voigt, Homiletische Auslegung der Predigttexte (6 Bde., Reihe 1–6); Leipzig 1965–1970; Ders., Homiletische Auslegung der Predigttexte. Neue Folge (6 Bde., Reihe 1–6), Göttingen 1978–1983.
19Gottfried Voigt, Mitten unter ihnen, Berlin 1973, 53f.
20Gottfried Voigt, Rezension zu Peter Krusche/Ernst Lange/Dietrich Rössler/Roman Roessler (Hg.), Predigtstudien für das Kirchenjahr 1976, Perikopenreihe IV/2. Halbband; Predigtstudien für das Kirchenjahr 1976/77, Perikopenreihe V/1. u. 2. Halbband, Stuttgart/Berlin, Kreuz Verlag 1976/77, in: ThLZ, 105. Jg., H. 5., 1976, 382–384, 383.
3. Sonntag nach Ostern (Jubilate) – 08.05.2022
A
1 Mose 1,1–4a(4b-25)26–28(29–30)31a(31b); 2,1–4a
Jubel – aber nur trotzdem!
Friedhelm Hartenstein
I Eröffnung: Und wenn wir scheitern?
In den 1980er Jahren war die Klimakrise schon ein gesellschaftliches Thema, obgleich sie noch nicht unmittelbar in ihren Wirkungen erfahren wurde. Theologisch wurde auf sie mit dem Motto »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« reagiert. Zu Recht wurde dabei erkannt, dass soziale Fragen der Verteilung von Ressourcen sowie das Bemühen um ein konfliktfreies Miteinander notwendige Elemente eines ökologischen Denkens und Handelns im Weltmaßstab sein müssen. Anders sind die Wechselwirkungen zwischen der Menschheit und ihren natürlichen Lebensgrundlagen weder zu verstehen noch zum Positiven zu verändern. Schon damals erhoben sich aber auch kritische Stimmen, die das Leitbild der Bewahrung der Schöpfung als Hybris identifizierten: Mit ihm werde die Verfügungsgewalt des Menschen über die Natur zwar ins Heilvolle gewendet, jedoch ein mögliches Scheitern nicht mitgedacht. Heute stellen sich die Dinge anders dar: Intuitiv und rational gewinnt ein Zukunftsszenario an Wahrscheinlichkeit, nach dem die Verwandlung der Welt durch technologische Beschleunigung, Kapitalisierung der Erde und Dezimierung der Artenvielfalt nicht mehr aufzuhalten ist. Damit könnte sich eine Schlussfolgerung erfüllen, die der Experimentalphysiker und Essayist Georg Christoph Lichtenberg schon im 18. Jahrhundert angesichts möglicher »menschengemachter Veränderungen der Erdatmosphäre« formulierte: »So könnte die Welt untergehen.« (Detering, 166) Es geht dabei nicht um den Weltuntergang an sich, sondern präzise um die Zerstörung der Voraussetzungen, die uns als Spezies zum dominierenden Faktor des Planeten werden ließen und ohne die wir nicht leben können. Gen 1 enthält wirkmächtige Aussagen und Bilder zu den Aufgaben des Menschen in der einzigen Lebenswelt, die wir haben. Wie alle großen Texte ist er dabei in seiner Ambivalenz zu bedenken.
II Erschließung des Textes: Realistische Rede vom Menschen
Gen 1,1–2,4a eröffnet die Bibel mit dem denkbar weitesten Horizont: dem des Uranfangs, an dem alle Grundlagen unserer Lebenswelt gelegt wurden. Damit bewegen sich die priesterlichen Verfasser der frühnachexilischen Zeit auf Augenhöhe mit den Wissenskulturen ihrer altorientalischen und griechischen Umgebung. Gen 1 ähnelt v. a. weisheitlichen Texten, in denen mythisch das Woher der Weltordnung wie auch ihrer Bedrohung beschrieben und durchdacht wurde (vgl. dazu genauer Gertz, 26–79). Innerhalb der Tora ist der Beginn mit diesem Text nicht zufällig, sondern spiegelt die Einsicht der nachexilischen Schichten des Pentateuchs, wonach der Gott Israels auch der einzige Schöpfer der Gesamtwirklichkeit und mit ihr aller Völker ist. Seine Position wird dabei jenseits von Raum und Zeit verortet. JHWH handelt »im Anfang« (Gen 1,1) ganz unanschaulich und bleibt doch in dem durch ihn gewollten Kosmos wirksam. Seine Ordnungen sind durchdacht. Sie bieten Entfaltungsmöglichkeiten für alle Geschöpfe und folgen einer Struktur, die der menschliche Geist verstehen und annehmen kann und soll. Insofern ist es folgerichtig, dass sowohl in jüdischer (z. B. bei Philo von Alexandrien) wie in christlicher Perspektive (z. B. in Joh 1) Gen 1 zusammen mit der weiteren Urgeschichte zu einer fundamentalen Matrix religiöser Wirklichkeitserschließung wurde, die Glaubende seitdem zum Weiterdenken anregt.
Wenn die Perikopenordnung den Text an Jubilate vorsieht, so hat das vor allem eine doxologische Pointe: Der Lobpreis jenes Gottes, der Jesus nicht bei den Toten ließ, sondern ihn aus dem Nichtseienden ins Leben zurückgerufen hat (vgl. Röm 4,17, wohl unter Anspielung auf Gen 1,1–3), wird nach Ostern weitergeführt. Er schließt die Resonanz aller Lebewesen, besonders der Menschen, auf die Welt als Schöpfung, d. h. vor allem als lebensförderliche Umgebung, ein. Dieses Lob antwortet v. a. auf Gen 1,31: »Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.« Eine weitere lobende Antwort ritueller Praxis besteht nach Gen 2,1–4a in der Heilighaltung des Sabbats bzw. Sonntags als notwendiger Zäsur in der Zeit (Heschel, 11ff.).
Im priesterlichen Gesamtaufriss der Urgeschichte ist zugleich angelegt, dass die überaus positive theozentrische Weltsicht von Gen 1 im Licht einer realistischen Anthropologie der Gewalt zwischen den Lebewesen verdunkelt ist. Diese Gewalt (ḥāmās Gen 6,11.13) geht vor allem vom Menschen aus. Eine wirkmächtige Deutung hat bekanntlich das göttliche »sehr gut« (V.31) zusammen mit der Beauftragung des Menschen (V.26–28) verabsolutiert. (Gottes Urteil über sein Werk war aber niemals anders gedacht als in Bezug auf Gen 6,12: »Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt.«) Indem man die intentionale Überblendung zwischen Schöpfung und Sintflut übersah, konnte Gen 1,28, der Auftrag zur Inbesitznahme der Erde und zur Herrschaft über die Tiere, neuzeitlich als Freibrief im Umgang mit der Natur wahrgenommen werden. Dabei kann die Verderbnis der Erde durch die Menschheit im biblischen Sintflutmythos durchaus aktuell als ungebremste Ressourcenausbeutung gelesen werden.
Dennoch garantieren die Aussagen zur Gottebenbildlichkeit aus V.26f. auch eine Kontinuität zwischen der vor- und nachsintflutlichen Menschheit: Auch wenn die erste Menschheit durch den Schöpfer wegen des durch sie maßgeblich inszenierten Gewaltzusammenhangs vernichtet wurde, wird JHWH die zweite, auf Noah gegründete Menschheit und die Tierwelt nie mehr entsprechend vertilgen (Gen 9,1–7, vgl. Jeremias, 249). Begründet wird das mit der weiterhin geltenden Bestimmung zum Bild Gottes: Die Menschen sind trotz ihrer Fehlbarkeit nicht aus der (Mit-)Verantwortung für die Welt entlassen. Insofern sollte das Lob Gottes an Jubilate auch im Geist des Dankopfers nach der Sintflut geschehen. Was kann daraus für eine Predigt zu Gen 1 folgen?
III Impulse: Trotzdem hoffen und handeln
Angesichts der vorgegebenen Versauswahl sehe ich drei mögliche Ansatzpunkte für eine Predigt, die auch gut verknüpft werden können:
1. Gen 1,1–4: Anhand dieser Verse wäre die Gegenwartsrelevanz der Rede von Schöpfung in jüdischer und christlicher Sicht herauszustellen. Wie kann man angesichts der naturwissenschaftlichen Weltsicht dem biblischen Text noch etwas abgewinnen? Es wäre – gegen den naiven Kreationismus – darauf hinzuweisen, dass wir immer von orientierenden Narrativen leben und dass bewusster Glaube diesen kritisch nachdenkt. Eine Gottesvorstellung wie die von Gen 1,1–4, die alle menschlichen Spielräume transzendiert, bildet eine wichtige Grenzmauer gegen Ideen ungebrochener Machbarkeit. Meine Predigt würde hierzu auch die Transformation des Schöpfungsdenkens durch die Christologie einbringen: Schöpfung im christlichen Sinn meint ja auch die Heilung des Zerbrochenen. Sie kommt her von der Aufhebung der Finsternis am Ostermorgen als einer Resonanz auf das erste Schöpfungslicht. Das berührt eine andere, vielleicht fundamentalere Ebene unseres Seins als die naturwissenschaftliche Weltbeschreibung.
2. Gen 1,26–28: Mit der neueren Forschung wäre die von Anfang an in biblischer Anthropologie angelegte Ambivalenz zu benennen (s. II). Mir geht es nicht um die zur Genüge thematisierte Kritik an einseitiger Rezeption als Ermächtigung zur Naturzerstörung. Wichtiger erscheint die biblische Einsicht, dass die Menschen zwar zum Bild Gottes geschaffen wurden, aber an den Aufgaben eines sorgenden und mitfühlenden Umgangs mit der Lebenswelt (allen voran den Tieren) gescheitert sind. Ohne einem Zurück zur Natur das Wort zu reden, würde ich mit Jonathan Franzen für die Anerkennung der Möglichkeit plädieren, dass die Menschheit den Kampf gegen den Klimawandel nicht gewinnen kann. Auch das Motto der Bewahrung der Schöpfung wäre dann kritisch zu modifizieren. Mit Blick auf die beschleunigte Transformation der Welt im Anthropozän wäre christliches Handeln als Weltliebe, die Nächstenliebe einschließt, zu praktizieren. Im Licht der großen (Oster-)Hoffnung könnten wir uns an kleineren konkreten Hoffnungen orientieren, die wir verwirklichen können, z. B. (metaphorisch wie praktisch) die Pflege unseres Gartens – um das einprägsame Bild aufzunehmen, das einst Voltaire ans Ende seines Candide gestellt hatte, der empfiehlt, sich nach allen Gräueln und Katastrophen »unserem Garten« zu widmen.
3. Gen 2,1–4: Schließlich gehört zu solchem christlichen Realismus im Licht des ersten Schöpfungsberichts auch die Einsicht in die von Anfang an bestehende Gabe der recreatio im Ruhetag Gottes, auf die wir an Sabbat und Sonntag antworten. Sie eröffnet uns Atempausen im Atemlosen.
Werkstück Predigt (Schluss)
Im Licht des Sabbats, so die jüdische Tradition, scheint etwas vom ersten Schöpfungslicht auf, das aus der Finsternis erstmals Struktur und Konturen hervortreten ließ. Das kann auch für unsere Seelenpflege bedeutsam sein. Stehen wir doch vor der Möglichkeit eines unabwendbaren Verlustes der Welt, wie wir sie kennen und brauchen. Am Ostersonntag findet unsere christliche Hoffnung auf die heilende Kraft Gottes ihren größten Anhalt: Rituale wie das Entzünden der Osterkerze und das Verlesen von Gen 1 sind Wiederanknüpfungen an die Welt und ihr Geheimnis, dessen Tiefe wir trotz aller Gefährdung suchen.
Literatur: Heinrich Detering, Menschen im Weltgarten, Göttingen 2020; Jonathan Franzen, Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können. Ein Essay, Hamburg 2020; Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1-11 (ATD 1), Göttingen 2018; Abraham J. Heschel, Der Schabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Berlin 2001; Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (GAT 6), Göttingen 2015.
B
Horst Gorski
IV Entgegnung: Einig im hermeneutischen Framing
Keine Entgegnung. Wie A und B sich ergänzen, wird sich bei der Lektüre erschließen. Zwei Bemerkungen: Ich danke A für den Hinweis auf Gen 6,12. Damit liefert er einen Ansatz für das von mir vermisste hermeneutische Framing für die Auslegung von Gen 1–2: Gott sah, dass es gut war – und dass es nicht gut war auf der Erde. Wenn dieser Spannungsbogen gehalten wird, verbietet sich eine eindimensionale Auslegung von Gen 1–2. Und: A konzentriert seinen Blick auf Schöpfung im Sinne von Umwelt und Nachhaltigkeit. Gen 1–2 hat aber kulturelle Prägekraft auch für die gesellschaftliche Ordnung entfaltet. Das sollte mit im Blick sein.
V Erschließung der Hörersituation: Ein Blick auf die Kulturgeschichte des Abendlandes
Die Hörer assoziieren wahrscheinlich verschiedene Themen: Klima und den Umgang mit Ressourcen, die Ausbeutung der Natur und die Ausrottung zahlloser Arten. Manche werden das Motto von der Bewahrung der Schöpfung im Ohr haben. Kundige werden die Spannung einer Schöpfung in sieben Tagen zur Evolutionstheorie erkennen. In der Pandemie wurde die Frage gestellt, ob die Schöpfung gut sei. Die Ehe für Mann und Frau oder für alle wird als Thema aufgerufen in der Formulierung »er schuf sie als Mann und Frau« (1,27). Auf jedem Stellenangebot prangen heute die Lettern m/w/d. Widerspricht die Annahme eines dritten, diversen Geschlechts der Schöpfungsordnung?
Die Vielfältigkeit der Themen ist ein Hinweis darauf, welche kulturelle Prägekraft dieser Text jahrhundertelang hatte. Allerdings ist damit zugleich die Krisenhaftigkeit dieser Bezüge markiert: Keiner dieser Bezüge besteht heute ohne Fragezeichen, wenn er denn überhaupt noch besteht. Ein Blick auf den ersten Schöpfungsbericht der Bibel ist ein Blick in die Kulturgeschichte der abendländischen Welt und ihre Wandlung von mythischen Erklärungen zur Aufklärung durch Vernunft.